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Halle, zwei Jahre zuvor
ОглавлениеDer neue Kapellmeister macht sich bisher wirklich gut, dachte Johannes Conrad von Wiese, als die Musik aus Richtung der Ostempore verklungen war. Sorgfältig legte er das kleine Seidenband zwischen die beiden Seiten der Heiligen Schrift. Heute ging es um Hesekiel 9,4-11. Ob ihn überhaupt jemand verstanden hatte? Er schlug das Buch zu, klemmte es sich unter den Arm und blies dann das Leselicht aus. Ein kurzer Blick in die Runde. War alles ordentlich auf der Kanzel? Ach ja, die Predigt-Sanduhr, eine Spezialanfertigung eines Augsburger Goldschmiedes, hing etwas schief. Es war einer dieser neumodischen Zeitmesser für Kirchen, welcher aus vier nebeneinander hängenden Sanduhren bestand. In den Sanduhren lief der Sand unterschiedlich schnell durch. Die Apparatur hing außen an der Brüstung der Kanzel und war von unten, wo die Gläubigen saßen, gut zu sehen. Einige Gläubige starrten ständig auf den rinnenden Sand. Bei Conrad erzeugte dies immer ein Gefühl des Gehetztseins. Conrad kam es dann so vor, als ob sie das baldige Ende seiner Predigten herbeisehnten. Es konnte nicht nur ein Gefühl sein. Conrad war sich sicher, dass der Geräuschpegel durch heimliches Getuschel und unterdrücktes Lachen jedes Mal lauter wurde, wenn der Sand bei zwei der vier Sanduhren durchgelaufen war. Conrad fühlte sich dann getrieben und hatte jedes Mal Angst sich zu verhaspeln. Er war ein Pedant, er konnte sich keine Fehler leisten, schon gar nicht sich verzeihen. Leicht beugte er sich über die Brüstung und rückte die Apparatur gerade. So, nun ist alles perfekt, dachte Conrad, während er noch mal leicht mit dem Ärmel des Talars auf der Brüstung imaginären Staub wegwischte. Nun erst stieg er bedächtig die Holzstufen der Wendeltreppe herab. Als er unten angekommen war, schlug die „Kleine Festglocke“ der Marktkirche „Unser Lieben Frauen“ gerade zur vollen Stunde. Die letzten aufgeregt schwatzenden Besucher waren schon lange gegangen. Auch das Klappern von verbeulten Kupferbechern war nicht mehr zu hören. Die Bettler waren sicher flugs zur Treppe am Gasthof „Zur goldenen Rose“ geeilt. Dort kehrten gewöhnlich der Bürgermeister und einige Ratsherren nach dem Kirchgang ein. Conrad nutzte oft die Stille nach dem Gottesdienst, um über sich nachzudenken. Er sah sich als tiefgläubigen Menschen. Sicher, er wirkte auf andere immer etwas zurückhaltend und in sich gekehrt. Da er schon zur Kommunion seine Mitschüler um einen Kopf überragte und wohl damals schon so hager war, musste er schon früh manchen Spott ertragen. Seine Eitelkeit und sein Streben immer der Beste, vor allem in den Augen seines Erzbischofs, der Beste zu sein, war sein Problem. Dieses Streben nach Perfektion ließen bei Conrad jede Sinnesfreude und jedes Glücksgefühl verschwinden. Er hasste helles Lachen von Mädchen und jungen Frauen. Er hasste das kokette und übertriebene Balzen der jungen Männer. Er hasste das Getuschel während seiner Predigten in den hinteren Reihen der Marktkirche. Er bezog jegliches leises Gelächter und Geraune auf seine Person. Er hasste…ja er hasste sich selbst. Ich habe keine sogenannten Freunde und brauche sie auch nicht. Alles nur Oberflächlichkeit, dachte Conrad. Während der Oberhofprediger seinen Talar sehr sorgfältig am Tisch in der Sakristei zusammenfaltete, ging er gedanklich noch einmal den Gottesdienst durch. War ich gut genug? War ich gut genug in den Augen des Erzbischofs, Herzog August? Der sah heute besonders schlecht aus. Fast ein Schatten seiner selbst. Langsam wurde es prekär. Immer und immer wieder hatte er als Oberhofprediger und zugleich erzbischöflicher Sekretär versucht, das Thema auf eine mögliche, nur auf eine mögliche Frage zu lenken. Eigentlich kannte die Frage jedes Kind in Halle. Doch niemand kannte die Antwort und wenn, war niemand bereit, diese auszusprechen. Die Ratsherren waren es seit Jahrzehnten gewohnt, wie aufgezogene Puppen jeden Beschluss, jeden Gedanken des Erzbischofs vorauseilend und ohne Rücksicht auf die Situation der Bürger in der Stadt umzusetzen. So war es bei der letzten Pest. Obwohl die Pestärzte warnten, wurde ein Bote nach Magdeburg geschickt. Wenige Tage später begann auch in Magdeburg der Schwarze Tod zu wüten. Von diesen Ratsherren hatte Conrad keine Hilfe zu erwarten. Wie auch? Sie kannten das Geheimnis nicht! Sie würden es auch nie erfahren. Er wusste, dass er sehr behutsam umgehen musste mit dem Thema. Es konnte ihn schnell nicht nur die Stellung hier im Erzbistum kosten, wenn man allzu offen über das westfälische Fixum sprach. Schwer lastete der Gedanke nicht nur in der Stadt auf Allen, deren Leben eigentlich von Gott überaus gesegnet zu sein schien. Gern hätte er es herausgeschrien, von der Kanzel herunter gerufen: „Wacht doch endlich auf! Wenn Erzbischof Herzog August stirbt, sind in kürzester Zeit die Brandenburger hier.