Читать книгу Eine Liebe in der Toskana - Peter Knobloch - Страница 7
Nicoletta
ОглавлениеMit Ringblock, Kugelschreiber und einem Langenscheidt-Wörterbuch machte ich mich auf meinen ersten Schulweg. Jetzt sah ich die Piazza endlich bei Tageslicht. Sie hatte mir schon bei meiner Ankunft auf Anhieb gefallen. Das großzügig angelegte Rechteck mit dem obligatorischen Garibaldi-Denkmal am Kopfende wurde umrahmt von den drei nächtlichen Plagegeistern, dem Dom mit seiner florentinischen Kuppel, und zwei weiteren steinalten, berückend schönen Kirchen.
Am schönsten aber war das Rathaus, das ungewöhnlicherweise frei und zentral mitten auf dem Platz stand. Der Palazzo d’Arnolfo erinnerte mit seinem stufenweise abgesetzten Dach an eine Pagode, und jetzt, als an diesem klaren, sonnigen Herbstmorgen die schneebedeckten Bergketten des Pratomagno von der Ferne her leuchteten, hatte das Ganze wirklich etwas Nepalesisches.
Über dem Eingangsportal des Rathauses wies ein großes Transparent auf eine Masaccio-Ausstellung hin.
Masaccio, das hatte ich im Internet gelesen, war ein bedeutender Renaissancemaler und ist mit Abstand der berühmteste Sohn der Stadt. Obwohl man, wie mir Franca vorhin beim Frühstück erklärt hatte, in diesem Zusammenhang auf keinen Fall Signorina Menghini vergessen darf, die San Giovanni auch viel Ruhm und Ehre einbrachte, als sie vor acht Jahren einen fantastischen zweiten Platz bei den Miss-Italia-Wahlen errang. Sie gehöre, so Franca, seitdem zur absoluten Toppprominenz (je länger ich mir das Wort anschaue, desto stärker wächst in mir der Wunsch, den Rechtschreibreformern die Hände abzuhacken) der Stadt.
Außer den Kirchen und dem Rathaus befanden sich an der Piazza ein Reisebüro, zwei Alimentari, drei Bars, ein Blumengeschäft, ein Eiscafè, eine Bank, eine Apotheke und, was mich sehr erstaunte, ein Chinarestaurant.
Ich fand das alles wunderbar. Die Sonne tauchte die Piazza in ein mildes Herbstlicht, vor mir stieben immer wieder Tauben auf, und ich gestehe ohne Reue, dass es mir sogar gefallen hat, auch wenn jetzt sicher dem einen oder anderen Leser ein angeekeltes »Iiiiieh, Tauben« entfährt.
Die Schule zu finden war kein Problem, sie lag ebenfalls direkt an der Piazza, auch wenn die Eingangstür in einer Seitengasse lag. Ich klingelte, ein Türsummer öffnete, und ich stieg in den dritten Stock eines verschachtelten Altbaus mit Atrium, Bogengängen und allem pipapo. Herrgott, warum ist hier nur immer alles so schön. Ich stand vor einer halb geöffneten Flügeltür, kontrollierte mit einem routinierten Griff noch schnell meinen Hosenstall und trat in ein Empfangsbüro, wo bereits ein paar andere Neulinge herumstanden. Eine schlanke, etwa fünfzigjährige Frau mit rotgefärbtem Haar, begrüßte mich und stellte sich als Schulleiterin vor.
Ich sah mich um.
Drei weitere Damen wuselten hinter dem Empfangstresen umher. Die mit den zwei pechschwarzen, fast blauschillernden Zöpfen sah ein bisschen aus wie Winnetous Schwester, Maria Versini, die Älteren erinnern sich. Dann war noch eine Kleine mit wilder Lockenpracht und südlichem Teint, und eine Dunkelhaarige fuhrwerkte am Kopiergerät herum.
Bereits zuhause hatte ich einen Einstufungstest ausgefüllt und per Email an die Schule zurückgeschickt. Die Schulleiterin blätterte in meinen Testbögen, las und nickte ab und zu wohlwollend. Meinen Test studierend fragte sie mich:
»Wo hast du so gut Italienisch gelernt? In der Schule? An der Uni?«
»Auf dem Campingplatz«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
›Und auf dem Topf‹, hätte ich allerdings noch hinzufügen müssen, denn der Campingplatz war nur die halbe Wahrheit. Aber da hätte ich wohl unangemessen viel aus meinem Intimleben preisgegeben. Dem Leser jedoch schulde ich brutalstmögliche Aufklärung, also gestehe ich hiermit, dass ich über den Zeitraum eines Jahres während der täglichen Verrichtung eines körperlichen Bedürfnisses, den kompletten ersten Band von »Italienisch für Sie« mit allen Grammatikübungen durchgearbeitet habe. Ja, ich habe diese Sprache auf dem Donnerbalken erlernt.
