Читать книгу John Coltrane - Peter Kemper - Страница 7

Оглавление

Welcher Jazzmusiker wird schon durch ein Kinderbuch geehrt? Im Jahr 2008 erschien in den USA Before John was a Jazz Giant und machte die Jüngsten mit dem Genius Coltranes bekannt. Die Zeichnerin Carol Boston Weatherford hatte einen Bilderzyklus geschaffen, der Johns Jugend im Süden der USA während der dreißiger Jahre illustriert. Der Text stammt von Sean Qualls:

»Bevor John ein Jazz-Gigant war, hörte er, wie Knochen in Großmutters Töpfen trommelten, Daddy die Ukulele schlug und Mama den Plattenspieler ankurbelte. Er hörte Dampflokomotiven vorbeipfeifen, seine Kusine Mary beim Jitterbug kichern und sah ›Bojangles‹-Stepptänze im Film. Bevor John ein Jazz-Gigant war, lauschte er Großvaters Sonntagspredigten, Mamas Orgelspiel für den Kirchenchor und hörte die Bitten des Pfadfinder-Anführers, der Fähnlein-Band beizutreten. Er nahm das Trillern der Vögel bei Sonnenaufgang wahr, das Schluchzen der Verwandtschaft bei Familienbegräbnissen und die Hurrah-Rufe, wenn er in Paraden mitmarschierte. Bevor John ein Jazz-Gigant war, lauschte er den Bigbands im Radio, seelenvollen Saxophonsoli und jenen Blue Notes, die seinen Namen riefen. Eines Tages nahm er das Horn in die Hand, blies in das Mundstück, presste seine Finger auf die Klappen und verwandelte jeden Sound, den er gehört hatte, in gewagte neue Melodien. Bevor John ein Jazz-Gigant war, war er ganz Ohr.« (Ü. d. A.)

Geboren am Nachmittag des 23. September 1926 in Hamlet, North Carolina, nahe der Stadt High Point gelegen, wuchs John William Coltrane – so sein vollständiger Geburtsname – in eine »black community« hinein, die ihre eigenen Riten, Institutionen und Sound-Ideale besaß.

Am 16. Januar 1920 hatte in den USA die Prohibitions-Ära begonnen. Ein widersprüchliches Jahrzehnt: Das Bundesgesetz, das verbot, Alkohol zu kaufen oder zu verkaufen, zeitigte bald den gegenteiligen Effekt: Tausende von illegalen Nachtclubs – »Speakeasy« genannt – schossen aus dem Boden, die Roaring Twenties nahmen ihren Lauf. Später nannte der Schriftsteller F. Scott Fitzgerald die zwanziger Jahre »die teuerste Orgie in der Geschichte Amerikas«. Natürlich war dieser zügellose Hedonismus auch eine Flucht aus den Schrecken des Ersten Weltkriegs. Zunächst begann die US-Wirtschaft aufzublühen: Elektrisches Licht, Kino, Telefon, Erfindungen des späten 19. Jahrhunderts, die bisher nur einer Handvoll von Menschen zugänglich waren, standen jetzt für den massenhaften Gebrauch zur Verfügung. Die Frühform einer Unterhaltungsindustrie mit Dance Halls, Musikverlagen und Clubs expandierte. Zusammen mit der Massenproduktion von Radios und Plattenspielern öffnete sich die US-Musikkultur einem weltweiten Publikum.

Während sich das Land ökonomisch liberalisierte, blieben soziale Zwänge bestehen: Nicht nur im Süden der USA grassierte in den Zwanzigern trotz der »separate but equal«-Doktrin ein größtenteils offener Rassismus. Auch John Coltrane wuchs in einer Stadt auf, die strikt die Rassentrennung praktizierte. Damals gab es in High Point beispielsweise das sogenannte »dual fountain system«: Farbige durften nur aus bestimmten Wasserspendern trinken; für die Weißen waren andere reserviert. In Kinos gab es ebenso Galerien ausschließlich für schwarze Besucher, selbst die Vergnügungsparks waren nach Rassen getrennt. Im Alltag ergaben sich immer wieder Situationen, die einen heranwachsenden Schwarzen an seinen Zweite-Klasse-Status erinnerten: Die abgetragene Schuluniform erhielt er ebenso als Spende von den bessergestellten Schulen der Weißen wie die ausrangierten Lehrbücher. Es waren kleine Kränkungen solcher Art, die noch Jahre später Coltranes Weigerung erklärten, mit seiner mittlerweile erfolgreichen Band im Süden der USA vor einem nach Rassen getrennten Publikum aufzutreten.