“ Es war nun mal unausweichlich. Die Dokumente des Westfälischen Friedens legten es eindeutig fest: Wenn der Erzbischof als bisheriger Administrator stirbt, fällt das Bistum an Brandenburg. Nichts ist dann mehr wie es war. Doch was wird mit dem Inhalt des Gewölbes? Was wird aus dem Geheimnis? Es durfte niemals in die Hände des brandenburgischen Kurfürsten fallen! Das würde Krieg bedeuten. Krieg von der Ostsee bis zu den Alpen. Ein völlig neuer Herrscher würde auf die Weltbühne treten und alles, alles beherrschen können. Das Geheimnis durfte nie in die Hände von machtbesessenen Menschen fallen! Allein der Gedanke an die Macht des Geheimnisses ließ Conrad jedes Mal erschauern. Hätte er jemanden die Art dieser Macht erklären sollen, er hätte es nicht zur Zufriedenheit vermocht. Soviel war ihm und dem einzigen Mitwisser, dem Erzbischoff, klar. Wer im Sinne Gottes diese Macht einsetzte, dem waren Jahre des Lebens geschenkt. Wer sie für seine persönlichen Zwecke einsetzte, war dem Dämon einen Schritt näher. Letztlich würde er mit dem Dämon eins werden. Es gab nur eine Möglichkeit die Kraft des Geheimnisses zu mindern. Sie schien Conrad zwar illusorisch, aber was konnte man sonst tun? Das Geheimnis musste Steinchen für Steinchen, Stabkörnchen für Staubkörnchen abgetragen und verkleinert werden. Bisher hatte man und das war Conrad durch das Näherrücken der brandenburger Machtübernahme nur allzu bewusst, höchstenfalls Staubkörnchen von den Alpen abgetragen. Weshalb hat Gott gerade mich ausgewählt, weshalb? Weshalb soll gerade ich diese Bürde tragen, das Geheimnis zu schützen? Was soll ich nur tun, dachte Conrad wieder und wieder, wenn seine Gedanken ihn zu diesem Problem führten. Und dies geschah in letzter Zeit immer häufiger. Letztlich hatte der Kampf um die Bewahrung des Geheimnisses schon längst sein gesamtes Denken eingenommen. Conrad war sich seiner Schwächen wohl bewusst. Er hoffte auf Gott…und die Eingebung des Erzbischofs. Doch der Erzbischof ließ keinen Zweifel daran, dass für ihn Conrads Meinung von untergeordneter Rolle war. Conrad sah nur einen Weg für sich: Er musste in den Augen des Erzbischofs eine größere Bedeutung erlangen. Nur so konnte er noch rechtzeitig Einfluss auf den Erzbischof nehmen. Das Geheimnis musste in ein sicheres Versteck! Nie durften die Brandenburger von der Macht des Geheimnisses erfahren! Conrad nutzte schließlich wenige Tage nach der Predigt die Gunst der Stunde. Es waren die Feierlichkeiten zum zweiundsechzigsten Geburtstag des Erzbischofs vorzubereiten. Lange hatte Conrad darüber nachgedacht, wie er seine Position in den Augen des Herzogs verbessern könnte. Dann fiel ihm etwas Besonderes ein. Er wollte anlässlich der Feierlichkeiten eine große Medaille prägen lassen. Diese sollte als Huldigung des Erzbischof dienen und als Geschenk an die Anwesenden während des Festes verteilt werden. Er persönlich hatte dann auch die künstlerische Ausgestaltung auf einem Pergament entworfen. Auf der Vorderseite zeigte sie das Portrait des Erzbischofs, auf der Rückseite der Sinnspruch in einem Blütenkranz: „Dein Alter sei wie Deine Jugend“. Über diese Worte hatte er lange nachgedacht. Allein der Erzbischof würde die volle Bedeutung verstehen können. Nur einen richtigen Stempelschneider und Münzer brauchte er noch dafür. Zur Vorstellung seines Entwurfs hatte er dann eine persönliche Audienz beim Erzbischof. Der Erzbischof war von dem Entwurf sofort angetan. Später dann sollte es um die Details gehen. Der Herzog stand während des folgenden Gespräches mit dem Rücken zu Conrad. Dabei schaute er hinab in den Burggraben. Was sollte es dort Interessantes oder gar Schönes zu sehen geben?, dachte Conrad. Der Herzog sprach leise, aber deutlich. Conrad sollte unten in der Stadt bei der Zunft der Goldschmiede Erkundigungen einholen. Unter größter Verschwiegenheit solle er gegen gutes Geld bei einem Goldschmied einen fast fertigen Lehrling aus dem Vertrag herauslösen. Dem Goldschmied solle er sagen, es wäre für einen Sonderauftrag des Erzbischofs zur Reparatur einer Monstranz im Dom. Für diesen Auftrag brauche man vor allem Jugend und Muskelkraft, etwas Verständnis im Umgang mit Metallen. Naja, und man wisse ja um die sprichwörtliche Sparsamkeit des Domkapitels. Deshalb wolle man für diese Tätigkeit keinen Meister beauftragen. Der Herzog schärfte Conrad ein, unbedingt einen ausländischen Lehrling zu nehmen, vielleicht aus dem Brandenburgischen, Braunschweigischem oder von noch weiter her. Auf jeden Fall keinen aus einer einheimischen Familie. Niemand sollte später nach ihm fragen. Der Erzbischof hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er niemals den jungen Münzer von Angesicht zu Angesicht zu sehen wünsche. Der Münzer hatte im Münzprägeraum an den Stempeln für die Medaille zu arbeiten. Das Silber für die Medaille sollte Conrad wieder aus dem Gewölbe nehmen. Der Lehrling solle nur die Menge an schon ausgewalztem Silber sehen und erhalten, welches für die Medaillen notwendig war. Doch selbst dies schien dem Erzbischof immer noch zu gefährlich. Er erwähnte die Tatsache, dass das Silber von fast übernatürlicher Reinheit und Güte war. Selbst ein schlechter Goldschmied hätte sich über dessen Einmaligkeit gewundert und womöglich Fragen gestellt. Während der Erzbischof langsam und zunächst schweigend durch den Raum ging und zu zögern schien, dachte Conrad für einen Moment an eben dieses Silber. Die kleine weiße Tür, die mehr einem Eingang zu einem Wandschrank dienen mochte. Das leichte Schwindelgefühl an der Tür, das ihn jedes