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Kapitel 1: Krank oder nicht krank oder wie krank?

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Jeden Freitagnachmittag bin ich seit nunmehr fast acht Jahren mit Jungs von der 1. bis zur 8. Klasse unter dem Motto „Für Jesus und mit Jesus“ mit Fahrrädern unterwegs. Wir machen eine kurze Andacht, fahren kleinere und größere Runden und spielen Fußball, Tischtennis oder sind auf andere Art körperlich aktiv. Die Jungs kommen aus unserer Kirchgemeinde, aus Nachbargemeinden, Freien Gemeinden oder auch gar nicht aus kirchlichen Kreisen. Wer Lust hat und sich mit uns austoben möchte, der macht mit. Himmelfahrt ist jedes Jahr unsere große „Jungschar-Tour“, das heißt wir fahren am Donnerstag mit unseren Fahrrädern in irgendeine ca. 40 km entfernte Herberge, wo Programm mit Fußball, Schwimmen, Stadtrallye und anderer Action stattfindet, und am Samstag wieder zurück. Dieses Jahr hieß unser Thema „Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft.“ (Psalm 66, Vers 20) Unser Ziel war die Jugendherberge Hormersdorf bei Geyer im Erzgebirge. Mit mir als Organisator waren wir fünf Männer als Betreuer und zehn Jungs. Und alle freuten sich seit Wochen auf dieses Highlight des Jahres.

Es ist Himmelfahrt, Donnerstag, der 25. Mai 2017. Die Stimmung ist super. Wir treffen uns um 7 Uhr vor dem Pfarrhaus Vielau. Zehn hochmotivierte Jungs haben sich gut vorbereitet mit frisch geputzten Fahrrädern, zum Teil extra neu gekauftem Helm und leckerem Lunchpaket – selbstverständlich vor allem viel zu trinken! Die stolzen Eltern packen die Reisetaschen in das Auto von Markus, der unser Gepäck nach Hormersdorf fährt. Wir Männer segnen die Jungs und anschließend uns gegenseitig. Nach herzlicher Verabschiedung und besten Wünschen fährt die Gruppe fröhlich winkend los. Wir haben Stationen mit Andachten, es gibt anstrengende und angenehmere Streckenteile, das Wetter ist fast optimal und alles ist so spannend und schön wie jedes Jahr – nur nicht für mich!

Keiner merkte es und ich redete nicht darüber, aber ich fühlte mich von Anfang an nicht ganz fit. Ich hatte zuletzt schon vereinzelt beim Fahrradfahren so ein Unwohlsein, so ein Stechen im unteren Brustbereich. ‚Na ja, man wird halt auch nicht jünger. Und letztlich muss ich mich auch nicht wundern: Ich war ja nie sehr sportlich. Da ist es wohl normal, dass bei mir die typischen Alterswehwehchen etwas früher auftreten als bei anderen. Schließlich geht es noch hinreichend.‘ Wenn ich während der Fahrt mal etwas mehr Stress hatte, ließ ich mich halt ein wenig zurückfallen. Das fiel nicht weiter auf. Ich erholte mich stets relativ schnell und eigentlich kamen wir ganz gut voran. Alles war wieder normal.

Es wurde Mittag, wir hatten den Großteil der Strecke hinter uns. Wir erreichten Niederzwönitz. Von dort ging es den anstrengenden Klötzerweg bergauf in den Geyerischen Wald, an dessen anderen Ende die Jugendherberge Hormersdorf liegt. Unsere Jüngsten stießen langsam an ihre Leistungsgrenze. Da hieß es sensibel zu agieren: langsam machen, motivieren und gegebenenfalls helfen, wo es geht. Während die älteren „wilden Kerle“ den Hügel hochjagten, zerfiel der Rest in langsamere und sehr schnell auch Fahrrad schiebende Grüppchen. Wir Männer fingen teilweise an, den Jüngsten zu helfen und deren Fahrräder mitzuschieben. Ich hatte selbstverständlich auch zwei Fahrräder, meins rechts und ein kleineres von unserem jüngsten Teilnehmer links.

