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KAPITEL 1 MEINE GESCHICHTE
ОглавлениеWenn ich tanze, fühle ich mich in vielerlei Hinsicht anders: Ich nehme meine Gefühle deutlicher wahr, es fällt mir leichter, mit Menschen in Beziehung zu treten, mein Kopf ist weniger voll und, vielleicht am wichtigsten von allem, ich bin mehr „bei mir“. Wenn ich mich bewege, auf die Musik höre, den Groove spüre, springe, mich drehe, hüpfe und in die Vorbereitung zu einer doppelten Pirouette gehe, empfinde ich ein Gefühl der Vollständigkeit. Die Welt sieht anders aus, klingt anders und fühlt sich anders an. Meine Lungen und mein Herz füllen sich mit einem weitenden Atemzug, und ich schwebe, fliege und fühle mich völlig frei.
Außerdem kann ich in Bewegung am besten denken. Stillsitzen ist mir noch nie leichtgefallen. Ich zappele, zucke und lasse mich von Klängen, Lichtern, Gerüchen und dem Gefühl von Kleidern an meinem Körper ablenken. Wenn mein Körper stillsteht, rast mein Verstand von einem Gedanken zum anderen und schweift in alle Richtungen ab. Bewegung verleiht meinen Gedanken Ordnung und Gestalt – und interessanterweise scheinen verschiedene Tanzarten meine Gedanken unterschiedlich zu ordnen.
Als Mensch, der nicht gerne sitzt, konnte ich die Schule nicht ausstehen. Ich habe die Schule auch aus anderen Gründen gehasst: Mir fiel der Unterricht schwer – ich hatte wirklich Mühe, die Grundlagen des Lesens und Schreibens zu erlernen; und ich passte nicht ins System. Davon abgesehen hatte ich das große Glück, dass es in meiner weiterführenden Schule eine Tanzgruppe gab. Sie hieß Colour Supplement (eigentlich farbige Magazinbeilage einer Zeitung, Anm. d. Ü.), weil alle Tänzerinnen und Tänzer verschiedenfarbige Ganzkörperanzüge aus Lycra tragen mussten. Meiner war kastanienbraun. Vielleicht war dies der Grund, warum nur sehr wenige Jungen bei Colour Supplement mitgemacht haben – meistens war ich der einzige. Während alle anderen Jungs in meiner Jahrgangsstufe sich zum Fußball umzogen, zwängte ich mich in Lycra-Schläuche und zog Jazztanz-Schuhe an.
Was für mich völlig selbstverständlich war, fanden andere krass unnatürlich. Ende der 1970er scheuten sich die Leute auch nicht, offen auszusprechen, was sie von dir hielten. Meine Klassenkameraden bildeten da keine Ausnahme. Sie nannten mich queer, warmer Bruder, schwul, Schwuchtel, Tunte und alles, was damals im negativen Sinne mit Homosexualität verbunden war. Mir wurden Sätze nachgerufen und an die Tafel geschrieben wie „Hey, Schwuchtel, wo ist dein Tutu?“. Die unvorstellbaren Beleidigungen begannen mit dem Einsetzen der Pubertät und hörten erst auf, als ich einem besonders gemeinen Fiesling namens Ian eiskalt entgegentrat. Er sorgte mit besonderem Ehrgeiz dafür, dass ich immer der erste war, den man öffentlich beleidigte.
Als eines Tages ein Paar Ballettschuhe in meiner Schultasche entdeckt wurden, holte Ian zur ultimativen Demütigung aus. Er ließ mir ausrichten, dass er sich mit mir an der Stirnseite des Schulsportplatzes treffen wollte. Dies konnte nur eins bedeuten: Hier kämpften Jungs um Mädchen, Ehre, sozialen Rang und nun, zum ersten Mal an meiner Schule, um Ballettschuhe. Ich konnte nicht ablehnen. Ich schritt den Sportplatz der Länge nach ab und zog eine ganze Schar Schaulustiger hinter mir her. Das sah aus wie in West Side Story. Alle lachten nervös, weil sie schon damit rechneten, dass der Lycraboy gleich ordentlich was abbekäme. Ian machte den ersten Move. Er rannte auf mich zu und sprang mich an. Aber weil ich es gewohnt war, dass Mädchen auf meiner Schulter saßen, konnte ich sein Gewicht halten und ihn schließlich sogar abwerfen. Weil ich es aber nicht gewohnt war, Leute auf den Boden fallen zu lassen, versuchte ich instinktiv, ihn im Fallen zu packen, und er landete in einem provisorischen Schwitzkasten, sodass sein Kopf unter meinem Arm hervorschaute. Ich hatte noch nie jemandem einen Faustschlag verpasst, ja, ich hatte überhaupt noch nie jemanden schlagen wollen, aber diese Gelegenheit war einfach viel zu gut, um sie verstreichen zu lassen. Ich schaffte es, ihm für jedes Jahr, in dem er mir das Leben zur Hölle gemacht hatte, einen Hieb zu verpassen. Vier kräftige Schläge landeten mit sattem Bums mitten auf seiner Nase. Wir gingen auseinander und starrten uns schweigend an. Als ein Tröpfchen Blut aus seiner Nase nach ein paar Minuten zu einem Sturzbach anschwoll, drehte er sich um und ging. Es war mucksmäuschenstill, bis ihm ein Junge aus dem Publikum nachrief: „Wer ist jetzt die Schwuchtel, Ian?“, und alle lachten. In der Schule war dies für mich ein Wendepunkt – jetzt konnte ich nicht nur unbehelligt alle möglichen Tanzschuhe mitbringen, es zeigte mir auch, wie sehr das Tanzen mich körperlich gestärkt hatte. Die Liegestütze, Körperübungen und die Partnerarbeit hatten mich muskulös gemacht. Ian und seine Gang haben mich nie wieder belästigt.
