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Geschichte eines Schneckenhauses

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Moana, den siebenundvierzigsten König der Bakalya, ließ der Präsident in einem Seitenflügel des neuen Regierungspalasts verhungern, vor dem flämische Gärtner Teerosen unter der Äquatorsonne drei Monate am Leben erhalten und danach durch neu eingeflogene Rosenstöcke ersetzen mussten.

Der König hatte dem Präsidenten die jüngste seiner vier wahren und wirklichen Gemahlinnen verweigert, als der große Führer auf seiner Triumphfahrt durchs Innere für eine Nacht in Mbandwela abgestiegen war, dem Hauptort der Provinz, in der das Land der Bakalya lag. Umsonst hatte ihn Moana gebeten, sich doch statt ihrer eine seiner Nebenfrauen auszusuchen, mit denen er zum Empfang an den Flugplatz gekommen war. Er hatte ihm sogar seine Schwester angeboten. Die Leibwache hatte ihn zusammengeschlagen und den Fluß hinunter in die Hauptstadt gebracht. Auch die Frau war in den Händen dieser Riesen mit den gewaltigen Unterkiefern verschwunden; vermutlich war sie schon tot, als das Schiff vor der Stadt anlegte.

Moana aber durfte nicht durch eine Kugel oder einen Machetenhieb in den Nacken umkommen; das wäre zu königsgemäß gewesen und nicht genug für die Wut des Präsidenten. Ein Herrscher der Bakalya musste von einer Waffe sterben, wenn seine Kraft auf den Nachfolger übergehen und seinem Land und Volk erhalten bleiben sollte; an seinem Hof gab es eine besondere Lanze und einen Pygmäen, der sie ihm in die Brust stoßen musste, wenn er seine Kräfte nachlassen fühlte, spätestens wenn er auf dem Totenbett lag und sein Atem gerade noch nicht von ihm gegangen war. Jetzt sollte der siebenundvierzigste König der Bakalya ohne Lanzenstoß sterben, in grauer Hoffnungslosigkeit und allein. So schwach sollte er sterben, daß nach dem Tod nichts mehr übrig wäre, was er noch auf seinen Nachfolger übertragen könnte. Vollkommen ausgelöscht sollte er sterben; so wollte es der Präsident, und so, wusste Moana, würde es auch geschehen.

Er war ein glückloser König, und freudlosen Gemüts war er schon gewesen, bevor er den Weg des Präsidenten gekreuzt hatte, sogar schon bevor er König geworden war. Damals war bereits die Kraft der Dynastie und des Volkes vor seinen Augen verblasst. Er folgte seinem Onkel Mochwabe auf den Thron im Bewusstsein, daß nichts mehr davon übriggeblieben war.

Die Bakalya hatten immer viele Dinge besessen, in denen Kräfte ihren Sitz hatten. Es waren zum Teil Dinge, in denen von Natur aus eine Kraft zu Hause war und nutzbar gemacht werden konnte, bestimmte Blätter und Früchte etwa oder Fellstücke, Klauen und Zähne mancher Waldtiere, zum Teil aber auch von den Bakalya selbst hergestellte Gegenstände, in die Schmiede und andere wissende Männer erst Kräfte hineinbannen mussten. Die Bakalya waren ein Volk von Schnitzern, das die Geister, die mit ihnen im Lande wohnten, in Masken darstellte, damit sie darin ihren Sitz nehmen, zu den Kindern sprechen und sie zu Männern machen könnten, und am Königshof gab es Leute, die immer wieder Statuetten aller Kalyaherrscher fabrizierten, damit ein Stück königlicher Kraft darin Platz nähme und dem Volk und der Dynastie erhalten bliebe. Mit finsteren, bedrohlichen Mienen saßen diese Königsbilder auf ihren Schemeln, und die Schnitzer gaben acht, daß ihrer Kraft kein Unglück zustoßen könne: sie schnitten ihnen nur schmale Schlitze in die Augen, von einem Winkel zum andern, durch die sie wohl herausblicken und ihre Kraft im Blick mitteilen konnten, aber selbst nichts wahrnahmen, was ihnen Unruhe gebracht und ihre Stärke gemindert hätte. Zu den Füßen jedes Königs aber brachten die Schnitzer an, was er seinem Volk gebracht hatte, vor dem zwölften eine kleine Trommel, vor dem fünften eine Hacke und vor dem einunddreißigsten das Abbild der Orakelschale, aus der ein Großer am Hof die Tage für die Riten bestimmte. Dem ersten Herrscher Molima, dem Gründer des Kalyavolkes, war ein kleines Schneckenhaus beigegeben; es gab das Kraftgefäß wieder, das die Bakalya höher achteten als jedes ihrer Kunstwerke und das von Molima an im Besitz der königlichen Familie geblieben war. Dieses wahre und wirkliche Schneckenhaus stammte nicht aus dem Waldland zwischen den beiden Schwarzwasserseen, zwischen denen jetzt das Reich der Bakalya lag. Es war anders als alle anderen Kraftträger, die dieses Volk zu eigen hatte. Sie alle hatten den Geruch und die braune Farbe des Waldlandes. Die Masken und Königsbilder, mochten sie auch mit Kaurischnecken und Glasperlen aus Damaskus und Venedig geschmückt, manchmal regelrecht überkrustet sein, waren aus dem braunen Holz der Wälder des Kalyalandes, und all die Fellstücke, Fruchtkapseln und getrockneten Blätter aus dem Wald waren braun wie der Moder auf seinem Boden und das Wasser in den Bächen und Rinnsalen, auch wie das Wasser der beiden Seen, das so trüb war, daß man seine Zehen nicht mehr sah, wenn man auch nur bis zum Knöchel darinstand. Selbst Zähne und Elfenbein nahmen unter den Händen der Bakalya bald diese Farbe an, weil sie mit Palmöl eingerieben wurden, damit sie nicht rissen. Nur die große Schneckenschale des Königs blieb, wie sie immer gewesen war. Ihre großporige, gewellte Oberfläche mit den gedrungenen Dornen darauf glänzte stets im gleichen grauen Weiß, und auch der bleichrote Rand um den 'Mund' änderte sich niemals. Immer konnte man aus ihm heraus die Kraft der königlichen Schnecke leise rauschen hören.

Es war die Schale einer Purpurschnecke, die unter ihr vor mehr als tausend Jahren noch Jagd auf Muscheln gemacht hatte, im flachen Wasser hinter dem Riff an der Küste von Kenya. Hatte sie der Stammesgründer selbst mit herauf ins Hochland gebracht, hatte sie ihm ein Händler verkauft, vielleicht sogar einer von heller Hautfarbe? Wer weiß, wer damals schon alles durch Ostafrika gezogen ist.

Die dynastischen Hymnen der Bakalya erzählen die Sache allerdings anders. Sie berichten von einem tiefen See, auf dessen Grund die Schnecke gelebt habe. Ein kristallklarer See sei es gewesen, nicht ein Torfwasser wie die beiden Seen des jetzigen Kalyalandes, und von überall her habe man die Schnecke deutlich auf dem kiesigen Grund gesehen, umgeben von riesigen Fischschwärmen. Aber unendlich tief sei der See gewesen, und nur Molima habe es fertiggebracht, in ihn hinabzusteigen und die Schnecke heraufzuholen. Da seien ihm Fische nachgekommen, unendlich viele Fische, und die Fische seien ihm auf den Schoß gesprungen, auf dem er die Schneckenschale hielt. So habe er Nahrung gehabt für viele; Leute hätten sich um ihn geschart, und immer wenn die Nahrung ausgegangen sei, habe er nur die Schnecke auf den Schoß nehmen müssen. Die sechs Barden am Hof der Kalyakönige singen noch immer die langen Lobeshymnen der Ältesten mehrerer Clane, mit denen sie sich Molima untertan machten; sie singen aber auch von Movaya, dem fremden Zauberer, der nach dem Tod Molimas der Schnecke einen Teil ihrer Kraft nahm. Fruchtbarkeit spendete sie noch fortan; aber sie zog keine Fische mehr aus dem kristallklaren See auf den Schoß des Königs, und Movaya zwang den Sohn der Schwester Molimas, Mohoto, mit dem ganzen Volk von den Ufern des Sees wegzuziehen, wo es ihnen so gut gegangen war.