Der soziale Druck von außen hatte aber einen positiven Binneneffekt: Nachbarschaftshilfe und Gemeinschaftsgefühl in der »black community« waren außerordentlich gut entwickelt: Man fühlte sich wie eine große Familie. Nach damaligen Maßstäben wuchs John Coltrane in einem schwarzen Mittelklasse-Haushalt auf, obwohl die Wurzeln seiner Familie tief in die unrühmliche Vergangenheit der USA zurückreichten. Coltranes Großvater mütterlicherseits, Reverend William Wilson Blair, war auf der Skinner-Plantage in North Carolina als Sklave aufgewachsen. Doch er hatte Lesen und Schreiben gelernt, sich einen bescheidenen Wohlstand erwirtschaftet, soziale Anerkennung und genügend Autorität erworben, um drei Generationen im Hause Blair/Coltrane zusammenzuhalten. Seine eigene Jugend erlebte Blair trotz der Sklavenarbeit als relativ solide und erträglich, da die Familie intakt blieb und nicht so unbarmherzig ausgebeutet wurde wie die Sklaven im sogenannten Piedmont-Gebiet, dem Quäker-Gürtel des mittleren Carolina.

Als junger Mann arbeitete Blair zunächst als Grundschullehrer, bevor er sich politisch und religiös engagierte und schließlich hauptamtlich der African Methodist Episcopal Church (AME-Kirche) anschloss. 1882 heiratete er Alice V. Leary, die ebenfalls aus einer Familie von Sklaven stammte. Bald stieg Blair zum Pastor der St. Stephens African Methodist Episcopal Zion Church auf. Er unterhielt in High Point das regionale Büro der landesweiten AME-Organisation, war für mehrere Gemeinden zuständig und genoss – unter Weißen wie Schwarzen – hohes Ansehen als eine Art politischer und spiritueller Führer. Später attestierte Coltrane seinem Großvater mütterlicherseits eine geradezu »militante Religiosität«. Blair galt als politisch bewusster Mensch, der die »Back to Africa«-Bewegung des schwarzen Nationalisten Marcus Garvey unterstützte. So eröffnete er unter anderem eine Highschool für afroamerikanische Studenten, die auch John Coltrane später besuchte. In der Coltrane-Familie galt Blair als der unangefochtene Patriarch, der durch seine Autorität und seinen Stolz zum – wie Trane es später ausdrückte – »dominant cat« wurde und seine Souveränität, gepaart mit optimistischer Aufstiegsmentalität, nicht zuletzt aus der überwundenen Sklaven-Vergangenheit schöpfte. Später erhielt Reverend Blair sogar die Ehrendoktorwürde des Livingstone College in Salisbury, auf dem seine 1898 geborene Tochter Alice Gertrude, Johns Mutter, erfolgreich studiert hatte.

Johns Großvater väterlicherseits, Reverend William Henry Coltrane, hatte es noch schwerer: er litt in seiner Jugend unter sozialer Diskriminierung, zumal sein Besitzer, Abner Coltrane, für die schlechte Behandlung seiner Sklaven berüchtigt war und vor körperlichen Züchtigungen nicht zurückschreckte. »Blair« und »Coltrane« waren übrigens beides schottische Namen: die meisten Schwarzen in Amerika wurden damals nach ihren vormaligen Sklavenbesitzern genannt, die in der Regel englische, irische oder schottische Namen trugen. William Henrys soziale Situation verbesserte sich ein wenig, als seine Frau Helen ein bisschen Geld in die Ehe mitbrachte. Ihr Mann trat ebenfalls der AME-Kirche bei, arbeitete zunächst in Hamlet, North Carolina, und später in den angrenzenden Gemeinden. Ihr gemeinsamer Sohn, John Robert Coltrane, geboren 1901, brachte es zwar bald zu einer eigenen kleinen Schneiderei. Dennoch erreichten die Coltranes nie den sozialen und wirtschaftlichen Status, den die Blairs erworben hatten.

