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Der unwahrscheinliche Flug

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Mit Wahrscheinlichkeiten ist das so eine Sache. Käme nämlich immer nur die wahrscheinlichste in Frage, dann würde weder jemand im Lotto gewinnen noch vom Blitz getroffen werden, noch mit dem Flugzeug abstürzen. Doch dem ist halt nicht so. Auch die unwahrscheinlichen Begebenheiten finden mit ebensolcher Regelmäßigkeit statt wie die wahrscheinlichen, nur dass sie sich in der Häufigkeit unterscheiden. So ist die Chance, nicht im Lotto zu gewinnen, zwar 100- oder gar 1000mal größer als die gegenteilige, aber wie heißt es doch so schön: Torheit schützt vor dem Alter nicht.

Dies sollte auch Paul Benjamin Usher zu spüren bekommen, als er sein Ticket für den Rückflug von London nach New York einlöste. Erst in letzter Minute hatte er den Abfertigungsraum passiert und war mit seinem Aktenkoffer die Gangway hinaufgeeilt. Die DC-10 schien bis auf den letzten Platz gefüllt und auf ebendiesem saß jetzt Paul Usher. Aber nur, weil ein anderer Fluggast seine Buchung kurzfristig storniert hatte. Sicher, es gab zwingende Gründe für seine Eile. Dennoch hätte er sich genügend Zeit nehmen können, ja besser, er wäre in aller Ruhe abgeflogen. Doch das verstieß gegen sein Prinzip, alle Dinge schnell und unverzüglich zu erledigen. Zeit ist Geld, das war sein Motto. Jeden Tag hatte er bis auf die Minute verplant und mit Terminen gefüllt. Nur so war er es gewohnt, nur so konnte er leben. Alles andere war Müßiggang. Aber gerade darin bestand seine Torheit. Und so war es eben dieser übertriebenen Geschäftigkeit zuzuschreiben, dass Usher mit unentrinnbarer Zielstrebigkeit dieses Flugzeug nahm. Keine zehn Minuten hätte er länger gewartet. Diese Maschine musste es sein – diese, keine andere.

Die DC-10 setzte zum Start an, beschleunigte, und mit einem kurzen Ruck hob sie vom Boden ab. Jetzt fühlte sich Usher in Sicherheit. Nichts konnte ihm mehr in die Quere kommen. Er war gerettet und mit ihm zehntausend amerikanische Banknoten. Er hielt den Koffer mit den l00-Dollar-Scheinen auf dem Schoß und malte sich aus, was er alles damit anstellen würde.

Die fünfte Minute nach dem Start in Heathrow war gerade angebrochen, da passierte allerdings etwas Unvorhergesehenes. Usher hatte bereits gewohnheitsmäßig seinen Gürtel gelöst und genüsslich die erste Seite des Sunday Telegraph aufgeschlagen, als sich versehentlich die Cockpit-Sprechanlage einschaltete und für nur wenige Sekunden folgender Dialog zwischen dem Flugkapitän und seinem Copiloten zu hören war: „Irgendwie sind wir zu schnell, ich glaube, ich muss mit dem Schub runtergehen!“

„Wieso das? Wir sind gerade mal auf 9000 Fuß!“ Die Stimme des Copiloten klang irritiert.

„Sieh doch selbst, wir sind zu steil!“

Danach schaltete sich wieder dezent die Hintergrundmusik ein. Kaum einer der Passagiere hatte etwas von diesem Gespräch mitbekommen, schon gar nicht Paul Usher, der gerade die aktuellen Börsenkurse studierte.

Nach etwa einer Dreiviertelstunde begann sich eine allgemeine Unruhe unter den Passagieren breitzumachen. Usher bekam zunächst davon nichts mit. In seine Zeitung vertieft, war er gerade bei den Fußballergebnissen angelangt. Während er sich noch darüber echauffierte, dass Leeds United zu Hause gegen die Wonderers verloren hatte, erhoben sich etliche Passagiere von ihren Plätzen. Einige diskutierten aufgeregt, andere starrten wie gebannt aus den Bullaugen, als ob es da draußen etwas Besonderes zu sehen gäbe. Schließlich drohte die Aufregung in ein allgemeines Durcheinander umzuschlagen, wodurch sich Usher nachhaltig gestört fühlte. Erst jetzt, da auch Passagiere aus der Mittelreihe aufstanden und auf die Fensterreihe hinüberwechselten – ihre Blicke beharrlich nach draußen gerichtet –, bemerkte er, dass anscheinend etwas nicht in Ordnung war. Ungläubig lugte er hinter seiner Zeitung vor. Was hatten die Leute nur? Warum starrten sie alle aus den Fenstern?