Ich erinnere mich, dass wir dieselbe Aktion hier bereits sieben Jahre vorher hatten: Damals war es viel heißer und wir hatten volles Gepäck dabei. Diesmal brachte ja – ein Glück – Markus unser ganzes Gepäck mit dem Auto zur Jugendherberge und die Temperaturen waren geradezu angenehm. Aber ich merkte, dass ich nicht mehr derselbe war wie sieben Jahre zuvor. Man wird halt alt! Ich musste immer wieder zwischendurch stehen bleiben. Es fiel mir schwer und schwerer, den Berg hochzukommen. Ich ärgerte mich, dass keiner half. ‚Es gibt genug Mitstreiter, die fitter sind als ich.‘ Aber Hilfe rufen wollte ich natürlich auch nicht. Eigentlich wollte ich gar nicht zugeben, dass mir diese Schieberei viel zu anstrengend war. So schob ich weiter – mit Pausen – und quälte mich den Berg hoch, obwohl mir zunehmend schlecht wurde: Der Kreislauf machte Probleme. Irgendwann kamen wir schließlich oben an, wo die anderen schon warteten. Ich war völlig platt, musste mich erst einmal setzen, musste mich dringend erholen.

„Komm, wir haben lange genug gewartet. Wir fahren weiter!“ höre ich einen der „wilden Kerle“ sagen. „Ich muss erst einmal etwas essen!“ Gutes Argument für eine längere Pause, das mir da eingefallen ist! Und dann lasse ich mir erst einmal Zeit, damit ich wieder zu Kräften komme. „Ich merke, dass ich langsam alt werde.“ Man scherzt und die Stimmung ist gut. Das fällt ja nicht so schwer, ein wenig mit dem Alter zu kokettieren …

Danach ging es erstaunlich gut weiter. Wir kamen ohne Zwischenfälle zur Jugendherberge – ich auch. Wir hatten Spaß im Schwimmbad – ich auch. Abends wurde Fußball gespielt – ohne mich! Ein Glück, es waren andere Jugendherbergs-gäste da, die mit unseren Jungs ein Spielchen machten. Still in mir merkte ich, dass ich nicht mehr alles so wie vorher mitmachen konnte. Kennst du das auch? Es war ein schwer beschreibbarer Gefühlsmix in meinem Hirn: ‚Irgendwie geht ja noch (fast) alles, aber manches eben auch nicht; irgendwie ist das mit zunehmendem Alter völlig normal, aber vielleicht ist es gerade mal ein wenig extrem.‘ Irgendwie war ich auch bereit, darüber locker zu reden und zu scherzen, aber weder wollte ich die anderen mit meinen Wehwehchen nerven noch so ganz konsequent an meine Grenzen glauben.

Am Freitag fuhren wir nach Stollberg (Erzgebirge), eine anstrengende Tour, auf der ich jeden Hügel spürte. Doch das fiel nicht weiter auf, da sich zu Beginn des Ausflugs einer der Jungs bei einem Sturz schwer verletzt hatte. Der rechte Zeigefinger war zwar nur gestaucht, tat aber sehr, sehr weh. Weil er den Lenker nur eingeschränkt halten konnte – vor allem bergauf war das mit der verletzten Hand schwierig – und immer wieder Erholungsphasen brauchte, kamen wir nur langsam voran und ich konnte unauffällig mit der Nachhut mithalten und immer mal wieder auch selbst schieben. Die Verletzung des Jungen war für ihn so belastend, dass wir den Vati anriefen und dieser seinen Sohn in Stollberg abholte. Das war wohl etwas traurig, aber die Stimmung war trotzdem insgesamt weiterhin positiv. Alle begriffen, dass die Dinge nicht fortwährend so ablaufen, wie wir uns das wünschen. Eigentlich war der Sturz ja noch glimpflich ausgegangen und der Junge in den Armen seines Vatis glücklich aufgehoben. Nach einer „gedämpft fröhlichen“ Verabschiedung konnte ich auf der Rückfahrt viel besser mithalten als auf der Hinfahrt. ‚Siehst du‘, sagte ich mir, ‚es geht doch! Ich bin halt im Moment nicht ganz fit und habe ein paar Schwächephasen. Aber ich merke ja, dass es schon wieder wird!‘

Der Abend hielt allerdings noch ein besonderes Erlebnis für uns bereit: Die Jungs spielten Fußball. Und da sie müde waren (zwei Tage Dauer-Action schafft auch die wildesten Kerle!), eskaliert ein kleiner Streit so sehr, dass unser Jüngster uns wegläuft. Obwohl die Älteren hinterherlaufen, verschwindet er im Wald. Krise! Wir haben Grund zu größerer Besorgnis und suchen verzweifelt im Wald. Wir suchen und rufen in alle Richtungen – zu Fuß und mit Fahrrädern. Nach einer halben Stunde rufe ich die Polizei an. Und wir haben eine richtig gute Polizei! Ich erkläre ihnen die Situation und sie erfassen Situation und Dringlichkeit sofort und schicken Hilfe. Dreimal rufen sie noch an, um Details zu klären. Unterdessen ist bereits eine Streife zur Hilfe unterwegs. Während des dritten Anrufs entdeckt plötzlich jemand im Wald Bewegung: der Junge! Es dauert eine Weile, ehe wir den Jungen eingekreist und mit Mühe eingefangen haben. Er hat noch lange gezittert und immer wieder geweint, bis die Mutti, die ich sofort angerufen hatte, als er gefunden war, ihren Sohn in den Arm genommen und mit heimgenommen hat. Die anderen Jungs und selbstverständlich auch die Männer haben gebetet und geweint – als der Junge vermisst wurde, aber auch als er schon wieder auf dem Heimweg war. Wir wussten jedenfalls, dass so die Dinge wieder auf einem guten Weg waren.

