Читать книгу Exekution an der grünen Grenze - Peter Hüssy - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеEs ist merkwürdig, immer wenn der französische Autobahnwerkhof auf der linken Seite sichtbar wird, versinke ich in Gedanken. Meine Kinder- und Jugendzeit wird wieder präsent, als wäre alles gestern gewesen. Liegt es an den drei stolzen Fahnen, die ich noch nie ruhend gesehen habe? In der Mitte die Autobahngesellschaft, links die Europa- und rechts die französische Nationalflagge. Oder ist der Tesla schuld, der praktisch keine Geräusche mehr erzeugt und durch seine beruhigende Stille die Gedanken anregt? Keine Ahnung.
In Gedanken sehe ich unser schönes Elternhaus am Zürichberg. Zusammen mit meinem Zwillingsbruder Phillipe und unserer Schwester Inés geniessen wir die Sommerferien. Ich rieche den Duft unserer grossartigen Gartenanlage und aus der Küche höre ich, wie mit Töpfen hantiert wird. Blanche, unsere Haushälterin und meine private Französischlehrerin, bereitet, wie sie mir am Morgen nach dem Frühstück verraten hat, mein Lieblingsessen zu, Würstchen mit Kartoffelsalat. Während sich mein Bruder Phillipe am elterlichen Klavier abmüht, liest Inés in einem heimlich ergatterten Bravo.
Ich habe mich mit meinem Freund Nicolo, Sohn einer italienischen Einwandererfamilie, in die gut erhaltene Werkstatt meines Grossvaters zurückgezogen, um unsere neuste Seifenkiste fertig zu stellen. Die ersten Prototypen hiessen jeweils PiNi 1, NIPI 2 oder ähnlich. Aber jetzt, kurz vor dem Wechsel in die 3. Sekundarklasse, wollen wir das neuste Gefährt nach einem Mädchennamen benennen. Vorbilder sind die im Hafen des Zürichsees festgemachten, vornehmlich weissen Motor- und Segelschiffe mit Namen wie Brigitte 2, Olga 1 oder Erika. Wir sitzen also auf alten Kisten und überlegen, wie wir vorgehen sollen. Freundinnen haben wir beide noch keine so richtigen, stellen wir fest und das sei auch gut so, meint Nicolo. Sonst könnte es Streit geben, welche der Angebeteten das Rennen macht. So muss ein anderes Kriterium her. «Das hübscheste Mädchen der Klasse», ist mein Vorschlag. «Genau, gute Idee», meint Nicolo. So beginnen wir, unsere Favoritinnen aufzuzählen.
Nervöses, blaues Blitzlicht im Rückspiegel ruft mich jäh in die Gegenwart zurück. Sofort überprüfe ich, ob der Tempomat und die Abstandsautomatik in Betrieb sind und schaue wieder in den linken Aussenspiegel. Erleichtert stelle ich fest, dass der blaue Renault Mégane, ohne Leuchttext, links an meinem Tesla in einem Höllentempo vorbei rauscht.
Es dauert ein paar Kilometer auf der langen, geraden Autobahn, bis ich in meinen Gedanken wieder auf dem Zürichberg zurück bin. Sofort fällt mir der Name der damaligen Seifenkiste ein: «Yvonne»! Nicolo und ich waren uns sofort einig. Yvonne war eindeutig die schönste Mitschülerin. Sie war ein Jahr älter als wir, da sie eine Klasse repetieren musste. Dies wegen der schlechten Leistungen. Vor allem waren ihre Hausaufgaben meistens miserabel gelöst. Bis sie entdeckte, dass sie ihr gutes Aussehen dazu benutzen konnte, um immer neue Kollegen zu gewinnen, denen sie ihre Hausaufgaben anvertrauen konnte. Nicolo und ich gehörten zeitweise auch dazu, aber nur wenn die besser aussehenden Jungs angeblich keine Zeit hatten oder deren Wissen nicht zum Lösen kniffliger Aufgaben ausreichte. Trotzdem sind wir beide sicher: Yvonne ist das schönste Mädchen in unserer Klasse. Nicolo erwähnte, dass Yvonne bereits in der sechsten Klasse weibliche Züge vorweisen konnte, und sich diese im Laufe der letzten zwei Jahre positiv entwickelt hätten. Ich musste ihm Recht geben, weil es sich in jeder Turnstunde bestätigte.
Schon von weitem sah ich die blinkenden Hinweise über der Autobahn und tippte kurz das Bremspedal an, um das Tempo meines Teslas zu reduzieren. Der Hinweis auf einen Unfall in zwei Kilometer Distanz lässt meinen Puls etwas ansteigen. Zuerst sehe ich den blauen Renault Mégane der Gendarmerie Nationale, der mich kurz zuvor überholt hatte, diesmal mit Festbeleuchtung. Ich bin immer fasziniert, wie die Franzosen ihre Notfallfahrzeuge ausrüsten. Blau, rot, gelb und weiss zuckende LED-Lichter auf dem Dach, gelb blinkende Warnlichter aussen am Renault und ein zusätzlicher Hinweis «Unfall» signalisieren die Unfallstelle. Ich reduziere das Tempo auf die gewünschten 40 km/h und passiere die Unfallstelle. Die weiteren Fahrzeuge der Feuerwehr und des Autobahnunterhalts sind ebenfalls mit dutzenden Lichtern bestückt. Faszinierend. Zum Glück ist es nichts Schlimmes. Nur zwei etwas zerdrückte Fahrzeuge.
Erleichtert zünde ich eine Zigarette an und bringe den Tesla wieder auf automatische Reisegeschwindigkeit. Dann schalte ich den DAB+ - Empfänger auf Radio Nostalgie um und höre gerade noch das Ende des ABBA-Titels «When I Kissed The Teacher». Offensichtlich war dieser Musiktitel der Auslöser, mich in Gedanken in die Zeit meiner Berufswahl zurückzubringen.
Ich sehe die Situation ganz deutlich vor mir: Die ganze Familie sitzt am Tisch und Blanche, unsere Haushälterin am Zürichberg, trägt echte Fleischsuppe und Siedfleisch auf. Phillipe, mein Zwillingsbruder, beendet sein nervenaufreibendes Klavierspiel und auch Inés, unsere kleine Schwester, bemüht sich zu Tisch. Nach einigen Löffeln Suppe beginnt unser Vater das allabendliche Zeremoniell: Die Familiendiskussion. Seit Generationen wird in unserer Familie grossen Wert auf gute französische Aussprache gelegt. Deshalb sprachen wir zeitweise Französisch. Heute ist es wieder einmal so. Das Thema: Was will ich werden? Phillipe, obwohl eine ganze Stunde jünger als ich, beginnt und leiert seine ganze Karriere bis zur Pension herunter. Die Pension, so erwähnt er speziell, werde er wie sein Grossvater etwa ins neunzigste Lebensjahr verlegen. Obwohl ich meine Eltern sehr gut mag, bemerke ich mit etwas Missgunst das leichte Lächeln im Gesicht meines Vaters. Guter Schulabgang, Vorbereitung aufs Studium, Studium, guter Abschluss, Auslandsaufenthalt und Einstieg ins väterliche Geschäft, später dann die Übernahme und Leitung der Firma nach dem Vorbild unseres Vaters. Ziel dieser Rackerei: Vergrösserung des Familienvermögens! Parallel dazu: Militärdienst, Einstieg in die Lokalpolitik, Heirat, Aufstieg in die Regionalpolitik, zwei Kinder, Aufstieg im Militär zum Major, Aufstieg in die Kantonalpolitik.