Zu diesem Zeitpunkt sah man im Kontrollturm die Maschine vom Monitor verschwinden. Der kleine weiße Kreis auf dem Bildschirm hatte sich mit einem Mal über den oberen Rand hinausbewegt und das Sichtfeld verlassen. Schon eine Viertelstunde zuvor war die Funkverbindung mit dem Cockpit abgerissen. Verdutzt guckte der Navigator seinen Nebenmann an, der die ungewöhnliche Wanderung des weißen Punktes schon beizeiten mitbekommen hatte. Lange Gesichter auch bei den anderen Kollegen, die sich ebenfalls davon überzeugen konnten, dass der Punkt nach oben entwichen war.

„Das kann nicht sein!“ rief der erste Navigator fassungslos. „Die sind über 60.000 Fuß!“

Auf den Bildschirmen ließen sich Flugzeuge bis in eine Höhe von maximal 18 Kilometern verfolgen, was so gut wie kaum vorkam. Lediglich Überschallmaschinen wie die Concorde bevorzugten eine Flughöhe von etwa 13 bis 15 Kilometern. Darüber hinaus war es nur wenigen Militärjets möglich, sich in die Tropopause bis maxima1 20 Kilometer Höhe zu bewegen.

„Das ist doch unmöglich!“ rief der andere, „das geht nicht mit rechten Dingen zu!“

„Das glaubt uns kein Mensch!“ meinte wieder der erste kopfschüttelnd. „Was ist dort oben los?“

„Verehrte Fluggäste!“ ertönte die beherrschte Stimme des Flugkapitäns. „Bitte setzen Sie sich wieder auf Ihre Plätze. Ich bitte Sie dringlichst darum, Ruhe zu bewahren. Wir sind wahrscheinlich in atmosphärische Strömungen geraten, die für die überdurchschnittliche Flughöhe verantwortlich sind. Wir werden bald wieder unsere normale Reiseflughöhe erreichen. Bitte setzen Sie sich auf Ihre Plätze. Danke!“

Ein Raunen ging durch die Kabinen. Die Stewardessen versuchten so gut sie konnten, die Leute wieder auf ihre Plätze zu schicken. Alle mussten sich anschnallen. Die Maschine hatte mittlerweile eine Höhe von 70 Kilometern erreicht und man konnte schon durch die Erdkrümmung Nordamerika sehen.

„Gucke doch!“ hörte Usher den dicken Mann neben sich zu seiner Frau sagen. „Dort kann man schon Amerika erkennen!“ Dabei richtete er den Zeigefinger auf ein freies Bullauge neben sich.

„Wo denn?“ meinte sie nur, während sie ungläubig den Kopf verrenkte und gar nichts zu begreifen schien.

„Da!“ riefen jetzt auch andere Passagiere. Alle riefen durcheinander: „Amerika!“

„Aber wieso sind wir schon da?“ fragte die Frau des Dicken, der jetzt unentwegt aus dem Fenster glotzte und nicht mehr auf sie einging. Ja, wieso eigentlich, dachte auch Usher, bei dem sich langsam ein ungutes Gefühl breitmachte, er wusste nicht, warum. Er beobachtete die Stewardessen, die nur mühsam vorwärts kamen, sich an den Kopfenden der Sitze festklammernd. Sie kontrollierten, dass auch jeder angeschnallt war. Doch irgendwie sah das eigenartig aus, wie sie sich so durch die Gänge kämpften. Ihre Bewegungen hatten nichts mehr von dem ursprünglichen Charme, nichts Geschmeidiges, ja, sie sahen jetzt eher linkisch aus.