Es war ein Volk auf Wanderschaft geworden, und wenn auch die Hymnen berichten, daß jeder König wieder etwas Neues fand, um seinem Volk Leben und Unterhalt zu sichern, so muß doch mancher Clan unterwegs abgebröckelt sein. Aber die Namen der Abtrünnigen sind für immer in den Liedern gelöscht. Die Barden wissen nur von neuen Clans, die sich auf dem langen Weg um den Mann mit der Purpurschneckenschale sammelten. Die Bakalya zogen von dem kristallklaren See ins Bergland hinauf, von den Bergen wieder herunter in die Savannen nördlich des großen Flusses und zuletzt von den Savannen in das Waldland, in dem sie jetzt noch lebten.

Hier im Waldland hatten sich kleine, clanlose Leute zu ihnen gesellt. Die Bakalya nahmen sie in ihre Clans auf; aber sie gaben ihnen nicht von ihren Töchtern zu Frauen, noch nahmen sie selbst Mädchen von den Pygmäen; denn diese Leute blieben halbe Tiere, auch wenn sie jetzt denselben Clans angehörten wie die Bakalya. Sie lebten nicht von Feldern und vom Fischfang auf den beiden Seen des Kalyalandes, sondern suchten sich ihre Nahrung im Wald. In kleinen, unordentlichen Behausungen lebten sie am Rand der Kalyadörfer, verachtet und gefürchtet zugleich; denn sie mussten über große Kräfte verfügen, um sich so tief in den Wald hineinzutrauen und oft auch noch allein, und nur Zauberer konnten all das Waldgetier essen, Flughunde, Hamsterratten, Frösche, Mäuse, ohne Schaden zu nehmen. So gewaltige Zauberer waren sie, daß der König die unter ihnen, die seinem Clan angehörten, in seinen Dienst nahm, und sogar das große Schneckenhaus wurde ihnen anvertraut.

Es wohnte jetzt in einem Korb, der einer Kalyatrommel glich. Kein anderer Korb im Kalyaland durfte die gleiche Form haben, und nur die Mutter des Königs und seine Schwester, die den Thronfolger geboren hatte, durften ihn flechten - ein feineres Geflecht war in keiner Kalyahütte zu finden. Sorgsam wurde die Schneckenschale vor der Sonne geschützt und vor den Blicken der gewöhnlichen Leute; es sollte nicht noch einmal vorkommen, daß jemand ihrer Kraft Schaden tun könnte wie damals am kristallklaren See Movaya, der fremde Zauberer. Es war kompliziert geworden, ihre Kraft dem Land und dem Volk zu übertragen. Der König musste dazu einer seiner vier wirklichen und wahren Gemahlinnen beiliegen, die je einer Provinz seines Reiches und auch einer Himmelsrichtung entsprachen. Ein Großer des Hofes bestimmte die Tage des Beilagers aus der Orakel- schale, und nie durfte der König diese vier Frauen zu einer anderen Stunde berühren als der vorbestimmten, und während des Akts hatten ihm zwei Pygmäenfrauen die Schneckenschale fest auf den Rücken zu pressen, damit sich zugleich mit dem Sperma ihre Kraft ergieße, auf den Feldern der Bakalya Bananen und Maniok wachsen lasse und Söhne im Schoß ihrer Frauen und Fische kommen lasse in die Netze der nächtlichen Fischer auf dem nördlichen und auf dem südlichen See. Die Stacheln des Schneckenhauses schnitten den König oft in den Rücken; das war dann ein böses Omen für das Land. Aber die Narben dort, wo die Schneckenschale den König 'gebissen' hatte, waren doch so sehr Zeichen der Kalyaherrscher, daß die Schnitzer sie auch in die Rücken der Königsbilder schnitten.

Sonst verließ die große Schnecke ihr geflochtenes Haus nur, wenn die Bakalya in den Kampf zogen. Der König zog nicht mit in den Krieg, sondern ließ sich mit dem Gesicht zum Schlachtfeld auf einem reich beschnitzten Schemel in seiner dunklen Hütte nieder, in der rechten Hand die Lanze, mit der er einst getötet werden sollte, und auf seinem Schoß das Schneckenhaus, dessen Mund ebenfalls nach dem Ort weisen musste, wo die Kalyakrieger wahrscheinlich auf ihre Gegner stießen. Von der Konzentration des Königs hing es nun ab, ob die Kraft der großen Schnecke den Bakalya zu Hilfe kommen würde, weniger um ihnen selber Mut und Stärke zu geben als den Feinden Ohnmacht und Schrecken.

Immer konnte das den Herrschern des Kalyavolks nicht gelungen sein. Die Hymnen freilich berichteten von keiner Niederlage; immer war es die Weisheit der Könige gewesen, die die Bakalya ihre Wohnsitze verlegen ließ. Aber sie konnte kaum der einzige Grund dafür gewesen sein, daß die Bakalya schließlich die Savanne verlassen und sich in unwegsamem Wald und Sumpf angesiedelt hatten, wo es so unendlich viel mühsamer ist, ein Feld zu roden, als im Grasland. Und selbst zwischen ihren beiden schwarzen Seen waren sie nicht ohne Feind geblieben. Von Norden her waren die Bantika tief in ihr Gebiet eingedrungen, Barbaren ohne Könige, dynastische Gesänge und Bildwerke, die sich in ihren Heldenliedern rühmten, unzählige Bakalya einfach aufgegessen zu haben, samt ihren Pygmäen. Seit dieser Invasion entsprach die königliche Gemahlin des Nordostens eigentlich kaum noch einem Landstrich, über den der König wirklich gebot.

Ein paar Könige später waren neue Fremdlinge aufgetaucht, bleiche Männer ohne Lippen, deren Haare braun und glatt waren wie das Fell der Waldtiere. Sie besaßen furchtbare Waffen, mit denen sie einen Affen auch noch aus dem höchsten Baumwipfel herunterschießen konnten, und der König hielt es für klug, sie freundlich an seinem Hof aufzunehmen; hatten seine Vorgänger nicht auch die Pygmäenzauberer zu sich geholt, sie sich untertan gemacht und ihre Kraft der Dynastie zu eigen? Erst als die fremden Bleichlinge Tribut von ihm verlangten und ein Viertel aller Männer seines Reichs, um ihre ferne Hauptstadt unten am großen Fluß zu bauen, zogen die Bakalya in den Kampf. Es war schon zu spät. Die Weißen warteten gar nicht erst ab, daß die Kalyakrieger sich vor ihnen aufstellten und sie mit Geschrei und langatmigen Schimpfkanonaden einzuschüchtern versuchten, wie es der Kriegskomment in diesem Teil Afrikas vorsah. Das, was sie einen Aufstand gegen König Leopold den Zweiten nannten, kostete sie ein paar Gewehrkugeln - die meisten davon schossen sie nicht einmal selber ab, sondern ihre Askaris von der Küste -, die Bakalya aber mehr Tote, als die Bantika in Wirklichkeit je von ihnen verzehrt hatten. Den König brachten die Askaris nach Mbandwela, wo er in der Verbannung Selbstmord beging, und die Weißen setzten einen seiner Neffen als Nachfolger ein, der für sie zur Zwangsarbeit aushob, was an Männern in seinem Land übriggeblieben war. Nie wieder nahm ein Kalyaherrscher die Königslanze in die rechte Hand und die große Schnecke auf seinen Schoß. Fortan diente die Schneckenschale nur noch dazu, an den vorbestimmten Tagen dem Land und dem Volk im heiligen Akt Fruchtbarkeit zu sichern.