Aber das traute ich mir hier wirklich nicht zu bringen, also gab ich nur den Campingplatz an, was die anwesenden Damen aber auch schon so schräg und lustig fanden – wenn die erst wüssten –, dass alle lachten und mich neugierig anschauten.
Jetzt sah auch die Dunkle am Kopierer zum ersten Mal zu mir rüber.
In diesem Moment ist es passiert.
Es fällt mir schwer diese Sekunden, als sich unsere Augen zum ersten Mal trafen, in Worte zu fassen. Ihr Blick war kein Blick, es war ein Energiestrahl, ein Laserblitz aus einer anderen Welt. Starr stand ich da, während eine wahre Gefühlsflut über mich hereinbrach. Ich hörte das Intro von »Also sprach Zarathustra«, denn ich spürte, dass gerade etwas Großes und Epochales in mein Leben trat, gleichzeitig fühlte ich etwas Warmes und Weiches. In diesem glücksschaudernden Tsunami der Sinne zogen aber auch irritierende Wortfetzen wie »Kragenweite« und »Abschussliste« an mir vorüber.
Die Luft brannte, und jeder, ja jeder der Anwesenden musste von diesem kosmischen Ereignis elektrisiert gewesen sein, dachte ich.
Jahre später habe ich mal nachgefragt: Keiner konnte sich überhaupt an meinen ersten Tag erinnern.
Im Deutschen nennt man so etwas »Liebe auf den ersten Blick«. Die italienische Bezeichnung hierfür trifft in meinem Fall die Sache wesentlich besser: un colpo fulmine, ein Blitzschlag.
Die Schulleiterin hörte ich nur noch gedämpft aus der Ferne. Für eine Italienerin war sie, die Dunkle, erstaunlich hellhäutig. Sie war keine dieser auffälligen südländischen Schönheiten, diese fleischgewordenen Ferraris, von denen es ja reichlich in diesem gesegneten Land gibt. Sie war eine Schönheit auf den zweiten Blick, durchaus mit kleinen Fehlern behaftet, die sie aber nur noch interessanter, noch unwiderstehlicher machten.
Die Schulleiterin referierte von fern über die Kommunikationsfreundlichkeit von Campingplätzen im Allgemeinen und die von Campingplätzen in der Nähe Neapels im Besonderen.
Ich schätzte sie auf Ende zwanzig, Anfang dreißig. Zu ihren schulterlangen Haaren trug sie einen giftgrünen Pulli, einen schwarzen Rock sowie Strümpfe im gleichen Grün des Pullovers. Die schwarzen Schuhe wiederum zeigten exakt den Farbton des Rocks. Wie die meisten ihrer Landsleute hatte sie offensichtlich Spaß an der Mode und diese traumwandlerische Geschmackssicherheit. Sie hatte ein lustiges Gesicht, das heißt der Schalk war ihr ins schöne Antlitz geschrieben. Ein spitzer, sinnlicher Mund, eine schön geformte Nase, auf deren heller Haut sich zart ein paar Sommersprossen andeuteten. Aber das Beste waren ihre Augen! Diese großen, wunderschönen, dunkelgrünen Augen.
Ein flehender Wunsch stieg in mir auf: Lieber Gott, mach, dass dieses phantastische Wesen meine Lehrerin wird. –
Im selben Moment, als meine Kinnlade wieder zuklappte, hörte ich die Stimme der Schulleiterin wieder laut und deutlich:
»Und das hier ist Nicoletta, deine Lehrerin!« Sie deutete auf den Kopierer. – Treffer!!
In mir tanzten alle Glückshormone Kasatschok. Heute denke ich eher an den Bibelspruch: Wen Gott strafen will, dem lässt er seine Wünsche in Erfüllung gehen. Oder stammt das aus dem Talmut? Egal.
»Nicoletta wird dich gleich in deine Klasse begleiten. Ihr seid in der scuola nuova.«, fügte sie noch hinzu. Ein paar Klassen hatten sie wegen Platzmangel in ein anderes Gebäude ausgelagert.
Also mit meiner Lehrerin zurück über die Piazza. Obwohl wir uns noch überhaupt nicht kannten, plauderten wir schon erstaunlich locker miteinander. Sie war nicht nur schön, sie war auch nett. Sie fragte mich, was ich so mache, und wie alle männlichen Primaten in ähnlicher Situation, versuchte ich mich, als möglichst tollen Hecht darzustellen.
»Was? Du spielst Gitarre?«, rief sie begeistert. »Toll, freitags machen wir immer Songs. Bring sie mit!«
Klar würde ich sie mitbringen, mir bis dahin die Finger wund üben und spielen wie Jimi Hendrix und Eric Clapton zusammen. Oder sollte ich mehr die romantische Variante wählen? »Suzanne« von Leonard Cohen zum Beispiel. Das brachte bisher noch jedes Frauenherz zum Schmelzen.