Das alles gehört gar nicht hierher und will ich nicht weiter ausführen! Warum ich das überhaupt erzähle? Das hat zwei Gründe:

Den ersten kann ich nur wiederholen: Wir haben eine richtig gute Polizei! Als ich am Telefon sagte, dass wir den Jungen vermutlich gefunden haben, und als ich kurz danach mit dem Polizisten telefonierte und ihm mitteilte, dass der Junge wieder bei uns war und dass ich mich entschuldigen wollte, umsonst so viel Aufwand bereitet zu haben, antwortete dieser: „Sie haben alles richtig gemacht!“ Jedes Gespräch mit der Polizei war absolut verständnisvoll und hilfreich. Ich verstehe nicht, wie manche Eltern weghören können oder gar mitmachen, wenn ihre Kinder über „Bullen“ herziehen. Ich verstehe nicht, wie Polizisten bei Fußballspielen und Demonstrationen zum Punchingball von Besoffenen gemacht werden können. Und ich verstehe nicht, wie Verantwortliche an Polizisten ihre vermeintlich notwendigen Sparzwänge auslassen können. Ich habe keinen Polizisten in meiner Familie, aber ich wäre stolz, wenn ich einen hätte. Wenn wir Polizisten auf der Straße sehen, sollten wir daran denken, dass wir ihnen niemals alle Dankbarkeit, die wir ihnen für die unzähligen Dienste als Helfer und Beschützer schulden, zurückgeben können!

Zweitens erzähle ich die Geschichte, weil sie im Rückblick eines – damals bereits – Herzkranken interessant ist: Stress ist ja beim kranken Herz nicht nur krankheitsfördernd, sondern im Extremfall – und der war hier wirklich gegeben – durchaus gefährlich. Ich muss aber sagen, dass ich mich bezüglich des Herzes nicht an die geringste Auffälligkeit erinnere. Natürlich ging mir das Geschehen – stundenlang! – „zu Herzen“. Aber weder hatte ich spürbare Herzprobleme noch das Gefühl, in besonderer Weise überfordert zu sein. Eine gewisse Reizbarkeit, eine geringere nervliche Belastbarkeit kannte ich auch im Zusammenhang meiner Herzprobleme. Das habe ich im Alltag zunehmend bemerkt. (Um ehrlich zu sein: Meine Familie hat es mehr bemerkt. Konsequent selbstkritisch bewusst ist es mir erst im Rückblick geworden.) In dieser Krisensituation sowie nach dem anschließenden Spannungsabfall schien mir mein körperlicher Zustand „normal“ zu sein – auch im Rückblick. Aber möglicherweise war das gerade der Auslöser der „Eskalation“ am folgenden Tag!

Am Samstag hieß es früh aufstehen. Die Stimmung war natürlich geprägt von den vielen aufregenden Erlebnissen der letzten zwei Tage und insbesondere die verschiedenen persönlichen Wahrnehmungen des gestrigen Abends wurden am Frühstückstisch ausgetauscht. Insgesamt war die Gruppe aber trotz der zwei „Ausfälle“ erfreulich gut drauf. Wir haben viel über das Erlebte gesprochen, waren dankbar für die positive Entwicklung und wussten, dass wir uns letztlich aufeinander und auf den Segen unseres Herrn Jesus Christus verlassen konnten. Dass so ein Morgen mit einer kleinen Andacht und einem Gebet beginnt, ist allein ein großer Segen! Und so machten wir uns für die Abfahrt fertig, Markus packte das große Gepäck wieder in sein Auto und alle anderen bereiteten ihre Fahrräder vor. Etwas nervig für mich als Organisator und Leiter der Tour war, dass wir nicht pünktlich loskamen; aber um 8:45 Uhr ging es endlich los.