Als er Luft holen will, sage ich schnell: «Bundesrat!»
Phillipe bläst die soeben aufgenommene Luft aus und für einen kurzen Moment herrscht absolute Stille im Wohnzimmer. Als Erste meldet sich Blanche zu Wort: «Möchte noch jemand Suppe?» Es scheint allen die Sprache verschlagen zu haben und so beginnt unser Schwesterchen Inés: «Ich werde Tierärztin und gründe eine eigene Klinik auf dem Zürichberg für reiche Kunden. Aber wenn ein Armer ein Tier bringt, muss er nichts bezahlen.»
Sofort steigt die Stimmung am Tisch und Blanche schneidet mit einem Lächeln das köstlich duftende Siedfleisch auf und verteilt es auf die hingereichten Teller.
Ich überlege, ob ich gleich starten oder auf die Aufforderung meines Vaters warten soll. Kaum war der Gedanke zu Ende gedacht, fragt er auch schon: «Und du Pierre, immer noch Feuerwehrmann?»
«Nein, Automechaniker», schiesst es aus meinem Mund.
«In acht Kilometern müssen Sie die Autobahn wechseln.» Karin, die Stimme des GPS-Systems meines Autos, holt mich brutal in die Gegenwart zurück.
Ich kontrolliere kurz das Bordsystem, alles o.k. Genügend Ladung, keine Staus, Ankunftszeit normal.
Diesmal dauert es ein bisschen länger, bis ich in Gedanken wieder am Zürichberg bin. Wo war ich stehengeblieben? Ja genau, beim Automechaniker. Jetzt sehe ich die verdutzten Gesichter vor mir. Mein Vater hustet leicht und ich bin mir auch heute noch nicht sicher, ob es am Meerrettich oder am «Automechaniker» lag.
An die nachfolgende Diskussion mag ich mich nur noch soweit erinnern, dass ich am Ende des Abends mit allen, ausser Inés, Streit hatte und mein Vater erst die Einwilligung gab, nachdem ich ihm versprochen hatte, parallel zur Berufsausbildung die Berufsmittelschule (BMS) zu besuchen.
Ich wechsle die Autobahn und fahre jetzt Richtung Süden. Die vor wenigen Jahren gebaute Autobahn erstreckt sich jetzt über eine längere Strecke durch Wälder und ich bin schnell wieder in Gedanken versunken.
Obwohl ich als Jugendlicher nie genau gewusst hatte, mit welcher Art Geschäft mein Vater und Grossvater ihr Geld verdienten, lag plötzlich eines Abends ein Angebot für eine Schnupperlehre als Automechaniker auf dem Tisch. Offensichtlich hatte mein Vater seine Beziehungen spielen lassen. Die kantonale Reparaturwerkstatt in einem Aussenquartier von Zürich bot mir die Chance. Einige Wochen später hatte ich die Zusage für eine Lehrstelle. Da ich in der Zwischenzeit die Aufnahmeprüfung für die BMS bestanden hatte, konnte ich auch dieses Versprechen an meinen Vater einlösen.
Die Lehrzeit war im Nu vorbei und ich schloss die Lehre und die BMS mit guten Noten ab und studierte zur absoluten Freude meiner Eltern Jura in Zürich. Nach dem Studium trat ich in das kantonale Polizeicorps ein. Bis zu diesem Zeitpunkt verlief mein Leben in normalen und geordneten Verhältnissen. Meine Eltern finanzierten mir bis Studienende eine kleine, möblierte Wohnung im Nobelquartier Seefeld. So blieb mir eine Studenten-WG erspart. Um mein vorläufiges Ziel möglichst schnell erreichen zu können, hielten sich die Beziehungen zu Frauen in Grenzen. Um keine gross enttäuschen zu müssen, klärte ich die Situation jeweils bereits am ersten Abend oder Morgen.
Alles änderte sich, als ich Elena traf. Die Vorsätze waren im Nu vergessen und der Himmel leuchtete in allen Farben. Diese Gefühle kannte ich bis zu diesem Zeitpunkt nur aus Filmen oder Büchern. Nicht zu vergleichen mit den vergangenen Kurzbeziehungen! Wir verliebten uns innert kürzester Zeit und schmiedeten bereits Pläne, eine gemeinsame Wohnung zu beziehen und eventuell bald zu heiraten. Bis zum 12. Dezember, der Tag, der mein ganzes Leben umkrempelte!
Ich war Leiter einer Sonderkommission bei der Kantonspolizei Zürich und löste, zusammen mit meinem Team, einen speziell verstrickten Fall in Rekordzeit. Zur Belohnung wurde die ganze Gruppe ausserplanmässig befördert. Das führte zu zusätzlichen Privilegien für alle. Für mich bedeutete dies: Teilnahme an internationalen Kongressen. Da ich bereits als Kind, dank Blanche, fliessend Französisch sprach, wurde ich vor allem zu Kongressen nach Frankreich abkommandiert. Eine Win-Win-Situation für alle. Meine Kollegen waren froh, nicht Französisch sprechen zu müssen und ich liebe Frankreich über alles. Und so war es auch an diesem 12. Dezember.
An der linken Seite zieht die Autobahnraststätte «La Bresse» vorbei und signalisiert mir, dass die Reise noch etwa eine halbe Stunde dauert. Doch als ich dem Display einen Blick schenke, sehe ich, dass mich eine Baustelle mit zehn Minuten Stau erwartet. Ich schalte auf manuelles Fahren um und konzentriere mich auf den Verkehr und ordne den Tesla in die rechte Spur ein.
Der erste Kongresstag in Lyon, am 12. Dezember, war wieder einmal Routine. Ich hielt meine beiden Vorträge, hörte den anderen Beiträgen mehr oder weniger aufmerksam zu und tippte die neuen Informationen in meinen Tablet-PC. In den Pausen sprach ich mit meinen Kollegen aus Frankreich, Italien und Deutschland. Meinem Freund Nicolo war es zu verdanken, dass ich noch einige Brocken Italienisch konnte, sonst war die Umgangssprache Französisch, da sich Englisch infolge der vielen Franzosen nicht eignete.