Rückblickend bin ich froh, dass ich dem Druck, mit dem Tanzen aufzuhören, nicht nachgegeben habe. Es wäre sicher einfacher gewesen, Ballettschuhe gegen Fußballstiefel einzutauschen, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie leer mein Leben dann gewesen wäre. Es macht mich traurig, wie viele Jungs kurz nach dem Einsetzen der Pubertät aufhören zu tanzen. Gesellschaftlicher Druck ist ein wichtiger Teil des Problems, aber es sind nicht nur die unbedachten Beleidigungen, die Jungen und Männer vom Tanzen abhalten. Gesellschaftlicher Druck kann von Gleichaltrigen, Freunden und Familie, aber auch aus der Tanzwelt selbst kommen. Wenn du ein Mann bist, kann sie wenig einladend sein. Tanzläden sind oft rosa, feminin und auf Kinder ausgerichtet, und viele haben gleichzeitig eine Kostümabteilung. Tanzunterricht wird oft von Frauen erteilt, die Kurse sind voller Mädchen, was für Jungen und Männer einschüchternd sein kann.
Der andere wichtige Grund, warum ich die Schule gehasst habe, war das Lesen und Schreiben. Es wurde ständig gefordert, und ich konnte es einfach nicht. Ich bin in den 1970er Jahren aufgewachsen, als Legasthenie noch nicht in so breitem Maße anerkannt war wie heute. Ich war ein langsamer Leser, wurde als „zurückgeblieben“ abgestempelt und galt allgemein als „ein bisschen doof“.
In der Schule konnte ich die Wörter „Hund“ und Katze“ lesen und den Satz „The cat sat on the mat“ verstehen. (dt. „Die Katze saß auf der Matratze“) Aber es gab viele Wörter, die ich nicht laut aussprechen konnte, und andere, bei denen ich einfach keine Ahnung hatte, wie man sie schreibt, zum Beispiel „Rhythmus“. Auch heute noch fällt es mir schwer, bei ähnlich klingenden Lauten die richtige Schreibweise zu finden. Stellen Sie sich vor, Sie würden folgenden Satz hören und müssten ihn aufschreiben: „I didn’t choose to lose my shoes“ (dt. „Ich habe meine Schuhe nicht mit Absicht verloren“. Die Vokale werden hier im Englischen alle wie ein langes u im Deutschen ausgesprochen, sodass man die unterschiedliche Schreibweise nicht hören kann. Anm. d.Ü.). Ich höre, dass die drei Schlüsselwörter „Choose“, „lose“ und „shoes“ gleich klingen. Deshalb erwarte ich, dass sie auch gleich geschrieben werden, zugleich bricht mir aber der kalte Schweiß aus, weil ich irgendwo tief im Innersten weiß, dass dem nicht so ist. In rasender Eile wägt mein Hirn die Möglichkeiten ab und versucht, die Unklarheit zu lösen, aber der Sinn des Satzes ist mir bis dahin längst flöten gegangen.
Meine Anstrengungen, die vertrackten Regeln des Lesens und Schreibens zu erlernen, hatten einen Dominoeffekt auf fast alle anderen Schulfächer. Schließlich beruht die Bildung, die wir in der Schule erhalten, auf einem Lernsystem, das auf umfangreichem Lesen aufbaut. Wenn wir zum Beispiel Geschichte lernten, mussten wir in Lehrbüchern nachlesen, und um zu zeigen, wie viel wir über die industrielle Revolution wussten, mussten wir alles aufschreiben. Ich fürchtete mich immer vor dem Moment im Unterricht, wenn der Lehrer sagte: „Schlagt die Bücher auf Seite 230 auf und lest bis zum Ende des Kapitels.“ Niemals würde ich bis zum Ende des Kapitels kommen. Ich wusste, dass es erst gar keinen Sinn hatte, es auch nur zu versuchen, also träumte ich mich in meine eigene Welt, sah aus dem Fenster, zappelte herum, schaute mich um und fing mir unweigerlich einen Verweis ein, weil ich die anderen ablenkte.
Meine mangelnde Mitarbeit im Unterricht wurde mir als Ungehorsam ausgelegt, und die Gruppe der Unruhestifter, mit denen ich mich schließlich anfreundete, war auch nicht gerade eine Hilfe. Es waren Schülerinnen und Schüler, die sich mit dem Lesen ebenfalls schwertaten. Da sie den Unterricht langweilig fanden, suchten sie wie ich ihre Anregungen anderswo. Je ausgeklügelter unsere rebellischen Akte wurden, desto härter wurden auch unsere Strafen. Sie reichten von Nachsitzen über Stockschläge (jedes Mal drei Schläge) bis schließlich zum zeitweisen Schulausschluss. Einige von uns erhielten einen Schulausschluss, weil sie das Auto eines Lehrers umgeparkt und ihm Apfelkerngehäuse in den Auspuff gesteckt hatten – dieser Schultag hat mir gut gefallen! Ein paar dieser Freunde gerieten schließlich in Konflikt mit dem Gesetz, und einige wanderten sogar eine Zeitlang in Polizeigewahrsam und ins Gefängnis. Ich hatte Glück; das Tanzen hat mich gerettet.
Aber natürlich habe ich die Schule ohne schriftlichen Abschluss verlassen. In Geschichte oder Geografie musste ich zwar keine Prüfung ablegen, wohl aber in Englisch, worin ich wiederholt mit Pauken und Trompeten durchfiel. Als Sechzehnjähriger hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich eines Tages in einen berühmten Verlag in Bloomsbury hineinspazieren und über ein Buch sprechen würde, das ich geschrieben hatte. Mit sechzehn war ich funktionaler Analphabet. Ich hatte noch nie ein Buch gelesen, und es war mir nahezu unmöglich, komplexe Muster schriftlicher Wörter zu verstehen.