Da beide Großväter als Prediger und Vorsänger in der AME Church wirkten, lernte der junge John Coltrane, der jeden Sonntag die Kirche besuchte, schon früh, die transzendentale Wirkung von Musik zu verinnerlichen. Oft hat man ihm später nachgesagt, er versprühe in seiner Musik das erhebende Gefühl von Baptisten-Predigern – dabei waren seine Großväter doch eher als brave Methodisten tätig: In ihren Gotteshäusern wurden kaum Spirituals und geistliche Hymnen gesungen, ihre Kirche galt als nüchterner, als eine Mainstream-Kirche – im Vergleich zur bluesbasierten Holiness-Church mit ihren »Speaking-in-Tongues«-Ekstasen.

Als Johns Eltern, Alice Blair und John Robert Coltrane, sich kennenlernten, arbeitete John Robert in Deacon Johnsons Schneiderei, während Alice nach ihrem Schulabschluss als Hauswirtschafterin angestellt war. Im Jahr 1925 heirateten die beiden. Zunächst lebte das Paar in einem kleinen Appartement, im zweiten Stock einer Pension in Hamlet. Nach der Geburt ihres Sohnes John William Coltrane zog die junge Familie Ende 1926 in den nächstgrößeren Ort, zur Familie Blair in die Price Street nach High Point, einer von Quäkern gegründeten Stadt. Doch schon bald wurde das Mietshaus für die Großfamilien zu eng, zumal auch Alices ältere Schwester Bettie mit ihrem Mann Goler Lyerly und ihrer Tochter Mary unter demselben Dach lebte. Coltranes Großvater, Reverend Blair, beschloss daraufhin, ein eigenes, größeres Haus zu bauen. 1933 zog der Blair-Coltrane-Clan endlich um in die neue Heimstatt, Underhill Avenue 118. Underhill zählte damals zum besseren Teil des Schwarzen-Viertels von High Point, hier lebten Lehrer und Ärzte.

Noch immer ernährte Johns Vater die Familie durch seine Schneiderarbeiten, obwohl er jetzt einen eigenen »pressing club« besaß, eine Art Heißmangel, der auch eine kleine Reinigung angeschlossen war. Coltranes Mutter übernahm zunächst die Rolle der fürsorglichen Hausfrau – später unterstützte sie ihren Gatten als Näherin. Coltranes Vater versuchte sich zwar gelegentlich als Hobby-Musiker an der Violine und Ukulele, doch wenn er zu Hause war, erlebte der kleine John ihn eher als schweigsamen Menschen. Die Mutter hingegen hatte Klavierunterricht erhalten und während der Gottesdienste ihres Vaters Orgel gespielt. Zudem entwickelte sie zunehmend Interesse an der Oper. Durch dieses familiäre Umfeld kam John früh mit der religiösen, im Wesentlichen oralen Kultur in Kontakt: Er hörte die Predigten seiner Großväter, Blues-Schallplatten auf dem Grammophon und im Radio schon früh die Sounds schwarzer Bigbands. Der Trompeter Don Cherry hat später einmal bekräftigt: »Wenn man in eine schwarze Familie hineingeboren wurde, schwamm man regelrecht in Musik.«