Und wie sagte, nein hauchte, meinen Freunden und mir damals vor dreißig Jahren in einer sorrentinischen Bar eine rassige Italienerin zu später Stunde ans verdutzte Ohr:
»German men love Italian women ...«, sie nippte an ihrem Campari, sah herausfordernd hinter ihrem Glas hervor und raunte: »... and italian women love german men.«
Puhh! Diese rauchige Stimme, dieser erotische Akzent, frage nicht! Aber Uwe, Günther und ich, wir haben uns da auf überhaupt nichts eingelassen und verhielten uns in dieser delikaten Situation – war sie auch noch so verführerisch – absolut korrekt. – Notgedrungen! Wir waren ja betrunken wie tausend Russen. Wir befanden uns noch in dieser, für nordische Völker typischen, frühmännlichen Saufphase und anstatt aus dieser Jahrhundertgelegenheit Kapital zu schlagen, saßen wir nur dumm da und grinsten angesäuselt-doof. Aber das tut hier weiter nichts zur Sache.
Das hier war eine völlig andere Situation. Das hier war auf gut bayrisch eine gemähte Wiese, eine geradezu perfekte Ausgangsposition. Ich hatte sage und schreibe fast zwei Wochen Zeit, sie von meiner tiefen, ehrlichen Liebe zu überzeugen, von meinem aufrichtigen Wesen, meinem Charme, meiner Leidenschaft, und selbstverständlich würde ich ihr jeden Stern vom Himmel holen. Ihr bliebe letztendlich ja gar nichts anderes übrig, als sich in mich zu verlieben.
Hah, und diese geschniegelten Ragazzi, diese eitlen, oberflächlichen Gecken waren doch keine ernsthafte Konkurrenz. Ich würde sie allesamt in den Staub schleudern. Italienische Frauen lieben deutsche Männer! Punkt! In spätestens zwei Wochen wird sie erkannt haben, dass ihr Leben ohne diesen geistreichen, tiefgründigen, humorvollen, kurz einzigartigen Deutschen ein Irrtum war und ihm überall hin folgen. Sogar ins kalte, scheußliche Germanien.
Das arme Geschöpf. Sie war verloren!
*
Wie man unschwer erkennt, war ich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr ganz richtig im Kopf. Auch erschrecke ich im Nachhinein darüber, welch dunkle Pläne gerade mal fünf Minuten nach dem ersten Kennenlernen bereits in mir herum marodierten, welch Heimtücke, welch teuflische Niedertracht sich schon meiner bemächtigt hatte.
Ich möchte aber mit aller Entschiedenheit dem Eindruck entgegenwirken, es handle sich bei meiner Person um einen erotisch wahllos operierenden Schürzenjäger. Nein und abermals nein!
Der Künstler an sich ist zwar diesbezüglich sehr schlecht beleumundet – und was muss ich nicht alles tagtäglich auf meiner Internetstartseite über das fahrende Volk lesen –, doch bitte ich, mir zu glauben, dass es sich bei meiner Person um eine grundsolide Existenz mit einer exzellenten sozialen Reputation handelt. – Naja, damals noch handelte!
Gründe findet man immer. Da war das südliche Flair, der marode Zustand meiner Ehe, Bernd, die Autoheinis, aber lassen wir das alles mal lieber stecken. Es war einfach ein colpo fulmine, ein Blitzschlag, und die Bluthunde meiner Begierde, diese Bestien, die die letzten Jahre meist friedlich vor sich hin dösend verbracht hatten, waren mit diesem Schlag erwacht.
*
Das Klassenzimmer war ein heller, freundlicher Raum mit weißgetünchten Wänden und einer Gewölbedecke. In der Ecke stand ein Fernseher, und an den Wänden hingen Aufsätze von Studenten, die Venus von Botticelli als Poster, sowie ein illustrierter Stadtplan von Florenz.
Wir waren zu fünft in der Klasse. Ich wusste, dass der Unterricht ausschließlich in italienischer Sprache abgehalten werden würde und war gespannt, ob und wie es funktionierte.
»Mi chiamo Nicoletta!«, eröffnete die Schöne den Unterricht. »Ich heiße Nicoletta!«
Mi chiamo, mi chiamo! Wie das schon klang! Das ist keine Sprache, das ist Musik! Mi chiamo, mi chiamo, schalmeite es in mir, und für mich klang es wie ti amo, ti amo! Wie armselig ist doch da wieder mal unsere deutsche Sprache, dummbeutelte es in meinem Hirn. Amore, das ist doch was ganz anderes als unsere »Liebe«! »Liebe« klingt so piepsig, so spießig, so harmlos. Aber Amore! Da schwingt doch noch was ganz anderes mit ... etwas Dunkles... Rassiges ... Gefährliches ...