Nach der Schule studierte ich am örtlichen College zwei Jahre lang Theater und kreative Künste. Das habe ich geliebt. Danach studierte ich weitere drei Jahre Tanz und Musiktheater an der GSA, der renommierten Guildford School of Acting, die damals berühmt dafür war, dass in wirklich jedem West-End-Musical ein Absolvent oder eine Absolventin der Schule mitwirkte. Diese fünf Ausbildungsjahre waren fabelhaft. Jeder Tag war von morgens bis abends ausgefüllt mit Unterricht in Tanzen (Ballett, Stepp, Jazz, Ausdruck, Pas de deux, Volkstanz, Contemporary), Stimmbildung, Gesang und Schauspiel, verbunden mit der Chance, jedes Jahr in mehreren Tanz- oder Musiktheater-Shows aufzutreten.
In meinem zweiten Jahr an der GSA gab es nur ein Fach, mit dem ich Probleme hatte, die sogenannte „Präsentation“. Jede Woche erhielten wir ein musikalisches Thema oder den Namen eines berühmten Musical-Librettisten. Dann mussten wir ein Lied mit diesem Thema oder von diesem Librettisten lernen, es choreographieren, inszenieren, Requisiten und Kostüme zusammenstellen, und das Ganze dann in der darauffolgenden Woche vor den Leiterinnen und Leitern von Tanz, Musik, Gesang und Schauspiel aufführen. Es war grauenerregend. Das performative Element dieser Übung liebte ich, die Kritik danach allerdings weniger. Die Lehrerinnen und Lehrer nahmen kein Blatt vor den Mund; sie waren brutal, rechthaberisch und schonungslos. Getrieben von dem Wunsch, die absolut besten Musicaldarsteller aus uns zu machen, und ohne Zeit auf Höflichkeiten zu verschwenden, sagten sie uns nur selten, was wir richtiggemacht hatten, sondern konzentrierten sich stattdessen darauf, uns haarklein auseinanderzusetzen, was geändert und verbessert werden musste. Je besser du warst, desto konkreter und detaillierter die Hinweise. Wenn Sie mit einer Flut von „Korrekturen“ konfrontiert werden, ist es manchmal schwer, im Kern den Glauben an die eigenen Fähigkeiten zu bewahren, aber genau dies mussten wir!
Ich hatte das große Glück, etliche Jahre als Profitänzer zu arbeiten. Mein erstes Engagement außerhalb der GSA war bei einem Varieté, das durch ganz England und Schottland tourte und in einigen der größten Landestheater spielte, darunter dem Nottingham Theatre Royal, dem Birmingham Hippodrome und dem Sunderland Empire. Auf dieser Tour habe ich sehr viel über Auftritte vor Live-Publikum gelernt – darüber, die Energiewelle zu reiten, die einem 1500 Zuschauerinnen und Zuschauer entgegenbringen; und auch darüber, dieselbe Leistung vor nur achtzehn Leuten zu bringen, die an einem sonnigen Mittwochnachmittag in den hintersten Reihen eines ansonsten leeren Saals sitzen.
Es war wesentlich leichter, vor den 1500 zu spielen, insbesondere wenn es zu den Zugaben kam. Unsere Varieté-Vorstellung hatte eine Liveband, einen großen Chor und drei Gesangssolistinnen und -solisten. Aber bei solchen Tourneevorstellungen war es üblich, einen Soundtrack oder wenigstens einen Clicktrack zu haben, der während der gesamten Vorstellung, bis zur letzten Zugabe, im Hintergrund mitlief, um der Musik einen volleren, orchestralen Klang zu verleihen. Unsere Stimmen waren ebenfalls auf dem Soundtrack, damit wir im gesamten Saal auch dann noch deutlich zu hören waren, wenn wir gegen Ende einer langen Tanz- und Gesangsnummer völlig außer Atem waren. Dies hieß allerdings, sobald der Soundtrack einmal begonnen hatte, musste die gesamte Vorstellung komplett gespielt werden, einschließlich der sechs Zugaben. Das funktionierte gut, wenn wir vor großen, ausverkauften Häusern spielten. Aber als wir vor praktisch leerem Haus im Lakeside Country Club auftraten, wo lediglich meine alte Vermieterin aus Guildford sowie ihr leicht irritierter Mann und ihre Tochter im Publikum saßen, fiel es doch ein wenig schwer, auch zu Beginn von Zugabe Nummer sechs noch dankbar zu lächeln. Hätten sie mich nicht gekannt und wären nicht nur deshalb gekommen, um mich zu unterstützen, wären sie bestimmt in der Pause gegangen, und wir wären an diesem Abend alle früh im Bett gewesen.
Später hatte ich unter anderem ein Tanz-Engagement an Bord des Kreuzfahrtschiffes MV Oceanos. Ich war einer von vier Tänzerinnen und Tänzern mit einem Halbjahresvertrag und tanzte bei über einem Dutzend jeweils zweiwöchiger Karibik-Kreuzfahrten an sieben Abenden pro Woche in verschiedenen Shows.
Ursprünglich hatte mir ein erfolgreicher Musical-Choreograph einen Equity-Vertrag für eine Weihnachtsrevue im Liverpool Empire in Aussicht gestellt. Als dieser Vertrag platzte, bot mir das Büro des Choreographen den Job auf dem Kreuzfahrtschiff an. Ich war total begeistert und ging davon aus, dass der Vertrag in Ordnung wäre. Dabei hätte ich mich besser an den Spruch „Wenn du von etwas ausgehst, kann es für dich nicht gut ausgehen“ halten sollen. Für mich ist diese Geschichte definitiv nicht besonders gut ausgegangen.