Nach den sonntäglichen Gottesdiensten versammelte sich die ganze Familie zum traditionellen Mittagessen mit Maisbrei, Reis, Hafergrütze, gebratenem Huhn, Maisbrot, Kohlblättern und der unvergleichlichen »sweet potato pie«, die lebenslang Coltranes Lieblingsnascherei bleiben sollte. Der Middle-Class-Haushalt, in dem Coltrane aufwuchs, bot ihm früh ein Rollenmodell schwarzer Männlichkeit, das Bildung, Frömmigkeit, Würde und ein selbstbewusstes Ideal von Familienzusammenhalt vereinigte, das sich wenig um ›weiße‹ Vorurteile scherte. In seiner Kindheit muss Coltrane ein stiller Junge gewesen sein, der auf seine Umgebung immer ein wenig einsam wirkte – obwohl seine Kusine Mary oft für seine Zwillingsschwester gehalten wurde, da die beiden als Kinder unzertrennlich waren. Sein bester Freund in jenen Tagen war der ein Jahr ältere Franklin Brower, der in derselben Straße wie John wohnte. Nach seiner Erinnerung galt John Coltrane wegen seiner Liebenswürdigkeit und höflichen Art als »everybody’s darling«. Er war immer korrekt gekleidet und freundlich zu jedermann. Vielleicht hatte er deshalb auch nie einen Spitznamen, er wurde von allen nur John genannt. Während seiner Zeit auf der Leonhard Street Elementary School – er besuchte sie ab September 1932 – galt er als fleißiger Schüler und war ein so normaler Jugendlicher, dass er schon fast langweilig erschien.

Johns sportliche Aktivitäten hielten sich in Grenzen, er spielte nicht schlecht Hallenbaseball, war athletisch, hatte aber keine großen Wettkampf-Ambitionen. Seine Rollschuhe der Marke »Union Skates« – ein Weihnachtsgeschenk – liebte er dagegen heiß und innig. Mit Freunden raste er die hügeligen Straßen in Underhill herunter, oft rückwärts, um das Risiko zu steigern. Befestigte Bürgersteige gab es damals kaum, Autos waren noch nicht verbreitet. Da John und Franklin Brower nie Fahrräder besaßen, dienten die Rollschuhe ihnen als Verkehrsmittel, um die ganze Stadt zu erkunden. Doch selbst bei ihren Streifzügen durch die Viertel der Weißen bekamen sie nie ernsthafte Probleme. »Wir kümmerten uns einfach nicht um die Weißen, empfanden auch keine Diskriminierung. In sozialer Hinsicht hatten wir einfach wenig mit ihnen zu tun« (Franklin Brower).

Weil er als zuverlässig galt, ernannte man Coltrane zum Schülerlotsen, was allgemein als Auszeichnung empfunden wurde. Die Nachmittage mit seinen Freunden waren von normalen, jungentypischen Vorlieben geprägt: Man diskutierte über Football- und Baseball-Spiele, interessierte sich für die neuesten Automodelle und für solche existentiellen Fragen wie: »Welches ist am stromlinienförmigsten?« Dabei stimmte der junge Coltrane nie in die beliebte Heldenverehrung irgendwelcher Sportstars ein. Ihm hatten es dafür Filme und Comic-Hefte angetan, besonders die Doc-Savage-Abenteuer – eine Art Vorläufer von Indiana Jones. Laut Franklin Brower versuchten er und John sogar selbst, Comic-Stories im Stile von Doc Savage zu zeichnen, wobei John für die Bilder und Franklin für die Geschichte zuständig war.

Doch schon bald war es mit Johns unbeschwerter Kindheit vorbei: In seinem siebten Schuljahr wurde die Coltrane-Familie von einer Reihe schwerer Schicksalsschläge heimgesucht: Am 11. Dezember 1938 verstarb der geliebte Großvater Reverend William W. Blair. Knapp einen Monat später, am 2. Januar 1939, folgte die nächste Katastrophe: John Robert Coltrane, Johns Vater, starb an einem zu spät erkannten Magenkrebs. Und am 26. April desselben Jahres wurde Johns Großmutter mütterlicherseits ebenfalls vom Krebs dahingerafft. In diese dramatische Zeit der Verluste fiel Johns radikale Hinwendung zur Musik: Er übte von Anfang an wie besessen, zuerst auf einem Althorn, dann auf der Klarinette. Nach Einschätzung des Coltrane-Biographen Lewis Porter »wurde die Musik in gewisser Weise zu einem Vaterersatz. Durch Musik konnte er seinem Schmerz Ausdruck verleihen und ihn zugleich lindern, einen Schmerz, den er sich nie vollständig eingestanden hat.« Und Johns Schulfreund David Young ergänzt: »Für eine Weile, so schien es, hatte er nichts als sein Horn.«