Wir waren 9:30 Uhr an der Katholischen Kirche in Zwönitz verabredet – das sollte nunmehr knapp werden! Also gab ich an der Spitze der Gruppe etwas Gas. Recht schnell merkte ich, dass es mir an diesem Morgen wieder nicht gut ging. Irgendwie ging es zunehmend schlechter – also irgendwann wirklich nicht mehr. Ich fuhr natürlich trotzdem noch ein Stück, denn bisher lief es ja nach einer Weile regelmäßig wieder gut. ‚Bis da vorne will ich fahren. – Noch ein kleines Stück. – Wenigstens bis zu dem Baum da.‘ – Es ging leicht, wirklich leicht bergauf. – Doch ich musste absteigen. Es ging zwar schon vorher nicht mehr, aber jetzt ging es überhaupt nicht mehr. Ich weiß nicht, ob du meinem Gefühlschaos folgen kannst? Ich weiß wahrlich auch, dass man „nicht mehr“ nicht steigern kann, aber wenn man das nicht wahrhaben will, dann steigert man eben völlig unsinnig bis „wirklich nicht mehr“ oder „überhaupt nicht mehr“. Dass das nicht vernünftig ist, darüber brauchen wir nicht diskutieren.

Meine Begleiter wurden nun natürlich stutzig, dass ich angesichts der überschaubaren Belastung schlapp machte. „Mir geht es heute gar nicht gut. Aber das wird schon wieder. Es geht gleich weiter.“ Die Schmerzen im Brustbereich versuchte ich nicht zu sehr zu zeigen. Ich stieg erneut aufs Fahrrad und fuhr ein Stück, in der Hoffnung, dass der Schmerz nachließ. Doch es sticht gewaltig, so als ob es mich innerlich zerreißt! Ich steige wieder ab und krümme mich zusammen und drücke mit der Hand gegen die Brust. Ich schiebe ein Stück, aber selbst das ist zu viel. Bloß nicht bewegen! Es hilft nur noch stöhnen und sich vorbeugen – wenn überhaupt! Das Schlimme ist, dass alle anderen um mich herum sind und auf mich starren. Als hätte ich nicht genug mit mir selbst zu tun, muss ich auch noch irgend-wie mit den Fragen und den Blicken der anderen klarkommen. Wahrscheinlich sind die Blicke schlimmer als die Fragen. Oder doch die Fragen, denn ich muss ja irgendwie antworten. Ich will aber in Ruhe gelassen werden! Es gelingt mir wenigstens, die anderen zu überzeugen, dass sie vorfahren. Wenigstens das …

Christian bleibt bei mir und wir gehen ein Stück und bleiben stehen – und gehen und stehen – und gehen und stehen. Ich habe auch eine Erklärung für die Beschwerden. „Wahrscheinlich ist es nur Sodbrennen. Ich habe heute morgen sicherlich mit der Kaffee- und Frühstücksmenge übertrieben.“ ‚Ich weiß, es ging mir die Tage nicht so gut und ich hatte wiederholt derartige Beschwerden – vor allem morgens! Da spricht doch einiges für Sodbrennen. Auf der anderen Seite hatte ich auch schon vor der Jungschar-Tour vereinzelt solche Beschwerden.‘ „Auf jeden Fall gehe ich jetzt mal zum Arzt!“ ‚Es wird sicher nicht so viel dahinter stecken. Im Moment bin ich einfach nicht so fit. Und man wird halt älter. Wenn man ganz kritisch darüber nachdenkt, kann das natürlich auch etwas mit dem Herz zu tun haben. Aber das denkt man ja oft, wenn man Sodbrennen hat. Das weiß ja jeder, dass sich Sodbrennen wie Herzprobleme anfühlt. Wobei ich eigentlich nie Probleme mit Sodbrennen hatte. Aber bei meinem Konsum von Kaffee?! Und heute morgen war das definitiv zu viel Kaffee: zwei große Pötte. Trotzdem werde ich natürlich zu Hause möglichst bald zum Arzt gehen!‘ „Und wenn es sich heute wirklich nicht bessert, rufe ich zu Hause an und lasse mich abholen.“ ‚Aber jetzt fahren wir erst einmal nach Zwönitz. Da schauen wir dann, ob ich zu Hause anrufe!‘

Nach einer ganzen Weile und Phasen des Gesprächs und Phasen des Schweigens mit Schieben und Stehen konnte ich weiterfahren. Der Großteil der Strecke nach Zwönitz ging bergab und schon waren wir da. Erst fuhr ich hinter der Truppe hinterher. Dann ging es immer besser. Ich fuhr wieder vorneweg und wir kamen bei der Katholischen Kirche an. Es erwartete uns eine tolle Führung mit einer sehr netten Gemeindemitarbeiterin, die alle unsere Fragen geduldig beantwortete. Nach einer Essenspause ging es weiter, bergauf und bergab. Ich fuhr mit, als wäre nichts geschehen, teils vorne, teils hinten. Alles war gut!