Missionare kamen und bauten höhere Häuser, als man je zuvor im Kalyaland gesehen hatte, eine schmucklose, hässliche Backsteinkirche und einen nicht weniger unschönen Konvent, in dem die jungen Bakalya zur Schule gehen konnten. Das taten zunächst nur solche, die wenig geachteten Clans angehörten; vielleicht, so dachten ihre Eltern und Verwandten, würden ihre Kinder mit dem Wissen der Fremden der Niedrigkeit entkommen, in der ihr Blut sie gefangen hielt. Die großen Familien und auch der junge König hielten sich zurück, seit die Patres sie aufgefordert hatten, ihre Königsbilder zu verbrennen und die hölzernen Männer am Kreuz als ihre Herrscher anzuerkennen, die man in jedem Raum des Konvents finden konnte. Einstweilen hatten die vornehmen Bakalya noch einiges Zutrauen zur Kraft ihres Blutes und der Dinge, in denen ihnen die Ahnen Kraft hinterlassen hatten, und das Wohlergehen des Landes vertrauten sie lieber der königlichen Schnecke an als diesen Holzmännchen, die, wenn die Großen der Bakalya richtig verstanden hatten, sich nicht einmal hatten töten lassen, um dem Schwinden ihrer Kräfte zuvorzukommen, wie es die Kalyakönige taten, sondern nur nicht fähig gewesen waren, zu verhindern, daß ihre Feinde sie auf bemerkenswert raffinierte Weise umbrachten; so hatten die Patres schließlich selbst erzählt.

Fünfzig Jahre später war Moanas Onkel Mochwabe König der Bakalya. Inzwischen hatte die Kolonialverwaltung gewechselt; sie war milder und ihrer eigenen Meinung nach gerechter als die frühere. Niemand tastete mehr das Land der Eingeborenen an, auch wenn es gerade in Brache lag, und es wurden auch keine Männer mehr ausgehoben, um auf den Plantagen und in der Hauptstadt zu arbeiten. Jetzt gingen viele freiwillig fort, um draußen etwas Geld zu verdienen; denn das Kalyaland lag weitab von den Schiffswegen und den wenigen Straßen, die die Weißen hatten bauen lassen, und lange Zeit gab es keine Plantagen dort.

Erst der Boom der fünfziger Jahre erreichte auch diese abgelegene Gegend. Ein Straße kam, das heißt, die Provinzialverwaltung legte den Bakalya als Steuer auf, sie unter der Leitung weißer Ingenieure zu bauen, und sie endete mitten im Kalyaland an dem einzigen größeren Waldstück, das die Bakalya nie unter Kultur genommen hatten. Es war eine Halbinsel, die sich in den nördlichen der beiden Schwarzwasserseen hineinzog. Nur diese Halbinsel hatte die Regierung zur Anlage einer Plantage freigegeben; das Eingeborenenland durfte ja, wie gesagt, nicht mehr veräußert werden. Aber die Prospekteure einer franko-belgischen Gesellschaft hatten auch den Boden auf der Halbinsel für gut befunden, um darauf eine weitere Pflanzung von Ölpalmen und Kautschukbäumen anzulegen.

Für die Bakalya freilich war dieser Wald der Wohnsitz von Geistern, die in den Mannbarkeitsriten zu ihren Söhnen sprachen. Seit ihr Volk ins Land gekommen war, hatte es in diesem Wald Jugendlager abgehalten, in denen die Ältesten jedes Clans die Fünfzehnjährigen beschnitten, um sie in den Stamm aufnehmen zu können. Das schien den weißen Administratoren kein Argument zu sein, soweit sie davon überhaupt Kenntnis nahmen. Sie mochten bedacht sein, die Belange der einheimischen Bewohner des Landes zu berücksichtigen und zu schützen, aber nur der menschlichen. Je schneller die Afrikaner von ihrer Geisterfurcht befreit würden, meinten sie außerdem, desto besser. Hatte das nicht auch schon Albert Schweitzer in seinem Buch über Lambarene gesagt?

Aber kein Mokalya war bereit, diesen Wald für die Weißen zu schlagen. Niemand wollte sich mit den Geistern anlegen, die mild zu stimmen und zu den Jungen reden zu lassen bislang ohnehin so viele und umständliche Riten verlangt hatte. Die franko-belgische Gesellschaft warb also beim übernächsten Stamm, der das Kalyaland nur vom Hörensagen kannte, Holzfäller an, und bald zogen sich schnurgerade Fahrwege über zwei Drittel der Halbinsel. Auf den Rodungsquadraten standen die jungen Pälmchen und Kautschukbäume in Reih und Glied. Ein Schuppen entstand, um den Kessel zum Eindicken der Kautschukmasse unterzubringen, ein zweiter für Palmölpresse, eine kleine Autowerkstatt und eine Siedlung für die eingeborenen Arbeiter, die sogar einen Wasserhahn und eine Toilette für je acht Häuschen erhielt, mehr als die Kolonialverwaltung vorschrieb. Zuletzt ließ die Kompanie noch drei Häuser für ihre europäischen Angestellten ans Seeufer setzen, weitläufige Steinbauten mit überdachten Veranden, von denen man weit über's Wasser hinüber ins Land der Bantika sehen konnte, die jetzt keine Bakalya mehr essen durften.

Nach und nach fanden sich nun auch Bakalya auf der Halbinsel ein, um für die Weißen zu arbeiten, die sich in der Konkurrenz mit den Waldgeistern als die stärkeren erwiesen hatten; andere Pflanzungen lagen so weit fort, und man konnte die Familie nicht dorthin mitnehmen. Kolonialbeamte erschienen in diesen Jahren immer häufiger auf ihren regelmäßigen Touren auch im Kalyaland. Mit ihnen kamen als Schreiber und Übersetzer die ersten Missionsschüler unter den Bakalya aus der Stadt zurück. Die Großen des Reichs und manchmal auch Mochwabe selbst mussten sie bitten, ihre Fürsprecher bei den Weißen zu sein. So rangen sie sich durch, jetzt eben doch auch die eigenen Kinder zu den Missionaren zu schicken, und Mochwabe verlangte, daß auch Moana zu ihnen in die Schule gehe, der der älteste unter den Söhnen seiner Schwestern war und ihm deshalb auf dem Thronschemel folgen würde. Moana ging; aber er kam nicht mit dem zurecht, was die Missionare ihm beibringen wollten. Seine Familie war offenbar nicht darauf gezüchtet, fremde Laute nachzuahmen und alles Mögliche auswendig zu lernen, dessen Sinn und Zweck allen Schülern, auch den sogenannten guten, verborgen blieb.

Zwei Jahre lang litt er unter den Patres und sie unter ihm. Dann erklärten sie, es sei Hopfen und Malz verloren mit ihm, und schickten ihn wieder fort. Mochwabe besprach sich lange mit seiner Schwester, wie man Moana auf andere Weise etwas von den Weißen lernen lassen könne; selbst für einen zukünftigen König schien das beiden inzwischen leider unentbehrlich zu sein. Sie machten miteinander aus, daß Moana in den Dienst des höchsten Europäers treten solle, den es im Kalyaland gab. Das war Monsieur Delvaux, der Leiter der Plantage auf der Halbinsel.

Delvaux war über dieses Ansinnen nicht besonders glücklich. Er hatte sich immer Mühe gegeben, mit den traditionellen Häuptlingen gut zu stehen, wo er auch in Zentralafrika gearbeitet hatte; aber was sollte er mit diesen jungen Mann anfangen? Er kam ihm nicht besonders intelligent vor. Nicht um alles in der Welt hätte er ihn etwa an Ölpresse und Einkochkessel anlernen lassen, von der Autowerkstatt ganz zu schweigen; es ging sowieso soviel kaputt, und Ersatzteile waren teuer und umständlich zu beschaffen. In die Pflanzungen konnte er einen Königsneffen nicht gut stecken; auch sah Moana nicht gerade sehr kräftig aus. Wahrscheinlich hatte seit Ewigkeiten niemand in seiner Familie mehr eine Hacke in der Hand gehabt, höchstens die Könige unter seinen Vorfahren und die nur einmal im Jahr, nämlich wenn sie mit zwei, drei Hackenschlägen die Pflanzzeit zu eröffnen hatten; Delvaux hatte Mochwabe einmal dabei fotografiert.