Mal befällt, welches stärker wird beim Hineingehen. Der schmale in Fels gehauene Stollen, dessen Ende er nicht kannte. Die dicht nebeneinander und übermannshoch aufeinander stehenden Särge. Sie machten ein Durch -oder tieferes Hineingehen unmöglich. Der merkwürdig, beständig wehende kalte Wind und dieses Geräusch… Eine Art hoher Ton. Es klang wie ein fernes sich wiederholendes Echo, wie von tausenden von Stimmen. Der metallische Geruch… Conrad musste jetzt zwangsläufig an sein erstes Mal denken. Es war das große Geheimnis… Beim neugierigen Berühren der Oberfläche einer, dieser fast schwarzen Särge. Zuerst nur eine kalte glatte Metalloberfläche, dann ein kaum beschreibbares Erlebnis. Es traf ihn damals wie ein Schlag. Die harte glatte Oberfläche wurde weich. Er musste weinen und lachen zugleich! Ein heißes Glücksgefühl überschwemmte sein Herz. Er fühlte sich zart und zerbrechlich voll Angst. Er wollte Wärme, er hatte Durst. Er war ein Säugling und spürte an seiner Wange die Brust der Mutter. Dann wurde alles dunkel um ihn. Selbst die Flammen der Fackel an der Wand schienen stillzustehen. Sie verloren langsam ihren Schein. Als er erwachte, klebte seine Wange an dem eiskalten Metall des Sargdeckels. Sein ganzer Körper hatte sich an den Sarg geschmiegt. Die Haut an den Knien brannte, sein Kopf schmerzte und er hatte…er hatte sich, noch heute schämte er sich dafür, er hatte sich selbst beschmutzt und in die Hosen gemacht. Leicht schüttelte er nun den Kopf, wie um diese merkwürdig beschämenden Gedanken aus dem Kopf zu verscheuchen. Nach einigen Momenten des Zögerns kam der Befehl des Erzbischofs. Später meinte Conrad fest zu wissen, dass dieses Zögern nur Schauspiel war. Der Entschluss des Erzbischofs stand schon längst fest: Conrad hatte zu schwören, dass der Lehrling nach vollbrachter Arbeit, auch sein Leben beenden würde. Conrad solle sich etwas einfallen lassen. In diesen schweren Zeiten käme so mancher zu Tode.
Nach dem Gespräch fühlte sich Conrad zunächst schlecht. Er ahnte zwar, dass er augenblicklich in einen bösen Komplott verwickelt war. Auch hätte er dies dem Erzbischof nie zu getraut, einem Kirchenmann! Aber eigentlich trug ja er, Conrad, dann keine Schuld! Er hatte es nicht erdacht, er hat es nicht befohlen! Selbst Hand anlegen käme für ihn ohnehin nie in Frage. Außerdem war ein Herzog und Erzbischof näher an Gott, als ein einfacher Prediger und Bediensteter. Conrad hasste Grobheiten und Brutalität, liebte vielmehr das Gespinst der Intrige. Insofern hielt er die Forderungen des Erzbischofs in dieser Sache schon wieder fast für genial. Ja, gestand sich Conrad ein, er würde als Erzbischof genau so handeln. Besser ging es nicht. Es galt das Geheimnis zu schützen. Koste es was es wolle. Was galt da ein einzelner junger Mann! Und noch genialer fand nun Conrad bei längerer Überlegung, dass der Erzbischof das Geheimnis bei der Audienz mit keinem Wort erwähnt hatte. Er sprach nur von der Qualität des Silbers! Das ist Feinheit des Denkens, das ist ein wahrlicher Feingeist dieser Erzbischof!, dachte Conrad. Wenn er, Conrad, nicht selbst nur aus dem niederen Adel stammen würde, hätte er unumwunden gesagt, dass er und der Erzbischof Brüder im Geiste seien. Auf dem Weg von der Marktkirche zur Moritzburg spann er den Gedanken nun weiter. Diese Sache musste einfach, schnell und lautlos erledigt werden. Es war der Wille des Erzbischofs. Nein, es war damit sogar der Wille Gottes. Es bestand kein Zweifel, es musste getan werden. Was sollte er sich jetzt noch Gedanken machen? Sogleich fühlte er sich besser. Fast wäre er mit der Oberin des Armen- und Pestkrankenstifts zusammengestoßen. Die Kapuze hatte er, wie üblich, wenn er schnellen Schrittes diesen Stadtteil durchquerte, weit über das Gesicht gezogen. Er hasste es, angesprochen zu werden. Er wollte nicht mit Sorgen und Bitten der Anderen übergossen werden. Diese gemeinen Leute sollten doch bei seinen Predigten ordentlich zuhören. Dann hätten sie alles, was sie für ihr kleines Leben brauchten. Er hatte keine Ratschläge zu verschenken! Er hasste auch die sich für wohlhabend haltenden Bürger -und Kaufleutefrauen. Diese wollten wahrscheinlich ihre Stellung dadurch aufwerten, dass sie eine Einzelunterweisung vom Oberhofprediger in Anspruch zu nehmen suchten. So etwas blieb bei ihm Conrad die absolute Ausnahme. Wenn dieser Fall eintrat und er auf der Straße einer auf ihn zu eilenden Bürgersfrau nicht ausweichen konnte, suchte er zuerst hilfesuchend nach etwas mehr Publikum. Er hielt seine Worte und Antworten für viel zu wertvoll, als dass er sie nur an eine Person zu vergeuden bereit gewesen wäre. Den Blick auf den mit groben Steinen gepflasterten Weg zur Burg geheftet, wollte er auch diesmal einem Schatten ausweichen. Doch dieser hielt abrupt direkt vor ihm. Erstaunt schaute er auf und sah in das blasse und verhärmt wirkende Gesicht der Oberin. „Verzeiht Oberin, ich habe es sehr eilig“, sagte Conrad schnell. Die Oberin schaute ihn fest in die Augen und flüsterte nur leise: „Herr Oberhofprediger, vergebt mir mein ungebührliches Verhalten, aber ich muss es Euch mitteilen.“ Fast atemlos sagte sie dann: „Ich habe einen Pestfall! Ich habe einen Pestfall bei mir im Stift! Versteht Ihr?