Nach ein paar Monaten bekam ich Wind davon, dass meine Gage nicht auf mein Bankkonto überwiesen wurde, wovon ich selbstverständlich ausgegangen war. Als ich aber fragte, ob ich das Schiff verlassen könne, hieß es, dies sei keine Option. Wenn ich vertragsbrüchig würde, müsste ich nicht nur meinen Rückflug nach Großbritannien, sondern auch den Flug eines Ersatztänzers in die Karibik sowie seine zweiwöchige Probenphase bezahlen, was ich mir natürlich nicht leisten konnte. Damals glaubte ich, mir bliebe nur noch der Ausweg, mich so miserabel zu benehmen, dass man mich vom Schiff werfen würde. Das geschah dann auch postwendend, und damit waren eine weitere Tänzerin und ich fast fünftausend Kilometer von zu Hause gestrandet. Zum Glück kamen mir meine Eltern zu Hilfe. Sie hatten zwar selbst nicht viel Geld, schickten mir aber so viel wie möglich, sodass ich nach Hause fliegen konnte.
Wieder in London angekommen, wurde mir geraten, die Gesellschaft zu verklagen, damit ich das ausstehende Geld bekäme. Als ich dem Choreographen schrieb und um mein Geld bat, antwortete er, er schulde mir gar nichts und beendete seinen Brief mit „P.S.: Die korrekte Schreibweise ist ,Karibik‘.“ Alle sinnlosen Gefühle aus der Schulzeit brachen wieder über mich herein. Anscheinend war der Brief, den ich geschrieben hatte, voller Rechtschreibfehler und unverständlicher Grammatik gewesen. Ich begriff nicht, wie jemand, der mir so offensichtlich Geld schuldete, so herablassend sein konnte, seinen Brief mit einer Korrektur meiner Rechtschreibung zu beenden.
Wie sich herausstellte, stammte der Vertrag, den ich unterschrieben hatte, gar nicht von Equity, weshalb Equity mir auch nicht helfen konnte. (Equity ist die Gewerkschaft der darstellenden Künstlerinnen und Künstler; unter anderem schützt sie darstellende Künstler vor schlechter Behandlung durch Arbeitgeber.) Ich wurde von Pontius zu Pilatus geschickt, und es war unklar, bei welchem Gericht ich Klage einreichen sollte. Schließlich gab ich das Geld auf, aber durch diese Erfahrung erkannte ich, dass sich in meinem Leben etwas ändern musste. Ich mochte das Gefühl nicht, dass ich so leicht über den Tisch gezogen werden konnte, und mir wurde klar, dass meine Leseschwierigkeiten Teil des Problems waren.
Den Sommer über arbeitete ich, um meine ausstehende Miete bezahlen zu können und finanziell wieder ins Gleichgewicht zu kommen. In dieser Zeit lernte ich eine Gruppe sehr gebildeter Menschen kennen, die an angesehenen Universitäten studierten. Die Gruppe bestand aus jungen Frauen und Männern, die sehr wortgewandt, belesen, welterfahren und vor allem äußerst selbstbewusst waren. Sie vermittelten den Eindruck, dass sie alles erreichen konnten, was sie sich vornahmen. Und sie hatten eine tiefgreifende Auswirkung auf mein Leben.
Frank war das Alphamännchen der Gruppe. Er war Schulsprecher an einer berühmten staatlichen Schule gewesen, und als ich ihn kennenlernte, studierte er Literatur an der Universität Oxford. Seine Eltern waren für meine Verhältnisse unfassbar wohlhabend, und sein Leben war das genaue Gegenteil von meinem. Auch wenn Frank sich in der Welt, in der Politik und in der Kunst auskannte und einen ganzen Tornister voller Qualifikationen hatte, genoss ich seine Gesellschaft und fühlte mich bei ihm wohl. Ich hatte meine Erfolge im Tanz und in der darstellenden Kunst, und er hatte seine infolge einer klassischen Bildung. Wir hatten beide unsere unterschiedlichen Begabungen – bis Frank in meine Welt übergriff. Als er wieder in Oxford war, stellte er eine Aufführung von Abigail’s Party von Mike Leigh auf die Beine und lud mich zur Vorstellung in sein College ein. Ich ging hin in der Erwartung, dass sie nichts taugen würde. Das tat sie aber natürlich doch. Er hatte seine Sache wirklich gut gemacht. Am darauffolgenden Tag verließ ich Oxford stinksauer, fühlte mich hintergangen und gedemütigt. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass ich zwar das Gegenteil von Frank, aber dennoch auf einer Ebene mit ihm war. Sein Regieerfolg warf dies nun über den Haufen.
Dieser Gedanke verfolgte mich wochenlang und schwirrte in meinem Kopf herum. Es kam mir so vor, als bestünde der einzige echte Unterschied zwischen Franks gelehrten Freunden und mir darin, dass sie ihr Leben mit dem Studium von Büchern und Wörtern verbrachten und ich nicht; ich konnte es nicht. Ich fühlte, dass ich tolle Gespräche über Themen verpasste, in denen ich mich nur deshalb nicht auskannte, weil ich nicht las. Ich hatte zwei Möglichkeiten: Ich konnte entweder der Mensch bleiben, der bei Worten versagt, oder ich konnte lernen, meine Schwächen zu überwinden.