In diesem Moment geschah etwas äußerst Merkwürdiges. Neben Usher, etwa in Augenhöhe, hingen plötzlich zwei Beine in der Luft. Er wandte den Kopf nach oben und erkannte den Dicken, der eben noch aus dem Fenster geguckt hatte. Verzweifelt versuchte er, sich mit den Händen von der Kabinendecke abzustoßen. Doch wie er sich auch bemühte, er konnte sich nicht halten und segelte, auch zum Erstaunen der umsitzenden Fluggäste, nach vorne den

Gang entlang.

„Aber Albert!“ rief seine Frau noch, als er an ihr vorüberschwebte, dann verschlug es ihr die Sprache. Zum Glück konnte ihn eine Stewardess einfangen und auf seinen Platz zurückbringen.

In den Kontrolltürmen herrschte unterdessen helle Aufregung. Das Verschwinden der DC-10 hatte sich überall herumgesprochen. Auf dem Kennedy-Airport in New York wurde zunächst bekannt gegeben, dass sich der Flug 2138 aus technischen Gründen verspäten würde. Als die Maschine auch nach acht Stunden nicht wieder auftauchte, meldete man sie schließlich als vermisst. Eine Sonderkommission, bestehend aus Psychologen und Mitarbeitern des Flugsicherungsdienstes, wurde beauftragt, sich um die Angehörigen der Vermissten zu kümmern. Noch Wochen später war das allgemeine Rätselraten um den Flug Nr. 2138 nicht abgeebbt. Denn man hatte weder Trümmer im Atlantik entdeckt noch gab es irgendwelche Anhaltspunkte, dass das Flugzeug irgendwo notgelandet wäre. Kurzum, es war einfach von der Bildfläche verschwunden. Und mit ihm Paul Usher und der Geldkoffer, um dessen Verbleib – zumindest was den letzteren anging – man sich reichlich Gedanken machte. Umso mysteriöser war der Umstand, dass man bald dahinterkam, dass zwischen Usher und dem Geldkoffer eine kohärente Beziehung bestand und dass sich beide in der ominösen Maschine befunden haben mussten. Jedoch änderte das nichts daran, dass deren Fernbleiben auch noch nach Monaten ein absolutes Rätsel war. Vielleicht hätte man die Angelegenheit längst zu den Akten gelegt, wären da nicht eklatante Versicherungsfragen zu klären gewesen. Zum einen gab es weder Tote noch Verletzte, sondern lediglich Vermisste. Zum anderen war kein offenkundiger Schadenfall eingetreten, der eine eventuelle Haftung der Versicherungen nach sich gezogen hätte. Ein schwieriger Fall also. Aber nichtsdestoweniger war absehbar, dass auch selbiger irgendwann im Sande verlaufen würde.

„Jason, was geht hier vor?“ Dem Copiloten stand der Angstschweiß auf der Stirn. Seine Augen waren aufgeregt auf den Kapitän gerichtet, der eben die Triebwerke abgeschaltet hatte. „Was können wir denn tun?“

„Wir können nichts anderes tun, als gute Miene zum bösen Spiel machen.“

„Aber was ist, wenn wir noch höher steigen?“

„Ich hab' keine Ahnung“, sagte der Kapitän leise. Seine Hände umklammerten den Steuerknüppel, der ohne jede Funktion war.

„Jason, ich glaube, wir werden immer schneller!“ Die Stimme des Copiloten klang zitterig. Der Geschwindigkeitsmesser war schon eine halbe Stunde nach dem Start an der Maximalgrenze stehen geblieben. Wenig später der Höhenmesser.

„Ich denke, wir fliegen bereits mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit“, sagte Jason ernst.

„Aber wir werden auseinanderbrechen! Uns reißt es in Stücke!“

„Dann wären wir längst auseinandergebrochen! Robert, ich bitte dich, bleib ruhig!“

„Jason, ich halt' das nicht mehr aus! Ich will hier raus!“ schrie Robert mit einem Mal und verlor die Nerven. Die Chefstewardess, die eben hinzukam, versuchte ihn zu beruhigen. Er zitterte am ganzen Körper. Es dauerte einige Minuten, bis Robert sich wieder im Griff hatte. Er war jetzt ganz ruhig und kreidebleich.