»Io sono italiana«, stellte sie sich weiter vor. »Ich bin Italienerin.«
Und was für eine! Wie sie wohl tickt? Was hält sie von Berlusconi? Welche Moralvorstellungen hat sie?
»Sono vostra insegnante (ich bin eure Lehrerin).«
Wie steht sie wohl zum Thema Sex vor der Ehe ... ich befand mich hier immerhin in Zentralitalien ... ist sie katholisch? ... wenn ja, wie arg? – Oh, es gab so viel zu erforschen ...
»E come ti chiami (und wie heißt du)?« –
Ach so, ich war dran.
»Mi chiamo Peter!« antwortete ich artig – mi chiamo ... ti amo ...
»Di dove sei (woher kommst du)?«
»Sono tedesco (ich bin Deutscher)!«
Und wir Deutschen haben ganz besondere Tugenden. Wir sind aufrichtig, beständig und treu. Also vergiss deine windigen Sonnenbrillenträger ...
»Sei sposato (bist du verheiratet)?«
Ich bekam einen Hustenanfall. Ach ja, da war ja noch was. Diese doch sehr persönliche Frage traf mich absolut unvorbereitet und hätte mich beinahe aus der Bahn geworfen Für einen schändlichen, kurzen Augenblick zog ich sogar die Möglichkeit einer Lüge in Erwägung, entschied mich dann aber doch für die Wahrheit. Man kann ja schließlich nicht die größte Liebesgeschichte seines Lebens mit einer Lüge beginnen. Pfui Teufel aber auch!
»Si, sono sposato!«, antwortete ich tapfer.
Das warf mich natürlich erst mal zurück. Aber ich hatte ja noch so viel Zeit!
»Io non sono sposata!«, flötete der süße Engel. »Ich bin nicht verheiratet!«
Die Bluthunde meiner Begierde sprangen mit einem Satz in Habachtstellung.
»Quanti anni hai?« wollte sie weiter wissen. »Wie alt bist du?«
»Ho quarantotto anni!«
»Ed io ho trentatre!«
Sie war dreiunddreißig, ich achtundvierzig! Hm, fünfzehn Jahre Unterschied, das ist sicher nicht soooo toll, für sie, meine ich, aber das liegt doch noch im grünen Bereich, oder?
Heute stelle ich mir immer wieder die Frage, welcher Affe mich gebissen haben mag, dass ich die theoretische Möglichkeit auch nur ansatzweise in Erwägung ziehen konnte, dass diese junge, schöne Signorina ausgerechnet mit einem beinahe fünfzigjährigen Familienvater aus Deutschland anbandeln könnte. Völlig unbegreiflich!
Sie wollte noch wissen, woher ich komme, fragte nach meinem Beruf und nach meinen Hobbys.
Dann waren die anderen an der Reihe.
Da war Emma, eine fünfzehnjährige Irin, die für ein ganzes Jahr hier blieb, Nazuko, eine quietschige Japanerin aus Yokohama, ein ganz besonderes Exemplar, wie sich später noch herausstellen sollte, und zu guter Letzt noch zwei unreife Isländerinnen, die für den weiteren Handlungsverlauf keine Rolle spielen. Sie saßen die letzten Tage ihres dreimonatigen Gastspiels ungeduldig ab und konnten es kaum erwarten, auf ihre kalte, dunkle Vulkaninsel zurückzufliegen.
Aber erstaunlich wie wir redeten, kreuz und quer und immer munter drauf los. Wenn es mal klemmte, half Nicoletta behutsam nach. Es funktionierte also. Es funktionierte sogar sehr gut. Es funktioniert übrigens auch – so habe ich mir sagen lassen – mit blutigen Anfängern.
Diese Form des Unterrichts war auch deshalb so kurzweilig, weil er nichts mit den Sprachlektionen meiner Schullaufbahn zu tun hatte. Es gab Konversation, Spiele und interaktive Aufgaben.
Ich ging in meinem Leben zwar lange, aber nie gerne zur Schule und hatte zum Lehrkörper in der Regel ein schwieriges, in manchen Fällen sogar zerrüttetes Verhältnis. Bei diesem Lehrkörper sah das komplett anders aus. Regelrecht besoffen lauschte ich Nicolettas ganz eigener Sprachmelodie, hing wie ein treudoof dreinblickender Dackel an ihren schönen Lippen, wenn sich diese zu einem offenem »o« formten, wenn sie das »r« rollte und sie die Zunge in ein fast tänzerisches »Doppel-ll« fallen ließ. Und wenn die sprachlichen Möglichkeiten nicht mehr ausreichten, die Bedeutung eines Wortes zu erklären, dann machte sie das große Fass auf und stellte es auf hinreißende Art mimisch und gestisch dar.