“ Conrads bisher angestrengt freundlich bemühter Gesichtsausdruck gefror augenblicklich. Die Pest in der Stadt! Das durfte nicht sein! Doch noch war nicht alles zu spät. Der Stift befand sich gut eine halbe Meile vor den Mauern der Stadt. Fast zeitgleich hatte er einen Gedanken: der Lehrling! Er dankte Gott für diesen rettenden Gedanken. Der Lehrling würde erkranken! Genau das war die Lösung! Und noch etwas: Der Erzbischof war der Auftraggeber! Das wiederum hieß doch nichts anderes, als dass sich der Erzbischof nun in einer Abhängigkeit von Conrad befand. Was für ein guter Gedanke, sinnierte Conrad. Die Oberin schaute nun fast erschrocken auf Conrad, da er leicht schmunzelte. Sie konnte diesen Gesichtsausdruck nach dieser, ihrer schlimmen Nachricht nicht deuten. Schnell hatte sich Conrad wieder im Griff und erklärte der Oberin, dass diese Nachricht schlimmer nicht hätte sein können und er die Ratsherren der Stadt in seiner Sonntagspredigt gebeten hatte mehr Vorsorge zu treffen. Die Pest sei zwar langsam bisher, aber wohl unaufhaltsam Richtung Halle unterwegs. Deshalb hätte er, wenn auch völlig unangebracht, kurz über seine Weitsicht lächeln müssen. Er hatte zwar nun Recht, aber dies nütze niemanden. Nun sei genaues Vorgehen wichtig. Er bat die Oberin, kein Wort über diese Sache zu verbreiten, um Panik zu verhindern. Zuerst müsse vom Stadtmedikus der Fall geprüft werden. Dies solle dadurch geschehen, dass die Oberin ein kleines Kleidungsstück des vermeintlich Erkrankten in ein Leinentuch wickeln solle. Am besten wären ein Schal aus Wolle oder Handschuhe. Auch ein Schweißtuch, wie es viele Bauern und Handwerker trügen, würde genügen. Der Medikus würde durch allerlei Experimente und seine Erfahrung leicht feststellen können, ob es die Beulenpest, die Blattern oder die Lungenpest sei. Das Päckchen würde noch heute von einem erzbischöflichen Reiter bei ihr abgeholt werden. Am nächsten Tag würde sie benachrichtigt werden, ob der Stift unter Quarantäne gestellt werden müsse. Die Oberin war wegen dieser, ihr sehr umsichtig erscheinenden Vorgehensweise, beruhigt und eilte nach einem gehauchten: „Gott möge Euch segnen!“, zurück zum Stift. Conrad war dann nach längerem Suchen Erfolg beschieden. Er hatte schon fast geglaubt, nach Halberstadt reisen zu müssen. Bei einem Juden, der neben Gold- und Silberwaren auch farbige Gläser aus Böhmen anbot, hatte er Glück. Die Geschäfte gingen offensichtlich nicht allzu gut im Moment. Aber bei wem gingen sie in den letzten beiden Jahren überhaupt gut, dachte Conrad. Die immer wieder aufflackernde Pest verhinderte jeden normalen ununterbrochenen Handel. Man hörte zwar nur von Einzelfällen in weiter entfernt liegenden Dörfern, aber es erzeugte Angst unter den Leuten. Jeder Fremde wurde misstrauisch betrachtet. War er gesund, wie gesund sah seine Haut aus? War es ein Jude, der hier nicht wohnen durfte? War der Jude nur zu Besuch bei Verwandten oder wollte er sich hier niederlassen? Sah der Nachbar heute nicht merkwürdig aus? War seine Frau eine Hexe und hatte ihn verhext? Wenn man wenigsten den oder die Schuldigen fangen und ihrer gerechten Strafe zukommen lassen könnte! Conrad konnte sich noch gut an die Worte seines Vaters erinnern. Die Ereignisse müssten dann jetzt genau fünfzig Jahre her sein. Sein Vater erzählte ihm als Kind, was die Leute gehört hatten. Dass die Pest kaum noch dort auftrat, wo man die Schuldigen gefangen und abgeurteilt hatte. In Würzburg waren Dämonen in ein Kinder-Internat gefahren. Fast zweihundert Hexen und Kinderhexen konnte man ermitteln. Viele von ihnen haben nach der peinlichen Befragung zugegeben, nachts auf dem Feld mit dem Teufel gebuhlt zu haben, während ihre Mütter mit Dämonen durch die Luft fuhren. Da sei Gott vor! Der Bischof dort war zunächst gnädig oder wie man`s nimmt, dachte Conrad. Die Hälfte des Vermögens floss nach Verurteilung der Hexerbrut in die Schatulle des Bistums. Aber alle wurden zuerst geköpft und anschließend verbrannt. Doch die Frauen wollten wohl im Angesicht des Schwertes den Kopf nicht stillhalten. So wurde ab dieser Zeit sofort das Feuer gezündet. Jeden Tag brannten die Feuer. Es wurden immer sieben Feuer gleichzeitig entzündet. Jeden Tag sieben Feuer. Und siehe da, nicht nur im Kinderstift trieb der Teufel sein Unwesen. Auch in entfernteren Dörfern meldeten Kinder, dass ihre Eltern Böses tun. Ganze Familien waren von Dämonen besessen und mussten verbrannt werden. Conrad unterbrach diese Gedanken und betrat den Münzerraum in der Moritzburg. Der junge Lehrling sprang von seiner Arbeit auf und machte eine Verbeugung. Conrad bedeutete ihm mit einer Handbewegung sich wieder seiner Arbeit zuzuwenden. Conrad schaute dann auf den arbeitenden, jungen Lehrling. Er hatte diesen aus Goslar stammenden jungen Mann, noch am gleichen Tag praktisch aus dem Vertrag mit dem Goldschmied herausgelöst. Der Lehrling zeigte sich auch sofort einverstanden. Er verlangte nur ein Zeugnis über seine erlernten Fähigkeiten. Dies erhielt er von dem Goldschmied, der zufrieden die Dukaten des Erzbischofs in eine Holzlade schob. Einen neuen Lehrling würde er schnell wieder finden. Der Lehrling war nun eigentlich kein Lehrling mehr. Trotzdem erhielt er von Conrad keinen