Mit der Lektüre von Das Kreuz und die Messerhelden von David Wilkerson wärmte ich mich für einen Lese-Marathon auf. Dieses Buch suchte ich mir aus, weil eines der Mädchen in der Gruppe es in wenigen Tagen durchgelesen hatte. Ich beschloss, das Lesen so anzugehen, als würde ich einen neuen Tanz lernen. Ich wusste, ich würde nicht jeden Satz, ja, noch nicht einmal jedes Wort verstehen, aber ich dachte mir, wenn ich in der Geschichte einen Rhythmus oder eine Reihe verschiedener Rhythmen finden könnte, könnte ich mir das Lesen einteilen und einfach „einen Achter-Takt nach dem anderen“ lernen. Als Tänzer wusste ich außerdem, dass Perfektion von unermüdlichem Üben kommt und sich der Erfolg in kleinen Schritten einstellt. Tanzen ist vielschichtig, und es ist möglich, einen neuen Tanz Schicht für Schicht zu erlernen. Bei dieser Methode würde uns ein Tanzlehrer oder eine Choreographin zunächst ein Gefühl für das Stück vermitteln, indem sie uns den Kontext vorgeben: Vielleicht tanzen wir eine Szene aus Romeo und Julia und sollen ein verbotenes Begehren darstellen. Dann lernen wir die Grundstruktur kennen: dass es ein Pas de deux sein soll, ein Tanz für zwei Personen. Anschließend schauen wir uns die Art der Bewegungen an: die Hebungen und Figuren, und wie viel Platz wir im Studio brauchen. Wir sprechen darüber, für wen das Stück gedacht ist und welche Erwartungen das Publikum haben könnte; wir hören uns die Musik an und denken über die Stimmung des Stückes nach. Erst dann erstellen oder erlernen wir eine Choreographie, den eigentlichen Bewegungsablauf – aber wir fangen klein an, indem wir zunächst die Bewegung der Füße lernen, bevor wir die Arme hinzunehmen. All dies ist damit gemeint, wenn wir bei einem Tanz „einen Achter-Takt nach dem anderen“ lernen.
Also fing ich an zu lesen. Immer wenn es ein Wort gab, das ich nicht aussprechen konnte, erfand ich einfach einen Laut dafür. Kein Mensch stieg mir aufs Dach, wenn ich das englische Wort „yacht“ (gesprochen jaat oder auch joot, Anm. d. Ü.) anders aussprach als mit langem O. Am nächsten kam ich der eigentlichen Aussprache noch, wenn ich dem Wort „act“ (engl. u. a. Theater spielen) einen Y-Laut voranstellte, sodass ein „Jäkt“ herauskam. Die Logik, nach der bestimmte Laute miteinander verbunden werden, erschließt sich mir bis heute nicht. Ich fand, wenn die Anordnung von Buchstaben in Worten willkürlich sein konnte, dann konnte auch der Laut in meinem Kopf willkürlich sein. Immer wenn ein langer Satz mit mehreren Nebensätzen auftauchte, zerlegte ich ihn einfach in Einzelteile, wie ich dies bei einer Tanznummer auch tun würde. Und statt mich in Mehrfachbedeutungen von Wörtern zu verlieren, entschied ich mich für eine einzige und versuchte, die anderen zu ignorieren, solange meine Interpretation nicht offenkundig danebenlag. All dies nahm sehr viel Zeit in Anspruch.
Viele Jahre später, als ich bereits als Tanzpsychologe arbeitete, machte ich ein Experiment, um herauszufinden, wie Nichttänzer den Contemporary Dance verarbeiten. Dabei fiel mir auf, dass zwischen ihren Schwierigkeiten, in dem Tanz irgendwie einen Sinn zu erkennen, und meinen Schwierigkeiten, Wortfolgen zu verarbeiten, eine Ähnlichkeit bestand. Das Experiment fand nach der „Sprechdenken“-Methode statt. Dabei werden die teilnehmenden Personen gebeten, während sie eine Aufgabe erfüllen – in diesem Fall also ein Tanzstück ansehen –, alles auszusprechen, was ihnen in den Sinn kommt. Die Leute redeten, und während sie sprachen, zeichnete ich diesen Bewusstseinsstrom auf. Ich stellte fest, dass einige Personen einfach beschrieben, was sie sahen, so als beobachteten sie eine Reihe sinnloser Figuren. Andere sprachen über die Unterschiede zwischen ihren eigenen Fähigkeiten und denen der Tänzerinnen und Tänzer. Wieder andere versuchten, dem, was sie sahen, einen Sinn zu geben, indem sie ein Narrativ erfanden. Wenn aber die Bewegungen nicht zu diesem Narrativ passten, änderten sie die Geschichte. Wenn die Teilnehmenden verschiedene potenzielle Narrative ausprobiert hatten, die alle nicht funktionierten, gaben sie manchmal auf und sagten, sie hätten keine Ahnung, worum es in dem Stück ginge. Klar war, dass es „die eine“ oder gar „die richtige“ Lesart für den Tanz nicht gab, und dass Menschen, die nicht tanzen, ebenso große Schwierigkeiten haben, Bewegungsfolgen zu verstehen, wie Menschen, die schlecht lesen können, mit dem Verständnis von Wortfolgen.
Ab dem Spätherbst, zu Beginn der Weihnachtsrevue-Saison war mir klar, dass sich etwas änderte. Dass ich angefangen hatte zu lesen, hatte mir mehr Selbstvertrauen gegeben und meine Sicht der Welt verändert. Tanzen war für mich immer etwas ganz Selbstverständliches gewesen. Ich dachte, es sei leicht. Jemand zeigte mir eine Abfolge von Tanzbewegungen, und ich merkte sie mir. Mein Körper verfügte anscheinend über ein Gedächtnis für Bewegungsmuster, und ich konnte fließend von einer Figur zur nächsten übergehen. Jetzt sah ich das Tanzen anders. Mir wurde bewusst, dass Tänzerinnen und Tänzer etwas Außergewöhnliches leisten: Bewegungsmuster auswendig zu lernen und sich lange Bewegungsfolgen zu merken, ist keine Kleinigkeit. Außerdem wurde mir klar, dass die geistigen Anforderungen beim Tanzen viel höher sind als bei anderen darstellenden Künsten.