Che bellezza! Che dolcezza!
Nach zwei Stunden war Pause. Um uns Neue einzuführen, hatte man in der Aula ein kleines Buffet mit spuntini, mit kleinen Häppchen, aufgebaut. Zum ersten Mal sah die anderen Studenten, Amerikaner, Spanier, Skandinavier, Japaner, Engländer, verhältnismäßig wenige Deutsche und keine Franzosen.
Die Schulleiterin hielt eine kurze Begrüßungsrede und machte uns mit den Gegebenheiten vertraut: wo befindet sich der Bahnhof, die Post, das Internetcafé und so weiter. Dann erklärte sie den Ablauf der Woche, wies darauf hin, dass es am Mittwoch eine Weinprobe in Chianti gebe – das hörte sich schon mal gut an –, am Freitag einen Ausflug nach Arezzo, und schloss mit einem »for any requests please come and ask us«.
Damit war der offizielle Teil der Pause beendet. Ich nahm mir ein paar crostini, das sind mit verschiedenen Aufstrichen versehene Toasts, und ging mit den anderen nach draußen.
*
Nach der Pause waren Rollenspiele an der Reihe. Wir sollten um die Hand unseres Tischnachbarn anhalten. Nicoletta kritzelte das dafür erforderliche Vokabular an die Tafel, und ich richtete meinen Heiratsantrag an Nazuko.
Auf Knien balzte ich vor der schönen, nun jedoch errötenden, verlegen kichernden Tochter Nippons meinen Liebesschwur:
»Ti amo ti amo amore mio, ti voglio bene«, schmalzte ich in perfektem Kavaliersbariton, »sei l’unica donna del mondo per me! Il mio amore è infinito e piccolo farfallino mio, vorrei chiederti per diventare la mia moglie?«*2
Welch formvollendeten Romeo gab ich da ab! Was für ein Schmelz in meiner Stimme! Welche Saiten meiner Seele waren da auf einmal zum Schwingen gebracht worden? Und warum hatte ich mein Talent bislang nur an das minderwertige Kabarett verschleudert?
Kabarett! Kleinkunst! Kleine Kunst! Was für eine Verschwendung! Das Charakterfach wäre meine Welt gewesen. King Lear! Hamlet! Faust! Große Kunst! – Aber vertan, vertan!
Nazuko kicherte ein quietschendes: »Si!«
Die anderen Studenten prusteten nun ihr bislang mühsam unterdrücktes Lachen lauthals heraus. Nicolettas Oberkörper lag schon länger bebend, vornübergebeugt auf dem Pult, jetzt richtete sie sich Lachtränen-überstömt auf.
Grande applauso! Großes Kino!
So macht man das! Mit Glanz und Bravour hatte ich gleich mal meinen ersten Freistoß souverän in die Maschen gehämmert. Das ließ sich doch wunderbar an. Operation »Eroberung einer stolzen Italienerin« lief wie geschmiert.
Die Bluthunde meiner Begierde witterten Morgenluft!
*
Nachmittags machte Rossana, »Winnetous Schwester«, für uns Neulinge eine kleine Stadtführung. Wir bummelten auf dem Corso, die für den Verkehr gesperrte Hauptgeschäftsstraße, und ich staunte über die Vielzahl von Geschäften, die es hier gab. Sicher kann San Giovanni nicht mit Lucca, San Gimignano oder Siena mithalten, aber das hatte durchaus seine Vorteile. Moderate Preise, keine Touristenscharen, kein Souvenirschnickschnack, es war eben kein Museum, sondern eine echte italienische Kleinstadt, lebendig, umtriebig, mit vielen kleinen Läden und Handwerksbetrieben. Hier gab es alles. Von der Schusterwerkstatt bis zur Polsterei, von der Modeboutique bis zum Weinhändler.
In meiner Heimatgemeinde Sollnstein, sie zählt immerhin fast zweitausend Einwohner, gibt es nicht einmal mehr einen Tante-Emma-Laden. Das letzte Lebensmittelgeschäft hat vor vier Jahren aufgegeben.
Mir gefiel, dass alles zu Fuß unterwegs war. Im zersiedelten Sollnstein sieht und grüßt man sich nur noch aus dem Auto heraus, und ein Sollnsteiner, der werktags zu Fuß durch sein Dorf geht, ist entweder betrunken, war betrunken, oder sein Auto ist kaputt.