„Linda?“ fragte Jason leise.

„Ja“, sagte die Chefstewardess gefasst, die jetzt auf ihrem Platz direkt hinter dem Kapitän saß.

„Sind auch alle angeschnallt?“

„Ja, Jason. Es sind alle angeschnallt.“

„Gut. Ich hab' das Gefühl, die Schwerelosigkeit nimmt zu. Wir steigen immer weiter. Irgendwas zieht uns nach oben!“

„Wie hoch werden wir jetzt sein?“ meldete sich Robert leise zurück.

„Da wir jetzt ganz Nordamerika und Grönland überblicken können, nehme ich an, vielleicht 150 Kilometer. Vielleicht auch schon 200. Ich weiß es nicht! Normalerweise fliege ich keine Shuttles.“

Robert grinste ihn verstohlen an. „Entschuldige, ich hab' einfach mal die Nerven verloren“, sagte er reumütig.

„Schon gut“, meinte Jason beschwichtigend, „wer weiß, wer der nächste ist! So was erlebt man nicht alle Tage.“

In diesem Augenblick gab es einen mächtigen Stoß und alle wurden in ihre Sitze gedrückt. Deutlich konnte man das Kreischen der Passagiere hören, wie auf der Geisterbahn. Die Maschine fing an zu vibrieren. Im Cockpit herrschte betretenes Schweigen. Keiner sagte etwas. Alle starrten nach vorne aus dem Cockpitfenster. Nach etwa fünf Minuten konnte man die Erde als Kugel sehen. Das tiefe Blau des Atlantischen Ozeans und das strahlende Weiß von darüberliegenden Wolkenschichten. Dann wurde das Rütteln stärker und die Maschine bewegte sich geradewegs von der Erde weg. Jason brach als erster das Schweigen und sagte entsetzt: „Wir verlassen die Erde ...“

Dass inzwischen unter den Passagieren keine Panik ausbrach, war nicht weniger verwunderlich als das Geschehen selber. Vielleicht lag es an der zwingenden Faszination dieses Schauspiels, vielleicht hatten aber auch die Wirkung der Schwerelosigkeit und der zunehmende Sauerstoffmangel dazu beigetragen. Weitere bange Minuten vergingen. Währenddessen wurde die Erde immer kleiner. Dann gab es erneut einen Ruck, diesmal mit solcher Wucht, dass die Tragflächen rissen. Mit einem dumpfen Krach lösten sie sich vom Rumpf und alle glaubten, nun würde alles auseinanderbrechen. Aber nichts dergleichen geschah.

Paul Usher hielt seinen Koffer fest umklammert. Seine Finger krallten sich daran, als wäre dies sein letzter Rettungsanker. Doch der Koffer, ja er selber und alles um ihn herum wurde jetzt durchgeschüttelt, so als würde man mit dem Bus über einen holprigen Acker fahren. Dann wurden die Schwingungen immer schneller und feiner. Alles schien im Gleichklang zu schwingen, aber dabei den Halt zu verlieren, ja ins Bodenlose zu fallen. Das war der Moment, wo jeder dachte, nun ist es aus. Usher spürte plötzlich seinen Körper nicht mehr. Und dann passierte das, was sich mit Worten kaum beschreiben lässt. Alles schien sich zu überschlagen. Dabei ertönte so etwas wie ein hohes Pfeifen, das sich ins Unermessliche steigerte. In Sekundenschnelle befiel alle ein Gefühl unsagbarer Schwere, so als würde der Körper auf einen winzigen Punkt zusammengequetscht. Der Gleichgewichtssinn ging verloren. Alle waren wie benommen. Wahrscheinlich dauerte es Minuten, bis Zeitbewusstsein und Gleichgewicht zurückkehrten. Oder waren es Stunden? Tage? Dann war Ruhe.

In diese Stille hinein rief plötzlich jemand mit bebender Stimme: „Die Erde! Da ist die Erde wieder!“

Und wie aus dem Dornröschenschlaf erwacht, kehrte augenblicklich das Leben in die Kabinen zurück. In jeder Ecke, da und dort, überall in den Abteilen regte es sich und ein Murmeln und Flüstern machte die Runde. Indessen wurde die Erde größer und größer. Schließlich war der Mond zu sehen und die DC-10 schwenkte in eine direkte Bahn zum Heimatplaneten.