Tänzerinnen und Tänzer müssen Tausende feinster Veränderungen der Körperposition lernen, und zwar einfach, indem sie zuschauen, wie jemand diese Bewegungen vormacht. Sie schreiben diese Bewegungen nicht auf, und sie erhalten auch kein Buch, in dem die Bewegungen aller Tanzenden aufgeschrieben sind. Stellen Sie sich vor, Schauspieler oder Sängerinnen müssten ihre Rolle so lernen! Wenn Tänzerinnen und Tänzer nach den Proben nach Hause gehen, müssen sie üben, aber sie haben nichts, was sie an die Tanzbewegungen erinnert, außer der Musik und ihrem fantastischen Gedächtnis.
Sobald mir bewusstwurde, dass ich imstande war, im Laufe meines Lebens als professioneller Tänzer tausende Stunden komplizierter Bewegungsmuster zu erlernen und zu verstehen, wurde mir auch klar, dass ich diese Fähigkeit auch auf das Erlernen von Informationen, die in schriftlicher Form vorliegen, übertragen können müsste. So würde ich mehr über Zeitgeschehen, Literatur und Wissenschaft erfahren. Ich brauchte einfach nur einen Einstieg, und dieser Einstieg war der Tanz. Als die Weihnachtsrevue-Saison Ende Januar zu Ende ging, ließ ich mein Leben in London hinter mir und schlug neue Wege ein. An Qualifikationen hatte ich nichts außer einem Schulabbrecherzeugnis mit guten Noten in Schauspiel und einem Diplom der Guildford School of Acting. Wenn wir eine lebensverändernde Entscheidung treffen wollen, müssen wir manchmal unsere Alltagsgewohnheiten verändern und in eine neue Umgebung ziehen. Ich kaufte ein Flugticket nach Kanada und nahm den Zug von Montreal nach Vancouver. Auf der ganzen, fast fünftausend Kilometer langen Strecke las ich Lyrik. Die schaukelnden Bewegungen des Zuges stellten eine körperliche Verbindung zu den Worten auf der Buchseite her. Rhythmus und Rumpeln wurden zu einem Soundtrack, der Worte in Liedtexte verwandelte. Mich selbst lesen zu hören, war wie selbstgemachter Rap, und dies trieb mich zur Bewegung, sodass Wörter süchtig machten. Auch heute noch kann ich kaum stillsitzen, wenn ich „O Käpt’n! Mein Käpt’n!“ von Walt Whitman lese. Das Gedicht verlangt Bewegung, und manchmal sogar ein doppeltes Händeklatschen am Ende der zweiten Zeile: „O Käpt’n! Mein Käpt’n! zu Ende unsre schlimme Reise, Die Wolkendünste abgewettert, hielten siegreich wir die Preise“1 [Klatsch-Klatsch]
Vorbei an Herden nickender Esel und quer durch die Rocky Mountains lernte ich, dass Information eine andere Beschaffenheit erhält, sobald wir uns dazu bewegen. Es ist wie beim Gehen auf Sand, Stein oder Gras. Wenn wir den Boden unter unseren Füßen spüren, anstatt bloß seine Oberfläche zu betrachten, entdecken wir neue Eigenschaften in ihm – und ich finde, bei Wörtern ist es genauso. Wenn sie still auf der Buchseite herumliegen, wirken sie ziemlich nichtssagend, aber wenn ich mich zu ihnen bewege, verändert sich unsere Beziehung. Ich fühle sie aus anderer Perspektive, und während einige mir genauso viel Freude machen, wie wenn ich auf einem frisch gemähten Rasen liege, fordern andere mich dazu heraus, mein Gleichgewicht zu halten, als ginge ich über einen Felsenstrand. Diese Zugfahrt hat mir beigebracht, mit Wörtern zu tanzen.
Einige Monate später kaufte ich mir Anna Karenina von Tolstoi (in englischer Übersetzung, versteht sich). Beim Lesen verliebte ich mich zum ersten Mal in eine Figur, die ich nur durch das geschriebene Wort kennengelernt hatte. Ich verliebte mich in Kitty. Ich konnte gar nicht mehr aufhören, von ihr zu lesen. Als das Buch zu Ende war, machte ich mir Sorgen um sie. Voller Vorfreude hatte ich stets gehofft, dass sie auf der nächsten Seite auftauchen würde; ich war eifersüchtig auf ihren Mann Levin gewesen – und ich spürte die schmerzliche Aussichtslosigkeit einer unerwiderten Liebe. Ich konnte absolut gar nichts tun, um Kitty auf mich aufmerksam zu machen. Ich beendete das Buch mit gebrochenem Herzen, als ein anderer Mensch. Ich las Auferstehung und ging dann zu Turgenew und Dostojewski über. Meine Ausgabe von The Great Short Works of Fyodor Dostoevsky habe ich heute, über dreißig Jahre danach, immer noch. Als Vorbesitzerin ist eine Harvard-Studentin namens Kelly eingetragen. Dieser schlichte Eintrag wurde mir zu einem weiteren Wegweiser und bestärkte mich in dem Glauben, dass diese Bücher mich noch in die heiligen Hallen von Oxbridge führen würden, wo ich mir eines Tages mein Cordjackett mit den Ellenbogenflicken verdienen würde. Ich war wie ein Ozeanriese: Wenn ich erst einmal angefangen hatte, fuhr ich einfach immer weiter, langsam aber stetig von einem großartigen Buch zum nächsten.