Wir hatten sensationelles Wetter und kamen in toller Stimmung heim nach Vielau. Die vielen Erlebnisse, insbesondere des Vorabends, wurden erzählt und ausgetauscht, denn natürlich waren die Drähte nach Hause heißgelaufen und viele wussten hier schon zu berichten, wie man in Vielau die Ereignisse miterlebt hatte, bis hin zu spontanen Gebeten und Gebetsgemeinschaften. – Da war doch noch was? Na klar, ich habe mein zunehmendes Alter deutlich zu spüren bekommen. Aber es ging doch schon wieder. „Selbstverständlich gehe ich baldmöglichst zum Arzt.“ Jetzt hieß es erst einmal durchschnaufen und nachfragen, wie es den zwei Jungs ging, die früher heimgefahren sind. Und dann dachten wir bereits an nächstes Jahr. ‚Bis dahin bin ich sicherlich wieder „auf der Höhe“!‘

Die nächsten Tage und Wochen schwankte meine Motivation, zum Arzt zu gehen, kräftig hin und her:

Wenn ich zum Arzt gehen will, ist es bei mir immer dasselbe: Der sogenannte „Vorführeffekt“ stellt sich ein. Mir geht es dann eigentlich gut. Ich habe nichts Vorweisbares an Verletzung, Schmerzen oder dergleichen. So kann man ja nicht zum Arzt gehen! Da macht man sich ja lächerlich! ‚Klar, irgendwann demnächst gehe ich zum Arzt, aber jetzt? Mir geht es gerade gut! Wenn es wieder deutlicher spürbar ist mit den Schmerzen und Schwächeanfällen, werde ich schon gehen.‘ Natürlich hat meine Familie gedrängelt. Tobias war ja mit auf der Jungschar-Tour gewesen. Der hatte seinen Papa live erlebt, wie er nicht mehr konnte, nur noch rumgestöhnt hat, offensichtlich richtig „am Ende“ war! Und Christian und die anderen Mitbetreuer fragten ebenfalls nach, ob ich schon beim Arzt war. ‚Selbstverständlich gehe ich demnächst zum Arzt!‘

Na ja, es bleibt die Frage, wann „demnächst“, wann „baldmöglichst“ ist? Als Lehrer bin ich es gewohnt, dass eigentlich fast immer ein ungünstiger Zeitpunkt ist. Erst standen noch die letzten Abi-Prüfungen an. Dann hatte ich eine Aufführung von lateinischen Sketchen. Auch musste der Schulgottesdienst zum kommenden Schuljahresauftakt vorbereitet werden. Zudem folgte die Abschlussfahrt mit der Jahrgangsstufe 11 nach Berlin. Schließlich nahten die Zeugnisse, an denen einiges an Vorbereitung und Konferenzen dranhängt. Und ein wenig Unterricht fand ja auch noch statt, sodass die Wochen wie im Fluge vergingen. ‚Da ist ehrlich keine Zeit für Arztbesuche!‘

Meine Familie, vor allem Isabella, fürchtete schon, dass es wie so oft abläuft und ich in bester „Lehmannscher Tradition“ den Arztbesuch ganz umging. Das war schon bei meiner Mutter so (eigentlich bereits bei ihrer Mutter!) und wir Lehmann-Kinder haben diese Skepsis übernommen. Ich komme diesbezüglich ganz besonders nach meiner Mutter. Man weiß ja: ‚Beim Arzt wird man eher krank als gesund. Besser ist es, man kuriert sich zu Hause aus. Tee trinken, Füße hochlegen, viel schlafen hat schon immer mehr geholfen als jede Medizin. Jeder weiß um die vielen Nebenwirkungen von Medikamenten. Wenn du einmal im Krankenhaus bist, lassen sie dich nicht wieder raus.‘ Und so weiter und so weiter … Das sind die Weisheiten des Volksmundes, die sich sehr gut als Ausreden benutzen lassen. Es ist natürlich etwas Wahres dran, dass man nicht immer gleich mit jedem Wehwehchen zum Arzt rennen muss und mit Bedacht Medikamente nehmen sollte. Aber ganz ehrlich: Ich habe nur Ärzte kennengelernt, die Medikamente tatsächlich mit Bedacht ausgeben und auch mal raten, sich einfach mit Tee und Ruhe zu erholen, wenn das reicht.