Aber wie machen die das nur, fragte ich mich. Wie können drei Fachgeschäfte für Damenhandtaschen in einer einzigen Straße überleben? Die geschätzten fünfundzwanzig Friseurläden allein in der Altstadt, die unzähligen Schuhgeschäfte, die vielen Alimentari, die Bars, wie funktioniert das? Obendrein gab es noch einen großen Coop-Supermarkt und jeden Samstag einen Wochenmarkt. Konsumieren die bis die Kreditkarte glüht? Nein, sicher nicht, die Italiener haben die niedrigste Privatverschuldung in Europa. Ist da nicht schon wieder der deutsche Steuerzahler der Dumme?
Auf der Piazza zeigte uns Rossana zuerst das Rathaus, den Palazzo d’Arnolfo, und dann die drei Kirchen, von denen die älteste, die Chiesa San Lorenzo aus dem vierzehnten Jahrhundert eindeutig den Vogel abschoss: Der Mesner öffnete für uns eine Schrankwand, hinter der das Skelett eines Mannes hing, den man hier vor über einem halben Jahrtausend eingemauert hatte.
Da staunte der leicht schockierte Protestant und musste anerkennen, dass die Katholiken, was die special effects betrifft, den Evangelen um Lichtjahre voraus sind.
Wir hatten uns vom gruseligen Knochenmann noch nicht richtig erholt, da kam schon der nächste Kracher. Im benachbarten Dom klärte uns Rossana über das berühmte sangiovanesische Milchwunder auf, dem miracolo del latte.
Zu Zeiten der Pest hatte im kriegsverwüsteten San Giovanni eine Großmutter unversehens ihr verwaistes Enkelkind, einen vier Monate alten Säugling, an der Backe. In ihrer Not begab sie sich zum Stadttor und bat dort unter dem Bildnis der heiligen Mutter Gottes um Hilfe. Kaum war ihr Amen verklungen, füllten sich ihre alten Brüste mit Milch, und noch am selben Abend konnte die Alte den hungrigen Säugling stillen.
Die Stadtväter waren damals der Ansicht, dass das ein Spitzenwunder war und taten das, was man in einem solchen Fall immer tat. Sie bauten an der Stelle, wo sich das Wunder ereignet hatte, einen Dom. Da aber das Stadttor schon damals ein verkehrstechnisch unverzichtbarer Bestandteil der sangiovanesischen Infrastruktur war, bauten sie die Kirche einfach über und um das Stadttor herum. Und noch heute – sechshundert Jahre später – fährt man als Autofahrer unter dem Dom hindurch.
Da lächelt der Katholik, und der Protestant schlackert nur so mit den Ohren.
*
»Bist du auch ein guter Schüler?«, wollte meine vierzehnjährige Tochter Romy wissen.
»Ja, bin ich«, antwortete ich. »Oder sagen wir mal so, ich bin nicht schlechter als die anderen.«
»Mach mir ja keine Schande, hörst du?«, gluckste sie am Telefon.
Es war ihr ein unüberhörbares Vergnügen, mit ihrem Vater endlich mal auf Augenhöhe, sprich von Schüler zu Schüler zu sprechen.
»Ich doch nicht!«
»Was habt ihr heute gemacht?«
Ich erzählte von meinem ersten Schultag und beschrieb ihr den Unterrichtsstil. Sie hörte interessiert zu, stellte eine Reihe von altklugen Fragen und veränderte ihre Position immer mehr Richtung Mutter, die sich ein Bild von der Schule ihres Sohnes machen wollte.
Hier unterschied sie sich gründlich von ihrem älteren Bruder, der mit einem, sagen wir mal leicht gestörten Verhältnis zur Institution Schule doch schwer seinem Vater nachschlug und niemals auch nur in einem Nebensatz einen Anflug von Interesse an schulischen Dingen bekunden würde. Leider!
Überhaupt sind Töchter wesentlich besser als Söhne. Sie sagen einem, wenn einem ein Haar aus der Nase sprießt, wenn das Hemd nicht zu Hose passt, und wenn man endlich mal wieder zum Friseur gehen sollte.
Alles praktische Dinge, die einem nie Söhne, sondern nur Töchter sagen. Töchter sind einfach besser.
»Wann kommst du wieder?«
»Nächste Woche Donnerstag.«
»Du weißt, dass du mir was mitbringen musst?« – Nein, Söhne sind besser!
»Dann hören wir aber jetzt besser auf, sonst hab ich bis dahin kein Geld mehr. Auslandsgespräche sind teuer, meine Liebe!«
»Ciao Papa! Bussi!
»Ciao meine Süße!«
Ich hatte mich sehr über das Telefonat mit Romy gefreut, spürte jetzt aber ein merkwürdig indifferentes Gefühl in der Magengegend.
*
Nachdem ich das Abendessen mit Franca und einer Folge von »Kommissar Rex« (il comissario Rex) eingenommen hatte – Franca hatte pausenlos die Schönheit und Klugheit des Tieres gepriesen –, ging ich nochmal raus und schlenderte über den Corso.