Vertrag, sondern arbeitete auf Geheiß des Erzbischofs gegen Unterkunft und Verpflegung. Conrad hatte den neuen Münzprägeraum ausgewählt und so vorbereiten lassen, dass kaum ein Bediensteter auch nur in die Nähe dieser Arbeiten kam. Sächsische Grenadiere bewachten den Nebenraum vom Rittersaal. Heinrich, der nun neue Münzer und Graveur des Erzbischofs, arbeitete tief gebeugt über einem neuen Unterstempel. Der erste war ihm nicht gut genug. Der neue Oberstempel aber war perfekt. Dieser lag auf dem niedrigen Holztisch neben dem Holzklotz, in den Heinrich seinen zu bearbeitenden Unterstempel fest eingespannt hatte. Conrad nahm den Oberstempel für die Geburtstagsmedaille des Erzbischofs und schaute auf das seitenverkehrte Portrait und die Schrift. Was für ein kleiner Künstler! Wie konnte ein so junger Mann ein so überzeugendes Portrait fertigen? Conrad konnte noch kleine Zeichenreste auf dem Stempel am Portrait erkennen. Das waren kleine Striche, die der junge Künstler im Stahl nicht ausgearbeitet hatte. Als hätte er sie im letzten Moment noch weggelassen. Beim genauen Hinschauen, erkannte Conrad, dass zwei kleine Striche Augensäcke angedeutet hätten und drei andere Linien das Gesicht des Erzbischofs hagerer und somit kränklicher hätte erscheinen lassen. Wirklich bemerkenswert! Der Künstler hatte sich dann beim Eingravieren in den Stahl dafür entschieden, das Gesicht jünger und gesünder erscheinen zu lassen. Hexerei? Wirst du mein kleiner Hexer sein? Oder stirbst du an der Pest, dachte Conrad, als er den Stempel wieder hinlegte. „Arbeitet schneller… Lehrling Heinrich!“ meinte Conrad und ging mit langen Schritten aus dem Münzerraum. Nach einigen weiteren Tagen war der letzte Stempel fertig. Unmittelbar danach fing Heinrich an, aus den vom Oberhofprediger bereitgestellten silbernen Rohlingen Medaillen zu schlagen. Die Arbeit ging gut voran. Heinrich arbeitete still vor sich hin. Gelegentlich hielt er inne, weil ihm die rechte Hand von dem schweren Hammer schmerzte. Bei jedem Schlag auf den Oberstempel nahm der Schmerz im Gelenk seines Daumens zu. Münzer, oder wie die Leute auf der Straße sagten Präger, würde er wohl nicht werden können, dachte Heinrich. Er war dafür einfach körperlich nicht geeignet. Er war nicht zu klein geraten, hatte aber in den Armen und Händen einfach zu wenig Kraft. Selbst auf der Lateinschule hatte man ihn manchmal im ersten Jahr gehänselt, er würde mit seinen dunklen Augen und den langen Wimpern wie ein Mädchen aussehen. Dies störte ihn eigentlich nicht so sehr. Selbst sein Freund aus Kindheitstagen, der dicke Bäckersjunge, gab ihm zu verstehen, dass dies später nur von Vorteil sein könne. Die Mädchen würden oft auf solche Typen wie ihn, Heinrich, stehen. Das schlimme an diesen Lästereien der Mitschüler war etwas anderes. Heinrich wurde jedes Mal rot. Flammende Wärme plötzlich im Gesicht, für Heinrich war das einfach nur schrecklich. Dies stachelte hartnäckige Mitschüler dazu an, noch weiter zu machen. Auch während seiner Lehre beim Goldschmied lernte Heinrich eben solche Münzer und deren Gehilfen kennen. Selbst im Vergleich mit diesen Gleichaltrigen zog Heinrich den Kürzeren. Das waren meist schon mit zwanzig Jahren sehr kräftige Kerle mit breiten Schultern, diese Münzgesellen. Allerdings fiel es Heinrich allein schon von seinem Naturell her schwer, ein längeres Gespräch mit ihnen zu führen. Die Gespräche drehten sich von deren Seite her meist um sehr banale Dinge. Sie konnten sich einen halben Vormittag über einen Witz, den einer von ihnen von den Gauklern auf dem Markt nachmachte, amüsieren. Immer wieder klatschten sie sich dabei gegenseitig auf die Schultern und krümmten sich vor Lachen, während sich andere gegenseitig vor Vergnügen auf die Brust boxten. Kam der Goldschmiedemeister dann in die Lehrstube, schoben sie sich gegenseitig die Schuld zu, wer denn den Anderen von der Arbeit abgehalten hätte. Heinrich galt in den Augen der zukünftigen Münzer zwar als Schwächling. Aber dennoch achteten sie ihn auf ihre Weise, da er ehrlich und hilfsbereit war. Oft brachte er deren Lehrstücke, z.B. einen Anhänger oder eine Gürtelschnalle zu Ende, oder verbesserte das Aussehen der einfachen Schmuckstücke mit einer kleinen Gravur. Und über noch etwas war selbst der Goldschmied erstaunt. Heinrich konnte ohne eine Vorlage Dinge wiedergeben und diese unmittelbar auf ein Pergament zeichnen oder in eine Kupferplatte schneiden. Diese Kunst beherrschten nur wenige.