Am Abend hatte ich schlichtweg den Kopf zu voll, um mich mit meinen Kollegen zum Essen zu verabreden und zudem kannte ich vor allem Günther aus Berlin zu gut. Er schlägt nach jedem Nachtessen eine Tour durch alle Bars vor. Also schlich ich mich durch einen Hinterausgang des Kongresskomplexes und trat in die kühle Nachtluft von Lyon. Trotz Mitte Dezember empfand ich die Temperatur als angenehm.
Das Aufleuchten der Bremslichter und vereinzelt Warnblinker zeigen mir das Stauende an und ich schalte den Tesla wieder auf Automatik. Sofort bin ich in Gedanken wieder in Lyon und besagter Nacht vom 12. Dezember.
Ich stehe hinter dem Kongresszentrum und orientiere mich kurz. Ganz in der Nähe muss das Restaurant Vatel sein, schiesst es mir durch den Kopf. Ich kenne dieses von früheren Besuchen und empfand es immer als sehr gut. Ich ziehe das Smartphone aus der Manteltasche und tippe automatisch auf Kontakte und wähle Elenas Nummer. Erst als das erste Klingeln ertönt, bemerke ich, was ich getan habe. Doch Elena lässt mir keine Chance. Beim zweiten Mal meldet sie sich bereits. «Gruber», tönt es aus dem Minilautsprecher.
Ich erinnere mich nur noch bruchstückhaft an dieses Gespräch. Es war das übliche «Wie geht es, mir auch, sehr gut, interessant, ich dich auch» und so weiter.
Das Smartphone sagt mir, dass das Restaurant Vatel nur acht Minuten von hier aus entfernt ist und zeigt den Weg in die Rue Duhamel in roter Farbe an. Bereits nach der zweiten Strassenecke erkenne ich den Weg wieder und folge meinen Erinnerungen. Die Reklametafel leuchtet von weitem und durch den Hunger angetrieben, beschleunige ich meinen Gang. Aus dem Innern des Lokals sind gedämpfte Gespräche und das Hantieren mit Tellern, Schüsseln und Gläsern zu hören. Dazu steigt mir eine Geruchsmischung bester französischer Gerichte in die Nase.
Ich überblicke kurz das Lokal und wie ich feststellen kann, ist es ziemlich voll. Das Personal bewegt sich schnell und gekonnt zwischen den hübsch gedeckten Tischen hindurch und bedient die zahlreichen Gäste mit Köstlichkeiten aus Küche und Keller. Ich lasse einen zweiten, diesmal etwas ausführlicheren Blick durch das Lokal wandern. «War da nicht noch ein freier Zweiertisch?», blitzt es in meinem Hirn. Ich lasse den Blick etwas zurückschweifen und sehe da einen kleinen Tisch, der nur mit einer Person besetzt ist. Sofort stelle ich fest: Ein Tisch mit einem Gedeck und mit einer Frau besetzt! Meine Augen versuchen, sich auf die Frau zu fokussieren, als ein Kellner, der mich offensichtlich beobachtet hat, fragt, ob ich mit der jungen Dame verabredet sei. Völlig verwirrt und überfordert, tönt es aus meinem Munde: «Leider nicht.» Der schwarzgekleidete junge Mann erkennt mich, offensichtlich am Akzent, als Tourist und findet meine Antwort mindestens interessant. Ohne sich auf weitere Diskussionen einzulassen, lässt mich der junge Mann stehen und steuert die Dame an. Die kurze Zeit erlaubt es mir, die junge Frau genauer zu betrachten. Lange, gewellte, hellbraune Haare, zweiteiliges Kleid, schicke Schuhe, hübsche… Ich komme nicht weiter, da der Kellner sie erreicht hat. Sie lässt die überdimensionale Speisekarte kurz sinken und würdigt mich eines sehr kurzen Blickes. Genauso kurz sehe ich ein eher schmales, für diese Jahreszeit leicht gebräuntes, sympathisches Gesicht eines Engels. Mein Herzschlag setzt für ein paar Schläge aus und dann schaut sie wieder zurück in die Karte.
Während den paar Metern, die der Kellner zu mir zurücklegt, bombardieren tausende Geistesblitze mein Hirn. «Madame möchte gerne…, Madame erwartet noch…, Wie kommen Sie auf die Idee…, Ihre Kollegin kommt vielleicht doch noch…»
«Madame würde sich freuen, wenn sie ihr Gesellschaft leisten würden.» Ich höre die beinahe geflüsterten Worte des Kellners nur schwach. Der Puls setzt erneut aus, gefühlte zehn Mal. Wortlos folge ich dem jungen Mann. Am liebsten hätte ich ihn umarmt, geküsst oder freudig in die Höhe gehoben. Ich hoffe, dass er uns bedient. Mindestens hundert Euro Trinkgeld sind ihm bereits jetzt schon sicher. Nein, zweihundert!
Wir erreichen den Tisch und der Kellner rückt mir den Stuhl zurecht. Sie weiss offensichtlich nicht, was sie sagen soll. Deshalb ergreife ich das Wort und stelle mich vor: «Pierre Von Allmen aus Zürich, guten Abend Madame.» Der Engel: «Valérie Mercier aus Pérouges.» Ganz untypisch für Frankreich strecke ich ihr meine Hand entgegen und sie erwidert mit einem, für einen Engel, kräftigen Händedruck. «Sie sind Tourist?» beginnt sie die Konversation. «Ja und nein», antworte ich unüberlegt. «Haben Sie schon gewählt?» kommt es wie automatisch von meinen Lippen. «Nein, ich versuche, mich für eines der köstlichen Menüs zu entscheiden.» Der Kellner streckt auch mir eine der übergrossen Menükarten zu und ich bin froh, mich dahinter etwas verbergen zu können. Ich fühle rote Wangen. Das war mir das letzte Mal passiert, als ich mit Yvonne zusammen Hausaufgaben erledigte. Statt die Angebote zu lesen, positioniere ich die Karte so, dass ich mein Gegenüber etwas genauer studieren kann. Mal halte ich sie etwas nach unten, um ihre Haare oder Teile des Kopfes erspähen zu können. Dann tue ich wieder so, als lese ich das Kleingedruckte über die Herkunft der Produkte und halte die Karte etwas höher. Das gibt mir einen Blick auf ihre Hände frei. Schlanke, gepflegte Finger, transparenter Nagellack und ein kleiner Ring.
Plötzlich legt sie die Karte auf den Tisch und gibt mir zum zweiten Mal die Gelegenheit, sie genauer zu bewundern. Ich bin überwältigt! Sie ist noch schöner, als ich bei der Begrüssung festgestellt hatte. In meinem Kopf lösen alle Sensoren Alarm aus! Der «Starre sie nicht an!»-Alarm ist am stärksten. Also lege auch ich die Karte langsam auf den Tisch und betrachte ganz kurz mein Gegenüber. Ich realisiere die geschmackvolle, silberne Kette, die weisse Bluse und das gepflegte, gelockte, hellbraune Haar, das bis über die Stuhllehne fällt. Sofort meldet mein Anstand, ihr jetzt in die Augen zu schauen, obwohl ich sie gerne genauer angesehen hätte. Um die Konversation sinnvoll fortsetzen zu können, versuche ich in meinem besten Französisch: «Ich kann mich heute Abend nur schwer für eines der köstlichen Menüs entscheiden. Haben Sie vielleicht einen Tipp für mich?» Während ich spreche, realisiere ich die Schönheit ihrer Augen. Rehbraun, symmetrisch und nur dezent geschminkt.