Musik avancierte für John Coltrane zum wichtigsten Überlebensmittel. Zuvor hatte sich sein Interesse an allgegenwärtigen Radiohits wie Ella Fitzgeralds »A-Tisket and A-Tasket« oder Jimmy Luncefords »Margie« in Grenzen gehalten. Der Historiker und Jazzexperte Eric Hobsbawm fand später in seinen sozialgeschichtlichen Studien heraus, dass es 1929 – zu Beginn der Großen Depression – etwa 60 000 Jazzbands in den USA und etwa 200 000 professionelle Musiker gab. Am 29. Oktober 1929, am sogenannten Schwarzen Freitag, brach der Stock Market in den USA zusammen und sieben Millionen Menschen wurden auf einen Schlag arbeitslos. Die Löhne sanken um 39 Prozent und die Plattenverkäufe sogar um 94 Prozent. Doch in den dreißiger Jahren, als sich die US-Wirtschaft erholte, explodierte der Plattenmarkt: Die Verkäufe stiegen von 10 Millionen im Jahr 1931 auf 260 Millionen im Jahr 1941.

Während seiner Highschool-Jahre schwärmten John und Franklin unter anderem für Glenn Millers »Chattanooga Choo Choo«, für Harry James’ Hit »Flight of the Bumblebee«, Cab Calloways »Minnie the Moocher« und die Stücke von Artie Shaw und Tom Dorsey. Sie besuchten kleinere Tanzveranstaltungen, die keinen Eintritt kosteten; die großen Konzerte von Jimmy Luncefords Bigband, die auch regelmäßig in High Point gastierte, waren ihnen zu teuer. Auf der Highschool fand Coltrane auch seine erste Freundin. Das Mädchen, in das er verknallt war, hieß Doreatha Nelson. Lange traute er sich nicht, die Angebetete anzusprechen, und schob zunächst seinen Freund vor. Als er dann doch mit ihr »ging«, ließ die erhoffte heiße Romanze leider auf sich warten: Man unternahm Spaziergänge oder besuchte gemeinsam allenfalls mal ein Kino. Doreatha war im Gegensatz zu John eine sehr gute Schülerin. Sein Ehrgeiz erlahmte zunehmend, als er erst einmal vom Musik-Virus infiziert war.

Nach dem Tod von Coltranes Vater wirkte sein Onkel Goler Lyerly als Hausvorstand. Doch auch er starb im Oktober 1940 plötzlich an einem Herzanfall. Von der glücklichen Coltrane-Großfamilie waren nur noch John, seine Kusine Mary und die beiden Mütter übriggeblieben: Der einstige Mittelklasse-Haushalt verarmte zusehends. Mutter Alice und ihre Schwester Bettie arbeiteten als Bedienstete in einem Country Club, während John sich dort als Schuhputzer ein bisschen Geld verdiente. Doch an allen Ecken und Enden reichte es nicht: Die Schlafzimmer im ersten Stock des Hauses mussten vermietet werden. Bis auf Johns Mutter, die an chronischer Arthritis litt, schliefen alle im Wohnzimmer im Erdgeschoss. Nach den Erinnerungen seiner Kusine Mary kämpfte John zu dieser Zeit mit chronischen Atemwegsproblemen und wachte mehrmals in der Nacht auf, um nach Luft zu schnappen. Seine einzige Freude bestand in dieser tristen Zeit darin, seinen jüngsten Onkel John Blair in Hamlet zu besuchen, der bei der Seaboard Railroad angestellt war. Coltrane war von der Eisenbahn fasziniert.