Es lagen nur noch drei runde silberne Rohlinge in der Holzlade. Heinrich legte den Hammer beiseite und griff sich in den Nacken. Er drehte und streckte sich. Nun erst spürte er diese Stille in dem unterirdischen Gewölbe. Schlagartig fröstelte er ein wenig. Diese feuchte Kälte hier unten, dachte Heinrich, kann auf Dauer auch nicht gut sein für einen Münzer. Er dachte wieder an seine Münzergesellen aus der Lehre. Wenn er sich vorstellte, dass sie später als Münzer solche Arbeit zwölf Stunden lang in dieser Kälte zu verrichten hatten. Nein, für Heinrich wird dieser Beruf wohl nicht der richtige sein. Aber er musste erst einmal dem Willen seines Vaters gehorchen. Sein älterer Bruder hatte es bereits zu einer höheren Gunst geschafft. Dieser war bereits Münzmeister! Da hatte man schon vieles Andere und weitaus angenehmere Arbeiten zu tun. Aber wie geht es jetzt weiter? Das Silber ist fast alle, überlegte Heinrich. Er stand nun auf und rief laut nach dem Oberprediger: „Hallo! Hallo Herr Oberhofprediger von Wiese?“ Er ging zur Tür. Erstaunt stellte er fest, dass diese nicht verschlossen war. Das man als Münzer eingeschlossen wurde, war für Heinrich nichts Ungewöhnliches. Auch alle Gesellen des Goldschmiedes wurden in einen großen Raum eingeschlossen. Ein wenig Essen und Trinken war jeweils auf einem Tisch bereitgestellt. Ein Ort zur Verrichtung der Notdurft war in Form eines verschließbaren Kübels in einer gesonderten, etwas abgeteilten Ecke häufig vorhanden. All dies diente nicht nur dem Schutz des Edelmetalls vor eindringenden Dieben und Räubern. Auch das Hinaustragen frisch geprägter Geldstücke oder halbbearbeiteter Metalle wurde so von vornherein unterbunden. Der jeweilige Goldschmiedemeister oder Münzmeister hatte den Schlüssel. Einige Jahre früher mussten alle Lehrlinge noch aufgenähte Glöckchen an ihren bunten Gewändern tragen. Sie wären nicht weit gekommen. Ein jeder hätte einen solchen Flüchtenden gehört oder gesehen. Langsam öffnete Heinrich die Tür, jeden Moment gewärtig von zwei Soldaten gepackt zu werden. Vor ihm hing nun ein großer Wandteppich als schwerer Vorhang. Heinrich war sich sicher, dass er beim Betreten des Raumes noch nicht da war. Der Oberprediger musste zuerst die Tür hinter Heinrich geschlossen und dann den Wandteppich mit einem speziellen Mechanismus auf einer weit oben angebrachten Stange davor drapiert haben. Der Wandteppich verbarg so sicher sehr gut die Eingangstür zum Münzerraum. Der Teppich war dick und fühlte sich für Heinrich so schwer an, dass für ihn nun ein weiterer Zweck erkennbar wurde. Selbst wenn man einige wenige Schritte vor dem Teppich stand, hätte man sicher kaum etwas hören können von möglichen Geräuschen, die aus einem dahinter liegenden Raum kamen. Heinrich zwängte sich zwischen Teppich und Wand hinaus. Vor ihm erstreckte sich der halbdunkle Rittersaal. Nichts geschah! Es waren keine Wachen da. Dann hörte er ein leises helles Scheppern von Metall und gleichzeitig einen feinen hohen Ton. In einer Ecke des Rittersaals standen Turnierrüstungen. Dahinter bemerkte Heinrich ein bläuliches Licht. Das Licht beleuchtete eine unwirklich erscheinende Szene. Ein riesiger Raum tat sich hinter den Rüstungen auf. Vorsichtig näherte sich Heinrich dieser gigantisch erscheinenden Öffnung und dem Lichtschein. Was er nun sah, ließ ihm den Atem stocken. Sein Herz schlug ihm plötzlich bis zum Hals. Er näherte sich lautlos weiter. Nun leicht von der Seite, um nicht gesehen zu werden. Ihm war plötzlich bewusst, dass er so schnell als möglich hier weg musste. Es war sicher verboten dies hier zu sehen. Was war das nur? Die Schatzkammer des Papstes? Der Oberprediger kniete vor einer großen Truhe und schaufelte, ja Heinrich konnte deutlich ein großes Scheffelmaß erkennen. Der Oberprediger schaufelte in großer Hast Silberstücke, Ketten, Kelche, kleine Monstranzen aus der Truhe in daneben stehende Ledereimer. Dabei züngelte ein bläuliches Licht um den Kopf des Oberpredigers. Heinrich schwindelte plötzlich. Ein Blick hinter dieser Szene ließ ihn vor Schreck fast hinfallen. Seine Augen hatten sich nun an das Halbdunkel gewöhnt. Im Hintergrund konnte er eine große Anzahl von schwarz glänzenden Särgen erkennen. Sie sahen jedenfalls für Heinrich wie Särge aus, wie sehr große Särge. Eigentlich hatten sie große Ähnlichkeit mit Sarkophagen, wie sie in manchen Kirchen in den Seitenschiffen für ehrbare Stifterfamilien eingerichtet wurden. An immer neuen Stellen schienen sich neue dieser Särge aus dem Dunkel herauszuschälen. Tausende kleine silbern schimmernde Totenschädel, kryptische Zeichen und Runen bewegten sich in Wellen über die Oberfläche dieser unheimlichen Behälter. Heinrichs Magen krampfte nun. Säuerlicher Speichel schien hochsteigen zu wollen. Mechanisch setzte er den ersten Fuß nach hinten. Wie in Zeitlupe strebte er nun rückwärts. Aus Angst gesehen zu werden, wagte er es nicht sich umzudrehen und einfach in Richtung Münzerraum zu laufen. Dort endlich angekommen, konnte er sich lange Zeit nicht richtig erholen. Dunkle Flecken hatten sich unter seinen Achseln gebildet. Nach etwa zwei Stunden erschien der Oberhofprediger. Er stutzte nur kurz an der Tür, da sie offen war und murmelte etwas von Vergesslichkeit und viel Arbeit in diesen Zeiten. Er setzte sich an den kleinen Tisch. Mit einer Handbewegung deutete er Heinrich an, ihm die fertigen Medaillen zu übergeben. Heinrich hatte jedes Stück sorgfältig auf ein Holzbrett gelegt, so wurden Kratzer vermieden. Er nahm ein Brett mit mehreren Medaillen und legte das Brett auf den Tisch des Oberpredigers. Der beugte sich neugierig und wie es Heinrich schien, mit zunehmender Ehrfurcht über die silbernen Stücke. Ein Lächeln hielt sich geraume Zeit auf seinem Gesicht, als er die Qualität jeder dieser kleinen Kunstwerke begutachtete. Dann wickelte er jede einzeln sorgfältig in teures Papier und tat diese in einen mitgebrachten ledernen Korb. Als er dann aufstand und neues Silber für den nächsten Tag neben dem Holzklotz mit den Stempeln hinstellte, war sein einziger Kommentar: „Heinrich, sputet Euch, alle müssen so werden, wie diese hier!“. Dann ging er. Heinrich schleppte sich sofort zum Bettgestell, auf dem ein großer Strohsack und eine Decke aus Kuhfell lagen. Er nahm einen Schluck Wasser aus der daneben auf einem Tischchen stehenden Karaffe. War das vorhin Wirklichkeit oder ein Traum?, überlegte Heinrich noch kurz als er die Augen schloss. Bevor er wie zerschlagen einschlief, huschte noch der Satz seines Vaters hinter Heinrichs Stirn vorbei: „Heinrich wahrlich, wahrlich, Lehrjahre sind keine Herrenjahre!“