Ihr Blick schweift kurz zur Karte, was mir Gelegenheit bietet, die Region um ihre Halskette genauer zu betrachten. Innerhalb weniger Sekunden nehme ich sehr viele Informationen auf: Teurer Stoff, genau die richtigen Knöpfe offen, straffer und gepflegter Hals, leicht gebräunt, Bluse etwas transparent, aber auch nicht zu viel, BH müsste eigentlich… «Also ich finde das Menü für 65 Euro das Richtige für mich», erwidert sie und unsere Blicke treffen sich wieder. Ohne in meine Karte zu blicken sage ich: «Eine hervorragende Wahl, ich…»
Erst jetzt bemerke ich, dass der Kellner, der offensichtlich völlig lautlos an unseren Tisch gekommen ist, mich anschaut und als ich seinen Blick erwidere, fragt er: «Darf ich den Herrschaften einen Aperitif servieren?» Fragend schaue ich den Engel an und entdecke unter ihrem sehr dezenten Makeup kleine Sommersprossen, einen wohlgeformten Mund und strahlend weisse Zähne. «Was ist an dieser Frau nicht perfekt?», schiesst es mir durch den Kopf. Bevor ich weiter schwärmen kann, sagt sie: «Ein Glas Weisswein wäre nicht schlecht.» Zurück in der Realität höre ich mich: «Ja, genau das Richtige nach diesem anstrengenden Tag.» «Haben Sie einen konkreten Wunsch?», möchte der freundliche Kellner wissen. Ich bin sicher, dass mich der typische Jäger- und Sammlerinstinkt dazu treibt: «Ein Bugey wäre super.» Damit signalisiere ich meinem Gegenüber, dass ich über Insiderwissen verfüge. Weine aus dem Bugey sind normalerweise nur in dieser Region erhältlich. Mein Plan geht auf! Sie reagiert sofort: «Sie kennen den prickelnden Weisswein aus dem Bugey?» «Ja, schon länger. In meinem Keller lagern immer ein paar Flaschen.» Und wieder treffen sich unsere Blicke. Der Kellner realisiert die Situation und zieht sich diskret zurück.
«Entschuldigen Sie bitte, ich möchte mich ein bisschen frisch machen.» Sie erhebt sich, nimmt die Handtasche und schaut sich kurz um. Dann begibt sie sich Richtung Toiletten, die sich im hinteren Teil des Vatel befinden. Um nicht unanständig zu wirken, schweife ich mit meinem Blick über ihre Handtasche als sie an mir vorbeigeht und entdecke einen grünen Badge, der an eine Seitentasche angeklickt ist. Gleichzeitig umhüllt mich eine feine Wolke mit einem betörenden Duft. Ich muss mich etwas zur Seite drehen, um ihr nachzusehen. Sofort wird mein Hirn mit neuen Eindrücken überhäuft: Wahnsinniger Duft. Stolzer, aufrechter Gang. Teure, saubere und perfekt passende Schuhe. Wunderschönes, hellbraunes Haar mit Wellen, länger als geahnt. Perfektes Deux-Pièces, raffiniert geschnitten. Ihr Jupe endet genau zwei Finger breit über dem Knie… Die Signalflut wird unterbrochen, als ich feststelle, dass zwei weitere im Lokal anwesende Herren ihr ebenfalls nachschauen! Damit ist für mich wieder einmal klar, dass das männliche Hirn aus verschiedenen Zonen bestehen muss. «Bin ich schon eifersüchtig?», meldet der anständige Teil meines Hirns.
Als sie aus meinem Blickfeld verschwindet, versuche ich meine Gedanken zu ordnen und das bis jetzt Erlebte zu verarbeiten. Da sitze ich ein paar Minuten der schönsten Frau der Welt gegenüber und komme nicht aus dem Staunen heraus. Bin ich bereits auf andere Männer eifersüchtig? Was soll das? Zu Hause ist meine Freundin, mit der ich vor wenigen Minuten noch telefoniert habe und die Liebe zu ihr bestätigt habe. «Pierre, du hast dich Hals über Kopf verliebt!», signalisiert wiederum der realistisch denkende Teil meines Hirns. Ich spüre, wie ich total hin- und hergerissen bin. Klar erlebte ich schon viele solche Situationen in meinem Leben. Das erste Mal, als ich vor Nicolo, meinem besten Freund, mit zittrigen Händen das Wort «Yvonne» auf unsere Seifenkiste gemalt habe und dabei das wunderschöne Gesicht von Yvonne in Gedanken vor mir sah. Oder das letzte Mal, als ich Elena anlässlich eines Apéros in den Räumen der Firma meines Vaters kennengelernt hatte. Männer sind und bleiben Jäger und Sammler.
Ich betrachte die beiden Männer, die sich erlauben, «meinem» Engel nachzusehen, etwas näher. Der erste, etwa 50 Jahre alt, mit leichter Glatze, in einen billigen C&A-Anzug gehüllt, der über seinem Bauch massiv spannt, sitzt einer aufgeblasenen Schuhverkäuferin gegenüber. Der zweite, viel jünger, im Massanzug, ist offensichtlich zusammen mit einer Arbeitskollegin, die ihn anhimmelt, unter einem falschen Vorwand nach Lyon gefahren. Wie’s aussieht, können sie die gemeinsame Nacht im Hotel kaum erwarten. Er wird schon kurz nach dem Höhepunkt alles bereuen und sich diverse Ausreden für seine Ehefrau ausdenken, währenddem sie sich nach dem Frühstück Gedanken machen wird, wie sie ihren Kollegen zur Scheidung überreden kann.
Nachdem ich mit Genugtuung keine Gefahr mehr erkennen konnte, ordnete ich meine eigenen Gedanken wieder und sofort tauchen der grüne Badge und die wundervolle Parfumwolke wieder ins Zentrum meiner Denkfabrik. Klar, ich besitze denselben Badge! Die Eintrittskarte für den Polizeikongress. Valérie besucht ebenfalls den Kongress! Ein anderer Teil des Hirns lobte mich: Du hast ja den Namen behalten! Plötzlich wurde die angenehme Stille des Vatel durch lautes, weibliches Lachen gestört. Der grösste Teil der Speisenden und ich suchten die Quelle des störenden Geräusches. Es ist die dicke Schuhverkäuferin, die sich nicht unter Kontrolle hat und zusätzlich mit den Händen auf ihre unförmigen Schenkel schlägt. Ihr Gegenüber, der Glatzenmann, beginnt in diesem Augenblick, mit hochrotem Kopf, zu husten. Ob es ein Witz war oder ein kleines Knöchelchen, das in einem saftigen Stück Poulet de Bresse vergessen wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Auf jeden Fall artet der Husten in einen bösartigen Hustenanfall aus. Ich bemerke, wie sich die Schwingtüre zum Backoffice öffnet. Der mir sympathischste Kellner aller Zeiten schaut ins Restaurant und geht mit schnellen Schritten geradewegs auf den Hustenanfall zu. Er flüstert dem Übergewichtigen kurz etwas ins Ohr und beginnt mit der einzigen wirksamen Sofortrettungsmassnahme: Er schlägt ihm kräftig auf den Rücken! Das begeisterte Publikum beobachtet die Szene aufmerksam und als der Hustenanfall beendet ist, ertönt, wie nach der Landung eines Billigfliegers in Palma de Mallorca, ein kräftiger Applaus.