In der realen Welt war es schwieriger, an die Universität zu kommen, als ich gedacht hatte. Ich beschloss, Psychologie zu studieren. Ich dachte, ich könnte dies mit Theater und Tanz kombinieren und vielleicht eine Ausbildung zum Theater- und Dramatherapeuten oder zum Tanztherapeuten machen und die kreativen Künste nutzen, um den Menschen zu helfen. Ich kaufte und las Bücher von Freud und Jung und las Fallstudien wie zum Beispiel Dibs: Ein kleiner Junge befreit sich aus seinem seelischen Gefängnis, Zu der Angst kommt die Scham und Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Aber keines dieser Bücher bot mir Erklärungen für die Fragen, die ich zu dem Thema hatte. Zugleich fragte ich bei den psychologischen Fakultäten einiger Universitäten an, ob sie mich zum Studium zulassen würden. Ich hatte keine Ahnung, wie man sich an einer Uni bewirbt, erfuhr aber, dass ich dazu mindestens in einem Fach ein A-Level ablegen musste.
Ich schrieb mich an einer Abendschule ein, um auf ein A-Level in Psychologie zu lernen. Dazu musste ich meinen Beruf als professioneller Tänzer aufgeben, denn ich musste ein Jahr fest an einem Ort bleiben und konnte nicht abends arbeiten. Zweimal wöchentlich hatte ich abends Unterricht. Nebenher bewarb ich mich offiziell um einen Studienplatz. Dazwischen übernahm ich Gelegenheitsjobs als Auslieferungsfahrer. So war es gut; alles lief nach Plan. Und dann erhielt ich im Winter im Laufe weniger Wochen von allen fünf Universitäten, an denen ich mich beworben hatte, eine Ablehnung. Das war ein Schlag. Ein wirklich schwerer. Manchester, Sheffield, das University College London, Bristol und Durham, alle sagten nein. Als die fünfte Ablehnung kam, wollte ich alles hinschmeißen. Ich ging nicht mehr zur Abendschule und fragte mich, was um alles in der Welt ich da bloß angestellt hatte: Ich hatte eine Karriere als Tänzer aufgegeben, das einzige, worin ich gut war, das Einzige, was sich für mich natürlich anfühlte, um zur Universität zu gehen – und ich hatte keinen Studienplatz bekommen.
In dieser Zeit begann ich eine Beziehung zu einem Mädchen namens Lindsey, die ich an der Abendschule kennengelernt hatte. Auch sie plante einen Berufswechsel und brauchte ein A-Level in Psychologie, um zur Uni gehen zu können. Sie war von der Universität ihrer Wahl angenommen worden, und schaffte die Schule spielend. Ich hatte mehr als die Hälfte verpasst, aber durch viel gutes Zureden konnte Lindsey mich überzeugen, in den letzten paar Schulwochen doch wiederzukommen und die Prüfung abzulegen. Einen Monat lang lernten wir jeden Abend zusammen. Das war das Beste, was ich tun konnte, und zwar aus zwei Gründen: Erstens habe ich die Prüfung geschafft, mit Ach und Krach zwar, aber es genügte, um mich im akademischen Spiel zu halten; zweitens habe ich Lindsey ein paar Monate später geheiratet und seither ist sie meine Lebenspartnerin.
Von nun an ging ich bei meiner Studienplatzsuche strategischer vor. Ich besuchte mehrere psychologische Fakultäten und traf mich mit verschiedenen Zulassungs-Tutoren. Zum Glück machte mir eines der Colleges ein bedingungsloses Angebot, und im September 1990 trat ich am Froebel College in Roehampton meine akademische Reise an. Der Campus des Froebel College war wunderschön, und es kam mir vor, als wäre ich abgeholt und in der Zeit zurückversetzt worden. Während meiner drei Jahre dort entwickelte ich eine Begeisterung für Neurobiologie und Neuropsychologie. Diese Fächer beschäftigen sich mit Untersuchungen des biologischen Aufbaus des Gehirns und der Frage, was mit Menschen geschieht, wenn ihr Gehirn geschädigt wird.
Tanz und Psychologie waren damals streng getrennte Bereiche meines Lebens. Ich lernte Psychologie im Labor und tanzte im Studio und trat in Theaterstücken und Shows auf. Aber ich wusste, dass ich keine Ausbildung zum Tanztherapeuten machen wollte. Meine Eltern hatten beide in einem Krankenhaus gearbeitet, und ich wusste, dass dies nicht die richtige Umgebung für mich wäre. Ich wollte etwas anderes, wusste aber nicht, was.
1993 machte ich in Roehampton meinen Abschluss und nahm dank eines staatlichen Stipendiums am Centre for Cognitive and Computational Neurosciences der Universität Stirling ein Master-Studium in Neuroinformatik auf. Die Neuroinformatik erstellt mithilfe von Mathematik und künstlichen Netzwerken Modelle des Gehirns während des Verarbeitungsprozesses. Wir waren eine kleine, zusammengewürfelte Kohorte von Studentinnen und Studenten aus Informatik, Physik, Mathematik und Psychologie, und unser Ziel war es herauszufinden, wie wir plausible Modelle des Gehirns erstellen und diesen dann „Gehirnschäden“ zufügen konnten, um zu lernen, wie das Gehirn sich erholt. Das war ehrgeizig. Mathematik fand ich zunächst verwirrend. Die Vorlesungen konnten aus Folie um Folie voller mathematischer Formeln bestehen, die aus scheinbar Hunderten griechischer Symbole zusammengesetzt waren. Meine Abende verbrachte ich damit, die Symbole für Theta, Delta, Lambda (das ich für eine Schauspielschule gehalten hatte) unterscheiden und benennen zu lernen. Es war ein anspruchsvoller Studiengang, und die meisten Studierenden waren superintelligente Introvertierte, die seitenlange mathematische Beweise verinnerlichen konnten, ohne etwas aufschreiben zu müssen, genau wie ich mir lange Tanznummern. Mit Infinitesimalrechnung und Algebra hatte ich zu kämpfen, aber am Ende kam ich durch und wechselte von Stirling an die Universität Essex, wo ich mit einem Stipendium ein Promotionsstudium in experimenteller Kognitionspsychologie aufnahm. Die Kognitionspsychologie beschäftigt sich damit, wie Menschen denken, lernen, Probleme lösen, Sprache gebrauchen, die Welt wahrnehmen und erinnern. Experimentelle Kognitionspsychologie ist mit sehr viel Laborarbeit verbunden. Ich habe drei Jahre in einem sehr kleinen Labor zugebracht und gemessen, wie lange Menschen brauchen, um Wortlisten zu lesen, und welche Wörter sie sich anschließend am besten merken können. Ich versuchte zu verstehen, wie Menschen lernen und erinnern, mit dem Ziel, geeignete Reha-Programme für Patientinnen und Patienten mit Hirnschäden zu entwickeln, insbesondere wenn Gedächtnis und Sprachzentrum beeinträchtigt waren.