Jetzt sann er hin und her und ging schließlich zu seiner Frau hinüber. Er fragte sie, ob sie denn nicht noch einen zusätzlichen Hausboy nehmen könne, und so musste Moana vom nächsten Morgen an die Betten der Familie Delvaux machen, auf der Veranda die Wanderameisenmännchen zusammenfegen, die sich über Nacht an den Lampen verbrannt hatten, und den braunen Staub des Waldlands von den Möbeln wischen - da lernte er nicht viel von den Geheimnissen der weißen Rasse.

Alle zwei Jahre durfte Delvaux Urlaub machen und mit seiner Familie nach Hause fahren. Das war der Vorteil davon, nur Angestellter zu sein, und manche selbständigen Pflanzer, deren Kasse nie solche Extravaganzen erlaubte, beneideten ihn heftig darum. Aber die Delvaux' flogen je öfter, desto weniger gern in ihre Heimatstadt, wo sich niemand mehr für sie und ihre Probleme zu interessieren schien, sondern jeder sie nur einlud, mit ihm fernzusehen, und in Moanas Hausboyzeit verbrachten sie ihre freien Wochen zum ersten Mal woanders, nämlich an der Küste von Kenya zwischen Mombasa und Malindi. Über fünfzig Kilometer zogen sich da die Palmen am Strand entlang - nun, die hatten sie auch auf ihrer Halbinsel im Kalyaland. Aber das Meer war voller Korallenfische, Muränen und knallbunter Garnelen, und die Kinder konnten sich aufs Muschelsammeln werfen. Was sie nicht selber fanden, kaufte ihnen der Vater bei einem arabischen Händler.

Moana hütete unterdessen das Haus. Als die Delvaux' zurückkehrten, stand er vor der Garage, um die Koffer aus dem Wagen zu laden. Am Nachmittag ging er. Als er am nächsten Morgen zurückkam, fand er den Boden der Veranda von Mitbringseln bedeckt, und da lag sie!

Unverhüllt und der Sonne ausgesetzt lag da die Schneckenschale der Kalyaherrscher. Jeder Plantagenarbeiter, der vorbeigekommen wäre, hätte sie sehen können, wo doch er, der Neffe des Königs und sein Erbe, sie nur ein einziges Mal in seinem Leben von den beiden Pygmäen gezeigt bekommen hatte, denen es oblag, sie zu hüten. Nein, da lag nicht eine, da lagen zwei, drei, vier solcher Schneckenhäuser, und eins davon war größer und langdorniger als das, aus dem sein Land und sein Volk ihre Kraft bezogen. Ohne sich zu besinnen, riss Moana die Decke vom Esstisch und warf sie über die vier Schneckenschalen.

Madame Delvaux gefiel das wenig. Ihre Kinder hatten allerhand andere Muscheln und Schneckenhäuser im flachen Wasser gesammelt, und in denen faulten die ursprünglichen Bewohner immer noch vor sich hin. Schon unterwegs hatte es endlose Debatten über den Gestank gegeben, und jetzt warf dieser Boy noch die Tischdecke auf dieses Zeug, von der man nachher wieder essen sollte! Madame Delvaux gab ihrem entrüsteten Ekel unverblümt Ausdruck, sogar lauter und länger, als es ihr selbst gut schien. Aber dieser Boy schien sie gar nicht zu hören.

Von dieser Stunde an war mit Moana nichts Rechtes mehr anzufangen. Bis dahin hatten die Delvaux' ihn für etwas dümmlich, aber doch guten Willens gehalten; jetzt blieb mehr und mehr liegen, was sie ihm aufgetragen hatten. Während fünf Kilometer weiter ins Land hinein runzelige Pygmäenhände seinem Onkel das tausendjährige Schneckenhaus tief ins Fleisch drückten und die Frau unter ihm leise aufstöhnte, fand Madame Delvaux ihren Boy, wie er die Kommode im Wohnzimmer anstarrte, auf der die vier rezenten Purpurschneckenschalen jetzt ihren Platz gefunden hatten. Die Kinder nahmen sie herunter, versuchten sie sich gegenseitig wegzureißen und hielten sie sich an Ohr, um 'das Meer' zu hören.

So vieles von dem, was seinem Volk teuer und wert gewesen war, hatten die Weißen schon zu nichts werden lassen, einfach, indem sie mehr davon besaßen, auch Größeres und Bunteres, und es selbst für nichts ansahen. Noch sein Vater hatte jeder seiner Anverlobten vor der Hochzeit ein Holzbüchschen schicken müssen, auf deren Deckel der Schnitzer Sprichwörter in kleinen Szenen dargestellt hatte. Das Sprichwort war jeweils eine ernste Devise für das Zusammenleben von Mann und Frau gewesen; aber was für ein armseliges Ding war so ein braunes Holzfigürchen gegen all die Puppen und Plastiksoldaten, mit denen die Kinder der Weißen spielten, und gegen die Nippesfiguren auf den Büffets der Pflanzer. Seine Brüder und Vettern hatten ihren Bräuten nur noch bunt emaillierte Aluminiumbüchsen geschickt, die es schockweise in jedem Portugiesenladen in Mbandwela zu kaufen gab. Was darauf abgebildet war, war gleichgültig und bedeutete nichts für die Zukunft.

Was die Kostbarkeiten der Bakalya entwertete, musste nicht einmal aus den Ländern der Weißen kommen. Monsieur Delvaux zum Beispiel hatte in den Savanne nördlich des großen Flusses sieben Leoparden geschossen und ihre Felle im Wohnzimmer ausgelegt. Unter den Bakalya kam das Fell dieser Tiere nur dem König zu; er allein durfte sich auf ihm niederlassen. Monsieur Delvaux aber ließ seine Kinder darauf herumlaufen, seine Gäste und seine Hausboys...

Bewusst wurde Moana das alles vielleicht nicht; aber es machte ihn unruhig und niedergeschlagen wie viele andere Bakalya auch. Nie war ihm aber der Gedanke gekommen, daß zu den entwertbaren Dingen auch das große, glänzende Schneckenhaus gehören würde, das heraufzuholen Molima, der Stammesgründer und sein Ahne, in den kristallklaren See hinuntergestiegen war. Sieh nur genau hin; auch diese Schneckenschale, um die sich sein Volk unter sechsundvierzig Königen geschart hatte, ist nicht einmalig. Auch davon hatten die Weißen gleich mehrere, und sie hielten so wenig von ihnen, daß sie ihre Kinder damit spielen ließen. Moana hätte darüber nachdenken können, ob das Schneckenhaus der Bakalya damit seine Kraft eingebüßt hatte, daß sie verfünffacht war, ob die Weißen so stark waren, daß sie die Kräfte eines solchen Schneckenhauses nicht brauchten und es deshalb als Spielzeug ansahen, ob das Schneckenhaus seines Volkes und seiner Familie vielleicht wirklich nie eine Kraft besessen hatte, wie die Patres ja schon seit fünfzig Jahren behaupteten. Aber er war kein Denker. Die vier Purpurschneckenschalen auf der Delvaux'schen Kommode sagten ihm nur, daß sein Volk und seine Familie nun nichts mehr hatten, was sie ihr eigen nennen konnten, und daß es mit ihrer Kraft nicht mehr viel sei.