Ich wende mich wieder ab und sehe direkt in die geschmackvoll gestaltete Weinkarte, die bereits auf der richtigen Seite aufgeschlagen ist: «Weissweine aus dem Bugey». Daneben die französische Trikolore und ein kleiner Orientierungsplan. Zunächst widme ich dem Kellner, der mir die Karte zusteckt, einen kurzen Blick, bedanke mich, und überfliege die Namen der Winzer. Bei Jean-Christophe Pellerin stoppe ich und teile dem Kellner mit, dass uns eine Flasche Roussette de Bugey von Pellerin begeistern würde. «Eine gute Wahl», bestätigt der Kellner und verschwindet wieder so lautlos wie er gekommen ist.
Ich blicke mich kurz um und stelle fest, dass wieder Ruhe in den Speisesaal eingekehrt ist und da von Valérie noch nichts zu sehen ist, mustere ich das illustre Paar nochmals. Wahrscheinlich leidet der Ärmste auch noch unter Bluthochdruck, fährt es mir durch den Kopf, und er hat vor lauter Aufregung seine kleine, weisse Tablette vergessen einzunehmen. Da erscheint mein Engel im Saal. Zum ersten Mal sehe ich sie in ganzer Grösse von vorne. Diese Figur, diskret betont durch diesen wahnsinnigen Zweiteiler, der selbstbewusste Gang, die perfekt sitzende Frisur, die passenden Schuhe und…, für eine Millisekunde ordne ich die Sinne, dann stelle ich fest, dass an ihrer weissen Bluse ein weiterer Knopf geöffnet wurde. Absichtlich, oder war er beim Kämmen der wunderschönen Haare, bedingt durch die Wölbung ihrer Brüste, von selbst aufgesprungen und sie hat es nicht bemerkt? Ich finde darauf vorerst keine Antwort, da ist sie schon zehn Meter von unserem Tisch entfernt und ich überlege, ob ich aufstehen und ihr den Stuhl zurechtrücken soll, schliesslich lehrte mich mein Vater das so. «Du hast sie ja erst vor ein paar Minuten kennengelernt», meldet mein anständiges Hirnteil und ich verzichte auf diese manchmal sehr angenehme Höflichkeit. Stattdessen betrachte ich automatisch ihr linkes Handgelenk, währendem sie sich elegant hinsetzt. An ihrem schlanken Handgelenk entdecke ich eine Rado Centrix in silber/schwarz und am Ringfinger, anstelle eines Rings, kaum sichtbar, einen eindeutigen Beweis, dass bis vor kurzem ein Ehe- oder Freundschaftsring den Finger zierte.
Inzwischen ist die zweispurige Kolonne auf der Autobahn Richtung Lyon beinahe zum Stehen gekommen. Ohne mein Zutun hat der Tesla mehrmals sanft angehalten und ich schalte wieder auf manuell um und ziehe ihn nahe an den Pannenstreifen, um eine allenfalls notwendige Rettungsgasse zu bilden. Die meisten Lenker der vor und hinter mir rollenden Fahrzeuge machen dies ebenso. Automatisch schaue ich nach links und beobachte kurz, wie eine etwa 25-jährige Blondine krampfhaft ihre Handtasche durchsucht. Schliesslich findet sie was sie sucht. Sie klappt die Sonnenblende herunter und umständlich wird die Kriegsbemalung aufgefrischt. Den Tesla stelle ich wieder auf Automatik und nach wenigen Metern Schritttempo geht gar nichts mehr. Auf der grossen Anzeigetafel über der Autobahn, die etwa 200 Meter vor meinem Auto thront, kann ich nur die blinkenden Dreiecke, aber keine Schrift erkennen. «Zum Glück bin ich nicht in Eile», meldet mein Denkapparat und ich nehme eine etwas bequemere Haltung im Ledersitz ein, betrachte kurz das überdimensionale Display und kehre in Gedanken wieder in meine Jugendzeit zurück.
Ich erinnere mich, wie ich damals mit meinem Freund Nicolo die Büroräume meines Vaters zum ersten Mal besucht habe. Da unsere Mutter verreist war und ich am Vorabend absichtlich vergass, die schlechte Prüfung unterschreiben zu lassen und unser Lehrer, Herr Gerber, Sanktionen androhte, musste ich ihn an seinem Firmenstandort aufsuchen. Da zu Hause nie über die Tätigkeit meines Vaters gesprochen wurde, war ich gespannt. Seine Sekretärin, Frau Wagner, ihren Namen erwähnte unser Vater manchmal, sagte, er sei noch in einer Besprechung und wir sollten kurz im Empfangsraum warten. Nicolo und ich wählten zwei bequeme Ledersessel aus, die uns einen guten Überblick auf das Geschehen erlaubten. Ich war Nicolo dankbar, dass er mich in die vielen Geheimnisse des anderen Geschlechts einführte. Mein Zwillingsbruder Phillipe interessierte sich für andere Sachen, meine Schwester Inés war noch zu klein und unsere Eltern fanden, das hätte noch Zeit. Im Sexualkundeunterricht erklärte Herr Gerber eher technische als wirklich interessante Dinge. Aber Nicolo, der wiederum von seinem älteren Cousin Enzo Informationen erhielt, war der Mädchen- und Frauenspezialist. So verriet er mir, dass Mädchen, oder noch besser Frauen, die Begabung hätten, uns Männer zu verzaubern. Sie könnten, mit ihm noch unbekannten Waffen, Männer zum Lügen, Prügeln oder im schlimmsten Fall zum Morden bringen. Da dies Enzo, mit Ausnahme des Mordens, alles bereits erlebt habe, kaufte ich es ihm ab. Plötzlich stiess Nicolo in meine Seite und deutete mit einem eindeutigen Handzeichen auf den Korridor. Ein blondes Geschöpf des anderen Geschlechts kam direkt auf uns zu. In der Hand hielt sie einen Stapel Papiere. Sofort bemerkte ich, dass sie, im Gegensatz zu den Mädchen unserer Schule, schicke Kleider trug. Einen kurz über dem Knie endenden Rock, eine weisse Bluse und darüber eine Art Jacke. Über ihrer linken Brust trug sie ein kleines Metallschild. Ihr Gang erinnerte mich an die Frauen, die vor kurzem an einer Modeschau auftraten, zu der ich meine Mutter begleiten durfte. Sie kam direkt auf uns zu und so sah ich, wie sich ihre Brüste, die sich offensichtlich nur schwer unter der Bluse bändigen liessen, mit jedem Schritt ein wenig auf und ab bewegten. Ich war fasziniert.