Im Sommer 1942 kam er zum ersten Mal nach Philadelphia, wo er eine Tante väterlicherseits besuchte. Gegen Ende jenes Jahres entschloss sich seine Mutter, nach Philadelphia überzusiedeln, weil sie hoffte, dort leichter Arbeit zu finden. Doch die meiste Zeit verbrachte sie dann in Atlantic City, New Jersey, wo sie eine kranke, ältere Schwester betreuen konnte und bald auch zu einem Job kam. Als auch Mary und ihre Mutter Bettie Goler im Februar 1943 zu Verwandten nach Newark zogen, blieb John allein in High Point zurück, um dort zumindest seine Highschool abzuschließen. Mit Hilfe seiner Freunde Franklin Brower und James Kinzer und der materiellen Unterstützung durch die Nachbarfamilie Thomas Fair kam er ganz gut über die Runden. Wenn er nicht gerade stundenlang auf einem geliehenen Altsaxophon übte, versuchte er noch immer zusammen mit Brower, ein eigenes »big little book« voller Comics zu erstellen.

Während seines letzten Highschool-Jahres, nach dem Tod seiner Großmutter und dem Wegzug seiner Mutter nach Philadelphia, genoss John viele Freiheiten. Auf den obligatorischen Friday-Night-Parties trank er gern mal mit Freunden wie Red Martin oder Carl Chavis einen Whiskey über den Durst. Auch begann er jetzt, Zigaretten zu rauchen – eine Angewohnheit, die er sein Leben lang beibehalten sollte. In dieser Zeit, in der er weitgehend auf sich allein gestellt war, dürfte Coltrane auch erste sexuelle Erfahrungen gemacht haben: Die Frau eines ständig von zu Hause abwesenden Versicherungsagenten war wegen ihrer Vorliebe für ältere Schüler stadtbekannt.

John mied Auseinandersetzungen und hielt sich von Streitereien in der Schule fern. Selbst wenn er spätabends zusammen mit Franklin Brower durch die örtlichen Spielhallen zog, um sich im Pool-Billard zu versuchen, ließ er sich nie in irgendwelche Schlägereien verwickeln. Er war nicht jemand, der versuchte, sich auf Teufel komm raus durchzusetzen. Allein in musikalischen Fragen machte er keinerlei Zugeständnisse. Sein wachsendes Musik-Interesse zeigte sich während des letzten Highschool-Jahres nicht zuletzt darin, dass er sich regelmäßig das Down Beat-Magazin – das Sprachrohr der Jazzszene – kaufte und begierig darin die Kleinanzeigen für Musikinstrumente studierte.

Seinen ersten Instrumental-Unterricht erhielt John im Alter von zwölf Jahren auf dem Althorn, einer kleinen Ausgabe der Tuba – auch Charlie Parker hatte damit begonnen. In der Community-Band der Kirche seines Großvaters Blair, die vor allem Märsche und Spirituals im Repertoire hatte, lernte Coltrane ab Herbst 1939 erste Finessen des Ensemblespiels. Bald wechselte er zur B-Klarinette, die er sich im örtlichen Nash Jewelry Store ausgeliehen hatte. Eines seiner ersten Stücke war »A Dream of Two Blue Orchids« im Arrangement des Klarinettisten Artie Shaw. 1939 wurde es in der Version von Glenn Miller sogar ein landesweiter Hit. Zwar spielte John seine Klarinette auch in der William Penn High School Band unter der Leitung von Warren B. Steel, einem seiner Pfadfinder-Führer, doch ab Herbst 1949 begann er sich mehr und mehr für das Saxophonspiel zu interessieren: »Ich wählte das Saxophon, weil Lester Young es spielte.«