In der Bar Valentino sah ich durch die Fensterscheiben ein paar Studenten am Tresen stehen, und da ich Emma und Nazuko aus meiner Klasse erkannte, trat ich ein und gesellte mich zu ihnen.
Die Gruppe wurde von zwei mittelalterlichen Herren aus der Parallelklasse komplettiert.
»Hi, my name is Murdo. I’m from Scotland«, stellte sich der eine vor.
»Und ich bin König Arthur!«, fiel ihm sein Nebenmann ins Wort. »Ich komme aus dr Schweiz.« Nun, das war unüberhörbar.
»König Arthur?«, wiederholte ich und sah ihn fragend an.
»Vorname Arthur, Nachname König!«, kicherte er und breitete triumphierend seine Hände aus, als hätte er ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert: »Arthur König, König Arthur!«
Obwohl er den Gag mit seinem Namen sicher schon tausendmal gebracht hatte, bebten seine Schultern vor Lachen. Er sprach mit einem starken schweizer Akzent und gehörte zum Typus des, vor allem in Bayern häufig anzutreffenden, Schlitzaugenlachers. Bei ihm verengten sich die Augen beim Lachen zu Schlitzen. Prominente Beispiele für den Schlitzaugenlacher sind Mick Jagger, Peter Maffay, aber auch Franz Josef Strauß, bei dem zum Schlitzauge noch das Schlitzohr hinzukam.
König Arthur war untersetzt und hatte dünnes, blondes, zur Seite gescheiteltes Haar. Er lebte in Basel und war von Beruf Schreinermeister. Murdo war Geographielehrer und kam jedes Jahr nach San Giovanni.
Nach dem Espresso kam schnell das erste Bier, dann das zweite, dann verabschiedete sich Emma, denn als Fünfzehnjährige musste sie um einundzwanzig Uhr auf ihrem Zimmer sein.
Jeder plauderte nun ein bisschen von seinem Land und seinen Leuten.
»Ich lebe zwar jetzt in Glasgow, komme aber ursprünglich aus einem kleinen Dorf in den Highlands«, erzählte Murdo, der mit seinem schwarzen Schnurrbart einem fülligen Peter Sellers ähnelte.
Und dieses Kaff, so fuhr er fort, sei zwar ein verschlafenes Drecksnest, es sei aber doch tatsächlich einmal vom Mantel der Geschichte, oder besser gesagt, von einer Messerschmidt einhundertzwölf gestreift worden.
»Neunzehnhunderteinundvierzig, da ist das Flugzeug von Hess, von eurem Rudolf Hess …«, hob der Schotte an und deutete mit dem Finger auf mich.
»Das ist nicht mein Rudolf Hess!«, stellte ich sofort richtig. Gerade wir Deutschen müssen bei diesen Dingen immer besonders wachsam sein.
»It’s a joke«, wiegelte der Schotte ab, »auf jeden Fall ist dessen Flugzeug gleich neben unserem Dorf abgestürzt. Und das ganze Dorf ...«, Murdo nahm nun eine geduckte Haltung an und sprach gedämpft weiter, »das ganze Dorf ist zur Absturzstelle gerannt, und alle haben sich Teile des Wracks als Souvenirs unter den Nagel gerissen. Mit Sägen, Äxten, Schraubenschlüsseln, alles was sie kriegen konnten! Es gibt in unserem Dorf kein Haus«, schloss der Schotte mit genüsslich breitem Grinsen, »das nicht irgendein Teil des Fliegers auf dem Speicher versteckt hält.«
Wir waren inzwischen ziemlich aufgedreht und amüsierten uns schenkelklopfend am Bild der schottenberockten Highlander, wie sie sich auf die zerschellte Maschine stürzten.
»Da hing ja der Bomber wie ein Damenkloschwert über eurem Schottennest!«, kommentierte König Arthur in bestem schweizer Singsang und grinste dabei wie Kublai Khan nach der Niederschlagung der Mandschurai-Rebellion.
König Arthurs Spezialität waren, wie sich bald herausstellte, gewollte, beziehungsweise ungewollte Versprecher. Ich rätselte später oft, ob und wann er das absichtlich machte und wann nicht. Wenn er »kalt erpresstes Olivenöl« sagte, war der Fall klar, auch noch bei »Sodom und Gomera«, aber bei den »Klischeehandschuhen« statt »Glacéhandschuhen« war ich mir nicht mehr so sicher.
Der Versuch, Arthurs humoristische Glanzleistung vom »Damenkloschwert« für Murdo ins Englische zu übersetzen, scheiterte kläglich.
Als der Barmann eine Flasche Limoncello auf den Tresen stellte, fragte mich der Eidgenosse: »Was ist das?«
»Ein Limoncello!«, antwortete ich.