Als ich später Nicolo meine Entdeckung erzählte, fand er, es wäre jetzt an der Zeit, dass er mir die versteckten Magazine seines Cousins zeigen müsse, sofern ich vorher schwören würde, es keiner Seele zu verraten.
Da auf der Autobahn an ein Weiterkommen kaum zu denken ist, erinnere ich mich wieder an den besagten 12. Dezember zurück.
Valérie sitzt wieder bequem und ihr Anblick holt mich augenblicklich in die Realität zurück. In meinem Kopf findet eine richtige Schlacht zwischen zwei verfeindeten Gruppen statt. Während die eine im Sekundentakt Fragen wie «Wie alt sind Sie?», «Sind Sie verheiratet?», «Sie haben sicher süsse Kinder?», «Wo arbeiten Sie?», «Darf ich Ihre Telefonnummer speichern?» und ähnliches produziert, generiert die andere Gruppe anständige und anerzogene Fragen zum Thema Wetter, Speisen und Getränke. Um einen Einstieg zu schaffen, erzähle ich ihr die soeben erlebte Geschichte mit dem Dicken und seiner vollschlanken Begleiterin. Mein Engel muss lachen und es bilden sich kleine Grübchen auf ihren Wangen. Da ich ihr frontal ins Gesicht schaue, erkenne ich sofort, dass sie sich sorgfältig nachgeschminkt hat. Die Sommersprossen sind kaum mehr sichtbar, die Wangen sehen aus, als hätte sie sich noch etwas gesonnt und die Lippen…
Der Lautlose kommt mit einer Flasche und einem Glas auf uns zu, entkorkt sie gekonnt, dreht das Etikett nach oben und schenkt einen mittelgrossen Schluck ins mitgebrachte Glas ein und stellt es mir ungefragt hin. Offensichtlich hält er uns für ein Paar und streckt, ebenfalls mir, die Flasche zur Kontrolle hin.
Endlich die Gelegenheit, meinen Blick für kurze Zeit von ihrem hübschen Gesicht zu lösen und etwas tiefer zu senken. Während ich den leicht gekühlten Weisswein koste, realisiere ich, dass ihre Haut in der Gegend der Halskette unterschiedlich gebräunt ist. Sofort steigt automatisch in mir eine gewisse Erleichterung auf. Durch den Umstand, dass sie offensichtlich am Strand einen Bikini trägt, verhindert sie noch mehr lüsterne Blicke hunderter Männer auf ihren perfekten Körper. «Du spinnst!», meldet sich der anständige Teil meines Hirns. «Du bist auf Männer eifersüchtig, die nur in deiner Fantasie existieren!»
«Der Wein schmeckt vorzüglich und hat die perfekte Temperatur», höre ich mich dem Kellner mitteilen und wende ihm auch einen kurzen Blick zu. Während ich den Kopf wieder zu Valérie drehe, höre ich ein «Danke» und beide Gläser werden bis gut zur Hälfte gefüllt. Nach getaner Arbeit verlässt der Lautlose unseren Tisch und ich mache Anstalten, das Glas zu erheben. Mein wunderschönes Gegenüber macht dasselbe und, obwohl es in Frankreich nicht unbedingt üblich ist, lassen wir die Kristallgläser sanft klirren und sprechen uns gegenseitig «Zum Wohl» zu. Dabei fokussiere ich ihre braunen Augen und die raffiniert gepflegten Augenbrauen.
Ein leises Summen des Bordcomputers bringt mich augenblicklich auf die Autobahn zurück. Er zeigt die Ankunft eines Fahrzeugs von hinten an und ein Servicefahrzeug der Autobahngesellschaft passiert mit drehenden Blau- und Gelblichtern meinen Tesla. Auf der grossen Anzeigetafel ist «UNFALL» zu lesen. «Das dauert noch ein bisschen», bestätigt mein Verstand und es dauert nicht lange, bis ich in Gedanken wieder in Lyon bin.
Wir genossen gemeinsam das vorzügliche Abendessen, sprachen vor allem über Belangloses wie die Qualität der verwendeten Produkte, die Kunst der Küchenmannschaft und das Wetter. Familie, Zivilstand oder Beruf klammerten wir beide aus. Etwas privater wurden wir einzig, als Valérie zwischen dem Kaffee und dem Dessert plötzlich fragte: «Rauchen Sie?», und ich ihr antwortete: «Ja, ab und zu ganz gerne.» Sie macht den Vorschlag, gemeinsam das Fumoir aufzusuchen. Wir erheben uns und durchqueren das Lokal. Als sich die automatische Tür öffnet, beeinflusst leichter, frischer Tabakgeschmack unsere Geruchssensoren. Der im Stil der 80er-Jahre eingerichtete Raum ist gut besetzt. Beinahe gleichzeitig entdecken wir beide ein freies Zweiersofa am Fenster und bevor wir eine Handbewegung machen können, treffen sich unsere Blicke. Etwas länger als bei einem Paar, das schon zwanzig Jahre zusammen ist. Wir verstehen sofort. Ich lasse ihr den Vortritt. Die beiden Kriegsparteien in meinem Kopf nehmen augenblicklich die Schlacht wieder auf. «Sieh dir die wohlgeformten Beine an! Der Schlitz im Jupe ist extra so geschnitten, dass man sie sehen kann! Hat sie an den Fesseln Tätowierungen? Sieh dir den straffen Hintern an!» Zum Glück haben wir das Sofa erreicht und können uns setzen. Kaum eine Minute später erscheint eine diesmal weibliche Bedienung und fragt uns nach den Wünschen. Wieder treffen sich unsere Blicke, aber ich war wie blockiert und deshalb erleichtert, als Valérie den Vorschlag macht, zwei kleine Zitronensorbets zu bestellen.
Wäre ich alleine hier gewesen, hätte ich der Bedienung nachgesehen, aber in dieser Situation lasse ich den Blick absichtlich in die andere Richtung durch das Lokal schweifen. «Pierre, wohnen und arbeiten Sie in Zürich?» Von dieser Frage völlig überrascht und vor allem mit dieser Anrede, antworte ich mit einem einfachen Ja. Um die zarte Konversation nicht versanden zu lassen, appelliere ich an meine braven, wohlerzogenen Geister im Kopf, sofort einen sinnvollen Satz zu bilden. «Schon seit Geburt lebe ich in Zürich, wo es mir eigentlich auch sehr gut gefällt.» «Und was hat Sie im kalten Dezember nach Lyon verschlagen?» Ich realisierte die Brisanz der Frage nicht und antwortete ehrlich: «Ich nehme am internationalen dreitägigen Kongress teil.» Da sie nicht sofort weiterspricht, nehme ich an, dass sie sich überlegt, ob sie mir ihre Rolle während des Kongresses schildern soll oder ob es besser ist, dies zu verschweigen. Sie wählt die zweite Variante. Offensichtlich hat sie nicht bemerkt, dass ich den grünen Badge an ihrer Handtasche sah, als sie sich in die Waschräume begab.