Bei aller Verdrängung und dem Hin und Her meiner Gefühle nahm ich die Mahnungen, zum Arzt zu gehen, doch zunehmend ernst und merkte auch, dass ich nicht ganz so funktionierte wie sonst. Ich spürte vermehrt leichte Reizbarkeit, weniger in persönlichen Beziehungen, sondern vielmehr wenn etwas im Alltag nicht gleich so lief, wie ich mir das wünschte, sei es ich suchte etwas, sei es die Funktion eines technischen Gerätes machte Schwierigkeiten, sei es ich geriet unter Zeitdruck. Dazu meinte ich festzustellen, dass mir häufiger Dinge herunterfielen oder irgendetwas nicht einfiel, mir partout nicht in den Sinn kommen wollte. So eindeutig, wie ich dies hier gerade beschreibe, erfuhr ich das alles aber damals nicht. Es waren so Momente von Empfindungen, die jedoch gleich wieder verschwammen. Die Standarderklärung, die ich nicht nur mir gegenüber, sondern wiederholt auch laut äußerte, war, dass ich halt langsam älter werde. Ich stellte ja schon einmal fest: Es fällt nicht so schwer, ein wenig mit dem Alter zu kokettieren …

Nichtsdestoweniger reifte der Entschluss, tatsächlich zum Arzt zu gehen. Das hing weniger mit meiner Vernunft zusammen als vielmehr mit dem Leidensdruck. Dazu gleich mehr. Auf jeden Fall waren Menge und Maß der Situationen, in denen ich nicht mehr weiterkonnte, zu intensiv, um sie zu ignorieren. Das machte mir – wenn auch noch immer verschwommen – klar, dass die Sache (Krankheit oder Alterserscheinung?) immerhin von solcher Tragweite war, dass es nicht mit einem einzigen Arztbesuch getan wäre. Diese Vermutung wiederum bestärkte mich nur, den Arztbesuch aufzuschieben. Denn während der Schulzeit mehrere Arztbesuche zu organisieren, ist nicht gerade sehr praktisch. Da die Sommerferien ohnehin einen Monat auf die Jungschar-Tour folgen sollten, war der Plan, erst zu Beginn der Sommerferien zum Arzt zu gehen.

Zwischendurch muss ich eine Begebenheit einfügen, die nicht ganz unbedeutend in den nächsten Wochen und vor allem in der Ärzte-Phase war: Vorher hatten wir schon mal so grob „rumgesponnen“, nun hakte Isabella im Frühjahr verstärkt nach, ob wir nicht im Sommer eine größere Radtour machen könnten. Die Idee war folgende: Da wir nahe der Mulde wohnen, den Mulderadweg bis zur Elbe fahren und dann den Elberadweg bis Hamburg. Hamburg deswegen, weil Tobias mitfahren sollte. Tobias ist HSV-Fan und ein Besuch des Volksparkstadions sollte hinreichend Motivation sein! Insgesamt macht die ganze Strecke ca. 600 km aus. Nun überlegten wir natürlich nach der Jungschar-Tour zunehmend, ob ich überhaupt fit genug für diese große Sommer-Tour war? Wer mich ein wenig kennt und der Leser, der mich nun auch ein bisschen kennengelernt hat, wird sich denken können, dass ich bei allen innerlichen Bedenken nach außen die Position vertreten habe: „Das wird schon!“ In mir drinnen war das überhaupt nicht so eindeutig. Ich wollte es zwar nicht wahrhaben, aber die Zweifel nagten doch an mir. Mal dachte ich, ‚es wird schon‘, mal dachte ich, ‚das wird wohl nichts‘.

Das hing mit den Erlebnissen zusammen, die mir deutliche Grenzen aufzeigten, die ich aber kaum nach außen kommunizierte – auch nur in geringem Maß mit Isabella! Ich will drei Härtefälle beschreiben, die mir eigentlich die Dringlichkeit der Sache hätten deutlich machen müssen:

Ich erwähnte bereits den Schulgottesdienst vom kommenden Schuljahr. Seit vielen Jahren wird in unserer Schule zum ersten Schultag morgens ein Gottesdienst angeboten. Dafür bin ich zwar der Hauptverantwortliche, aber fast von Anfang an hat mich der EC des Nachbarortes dabei wesentlich unterstützt. Das sind die „Entschiedenen Christen“, das heißt die Jugend der Landeskirchlichen Gemeinschaft; „Jugend“ geht hier von 14 Jahren bis deutlich über 20 Jahre. Sie „machen“ den Schulgottesdienst im Prinzip mit den Religionsschülern unserer Jahrgangsstufe 11; ich koordiniere eigentlich nur und trage die Verantwortung als Lehrer. Für diese Absprache musste ich nun einen Samstagabend im Juni nochmal zum EC. Dessen Versammlungsraum ist nur knapp 500 m von meinem Haus entfernt. Davon geht es die letzten knapp 200 m den Mühlweg recht steil bergauf.