Nur er und der Erzbischof Herzog August kannten das Versteck. Das Geheimnis verband sie beide. Aber Conrad wusste, dass diese Verbindung jederzeit durch den Erzbischof gekappt werden konnte. Mit zusammen gekniffenen Augen näherte sich damals zur Geburtstagsfeier der Herzog ihm langsam. Dabei hielt er eine dieser Medaillen zwischen Daumen und Zeigefinger. Mit der anderen Hand zeigte er auf die hochgehaltene Medaille. „Sag er mir ehrlich lieber Conrad“, flüsterte der Herzog vertraulich, „wollen wir beide wirklich wissen, woher das Silber für dieses Exemplarius stammt? Ich möchte es doch glauben, dass diejenigen auch ihre von Gott gespendete Jugend hatten. Ich war einen flüchtigen Moment geneigt zu denken, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ihr aus dem restlichen Bestande auch Medaillen der Freude hättet schlage lassen. Ich denke jedoch, dass selbst tausend neuangefertigte Stempel in unserer Münze dies nicht überlebt hätten. Ich glaube, es ist so viel Silber, dass alle entzwei gehen würden. Wobei der Gedanke mir sympathisch erscheint, die dann geschlagenen Medaillen unters Volk zu bringen und die Schuld damit millionenfach zu verteilen. Gleichwohl, sagt mir lieber Conrad, wiegt eine Schuld vor Gott geringer, wenn diese Schuld vor meiner Zeit war, wenn es denn einer meiner, wohlgemerkt nicht blutsverwandten, Amtsvorgänger war? Ach, Conrad, hat Euch eigentlich Euer gutaussehender Münzgeselle aus dem Braunschweigischen nützlich sein können? Ich hoffe doch für Euch, dass alles zu meiner Zufriedenheit zu Ende gebracht wird. Ach ja, die Schrift auf der Rückseite hier lässt eine, nun ja, sagen wir gewisse Unbeholfenheit im Stempelschnitt erkennen. Wie dem auch sei, geht nun und lasst mich Eure Medaillen an die Gäste verteilen.“ Heinrich fand das alles sehr merkwürdig. Fast war er enttäuscht. An einem Tag am späten Vormittag, als er zusammen gerechnet etwa tausend der großen silbernen Medaillen fertig hatte, erschien der Oberhofprediger. Er sagte ohne Begrüßung und ohne große Umschweife: „So, Lehrling Heinrich, Eure Arbeit endet hier. Ihr werdet umgehend diese Burg verlassen und Euch auf den Heimweg begeben.“ Danach legte er einen Beutel auf den Holztisch mit den Worten: „Nehmt dies zur Verpflegung und geht!“ Gleichzeitig bauten sich in der Tür zwei Grenadiere auf. Ehe Heinrich groß zum Nachdenken kommen konnte, befand er sich eskortiert von den beiden Soldaten vor dem Burggraben wieder. Achselzuckend und seinen Beutel über die Schulter werfend lief Heinrich hinab in die Stadt. Wollte er heute noch weiterkommen, musste er sich schnell um einen Platz in einer Reise- oder Postkutsche kümmern. Zum Glück hatte er noch etwas Geld vom Vater. Natürlich konnte er sich kein Pferd leisten. Doch hätte er mehr Geld gehabt, so hätte er eins reiten können. Dies verdankte er Jörg, dem Pferdeknecht seines Vaters. Jörg hatte ihm das Reiten beigebracht. Dies ging nur heimlich und vor allem, wenn der Vater auf der Messe in Frankfurt oder Hannover war. Wenn es nach seinem Vater gegangen wäre, hätte er nach der Lateinschule zuerst Goldschmied gelernt, dann eine weitere Lehre als Kaufmann absolvieren müssen und später wäre vielleicht Zeit für das Reiten gewesen. Nur weil er selber nicht richtig reiten kann, dachte Heinrich mit aufwallendem Zorn, durfte ich kein Pferd besitzen! Sein Magen knurrte vernehmlich. Trotzdem beeilte sich Heinrich. Den Beutel mit der Verpflegung würde er noch brauchen auf seiner Reise. Deshalb nahm er sich nicht die Zeit hineinzuschauen. Merkwürdig war es schon, schoss es Heinrich durch den Sinn. Weshalb gab ihm sein Auftraggeber selbst die Verpflegung und schickte ihn nicht einfach in die Küche der Burg? Er musste es wohl sehr eilig gehabt haben, mich los zu werden, dachte Heinrich, während er mit schnellen Schritten durch die schmalen Gassen in Richtung Markt lief. Eine gute Orientierung boten ihm die Doppeltürme der Marktkirche. Diese überragten weithin sichtbar die nur wenige Stock hohen Bürgerhäuser. Die Stadt musste durch ihren Salzhandel zu großem Wohlstand gekommen sein. Die Bürgerhäuser hatten auffällig gute Dächer mit aufwändigen Rinnen und Wasserspeiern, die Fenster und die Torbögen waren mit allerlei Schnitzereien verziert. Auch Bettler sah man wenig. Hier und da musste Heinrich einigen Abfallhaufen ausweichen, aber Hühnern und allerlei Vieh, wie in den Straßen von Goslar, begegnete Heinrich nicht. Vielleicht ist das so, weil ich hier in einer Residenzstadt bin, dachte Heinrich. Offensichtlich war man hier Fremde, weitgereiste Kaufleute und Gesandte anderer Fürstenhöfe auf den Straßen gewohnt. Gerade deshalb müsste es doch