»Ein Limoncello?« Am Wortende ging immer seine Stimmmelodie nach oben.
»Das ist ein Likör, der aus Zitronenschalen gemacht wird.«
»Ein Likör?«
Jetzt war’s wieder anders herum. Das Wort »Likör« betonte er auf der ersten Silbe.
Er betrachtete noch einmal prüfend die Flasche und sagte: »Und ich dachte schon, das wäre ein Shampoo!«
Er nippte vorsichtig, setzte ab, zog die Augenbrauen nach oben und rief in fast perfektem italienisch: »Lecko mio!«
Nach dem Limoncello schwenkten wir wieder auf Bier um. Die Stimmung wurde zusehends ausgelassener. Ganz nebenbei erfuhren wir Wissenswertes über das Land der aufgehenden Sonne. König Arthur schnäuzte sich die Nase, und Nazuko hielt sich zu unserem Erstaunen kreischend die Ohren zu. Sie erklärte uns ihr Verhalten damit, dass in Japan ein Schnäuzen in der Öffentlichkeit genauso unanständig sei, wie bei uns ein lautes Pupsen.
»Und was macht ihr, wenn euch die Nase läuft?«, wollte ich, sofort von völkerkundlicher Neugier gepackt, wissen.
»Wir ziehen es wieder hoch!«, antwortete sie, und schniefte zu Demonstrationszwecken einmal kräftig durch die Nase.
Ach bunte Welt, ach fremde Völker!
Es folgten weitere Biere. Ich will hier nicht zu sehr die Segnungen des Alkohols lobpreisen, aber es gibt Abende, die sind in ihrer ganzen Schönheit nur mit einer gewissen Grundbetrunkenheit erfahrbar. Wie von einem Zauberstab berührt, fängt dann auf einmal alles rundherum zu funkeln und zu leuchten an. Aus einer kärglichen Bar wird ein prunkvoller Festsaal, und aus einer Polka wird eine strahlende Symphonie. Es beginnt mit einem gemächlichen Andante, gleitet über in ein leichtes Scherzando und mündet in ein rauschendes Allegro. Und wie in der klassischen Musik wird ein ständig wiederkehrendes Thema unablässig neu variiert und interpretiert.
Der nüchterne Betrachter schlägt sich verzweifelt den Kopf auf die Tischplatte, aber für den Säufer entfaltet sich nun das große Glück.
In unserem Fall sah das so aus, dass drei Sprachstudenten im besten Mannesalter, imaginäre Äxte schwingend, durch die Bar sprangen und mit albernem Gelächter den schottischen Akzent von Murdos Landsleuten imitieren: »An aerrroplane frrrom the Krrrauts with grrreetings frrrom Adolf Hitlerrr ...«
Dazwischen infernalisches Geschnäuze und eine aufjaulende Nazuko, »... it must be a Messerrrschmidt ... King Arthurrrrrrrr ... wherrre is Sirrrr Galahad ...«
O herrliche Leichtigkeit des Seins! Ein wahrhaft großer Tag fand hier sein finale furioso.
Hochzufrieden begab ich mich nach Hause, legte mich in mein quietschendes Eisenbett und zog Bilanz:
Ich hatte eine interessante Stadt und viele nette Leute kennengelernt. Ich hatte wertvolle völkerkundliche Beobachtungen gesammelt und den Verbleib der Hess’schen Messerschmidt in Erfahrung gebracht. Ich hatte mein Italienisch vervollkommnet und im reifen Alter noch die Erfahrung machen dürfen, dass Schule Spaß machen kann. Ich hatte mich unsterblich verliebt und sogar bereits erste, vielversprechende Erfolge in dieser Angelegenheit verbuchen können. Darüber hinaus hatte ich drei Kirchen, ein Skelett und zum ersten Mal in meinem Leben eine komplette Folge von »Kommissar Rex« gesehen.
Mehr kann man von einem Tag nicht verlangen. Mehr Leistung geht nicht!
Ich dankte dem lieben Gott und Rainer Maria Rilke. Sobald ich nach Deutschland zurückkehrte, würde ich mir sein Gesamtwerk kaufen.
Ja, ich glaube Nicoletta mag mich, umwölkte es mich noch, als ich mich behaglich in mein Laken räkelte. Und außerdem, Italian women love German men, da konnte ja gar nichts schief gehen. Meine Operation lief wie geschmiert. Ach was, Operation! Ein Feldzug würde es werden, ein Feldzug für die Liebe. Une battaglie d’amour! Voilà! Allez les bleus!
Und du San Giovanni Valdarno, du sollst mein Austerlitz sein!
Was hatte mein Leben auf einmal für einen wundervollen Drive?
»Mi chiamo mi chiamo, ti amo ti amo«, echote es noch von fern, ehe mich Orpheus in seine Arme schlang.