Als ich zu Fuß auf dem Weg zum EC war und auf den Mühlweg abbog, merkte ich, dass mir das Bergauf-Gehen sehr schwer fiel. Da ich alleine war, konnte ich ja unauffällig langsam gehen. Und so versuchte ich, ruhige Schritte mit tiefer Atmung zu verbinden. – Aber nichts geht mehr! Das ist Wahnsinn: Ich komme einen blöden Berg zu Fuß nicht mehr hoch! Ich muss stehen bleiben und mich kurz erholen. Anschließend geht es wieder ein paar Schritte. Doch dann muss ich wiederum stoppen. Fünfmal oder sechsmal halte ich auf dem lächerlichen Hügel an. Das Peinliche ist, dass ich am Ende sehe, dass die lieben Glaubensgeschwister draußen vor dem Versammlungsgebäude stehen. So gehe ich den Restweg irgend-wie fast durch, bleibe nur eher unauffällig mal ganz kurz stehen und versuche – oben angekommen – mit nicht allzu viel Geschnaufe ein paar lockere Bemerkungen über die hohe Lage des EC-Gebäudes zu machen, kokettiere wieder ein wenig mit meinem Alter und bin froh, als ich mal kurz zuhören kann und nicht reden muss. Auf diese Art kann ich mich zügig erholen.

Nach Hause zurückgekehrt wurde die Sache diesmal aber nicht erneut einfach vergessen und beiseite geschoben. ‚Das sitzt tief und gibt zu denken.‘ – Auf der anderen Seite: ‚Jetzt geht es mir ja wieder gut. Und gestern bin ich mit der Jungschar mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Da gab es auch keine Probleme. Na ja, es ging mal am Berg nicht so gut. Aber es ging! – Man wird halt alt …‘

Ein sich wiederholendes Problem war die Gartenarbeit. Häufiger merkte ich, dass ich nicht viel Ausdauer hatte, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen spürte ich mehr und mehr Antriebslosigkeit. Da kam relativ schnell so ein komisches Mixgefühl von Erschöpfung und Lustlosigkeit auf. Wenn ich überhaupt etwas im Garten gemacht habe, dann nicht sehr lange. Vor allem bei körperlicher Anstrengung war meine Belastungsbereitschaft nicht sehr hoch. Und dann gab es noch ein konkretes Problem: Bei Trockenheit schöpfe ich mit einem Eimer 15 bis 20 Liter Wasser aus unseren Regentonnen und gieße schubweise die wenigen wichtigen Stellen.

Nun spürte ich wiederholt nach dem ersten Eimer so ein komisches Stechen und vor allem der Kreislauf machte sich bemerkbar. Trotzdem holte ich einen weiteren Eimer. – Und es ging mir noch schlechter! – Nach dem dritten Eimer ging es mir so schlecht, dass ich mich erst einmal im Wintergarten hinlegen und erholen musste. Dieses Spielchen trieb ich selbstverständlich häufiger. Aber man stellt sich ja auf seine Lebensumstände ein: So verteilte ich das Wasser inzwischen so, dass ich mit drei Eimern bei einem Durchgang hinkam. Und dann legte ich mich hin und erholte mich. ‚Und ich erhole mich ja auch jedes Mal. Also muss man jetzt auch nicht so viel Wind um die Sache zu machen. Man wird halt alt …‘

Mit diesen ganzen Erfahrungen nahte nun die Abschlussfahrt der Jahrgangsstufe 11. Ich bin Tutor (quasi Klassenlehrer) in dieser Jahrgangsstufe und als solcher mitverantwortlich. Eigentlich hatte ich mich auf die Fahrt gefreut. Mein Tutorium (also quasi meine Klasse) ist eine feine Truppe; wir kommen super miteinander klar. Sicher nehmen sich ältere Schüler immer etwas mehr Freiräume als jüngere, aber ich hatte jetzt nicht die Sorge, dass sie „ausbrechen“ und einen Haufen Mist anstellen. Solche Fahrten mit Schülern sind jedoch immer anstrengend. Generell finde ich Übernachtung in der Fremde belastend. Jetzt war hinzugekommen, dass ich zunehmend schlecht schlief. Ich bin es gewohnt, mal nachts aufzustehen und kurz Urin zu lassen. Aber dann schlafe ich sofort weiter. Selbst wenn das nachts zweimal oder dreimal passiert, stört das meinen Schlaf eigentlich nicht sehr. Aber neuerdings hatte ich morgens stets das Gefühl, unausgeschlafen zu sein. Das war neu für mich. Mit den genannten Erlebnissen war ich mir nicht mehr sicher, ob ich das ganze Programm der Studienfahrt problemlos durchstünde. Ich habe dann schon ernsthaft überlegt, zum Arzt zu gehen und ihn zu fragen, ob er mich krankschreibt.