Vielleicht war es immer nur die persönliche Stärke der einzelnen Herrscher gewesen, die mit ihren Erfindungen sein Volk zusammengehalten hatten. Moana überkam Panik. Was sollte er noch erfinden in dieser Welt der Weißen, die mit ihrer Macht und ihrem Reichtum ganz Zentralafrika bis ins letzte Dorf durchorganisiert hatten und schon seinem Onkel kaum noch etwas zum Entscheiden ließen; neulich erst hatte sie jede einzelne Hütte im Kalyaland aussprühen lassen, angeblich um die Moskitos zu töten.

Moana war keine Kraftnatur; das war ihm nur zu sehr bewusst. Beim Anblick der vier Purpurschneckenschalen fürchtete er sich mehr denn je, einmal König sein zu müssen. Am liebsten wäre er davongelaufen wie so viele andere junge Bakalya. Er konnte vielleicht in Mbandwela Hausboy werden; vielleicht konnte er sogar in einer Garage arbeiten und irgendwann einmal Mechaniker sein. Aber er hatte immer noch zuviel Angst vor der den toten Kalyakönigen und auch - vor der tausendjährigen Schneckenschale. Es sah sie alle nachkommen und ihn vernichten. Nein, er kam dem Königsein nicht aus. Eine eisige Resignation durchflutete ihn, und sie verließ ihn nie mehr bis zu seinem einsamen Ende im Seitenflügel des Präsidentenpalastes.

Er fragte seinen Dienstherrn niemals, woher er denn die vier Purpurschneckenhäuser habe. Immer stand er irgendwo im Haus, den Flederwisch in der Hand, mit dem er die Spinnweben aus den Ecken unter der Decke herunterfegen sollte, und starrte vor sich hin. Madame Delvaux hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hatte wohl gemerkt, daß ihr Boy anders geworden war, seit sie sich einen Tag nach der Rückkehr von Mombasa hatte gehen lassen. Sie war kein Herrenmensch; sie versuchte herauszubringen, was ihm fehlte. Als er nicht antwortete, wurde sie ungeduldig. Moana war ein schlechtes Beispiel für die anderen Boys im Haus. Vielleicht dachte er nur, bloß weil sie ihn einmal ein bißchen zu hart angefahren hatte, könne er sich jetzt auf ewige Zeiten leisten, mit dieser Leichenbittermiene herumzulaufen. Hinter diese Afrikaner kam man nicht, nicht wirklich. Häuptlingsneffe hin, Häuptlingsneffe her; wenn er sich nicht bald bequemen sollte, sich wieder ein bißchen mehr in Trab zu setzen, musste man ihn halt entlassen.

Vier Wochen später nahm Moana freundlich das Arbeitsbuch aus Delvaux' Hand entgegen, grüßte ehrerbietig und ging davon, ohne sich noch einmal umzuwenden. Kopfschüttelnd sah Delvaux ihm nach. Das war nun ein Häuptlingssproß und sollte einmal Herr über einen ganzen Stamm werden! Wie gut, daß die Weißen im Land waren und den Schwarzen endlich etwas Vernünftigeres zu tun gaben, als ihre seit Generationen untätigen traditionellen Häuptlinge zu füttern!

Aber lange sollten die Europäer in den Gebieten um den großen Fluß nicht mehr ungestört die Afrikaner programmieren können. Delvaux' Heimatland war nicht so groß und mächtig, daß seine Verbündeten es nicht hätten zwingen können, seine Kolonie in die Unabhängigkeit zu entlassen, und nachdem seine Regierung begriffen hatte, daß sie dem nicht entkommen konnte, setzte sie die Unabhängigkeit sofort an, sozusagen über Nacht. Niemand hatte das erwartet, und alle hatten Angst davor, Weiße und Afrikaner. Die beiden europäischen Mitarbeiter Delvaux' verließen die Plantage; Delvaux selbst schickte Frau und Kinder nach Europa. Er selbst blieb. Er war entschlossen, seiner Kompanie auch unter den neuen Verhältnissen zu erhalten, was er hier aufgebaut hatte. Das kostete ihn einen herben Tod.

Nicht von den Bakalya. Die galten, zu Recht oder zu Unrecht, als weißenfreundlich, und außerdem unterlagen sie in der Karikatur einer westlich-demokratischen Parlamentswahl, die die scheidenden weißen Beamten als letzte Amtshandlung über die Bühne gehen ließen, haushoch den Bantika, denen keine festgefügte Ordnung um ein tausendjähriges Schneckenhaus im Weg gewesen war, sich beizeiten an Mission und Kolonialverwaltung anzupassen. Die Bantika hatten ihre Parteiorganisation fertig, mochte sie auch nur eine verkappte Stammesvertretung sein. Herren der Provinz wurden aber auch sie nur auf dem Papier. Die wirkliche Macht fiel plötzlich jemandem zu, den niemand dafür vorgesehen hatte, nämlich den Soldaten der Schutztruppe, die die Kolonialverwaltung bisher dazu verwendet hatte, die Völker und Stämme der Provinz 'ruhig' zu halten.

Sie kamen aus anderen, weit entfernten Provinzen der Kolonie, aus dem Bergland im Osten und von der Küste und der Mündung des großen Flusses; die Verwaltung hatte immer sorgfältig darauf geachtet, ihre Askaris nicht in der Nähe des eigenen Stammes einzusetzen. Sie kannten die lokalen Sprachen kaum oder gar nicht, und sie hatten alle grässliche Angst vor den Leuten am Ort, mehr noch als vor ihren europäischen Offizieren. Vor denen hatten sie zwar auch nicht wenig gezittert; aber in der Entschiedenheit der weißen Chefs hatten sie bis vor kurzem doch ihren Halt in diesem fremden Land gefunden. Jetzt waren sie plötzlich allein und auf sich gestellt. Ein leeres, kaltes Grauen überkam jeden einzelnen von ihnen, daß sie nur niederkämpfen konnten, indem sie selbst Angst und Schrecken verbreiteten. Da nur sie in der Provinz Waffen besaßen, war das leicht, und Leute vor ihren Gewehrmündungen herumhampeln zu lassen, plündern und Einrichtungen aller Art und jeder Sorte gründlich, in regelrechter, harter Arbeit zu zerschlagen, ließ ihre Furcht in einen Kraftrausch umschlagen. Aber nie für lange. Das Entsetzen in den Augen ihrer Opfer war ansteckend. Es ließ sofort das Grauen wieder hochkommen, das ihre Grundstimmung war, und noch härter schlugen die Soldaten zu, um es zu betäuben.

Es traf auch die Weißen. Sie hatten die Soldaten in die Fremde geschleppt und verlassen. Der Grimm gegen sie saß tief, und nichts konnte die Soldaten mehr außer sich bringen, als einen von denen zittern zu sehen, die bisher weit über ihnen, außerhalb jeder afrikanischen Gesellschaft gestanden hatten. Nur in die Augen sehen konnten sie ihnen auch jetzt noch nicht.

So kamen eines Tages zwei Jeeps uniformierter Männer auch auf die Halbinsel zu Delvaux. Sie nannten ihn einen schlechten Weißen. Jeder von ihnen pflanzte ihm seine Faust ins Gesicht, rasch, bevor Delvaux Zeit hatte, ihm richtig ins Gesicht zu schauen. Dann banden sie ihm Arme und Beine so fest wie möglich über dem Rücken zusammen und ließen ihn so, mit dem Gesicht nach unten, in der prallen Mittagssonne liegen. Während er vor Hitze und Schmerzen halb ohnmächtig auf seinem Rasen lag und die Ameisen ihm zu Kragen und Ärmeln hineinkrochen, hörte er die Soldaten unter wieherndem Gelächter Geschirr, Fenster, Möbel und Hausrat zertrümmern. Die Schweißperlen standen ihnen auf der Stirn. Besonders die vier Purpurschneckenhäuser widerstanden lange ihrem Zerstörungsdrang; die letzte mussten sie fünfmal mit dem Gewehrkolben bearbeiten, bevor sie zersprang. Danach banden sie Delvaux' Beine los, zerrten ihn zu seiner bis zum Rand vollen Regentonne und kippten ihn kopfüber hinein. Diese Methode, speziell für Weiße, hatten sie ihren Kameraden in der Nachbarprovinz abgesehen.