Sofort setze ich das Gespräch fort: «Pérouges ist ein ganz exklusiver Wohnort. Ich bin bis jetzt etwa vier oder fünf Mal dort gewesen und war immer wieder überwältigt.» Beinahe etwas hilflos füge ich, typisch schweizerisch, an: «In der Nähe von Zürich gibt es ein ähnliches historisches Dorf. Es heisst Regensberg.»
Diesmal blickt sie mir tief in die Augen und antwortet: «Ja, Pérouges ist eine der schönsten Lagen weit und breit. Vor allem ausserhalb der Touristenzeit ist es sehr ruhig, allerdings nichts für Freunde grosser Autos.» Ich überlege kurz, sehe die engen Gassen, das runde Kopfsteinpflaster und die hübschen Lokale von Pérouges vor mir. «Das stimmt, beim ersten Besuch musste ich das mit einem langen Kratzer im Lack meines Autos bezahlen.» Sie musste lächeln, was augenblicklich wieder zur Bildung ihrer Wangengrübchen führte. Ich spüre, wie eine leichte Elektrisierung durch meinen Körper zuckt und als ich rein zufällig mit meinem Knie ihr Bein berühre und sie es nicht blitzartig zurückzieht, wird es fast unerträglich. Ein Glücksgefühl mit erhöhter Spannung und Schmetterlinge im Bauch wechselten sich im Sekundentakt gegenseitig ab. Zum dritten Mal an diesem Abend signalisierte mein Hirn: «Du bist über beide Ohren verliebt!»
Valérie kramt ein silbernes Etui aus der Tasche und entnimmt eine lange, dünne Zigarette und ich taste nach meinem flachen Feuerzeug. Doch bevor ich es aus meiner Jacketttasche ziehen kann, brennt ihre Zigarette bereits. «Depp!», melden mir die Bösen. «Wäre zu altmodisch gewesen!», meinen die brav erzogenen Krieger aus meinem Kopf. Während sie genussvoll den ersten Zug inhaliert, bin ich auch schon so weit und zünde meine Zigarette an.
Das Bordsystem des Teslas unterbricht die Gedanken ans Fumoir des Vatel. Eigentlich schade, dass es gerade jetzt weitergeht, aber ich möchte ja auch irgendwann am Ziel ankommen. Nach kurzer Fahrt wird die Ursache des Staus sichtbar. Ein Lieferwagen streifte offensichtlich die stählernen Baustellenleitplanken, kippte zur Seite und verteilte alle Pakete auf den Fahrbahnen. Eifrige Gendarmen, Angestellte der Autobahn und Bauarbeiter sind immer noch mit dem Aufräumen beschäftigt. Nach 200 Metern beschleunigt mein Elektromobil automatisch auf 130 km/h und gleitet wie auf Schienen Richtung Süden.
Der weitere Verlauf des ersten Abends mit Valérie war mir nicht mehr so präsent. Dafür die darauffolgende Nacht umso mehr.
Nach Sorbet und zwei weiteren Zigaretten im Fumoir wechselten wir wieder in den Speisesaal, assen mehr oder weniger stumm das Dessert und so gegen 23:30 Uhr liessen wir die Rechnung kommen.
Ich überlegte krampfhaft, wie ich mich Valérie gegenüber verhalten soll. An und für sich war es gar keine Frage für mich. Mein Vater erzog mich, eine Dame immer einzuladen. Aber in dieser Situation? Würde der hübscheste Engel aller Zeiten es als aufdringlich empfinden? Schliesslich leben wir nicht mehr in der Zeit, als Vater meine Mutter kennengelernt hat.
Ich war positiv überrascht, als der Kellner, der mir diesen unvergesslichen Abend überhaupt ermöglicht hat, eine kleine Holzkiste hinstellt. Als ob er die Situation längst erkannt und meine Gedanken lesen konnte. Ich öffne kurz den Deckel, realisiere den Betrag und lasse meine Kreditkarte in der Box verschwinden. Der aufmerksame Kellner beobachtet die Situation aus der Ferne, kommt wieder auf uns zu und bittet mich, ihm nach hinten zu folgen. Er schiebt meine Kreditkarte ins Terminal, ich tippe den Code ein und der Kontrollbeleg rattert aus dem kleinen Printer. In der Zwischenzeit habe ich vier Fünfziger zusammengefaltet und stecke sie ihm diskret zu. Professionelles Personal erahnt aufgrund der Grösse und Dicke solcher Trinkgelder die ungefähre Höhe des Betrages. Der Augenaufschlag und die Reaktion des Kellners zeigen mir, dass er diese Begabung besitzt.
Bereits auf dem Rückweg realisiere ich, dass Valérie ihr Portemonnaie in den Händen hält und weiss genau, was mich erwartet. Meine beiden Ratgeberparteien im Kopf beginnen sich zu prügeln und als ich am Tisch ankomme und mich wieder hinsetzte, beginnt sie sofort: «Teilen wir uns den Betrag, wir hatten ja beide dasselbe?» Da log ich, etwas verlegen lächelnd: «Nein, nicht nötig, ich habe mein Spesenkonto noch lange nicht voll ausgeschöpft.» «Was mag sie jetzt von mir denken?», schoss es durch den Kopf. Doch bevor ich eine Antwort finden konnte, sagt sie: «Danke!» Und ich automatisch: «Gern geschehen.» Wir erheben uns, verlassen den Speisesaal und an der Garderobe stelle ich fest, dass zwei junge Damen bereits unsere Mäntel von den Bügeln genommen haben und bereithalten. Die Bösewichte in meinem Kopf schreien im Chor: «Du hättest ihr wohl gerne in den Mantel geholfen! Ha, ha.» Ich muss ihnen Recht geben.
Die kalte Dezemberluft verhindert ein weiteres längeres Gespräch vor dem Lokal. «In welche Richtung müssen Sie?», möchte ich gerne wissen. Anstatt etwas zu sagen, deutete sie mit der Hand Richtung Saône. «Mein Hotel liegt genau in der anderen Richtung.» Sie nickt und ich will ihr die Hand zur Verabschiedung hinstrecken, als sie mir zuvorkommt und gekonnt die eine Wange zum, typisch französischen, Abschiedsküsschen hinhält.
In diesem Augenblick bedanke ich mich mit einem Blitzgedanken bei meinen Eltern und Blanche, die mich und meinen Bruder Phillipe schon als kleine Jungs in die französische Kultur der «Küsschen» eingeweiht hatten.