Nach Abschluss meiner Promotion übernahm ich eine Post-Doktorandenstelle am Forschungszentrum für Englisch und Angewandte Linguistik an der englischen Fakultät der Universität Cambridge. Als Tänzer war ich es gewohnt, für Engagements vorzutanzen, wobei Hunderte hoffnungsvoller Menschen in vielen aufeinanderfolgenden Tanzduellen aussortiert werden, aber so etwas wie mein Vorstellungsgespräch in Cambridge hatte ich noch nicht erlebt. Ein zweitägiger Prozess an einer der ältesten und angesehensten Universitäten der Welt – die für mich zugleich der magische Ort am Ende des Regenbogens war, von dem ich in den letzten sieben Jahren geträumt hatte.
An der Universität Cambridge arbeitete ich als Psychologe an einem Projekt, bei dem untersucht wurde, wie Menschen mehr als eine Sprache lernen. Mich interessierte, wie Menschen in verschiedenen Sprachen „denken“, und wie sie Wörter abspeichern und erinnern, die in verschiedenen Sprachen dieselbe oder unterschiedliche Bedeutung haben; und auch, wie sie neue (fremdsprachige) Wörter lesen und ihnen einen Sinn geben sowie dann komplexe linguistische Muster verstehen lernen. Darüber hinaus entwickelte ich Interesse an der Beziehung zwischen Legasthenie und Gedächtnis. Zum ersten Mal las ich Näheres über einige der Probleme, die Menschen mit Legasthenie beim Sehen, Codieren und Erinnern von Wörtern haben. Die Beschreibungen, die ich in der Literatur fand, hätten von mir und meinen Schwierigkeiten beim Lesen handeln können: die Schwierigkeit, „Ausnahme“-Wörter zu lesen (das heißt, Wörter, deren Klang nicht mit ihrer Schreibweise übereinstimmt); die Schwierigkeit, sich zu merken, welche Wörter in einem sehr langen Satz zusammengehören; und die Schwierigkeit, sich in großen Textblöcken auf einzelne Wörter zu konzentrieren. Dass ich nun etwas über die kognitiven Modelle dieser Leseschwierigkeiten erfuhr, half mir zu verstehen, warum mir das Lesen so schwergefallen war und wie ich diese Schwierigkeiten hatte überwinden können.
Meine Zeit als akademischer Psychologe an der Universität Cambridge markierte das Ende einer sehr langen Reise. Zehn Jahre hatte ich gebraucht, und nun hatte ich einen Bachelor, einen Master und einen Doktor in Psychologie. Ich kam mir vor, als hätte ich den Gipfel des Mount Everest erreicht. Also tat ich genau das, was alle Menschen tun, sobald sie auf dem Gipfel eines Berges angekommen sind: Ich drehte mich um und ging wieder hinunter. Nach zwei Jahren verließ ich Cambridge und fing an zu planen, wie ich mein Fachwissen in Psychologie mit dem Thema verbinden konnte, das mir das liebste auf der Welt war, Tanzen. Das Ergebnis war das Dance Psychology Lab.
Mitzuerleben, wie das Leben von Menschen durch Tanz transformiert wird, ist eine sehr ehrfurchtgebietende Erfahrung. Man könnte sagen, es ist magisch, aber das wäre falsch. Die transformative Kraft des Tanzens hat gar nichts Magisches, Mystisches oder Spirituelles, aber sie ist ein Geheimnis – bis jetzt. Ich habe das Dance Psychology Lab aufgebaut, damit ich die Beziehung zwischen Bewegung und Gehirn mithilfe hochentwickelter wissenschaftlicher Techniken untersuchen und besser verstehen konnte, warum und inwiefern Tanzen derart kraftvolle Auswirkungen auf uns Menschen hat. Was ich herausgefunden habe, war außergewöhnlich: längerer Erhalt der Lebensqualität für Menschen mit Parkinson und Demenz; wachsendes Selbstbewusstsein bei Jugendlichen; Rückgang von Depressionen und Ängsten bei Erwachsenen; verbesserte soziale Bindungen zwischen Menschen sowie fundamentale Veränderungen in der Art und Weise, wie die Menschen denken und Probleme lösen. Und dies alles durch Tanzen.
Das Dance Psychology Lab ist mir der liebste Ort auf der Welt, denn hier kann ich mit Tänzern und Wissenschaftlerinnen zusammenarbeiten, um wissenschaftliche Ideen zu erforschen. Seine Tanzfläche ist das Sprungbrett, von dem aus ich um die Welt hüpfen und mit multinationalen Unternehmen, Schulen, Bildungseinrichtungen und Gesundheitsinstitutionen kooperieren kann. Im nächsten Kapitel erkläre ich die überraschenden Geheimnisse des Tanzes und wie sie Sie schlauer, stärker und glücklicher machen können.