Und doch suchte sich Coltrane zunächst – wie er später zugab, ohne besonderen Grund – das Alt- und nicht wie sein Vorbild das Tenor-Saxophon aus. Auf dem neuen Lieblingsinstrument erprobte John jetzt unermüdlich die Komposition »Tuxedo Junction«, die er vom Trompeter Erskine Hawkins kannte. Da er keine Noten des Stücks besaß, lernte er es nach dem Gehör auswendig und quasi automatisch richtig phrasiert zu spielen. Schon damals war Coltrane dafür berühmt und berüchtigt, sein Horn kaum noch aus dem Mund zu nehmen: er übte buchstäblich Tag und Nacht. Motiviert wurde er nicht zuletzt durch Charlie Haygood, der in der Washington Street von High Point ein Restaurant besaß und nachmittags oft in der Küche saß, um Saxophon zu üben. Bei ihm war John Coltrane während seines letzten Highschool-Jahres oft zu Gast. Am 28. Mai 1943 schloss John die Schule ab – als »Most Musical Boy« in seiner Klasse. Eine Woche zuvor war er zum ersten Mal mit einer Tanzband während eines Schulballs an Klarinette und Altsaxophon öffentlich aufgetreten. In seiner Heimatstadt hielt ihn jetzt nichts mehr, am 11. Juni folgte er seiner Mutter nach Philadelphia; auf der langen Zugfahrt wurde er von Franklin Brower – dessen Brüder nur Positives über die Arbeitsmöglichkeiten in der Großstadt berichtet hatten – und seinem Freund James Kinzer begleitet.

Zunächst bezog John zusammen mit Kinzer ein Appartement in 1450 North, 12th Street. Am 11. September 1943 konnte Coltranes Mutter ihrem Sohn endlich das erste eigene Instrument, ein gebrauchtes Altsaxophon, als »vorgezogenes Geburtstagsgeschenk« kaufen. Der Preis von 63 Dollar wurde in Raten von vier Dollar über die nächsten Monate abbezahlt. Seinen Lebensunterhalt verdiente John sich zunächst in einer Zuckerraffinerie, später in Campbells Suppenfabrik im nahebei gelegenen Camden. Inzwischen waren auch seine Tante Bettie und Kusine Mary nach Philadelphia gekommen und bei John und James mit eingezogen. Coltrane empfand das liberalere Klima in der Großstadt als befreiend, die Rassentrennung wurde hier nicht so strikt praktiziert wie in High Point.

Den Schauplatz seiner Jugend sollte John nur noch zwei, drei Mal besuchen; eine Einladung in den Sechzigern, ihm zu Ehren in High Point ein Fest zu feiern, lehnte er höflich ab. Zu viele ambivalente Erinnerungen waren damit verbunden, und doch hatte er hier, in North Carolina, die prägenden Jahre seiner Jugend verbracht. Tief im Innern dürfte er sich dessen auch bewusst gewesen sein, denn Kompositionen wie »Goldsboro Express« von 1958 oder das friedfertige »Welcome« von 1965 spielen explizit auf seinen Heimatstaat an.

Obwohl er sich in Philadelphia gut eingelebt hatte, wurde Coltrane nach ein paar Monaten Opfer einer Straßengang aus Schwarzen, die ihm spätabends nach der Arbeit auflauerte und ihn beraubte – ernsthafte Verletzungen trug er nicht davon, doch er musste sich zähneknirschend eingestehen: »Ich war ein bisschen dämlich, aber ich habe meine Lektion gelernt und passe in Zukunft besser auf mich auf.« Seine Mutter, die als Hausmädchen bei ihren Arbeitgebern lebte, sah John nur am Wochenende, Tante Bettie war während dieser Zeit eine Art Ersatzmutter für ihn. Auch zu seiner Kusine Mary, die als Sekretärin arbeitete, hatte er noch immer ein Vertrauensverhältnis. Später erinnerte sie sich: »Wir lebten in Philadelphia zu viert in zwei Zimmern, und in einem davon saß John, der ständig übte und Zigaretten rauchte.« Nicht nur sein neues Horn, sondern auch das Piano seiner Mutter Alice stellten immer wieder Herausforderungen an ihn.