Also hauchte ich ihr ein Küsschen auf die eine, sie drehte den Kopf, und auf die andere Wange. Dieses Ritual wird normalerweise nicht unbedingt nach der ersten Zusammenkunft praktiziert und auch nicht mit Personen, die mangels freier Tische zusammen ein Essen eingenommen hatten. Ich war entzückt. «Gute Nacht Pierre und nochmals besten Dank», haucht sie und ich erwidere mit einem Kloss im Hals: «Gern geschehen und gute Heimreise, Valérie, passen Sie auf sich auf und fahren Sie vorsichtig.» Wir trennen uns.
Während ich langsam Richtung Hotel gehe, schätze ich dauernd die Distanz von Valérie bis zur nächsten Kreuzung und drehe mich etwa alle drei Meter kurz um. Nichts! Wieder drei Meter. Nichts! Nochmals drei Meter. Nichts! Sie dreht sich einfach nicht mehr um! Da bleibe ich vor einem beleuchteten Schaufenster so stehen, dass ich sie im linken Blickwinkel noch knapp sehen kann. Kurz vor der nächsten Kreuzung dreht sie sich nochmals um und winkt mir kurz zu. «Also doch noch!» Lässig winke ich zurück, bis sie um die Ecke und aus meinem Sichtfeld verschwunden ist. Ich drehe mich dem Schaufenster zu und lasse meinen Blick über die geschmackvoll präsentierte Unterwäsche schweifen. Eine der Schaufensterpuppen trägt eine braune Perücke und erinnert mich sofort wieder an Valérie. Ich betrachte den hauchzarten, naturfarbenen BH und den mit Spitzen dekorierten, knappen Slip. «So muss Valérie aussehen, wenn sie sich ihres Businesskleides entledigt hat», schiesst es mir durch den Kopf. Fasziniert von dieser Auslage schaue ich weiter und unmittelbar neben «meiner Valérie» steht eine weitere, sehr hübsche Puppe. Sie trägt eine blonde Perücke, weisse Unterwäsche ohne Verzierungen.
Sie erinnert mich an Elena, was ein bisschen schlechtes Gewissen in mir auslöst. «Es ist ja gar nichts passiert», meldet sofort meine Denkfabrik und damit sind meine anfänglichen Bedenken wieder unterdrückt. Ich betrachte nochmals die «Valérie-Puppe», schaue nach links zur Kreuzung, aber die «echte» Valérie ist verschwunden. In Gedanken sehe ich noch einmal, wie sie sich umdreht.
Trotz dieses Riesenerfolgs sinkt meine Stimmung bei jedem zurückgelegten Meter. Meine beiden Parteien im Hirn verbreiten wieder pausenlos Botschaften: «Du hast nicht einmal ihre Telefonnummer, warum hast du sie nicht auf einen weiteren Drink eingeladen? Ist sie verheiratet? Wo arbeitet sie? Die siehst du nie mehr, Depp!»
Während die andere Seite Lob ausspricht: «Sehr anständig von dir. Denk an Elena.», und so weiter.
Im Hotel angekommen, bin ich richtig verärgert und will zunächst gar nicht auf das freundliche «Hallo, Monsieur» reagieren, das vom Empfang zu mir dringt. «Aber was kann sie dafür, wenn ich mies drauf bin?», signalisiert meine gute Seite und dann kommt doch noch ein «Gute Nacht» über meine Lippen.
Meine Stimmung ist auf dem absoluten Nullpunkt, als ich mein Zimmer betrete. Automatisch schalte ich den Flachbildfernseher ein, werfe die Fernbedienung aufs Boxspringbett, deponiere mein Smartphone auf dem kleinen, runden Tisch und ziehe die Vorhänge zu. Im Badezimmer schaue ich mich im Spiegel kritisch an. Als die Botschaft «Eigentlich siehst du für dein Alter noch recht gut aus», von einer der beiden Denkgruppen aus meinem Kopf ausgesendet wird, ärgere ich mich noch mehr über mich. Ob es von den «Bösen» oder den «Anständigen» kam, interessiert mich nicht.
Auch ausgiebiges Duschen änderte nichts an meiner miesen Stimmung, im Gegenteil! Nur mit Shorts bekleidet lege ich mich aufs Bett und schalte mich mit der Fernbedienung durch die Programme. Werbung für den neuen Renault Espace, Diskussion über Erderwärmung, Nachrichten, Werbung für Gesichtscreme, nochmals Werbung, Alligatoren in Florida, ein uralter Schwarz-Weiss-Film mit Humphrey Bogart, Wetteraussichten, Taxi Driver, Diskussion über die bevorstehenden Wahlen und nochmals Werbung. Als ich wieder auf die Plus-Taste drücke, erscheint der Hinweis des Hotel-TVs, dass die folgenden Programme nur für Personen über 18 geeignet seien. Ich zappe weiter und schon präsentieren sich nackte Leiber auf dem Bildschirm, die schlecht synchronisierte Geräusche und Laute von sich geben. Obwohl ich mich manchmal auf Geschäftsreisen über solche Filme, besonders die aufwendig produzierten französischen Streifen, amüsieren konnte, stellte ich den Fernseher ab. Eigentlich wollte ich sofort schlafen, aber mein Hirn begann das Erlebte zu verarbeiten und in die entsprechenden «Regale» einzuordnen. Da ich wusste, dass das Hirn einer der grössten Energieverbraucher des Menschen ist, spüre ich, wie mein Mund immer trockener wird. Ich schliesse die Augen und sehe in Gedanken nochmals die verschiedenen Höhepunkte des heutigen Tages und versuche, sie objektiv zu bewerten. Ich teile in «gut» und «schlecht» ein. Von Schlafen keine Spur! Ich will nicht mehr nachdenken, aber das Hirn lässt mich nicht in Ruhe. Ich wälze mich hin und her. Die Bilder laufen jetzt in noch kürzeren Sequenzen ab. Valérie und Elena wechseln sich gegenseitig ab und immer wieder meldet sich mein schlechtes Gewissen.
Schliesslich gebe ich mich geschlagen, stehe auf, entnehme der Minibar ein Mikrofläschchen Jack Daniels und leere es in einem Zug, öffne das Fenster und blase den Rauch einer Zigarette in die kalte Dezemberluft. Irgendwann zwischen 01:00 Uhr und 04:00 Uhr schlafe ich doch noch ein.
Karin, die Stimme des Navigationssystems, meldet: «In 30 Kilometern müssen Sie die Autobahn verlassen.» Links und rechts präsentieren sich die Weiten der Bresse. Besonders bei so schönem Wetter wie heute, eine Augenweide. Dank moderner Technik rollt mein Tesla praktisch geräuschlos weiter Richtung Süden. Da ich diese Strecke schon einige Male zurückgelegt habe, versinke ich wieder in Gedanken und erinnere mich an den zweiten Tag, den ich am Kongress in Lyon verbrachte. Den Morgen erlebe ich so intensiv, als wäre alles erst gestern gewesen.