Du kannst es dir schon denken: Weder habe ich mit jemandem darüber gesprochen noch hat der Arzt mich gesehen. Selbstverständlich bin ich mitgefahren! In der letzten Schulwoche, vom 19. bis 22. Juni, knapp einen Monat nach der Jungschar-Tour, waren wir auf Studienreise in und um Berlin herum. Schon beim Tragen der Reisetasche habe ich gemerkt, dass es nicht ganz leicht würde. Letztlich ging es einigermaßen und ich denke, keiner hat gemerkt, dass ich gut Acht gegeben habe, mich immer wieder rechtzeitig zu erholen bzw. gar nicht erst zu sehr anzustrengen.

Am Morgen der Heimfahrt wartete ich als Letzter bei der Abnahme unserer Unterkünfte. Ich hatte schon gehofft, dass jemand meine Reisetasche nimmt – umsonst. Als ich das Stück zum Bus hinterherlaufen muss, versuche ich, zügig und doch ruhig zu gehen. Es sticht und reißt brutal im Brustbereich, aber ich gebe mein Bestes, sodass niemand etwas bemerkt. Ich muss die Tasche nur einmal absetzen. ‚Uff! Ich denke, auch das bemerkt kaum jemand!‘ Zur Sicherheit erwähne ich noch scherzhaft, dass ich jetzt doch langsam erschöpft bin von den anstrengenden Tagen. „Man wird halt alt …“

Schon waren die Sommerferien da und die Radtour nach Hamburg nahte. Mit dem ganzen Gemisch aus Bedenken, Unsicherheit und doch wieder Gelassenheit angesichts dessen, dass ich seit Ende Mai insgesamt gut über die Runden gekommen bin, war mir klar, dass wir die Radtour machten. – ‚Oder doch nicht? Oder doch? Ja oder nein? Grenzen akzeptieren oder nicht so mimosenhaft mit dem Alter umgehen?‘ Wir haben also zu dritt (Isabella, Tobias und ich) eine Fahrradtour von 25 km Länge unternommen – offiziell, um zu trainieren für die Fahrradtour. Tatsächlich wollte ich wissen, ob es geht. Ich habe extra Gas gegeben. Und es ging; zwar mit kräftigem Schnaufen, aber es ging. Wettervorhersagen wurden analysiert und es begann die konkrete Planung. Ich habe die 600 km in sechs Etappen geteilt, wir haben uns auf die Etappenorte festgelegt und telefonisch die Herbergen gebucht: 6. bis 11. Juli Fahrt nach Hamburg, dann zwei Übernachtungen in Hamburg und Donnerstag, den 13. Juli frühmorgens mit dem Zug zurück nach Zwickau, um dann das letzte Stückchen mit dem Fahrrad heimzufahren.

Bis dahin wollten wir wieder daheim sein, weil Isabella sich für die „Sächsische Chor- und Instrumentalwoche“ eine Woche später angemeldet hatte und hier bereits am 14. Juli abends ein Vortreffen war. (Das wird später nochmal eine Rolle spielen!) Außerdem war mir auch ganz recht, dass ich nach der Radtour noch zwei ruhige Wochen Sommerferien vor mir hatte, ehe für Lehrer in der letzten Woche der Sommerferien die Vorbereitungswoche für das neue Schuljahr beginnt. – Von wegen „ruhige Wochen“! „Der Mensch denkt und Gott lenkt.“ (Kurzform von Sprüche 16, Vers 9) Deswegen rät Jakobus in seinem Brief: „Und nun ihr, die ihr sagt: Heute oder morgen wollen wir in die oder die Stadt gehen … und wisst nicht, was morgen sein wird. Was ist euer Leben? Ein Rauch seid ihr, der eine kleine Zeit bleibt und dann verschwindet. Dagegen solltet ihr sagen: Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun.“ (Jakobusbrief 4, Verse 13 bis 15)


Gott sei Dank herzkrank

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