Als Delvaux sich nicht mehr rührte, fuhren die Soldaten davon. Ihre beiden Jeeps ratterten den braunen Sandweg entlang, der zu den eng zusammengebauten Hütten des Kalyakönigs führte. Wer von den Bakalya sie kommen hörte, verließ im Eiltempo sein Gehöft und verschwand in den Sümpfen. Auch Moana konnte rechtzeitig entkommen, aber nicht Mochwabe und seine Familie. Die Soldaten brachen in seine Residenz ein, und während einer von ihnen den König in Schach hielt, durchsuchten die anderen, unbeirrt vom Geheul der Frauen, die Häuser nach Statuetten und Masken.

Das taten sie nicht für sich, sondern für einen gewissen Monsieur Jean. Das war ein Franzose -, vielleicht auch nicht ganz ein Franzose, östliches Mittelmeer, Amerika, man wusste es nicht so genau -, der ein paar Monate vor der Unabhängigkeit in Mbandwela aufgetaucht war, misstrauisch betrachtet von den Europäern, die dort ansässig waren. Er hatte kaum Kontakt mit ihnen aufgenommen; man fand ihn mehr in den Bars der Schwarzen, wo er Soldaten freihielt, sehr zum Ärger ihrer weißen Vorgesetzten. Einigen Favoriten unter den neuen Parteiführern sollte er die Wahlkampagnen bezahlt haben, was im wesentlichen auf die Spende einiger Wagenladungen Bier hinauslief. Draußen bei den Bakalya war er auch gewesen und hatte sich nach Masken und Statuetten erkundigt, ganz unter der Hand. Es war trotzdem der Provinzialverwaltung zu Ohren gekommen; einer der Beamten hatte ihn zu sich bestellt und ihm dargelegt, daß der Export solcher Kunstwerke jedenfalls verboten sei. Jetzt war dieser Beamte fort, und Monsieur Jean war gut Freund mit den einheimischen Funktionären, die ihn ersetzt hatten. Von ihnen hatte er von der geplanten 'Strafexpedition' gegen die Bakalya erfahren. Er hatte sich nach den Namen der Soldaten, die sie ausführen sollten, erkundigt und ihnen hinter ein paar Gläsern Bier für jede Maske und jede Statuette der Bakalya ein Tausendstel der Summe versprochen, die er selbst dafür in Paris und London zu verlangen gedachte. Er war gut über die Preise zentralafrikanischer Plastik orientiert; wenn die Soldaten die Schublade des Tischs aufgezogen hätten, auf denen ihre Gläser und Flaschen in halbeingetrockneten Bierringen standen, hätten auch sie sie in den Katalogen verschiedener großer Auktionshäuser finden können.

Aber schon was Monsieur Jean angeboten hatte, war ihnen phantastisch vorgekommen, und so suchten sie jetzt nach Masken und Statuetten. Sie kamen über das Totenhäuschen, in dem die Bilder der verstorbenen Könige aufbewahrt wurden, und rissen den dreiundvierzigsten, den achtunddreißigsten, den zwölften, den siebzehnten und den fünfundzwanzigsten Herrscher der Bakalya aus dem Schlaf. Im Hüttendach fanden sie noch einige Masken. Einer von ihnen näherte sich schließlich dem Korb, in dem die große Schnecke ihren Sitz hatte. Da rührte sich Mochwabe, als wolle er sich vor den Korb werfen, und sein Bewacher zog am Abzugshahn seines Gewehrs. Eine Kugel zerriss die Gedärme des Königs, er fiel hin, und eine zweite Kugel zerschmetterte sein Gesicht. Die Soldaten erschraken. Auch in ihrer Heimat gab es solche Könige, und sie wußten, daß die toten Herrscher der Dynastie und die Geister des Landes sie vernichten würden, wenn sie sich nicht schleunigst über die Grenze des Königreichs begäben. Hastig stopften sie in einen Sack, was sie gefunden hatten. Sie zwangen den jüngsten Sohn des Königs, ein elfjähriges, mageres Bürschchen, ihre Beute zu den Jeeps zu tragen. Einige Minuten später verklang das Geknatter der offenen Wagen in der Ferne.

Monsieur Jean verzog keine Miene, als die Soldaten die fünf Bildnisse der Kalyaherrscher aus dem Sack zogen. Er beanstandete lediglich einen Kratzer auf dem Gesicht des achtunddreißigsten Königs und seine abgebrochene Nase, die schon mindestens ein Jahrhundert fehlte. Er nahm ihnen die Masken ab, als ob er ihnen eine außergewöhnliche Gnade gewähre, und für das Haus der Kalyaschnecke gab er sogar eine Flasche Bier. Er konnte jetzt abreisen; bis zur nächsten Unabhängigkeit irgendwo in Schwarzafrika würde er an diesen Sachen genug haben. Fremd und verloren standen die Könige zwischen den nassen Flaschen und Gläsern.

"Aber die Muschel könnt ihr wieder mitnehmen", sagte Monsieur Jean, nachdem er in den Korb geschaut hatte. Er holte sie heraus und legte sie auf den Tisch, zwischen die Könige und Bierflaschen.

"Nehmt nur mit, was euch gehört!"

Machte sich der Weiße etwa über sie lustig? Sie versuchten ihn drohend anzusehen; aber er hielt ihren Blicken stand. Er lachte sogar. Barsch riss einer von ihnen die Kalyaschnecke vom Tisch. Grußlos stürzten sie zur Tür hinaus. Jean schloss hinter ihnen ab.

Es war inzwischen Nacht geworden. Die Straßen waren menschenleer, und nichts konnte die Soldaten davon ablenken, daß Monsieur Jeans höhnisches Grinsen stärker gewesen war als sie. Die Kalyaschnecke war ihnen zuwider, und der, der sie in der Hand hielt, wollte sie gerade wegwerfen, als er einen seiner Kameraden kichern hörte, ein leises Kinderkichern, so hoch und so hell, wie man es nie in einem so gewaltigen Körper vermutet hätte.

"Wir gehen zu João", sagte der Kicherer, und gleich waren sie wieder alle strahlender Laune.

João Pirango wollte gerade seinen Laden unten am Fluß abschließen, als sie ankamen. Als sie in seinen Laden einbrachen, fing er an zu zittern. Mbandwela war wirklich ein böser Platz in diesen Tagen. Die Soldaten warfen ihm die große Schnecke der Bakalya auf die Theke und verlangten dafür Whisky, allen Whisky, den er hätte. João zeigte mit zittrigen Fingern auf einen Karton Johnny Walker, der nicht weit von der Tür zwischen anderen Kisten und Schachteln stand. Ob das alles sei? Das würden sie doch erst noch mal untersuchen. Schachteln mit Hemden darin wurden aufgerissen, der Inhalt in den Boden getreten, eine Kiste Porzellan umgestülpt. Camemberts rollten nach allen Himmelsrichtungen, und das Unglück wollte es, daß die späten Besucher unter alle dem auf einen zweiten Karton Whisky stießen, und sogar Johnny Walker Black Label, nicht den gewöhnlichen, den João ihnen angeboten hatte.

Die Soldaten brüllten auf und machten sich an die übliche Arbeit. Jeder brachte zunächst einen Faustschlag auf Joãos Nase an, der zu seinem Glück hinter dem Ladentisch zusammensank. Dann schlugen sie auch hier systematisch alles kurz und klein. Als sie fertig waren, war in Joãos Laden nichts mehr heil außer den vierundzwanzig Whiskyflaschen und dem großen Schneckenhaus der Bakalya, die immer noch einsam auf der Theke lag. João selbst drückte sich blass und verschwollen in eine Ecke.