Nun hielt es keinen mehr auf den Sitzen. Eine wahre Welle der Freude und Erleichterung pflanzte sich fort. Man lag sich in den Armen, fiel einander um den Hals. Dort weinten Frauen und Kinder, da Männer und auch die Stewardessen konnten ihre Contenance nicht bewahren. Es flossen Tränen der Hoffnung und Erleichterung. Auch der Dicke hatte Tränen in den Augen. Seine Frau schluchzte immerzu: „Ich dachte, ich seh' sie nie wieder! Ich seh' meine Lieben nie wieder!“

Sie hielt ein Urlaubsfoto in der Hand. Usher, der links neben ihr saß – seinen Koffer immer noch umklammert – , konnte nur flüchtig erkennen, dass wahrscheinlich ihre Tochter mit den Enkeln darauf zu sehen war.

Auch im Cockpit herrschte Hochstimmung. Allerdings verflüchtigte sie sich schlagartig, als hinter der Erdkugel, in Höhe einer erdnahen Umlaufbahn, etwas Unvorhergesehenes zum Vorschein kam. Gespenstisch schob sich langsam das Riesenrad einer gewaltigen Raumstation ins Bild. Das pure Entsetzen war der Crew ins Gesicht geschrieben. Robert öffnete den Mund, fand aber keine Worte. Linda und Jason starrten gleichfalls mit weit aufgerissenen Augen auf das sich drehende Monstrum.

„Das kann nicht wahr sein“, sagte Jason fassungslos.

„Eine Station mit künstlicher Schwerkraft“, brachte Robert noch heraus, dann fiel ihm der Unterkiefer wieder nach unten.

„Aber wie ist das möglich?“ flüsterte Linda, während sie sich eine Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht strich.

„Keine Ahnung“, meinte Jason entgeistert.

„Ist das überhaupt die Erde?“ fragte Linda ungläubig.

„Na klar!“ platzte Robert heraus, „dort sieht man doch Afrika, das Mittelmeer und Europa!“

„Das ist zweifellos die Erde“, bestätigte Jason.

Es dauerte eine ganze Weile, bis man sich an den ungewöhnlichen Anblick gewöhnt hatte. Dann begann man sich mehr und mehr darüber Gedanken zu machen, wie es weitergehen würde.

„Ich hab' das Gefühl, wir fliegen jetzt antriebslos“, meinte Jason, „die Raumstation bleibt immer im gleichen Abstand zu uns.“

„Wenn sie uns nun gar nicht sehen?“ Robert runzelte die Stirn.

„Ich hoffe doch, dass sie uns auf den Radarschirmen haben“, sagte Jason zuversichtlich.

„Jason!“ rief Robert auf einmal und zeigte nach vorne, „da kommt was auf uns zu!“

„O Gott! Ein Satellit.“ Jason wirkte für einen Moment verwirrt.

„Seht euch diese Sonnensegel an, die sind so lang wie 'n Fußballfeld!“

Unaufhaltsam bewegte sich der Koloss auf das Cockpit zu. Es war ein tonnenschweres Objekt, wobei die spinnenähnlichen Solarflächen in alle Himmelsrichtungen ausgeklappt waren.

„Wir müssen was tun!“ rief Robert aufgeregt.

„Fragt sich nur, was“, gab Jason lakonisch zurück.

„Das mittlere Triebwerk!“ platzte Robert heraus, „das müsste doch noch funktionieren!“

„Damit wir uns direkt ins Unheil stürzen?“ meinte Jason unwirsch.

„Kannst du das Höhenruder bewegen?“ fragte Robert jetzt äußerst gefasst.

„Ich denke schon.“

„Dann versuch doch, langsam Schub zu geben, oder versuch's mit der Schubumkehr!“

„Robert! Du bist ein As!“ meinte Jason. Dabei sahen sich beide an und schmunzelten.