Ab 1944 nahm Coltrane für ein Jahr Saxophonunterricht an der vier Jahre zuvor begründeten »Ornstein School of Music« in der Spruce Street. Sein Lehrer dort, Mike Guerra, war ursprünglich ein Klarinettist, der sich vornehmlich in der klassischen Musik auskannte, aber ab 1941 auch als Saxophonlehrer zunehmend populär wurde. Später studierten auch Stan Getz und Gerry Mulligan bei ihm. Im Herbst 1944 war Coltrane vor allem damit beschäftigt, Schuberts »Serenade« aus der Liedersammlung »Schwanengesang« auf dem Altsaxophon zu üben. Wochenlang spielte er nichts anderes als diese Melodielinie. Guerra erinnerte sich später gern an Johns Übungsfleiß: »In der Theorieklasse gab ich den Studenten komplexe Akkordfortschreitungen als Übungen auf, er war einer der wenigen, die sie am nächsten Tag auf ihrem Instrument perfekt beherrschten. Und er konnte nie genug kriegen von diesem komplizierten Zeug!«

Schon bald gehörte John zum Jazz-Zirkel Philadelphias, wo in den Vierzigern eine vitale Szene entstand: Neben Swing-Musikern der älteren Generation, wie Jimmie Tisdale oder dem Trompeter Charlie Gaines, erforschten hier auch jüngere Musiker, wie der Pianist Ray Bryant, der Saxophonist Benny Golson oder der Drummer Charlie Rice, das neue Vokabular des Bebop. Clubs gab es jede Menge; gleich um die Ecke von Johns Wohnung bot der After Hours Woodbine Club an jedem Wochenende die Möglichkeit zu ausufernden Jam-Sessions. Benny Golson erzählte später gern die Anekdote, nach der der junge Coltrane »On the Sunny Side of the Street« so beseelt und perfekt wie Johnny Hodges spielen und damit Golsons Mutter, wenn er in ihrem Haus zu Besuch war, immer wieder aufs Neue zu Tränen rühren konnte. Vielleicht war es Hodges sämiges Balladenspiel, das den angehenden Musiker faszinierte. Coltrane sollte sein Leben lang – wie übrigens zuvor schon sein Vater – eine Vorliebe für romantische Balladen bewahren.

Seine ersten professionellen Engagements als Musiker nahm John im Jahr 1945 an. Das Trio mit einem Pianisten und einem Gitarristen hatte sich auf eine Art gefälligen Cocktail-Jazz spezialisiert, sicherte ihm aber immerhin den Lebensunterhalt. Zusammen mit seinem Freund Benny Golson jammte Coltrane in den unterschiedlichsten Bands, er nutzte einfach jede Gelegenheit zu spielen. Bald trat er auch der schwarzen Musiker-Gewerkschaft bei. Im Sommer stieg er dann regelmäßig als Altsaxophonist in die Jimmy Johnson Big Band ein, die neben Bryant auch Golson verpflichtet hatte. Am 5. Juni 1945 hatten die Freunde dann ein Initiationserlebnis: Sie besuchten ein All-Star-Konzert in der »Academy of Music« von Philadelphia, das auch die beiden Bebop-Vorkämpfer, den Trompeter Dizzy Gillespie und den Altsaxophonisten Charlie Parker, auf dem Programm hatte. John und Benny kannten damals zwar einige Aufnahmen von Gillespie, doch mit Parkers Stil waren sie gänzlich unvertraut. Umso elektrisierender empfanden sie Birds Performance: Nach seinem Auftritt besuchten sie ihn backstage und holten sich ein Autogramm. Sie durften ihn anschließend sogar auf seinem Weg zu einem örtlichen Jazzclub begleiten und löcherten ihn unterwegs mit Fragen nach seinem Mundstück und der Stärke der Rohrblätter, die er benutzte. Später gestand Coltrane: »Als ich zum ersten Mal Bird spielen hörte, hat es mich förmlich umgehauen!« Es veränderte nicht nur sein Jazz-Verständnis, das bisher vor allem durch Swing-Nummern wie »Flyin’ Home« von Lionel Hampton oder »Take the A-Train« von Ellington geprägt war. Der Jazz, den Parker spielte, hatte dagegen eine unmittelbar existentielle Bedeutung: Es war etwas Neues, Aufregendes, Abenteuerliches, das man unbedingt erforschen musste.

John Coltrane

Подняться наверх