Sie lüden jetzt ihren Whisky auf. Schließlich hätten sie ihn ja bezahlt, nicht wahr? Sie krümmten sich vor Lachen.

Ob sie ihn bezahlt hätten?

"Antworte!!"

Jaja, sie hätten ihn bezahlt. Er hätte Glück, wenigstens jetzt aufrichtig zu ihnen zu sein, ha ha ha! Noch in der Ferne hörte João ihr widerwärtiges Gelächter durch die feuchte Nachtluft schallen. Niedergeschlagen betrachtete er, was einmal sein Laden gewesen war. Er hatte jetzt genug. Wenn er nur die fünfzehn Rohdiamanten durch die verschiedenen Zollämter Afrikas und Europas bringen könnte, die er vor einer Woche dem neuen, afrikanischen Direktor der Minenpolizei abgekauft hatte. Er hatte zwar gehofft, daß sein neuer Geschäftspartner noch einige Schmuggler mehr festnähme; aber noch einen Abend wie diesen wollte er nicht riskieren.

Angeekelt betrachtete er das Schneckenhaus auf dem Ladentisch, als ob es an seinem Unglück schuld wäre; eigentlich war es das ja auch. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Was er am meisten auf den Flughäfen und Zollämtern fürchtete, waren die Röntgenpassagen, durch die sein Gepäck gleiten würde; darin würden die Zollbeamten und Polizisten seine fünfzehn Steinchen sofort entdecken. Aber diese teuer erkaufte Muschel war doch aus Kalk, wie Knochen, und auf den Bildschirmen undurchsichtig. Ach, nur eine Erinnerung an das tropische Meer, Herr Inspektor...

Als es draußen ganz still geworden war und nur noch die Grillen zirpten, wischte er sich das Blut aus dem Gesicht und zog unter der Theke die drei Streichholzschachteln hervor, in denen seine Steinchen lagen. Sorgfältig umwickelte er jeden Diamanten mit Seidenpapier - es lag genug davon am Boden herum zwischen Hemden und Porzellanscherben - und verstaute ihn in den Windungen des Schneckenhauses so weit innen wie möglich. Zuletzt verschloss er das Ganze mit einem Knäuel Zeitung und drückte es so tief hinein, daß man nichts mehr davon sehen konnte, auch wenn man genau in die Öffnung des Schneckenhauses hineinsah. Er zog einen kleinen Pappkoffer unter dem Bett hinter der Sperrholzrückwand seines Ladens hervor und verpackte das Schneckenhaus zwischen ein paar Hemden, etwas Unterwäsche und zwei Kilo einheimischen Kaffees. Er ging mit dem Köfferchen zum Fluß hinunter, der gleich hinter seiner Bretterbude vorbeizog. Dort unten lag sein Boot. Er ruderte so leise wie möglich ein gutes Stück aufs Wasser hinaus, eh er den Motor anwarf. Obwohl ihm immer noch das Gesicht schmerzte und die Knie bebten, lenkte er den Kahn geschickt durch die Wirbel des Stroms und zwischen den breiten Tuffs der Wasserhyazinthen hindurch. João war an der Küste von Algarve zu Hause, und seine Hauptbeschäftigung in Mbandwela war nicht der Laden, sondern der nächtliche Schmuggel über den großen Fluß gewesen.

Nach einer halben Stunde hörte er dicht neben sich ein Käuzchen schreien. Er sah den Schatten der kleinen Eule vor dem grauen Nachthimmel einen Bogen um das Boot ziehen; den Flügelschlag hörte er nicht. João seufzte erleichtert auf. Er musste ganz nah am andern Ufer sein. hier herrschte noch eine weiße Nation und damit Ruhe und Ordnung; dieser Europäer waren nicht so verrückt gewesen, ihren Kolonien die Unabhängigkeit zu geben, wenigstens bis jetzt noch nicht.

Am nächsten Tag trafen sich João und Jean im Flugzeug. Sie kannten sich flüchtig. Sie hatten sich beide als Flüchtlinge deklariert und waren unangenehm berührt, sich hier zu sehen. Sie grüßten sich knapp von ferne; jeder war erleichtert, daß er nicht den Platz neben dem andern bekommen hatte. Aber ihr Gepäck kam nebeneinander zu stehen, und so war die große Schnecke der Bakalya noch ein letztes Mal dem Korb ganz nah, in dem sie fast zwei Jahrzehnte gewohnt hatte. Nun schwebten Korb und Schneckenhaus, nur durch ein Hemd, ein falsches und ein echtes Leder getrennt, miteinander in zwölfhundert Meter Höhe durch die eiskalte Luft.

Der Korb fand vorläufig als Papierkorb in der Praxis eines Pariser Modearzts Aufstellung. Er sei fou des choses exotiques, erklärte sein neuer Besitzer, und außerdem sei das Ding so wahnsinnig praktisch, weil es einen Deckel hätte und man darin nach Exitus die weggeworfenen Anamnesen nicht gleich sähe, hahaha.

Das Schneckenhaus passierte samt Inhalt alle Durchleuchtungsanlagen und Zollämter. Nur einmal wäre es um ein Haar schiefgegangen. Einem Zollbeamten in Lissabon gefiel das Gewicht der Schneckenschale nicht. Er schielte in die Öffnung hinein und tastete mit tabakgelben Fingern darin herum. Schon hörte João das Zeitungspapier knistern. Im letzten Moment funktionierte doch noch der Trick mit dem Kaffee. João schob rasch und nicht allzu auffällig ein Hemd über die beiden Kilosäckchen; ebenso rasch ließ der Beamte die Schnecke auf die Unterwäsche fallen, schnappte die beiden Beutel, roch daran, öffnete sie und begann zu rechnen: soundsoviel Escudos für soundsoviel Gramm Kaffee und soundsoviel Escudos als Strafe dafür, diese Ware nicht angemeldet zu haben.

Trotzdem erwies sich der Inhalt der Purpurschneckenschale als Fehlinvestition. Nur acht von den Rohdiamanten seien echt, erklärte der Juwelier. João wusste nicht recht, ob ihn sein neuer Freund bei der Minenpolizei hinters Licht geführt hatte oder selbst auf die falschen Steine hereingefallen war. Es konnte auch sein, daß der Juwelier ihn betrog. Aber er kannte niemand anderes in Lissabon, bei dem er geschmuggelte Steine hätte absetzen können. Er musste nehmen, was ihm der Mann für die Diamanten und die sieben 'Rheinkiesel' bot. Mit diesem Geld konnte er allerdings keine Existenz in Portugal aufbauen; es reichte gerade für eine Flugkarte nach Mbandwela und vielleicht für einen ersten, kleinen Stock von Waren, wenn er wieder in seine Bretterbude zurückkam.

So sah ihn der große Fluß bald wieder. Inzwischen hatte die UNO Truppen in die Provinz geschickt. Vor dem Gouverneursgebäude saßen lange rothäutige Schweden im dürftigen Schatten der Palmen, halb blödsinnig vor Hitze. Ihre Anwesenheit reichte aus, um die allerseits aus den Fugen geratenen Gemüter zu beruhigen. João fand allerdings seinen Laden leergeplündert vor. Sein Boy hatte sich darin installiert; er hatte noch nicht mitbekommen, daß sich das Blatt in den letzten vierzehn Tagen gewendet hatte, und weigerte sich, 'sein' Haus dem früheren Besitzer zu überlassen. Gegen einen Kasten Bier warf ihn das Militär hinaus, dieselben Soldaten, die João ein paar Wochen früher die Kalyaschnecke angedreht hatten. Sie warfen den Boy gleich hinterm Haus in den Fluß, trotz seines Geheuls, daß er nicht schwimmen könne, oder vielleicht gerade deswegen.