Tatsächlich klappte es mit der Schubumkehr. Die Maschine driftete in eine andere Richtung, und lediglich eines der Sonnensegel streifte leicht den Rumpf. Jason gelang es außerdem, mit dem Mitteltriebwerk in kurzen Abständen Schub zu geben, sodass die DC-10 sich mehr und mehr der Raumstation näherte.

„Hallo, hier ist Houston, ISS-Control, Commander McLain!“ erklang plötzlich eine Stimme über das Funkgerät. „Sie überschreiten den Sicherheitssektor der ISS! Wer sind Sie und was wollen Sie? Melden Sie sich. Over!“

Robert sah Jason verunsichert an. Daraufhin sagte der: „Hier ist Jason Dolovan, Pilot der DC-10, Flug 2138! Wir sind mit unserer Maschine außer Kontrolle geraten. Ich habe 298 Passagiere an Bord, die gerne wieder festen Boden unter den Füßen hätten. Over!“

„Wir haben Sie verstanden!“ kam nach ein paar Sekunden die Antwort. „Was wir nicht verstehen, ist: Wie kommen Sie mit einem 100 Jahre alten Flugzeug in die Umlaufbahn? Und wo haben Sie Ihre Tragflächen gelassen? Over!“

Robert sah Jason mit einem hilflosen Blick an, der nicht mehr von dieser Welt zu sein schien. Auch Jason schluckte mehrmals, bevor er imstande war, etwas zu sagen. Dann antwortete er: „Hören Sie zu! Ich werde Ihnen später alles erklären. Aber erklären Sie uns bitte, was heißt 100 Jahre altes Flugzeug? Welches Jahr haben wir denn? Over!“

„Commander Dolovan! Es ist jetzt nicht die Zeit und der Ort, Witze zu reißen. Sie befinden sich unerlaubt im Sicherheitsbereich der Raumstation. Bleiben Sie, wo Sie sind! Wir holen Sie mit einem Transport-Shuttle runter.“ Nach einer kurzen Pause fügte McLain hinzu: „In etwa einer halben Stunde werden wir bei Ihnen sein. Im Übrigen, falls Ihre Uhren stehengeblieben sein sollten ... Heute ist Freitag, der 13. August 2099. Over!“

Im Cockpit herrschte eiskaltes Schweigen. Dann, auf einmal, gab es einen dumpfen Schlag. Linda war von ihrem Sitz gefallen und hatte das Bewusstsein verloren.

Als die beiden Piloten redlich von ihrer Erste Hilfe-Pflicht Gebrauch machten – besonders Robert kümmerte sich aufopferungsvoll –, kam sie wieder zu sich mit den Worten: „Ist es wahr? Ist es wirklich wahr?“ Ihre blassen Lippen und ihr verklärter Blick verliehen ihrem Gesicht etwas Madonnenhaftes. Robert hatte für einen Moment alles um sich herum vergessen und wäre beinahe schwach geworden. Dann sah er Jason an, der keine Miene verzog, nickte und sagte in ruhigem Ton: „Wahrscheinlich.“

Nun warf ihr auch Jason einen tröstenden Blick zu und meinte: „Wir werden uns darauf einstellen müssen, dass es so ist!“

„Aber warum?“ flüsterte Linda leise.

„Noch kann ich es selber kaum glauben“, erwiderte Jason gedankenverloren, seine Stimme klang ungewohnt verhalten, „aber es scheint wohl so zu sein. Wir müssen uns mit enorm hoher Geschwindigkeit bewegt haben. Nur so kann ich es mir erklären. Wir sind einer Zeitdilatation zum Opfer gefallen!“

„Das heißt“, Robert schaute auf die Uhr und setzte dann betroffen hinzu, „während bei uns gerade mal 48 Stunden vergangen sind ... Ist auf der Erde eine Ewigkeit vergangen.“

„Zumindest 100 Jahre“, warf Jason ein.

Wieder herrschte Schweigen.

Dann begann Jason kopfschüttelnd von neuem: „Was auch immer die Ursache war, durch die enorme Massezunahme hätte es uns auseinanderreißen müssen!“

„Gott sei Dank, dass es nicht dazu gekommen ist!“ meinte Robert erleichtert.