Die große Schnecke der Bakalya war in Portugal geblieben. João hatte jeden Centavo gebraucht, um wieder in Mbandwela anfangen zu können, und so hatte er die Schneckenschale seinem Vetter Pedro angeboten, der einen Andenkenladen in São Martin besaß. Pedro hatte nicht recht gewollt. Das sei eine Murex ramosus, hatte er erklärt, und die seien nicht sehr gefragt. Es gäbe schönere Murex-Arten, vor allem im Pazifik und da wieder an der Küste von Mittelamerika, ja, die wäre er sofort los. Diese ramosus sei außerdem ziemlich abgegriffen. Aber João jammerte ihn solange an, bis er ihm das Schneckenhaus für zwanzig Escudos abnahm.

Obwohl Pedro sie nach dem Erwerb sofort reichlich mit Lack besprühte und auf Hochglanz brachte, blieb sie ewig auf ihrem Bord in São Martinho liegen, genau wie Pedro befürchtet hatte. Sie lag fünf Sommer dort, in denen die Luft draußen vor dem Perlenvorhang an der weißen Hausmauer gegenüber flimmerte und breitgesäßige Badegäste aus Mitteleuropa links und rechts von ihr jüngere und buntere 'Muscheln' herauspickten, und fünf Winter, in denen der Souvenirshop geschlossen blieb und der Wind vom Meer her an den eisernen Tür- und Fensterläden riss.

Im sechsten Sommer aber betrat eines Tages ein braungebranntes deutsches Pärchen Pedros Geschäft, ein Frollein in heiterer Laune und ein eher mürrischer junger Mann. Geduldig sah Pedro zu, wie die junge Dame Stück für Stück auf die Glastheke häufte, gefleckte Kaurischalen aus Mombasa, Riesenmuschelbabies aus Madras und Colombo, Purpurschneckenhäuser von den Philippinen und vom Strand von Panama, buntgetupfte Kegelschnecken aus der karibischen See, auch die große Schnecke der Bakalya - und das alles kommt aus dem Meer da draußen? Sicher, Senhora, alles authentisch von der portugiesischen Küste. Ob Hans seinem Ritachen eine davon kaufen würde? Was willste denn mit dem Zeug. Ob Hans seinem Ritachen etwa keine davon kaufen würde? Wennde aufhörst, noch mehr daherzuschleppen. Ja Hans müsste eben mit aussuchen. Also die da. Nicht so schnell. Sei lieb, Hans. Das Frollein drängelte sich dicht in Hansens Arme. Bikini und Badehosendreieck waren nicht viel. Pedros Blick richtete sich ausdruckslos durch die Vorhangperlen auf die frisch gekalkte Wand der andern Straßenseite. Sei doch lieb, so wie gestern abend, Hans. Ritachen kuschelte sich noch ein bißchen enger an Hans heran. Pedros Augen wurden noch leerer; er hatte drei Jahre in Wolfsburg gearbeitet und macht sich auf erotische Details von gestern abend gefasst. Aber seine Neugier blieb unbefriedigt. Vielleicht ging sein leerer Blick dem lieben Hans auf die Nerven; vielleicht genierte es Hans auch, daß sein Ritachen ihn hier coram publico immer enger umschlang. Er machte sich los, griff hastig in den Muschel- und Schneckenschalenhaufen vor ihm, zog das wasserdichte Portemonnaie aus der Gesäßtasche, zahlte und schob seine Rita zur Tür hinaus. Was er ergriffen hatte, war die große Schnecke der Bakalya gewesen...

Rita hatte einen Sieg errungen und kostete ihn voll aus. Als die beiden abends zusammen unter die Dusche gingen, brachte sie ihre neue Muschel mit, wusch sie mit Shampoo und schwenkte sie in der Gegend herum. Sie ließ sie voll Wasser laufen und kippte sie über Hansens Kopf aus, und immer wenn Hans Rita zu sich heranziehen wollte, kam irgendwo das Schneckenhaus dazwischen, und seine Dornen stachen ihn ganz gemein.

Hans war schon ein netter Kerl. Wenn er bloß nicht immer gleich aufs Ganze ginge. Rita hatte in den letzten vierzehn Tagen direkt Angst vor diesen raschen Überfällen bekommen; es war immer schon alles vorbei, eh sie auch etwas davon haben konnte. Jetzt nahm sie die Purpurschneckenschale mit aufs Bett, ließ erst den rechten, dann den linken Brustnippel darin verschwinden, und als Hans sich auf sie werfen wollte, schob sie sie rasch zwischen ihre Beine. Sie sah an sich hinunter - direkt aufregend sah das aus; sie wurde selbst ganz kribbelig davon. Sie hatte das Schneckenhaus mit seiner in diesem Zusammenhang doch recht weiten Öffnung, umgeben, wir wissen es, mit einem fleischroten Rand, nach oben gedreht. Bleich und ungesund lüstern hoben sich die grauweißen Stacheln von dem schwarzen Gekraus und der nussbraunen Haut der Oberschenkel ab; aber ganz schlimm sah der lange Endstachel aus, in dem vor tausend Jahren das Atemrohr der Schnecke gelegen hatte - lang, bleich und dünn zeigte er zwischen ihren Beinen genau nach unten...

Hans war durchaus anfällig gegen diese morbide Art, Sex zu entfalten, aber noch mehr verdrossen über die vielen Stiche, die ihm diese verdammte Muschel unter der Dusche versetzt hatte. Tu's raus, Rita! Nein, schrie Rita, daß man es mindestens noch drei Bungalows weiter hören musste, und klemmte die Beine fester um das Schneckenhaus zusammen. Da riss Hans es mit aller Kraft heraus, so daß die Dornen eine blutige Schramme neben der andern über Rita braune Schenkel zogen, warf es aufs Nachbarbett und drang ohne weitere Präliminarien tief in Ritas Körper ein.

Zweimal versuchten sie noch, während ihres Urlaubs in Portugal im Liebesspiel zusammenzukommen; jedes Mal wurde es eine Katastrophe. Als sie in Frankfurt den Flughafen verließen, sagte sie "Tschüss!" zu ihm und er "Lebe wohl!" zu ihr, und jeder ging seiner Wege. Die große Schnecke der Bakalya hatte noch einmal ihre Kraft gezeigt, wenn auch nur die destruktive.

Rita schenkte sie ihrer Großmutter.

"Um Gottes Willen!" rief die alte Frau mit der ganzen lamentierfreudigen Ehrlichkeit ihres Alters. "Was soll ich bloß mit dem ganzen Zeug? Ist ja ganz lieb gemeint, aber so unsinnig! Musst du denn Geld für sowas ausgeben? Stell's in Gottes Namen da auf die Kommode zu dem andern Kram! Aber warum bringst du mir nur immer Sachen mit, von denen ich gar nichts mehr hab? Warum bloß?"

So geriet die Kalyaschnecke unter Großmutters Nippes. Ihre unmittelbaren Nachbarn wurden eine neapolitanische Tänzerin, rosa, Plastik, mit weißem Spitzenhöschen, ebenfalls aus Plastik, made in Hongkong, und ein Briefbeschwerer, in dem es, wenn man ihn schüttelte, auf etwas schneite, was laut Überschrift Garmisch-Partenkirchen darstellen sollte. Als die alte Dame über's Jahr starb, betrachtete Ritas Vater das alles mit großem Missfallen. Gott, was alte Leute so alles aufheben! Er nahm einen Eimer, fegte hinein, was auf der Kommode stand, und schüttelte ihn in den Container aus, den die unglücklichen Erben von der städtischen Müllabfuhr hatten kommen lassen müssen, für viel Geld.

Zwei Tage später wanderte die große Schnecke Molimas auf einem Fließband der Müllaufbereitungsanlage zu. Im ersten Kessel wurde sie zu Kalkstaub zermahlen. Im zweiten schmolz, was von der Plastiktänzerin übriggeblieben war, und durchtränkte den Kalkstaub, so daß er ganz dunkel wurde.

Afrikanische Geschichten von gestern

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