„Selbst wenn wir mit Lichtgeschwindigkeit geflogen wären“, fügte Jason nachdenklich hinzu, „die Dilatation ist zu groß, das ist nicht möglich!“

„Wer weiß, wo wir waren ...“, sagte Robert mehr zu sich selbst.

Es entstand eine längere Pause.

„Linda? Sind Sie okay?“ fragte Jason aufmunternd, dabei wandte er den Kopf leicht zur Seite.

„Ja, Jason“, sagte sie diszipliniert.

„Dann unterrichten Sie bitte den Rest der Crew, dass wir von einem Shuttle abgeholt werden und machen Sie eine Durchsage für die Passagiere!“

Der Jubel aus den Kabinen war noch nicht verklungen, da näherte sich schon die angekündigte Transportfähre. Alle Passagiere und die Crew beobachteten gespannt, wie das riesige Raumschiff langsam näher kam und schließlich in einem Abstand von etwa 50 Metern stehen blieb. Alle starrten jetzt nach draußen und ein Staunen ging durch die Reihen. Nun wurden die riesigen Ausmaße des Shuttles deutlich. Er hatte eine Ladefläche, so groß, dass die DC-10 problemlos hineinpasste. Dann öffneten sich die Ladeluken und ein Greifarm wurde ausgefahren, der so lang war, dass er die 50 Meter mühelos überbrücken konnte. Langsam kamen seine Zangen näher. Sie erreichten den Rumpf, schwebten darüber hinweg und packten ihn von oben. Es gab ein quietschendes, schabendes Geräusch und die DC-10 wurde mühelos eingeholt und im Frachtraum verstaut.

Eine knappe Stunde später war der Shuttle gelandet und am Boden zum Stillstand gekommen. Langsam, noch arg benommen und überaus taumelig, kletterte das Gros der Passagiere – unter ihnen auch Paul Usher mit seinem Koffer – die Gangway hinunter. Einige mussten gestützt werden, andere wurden auf Tragen hinausbefördert. Mehrere Rettungswagen standen mit Rundumlicht bereit. Die Dämmerung ließ ein schummeriges Licht entstehen. Die Sonne war gerade untergegangen und hatte ein leuchtendes Abendrot hinterlassen, das sich wie eine beschauliche Kulisse den Blicken der Heimkehrenden darbot. Im Vordergrund ein Gebäude ganz aus Glas, an dem in großen beleuchteten Lettern Kennedy-Spaceport stand. Es war eine andere Welt, in die sie da entlassen wurden. Außer der Crew und ein paar Eingeweihten ahnten die meisten noch nicht, welche Konsequenzen dieser Irrflug mit sich gebracht hatte und dass auf alle ein völlig anderes und neues Leben wartete, das nicht ganz ohne Folgen für jeden Einzelnen bleiben sollte. Wahrscheinlich würden die meisten ihr Erlebnis verschweigen, da es eh keiner nachvollziehen könnte. Andere bekämen womöglich ein Problem, weil ihr bisheriges Leben mit einem Mal keine Gültigkeit mehr besäße. Vielleicht lebten sie von da an in zwei Welten. Wieder andere kämen vermutlich mit der neuen Situation durchaus klar, vielleicht würden sie sogar die Enkel ihrer Enkel ausfindig machen, die unterdessen alte Männer geworden wären, mit Söhnen oder Töchtern, die ihrerseits Kinder und bereits Enkelkinder hätten.

Was am Ende mit der DC-10 wirklich geschehen war, blieb ewig ein Rätsel. Zwar fand man diesen Fall tatsächlich dokumentiert, aber es gab keine plausible Erklärung dafür.

Wie auch immer. Jedenfalls, was Paul Benjamin Usher anbetraf, so musste er sich damit begnügen, den Inhalt seines Koffers lediglich noch an einen Münzsammler verkaufen zu können, der sich für die alten Scheine interessierte. (Dollarnoten gab es schon seit

50 Jahren nicht mehr.) Das brachte ihm jedoch nur so viel ein, dass es gerade mal für ein One-Way-Ticket von New York nach London reichte.

Der unwahrscheinliche Flug

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