auch Reisegelegenheiten geben, dachte Heinrich. Das größte Problem wäre, wenn es heute keinen Platz mehr in einer Reisekutsche gab. Eine Fahrt von Halle direkt nach Goslar, würde es ohnehin nicht geben. Aber wenigstens die Richtung, das wäre schön, dachte Heinrich. Wenn nicht, wie dann weiter? Das Geld reichte nur für die Reise, nicht für eine Unterkunft in einem Gasthof. Essen hatte er vom Oberprediger zwar mitbekommen. Den üblichen Lohn selbst, für die Gesellentätigkeit, blieb er ihm schuldig. Weshalb handelte ein sonst ehrbarer Mann, zudem noch ein Kirchenmann, so? Jemandem Arbeit abverlangen, aber keinen Lohn zahlen! So etwas kannte Heinrich von seinem Vater nicht! Lass den Vater sein wie er ist, dachte Heinrich, mit aufwallender Wut, unehrbar war der Vater nie! Und eines musste er sich auch eingestehen, auch wenn er sonst so seine Schwierigkeit mit dem Thema Vater hatte. Der Vater war nie mitleidlos und unehrlich! Gertrude, die Magd, hielt ihm bei jeder Gelegenheit vor die Nase, dass er den besten Vater hätte, den er sich wünschen könnte. Pah! Dachte Heinrich, weshalb hat er mir dann kein Pferd mitgegeben? Selbst der Bäcker Krüger Hans hat seinem Sohn, Heinrichs Freund, ein Pferd mit auf die Gesellenreise gegeben! Nun gut, dachte Heinrich während er durch die Gassen eilte, es war nur ein Kaltblut. Ein Pferd was gewohnt war, Eisblöcke für die Küchen der Gasthöfe und Bürgerhäuser zu transportieren. Nun ritt sein dicker Freund auf so einem Pferd. Ohne es zu merken, hatte Heinrich schon den Markt erreicht. Schlagartig wurde es lauter. Hier überboten sich die Händler mit ihrer Stimme gegenseitig und priesen ihre Ware an. Die längsten Schlangen hatten sich an den Ständen der Salzhändler gebildet. Die großen aufgehäuften Kegel aus feinem schneeweißen Salz waren dicht umringt. Zwischenhändler versuchten hier, Salz zum günstigen Preis aufzukaufen. Das angebotene Salz war so weiß, dass Heinrich in der Sonne stehend, seine Augen mit der Hand beschatten musste, um das Feilschen beobachten zu können. Wo Händler sind sind auch Chancen zur Mitreise, dachte Heinrich. Langsam schob er sich durch die Menge näher heran an einen Stand. Vielleicht konnte er ja bei den Händlern einen hessischen oder braunschweigischen Dialekt hören. Er würde dann fragen müssen. Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter. Heinrich zuckte zusammen. Schnell versuchte er, sich so gut es bei dem Gedränge ging umzudrehen. Als ihm das gelang, erschrak er ein wenig. Er sah in ein von einer Narbe geschundenes Gesicht. Eigentlich nur in ein halbes. Denn ein Auge des Mannes war zudem mit einer Binde bedeckt. Vertrauenswürdig siehst du nicht gerade aus, dachte Heinrich und fragte etwas ungehalten: „Mein Herr, was wollt Ihr von mir?“ „Habt keine Sorge. Verzeiht mein Benehmen. Kommt bitte hier erstmal aus dem Gedränge heraus. Ich möchte Euch etwas fragen.“ Heinrich spürte, ohne geantwortet zu haben, eine kräftige Hand an seinem Unterarm, die ihn behutsam, aber doch zielstrebig, sprichwörtlich ins Freie zog. Heinrich kam sich leicht beschämt vor, aber ihm blieb nun fast nichts anderes übrig, als mit dem Fremden die wenigen Schritte mitzugehen. Vielleicht nützt es ja, dachte Heinrich. Passieren wird mir schon nichts, wir sind ja hier unter Leuten auf dem Markt. Ein wenig am Rande des Markttreibens, aber direkt neben dem Eingang zur Marktkirche, blieben sie stehen. Der Fremde, er mochte in Heinrichs Augen etwa doppelt so alt wie er sein, verbeugte sich kurz und sagte: „Gebt mir diesen Augenblick für meine Frage und mein Angebot. Mein Name ist Gottfried und ich suche jemanden, der bereit ist mir einen Gefallen zu tun. Ihr sucht etwas und ich habe etwas“. Heinrich blieb augenscheinlich der Mund offen stehen und wusste auf das gerade Gehörte keine rechte Antwort. Also fragte er: „Was sollte ich suchen? Und woher wollt ihr das wissen. Ich glaube ich bin der Falsche für Euch. Ich habe kaum Geld und…“ „Ihr sucht eine Reisemöglichkeit, einen Platz in einer Kutsche oder sogar ein Pferd. Woher ich das weiß? Nun ja, schaut Euch an! Einen Beutel über der Schulter, also habt ihr noch keine Schlafstatt. Eure Kleidung spricht für sich. Ihr habt etwas von einem Schmied, nein lasst mich raten. Eure Arme sind nicht muskulös, ach, und die Hände sind schmal. Nun gut, ihr mögt ein Goldschmiedelehrling sein. Eure Kleidung ist fein, das Tuch von ausgewählter Qualität. Es ist aber bestimmt kein sächsischer Schnitt, den Ihr tragt, nein Ihr seid Hesse oder Braunschweiger!“ Nun konnte Heinrich nicht mehr an sich halten: „Wenn Ihr so viel über mich zu wissen glaubt, dann sagt mir doch wie ich hier und bald aus dieser Stadt komme. Und sagt mir, was Ihr dafür begehrt!“ Die Antwort des Fremden war: „Ich benötige von Euch das wenige Geld, dass ihr habt. Davon erspiele ich Euch eine Reisemöglichkeit. Das ist natürlich nicht alles. Ihr fahrt, wenn mir heute Abend das Glück beim Würfelspiel hold ist, morgen mit einem Salzschiff nach Magdeburg. In Magdeburg übernehmt Ihr mein Pferd, welches ich in einer Posthalterei untergestellt habe. Ihr reitet dann ohne Verzögerung nach Wolfenbüttel zum Schloss und überlasst das Pferd dort dem kurfürstlichen Stallwart. Das ist alles. Das ist mein Angebot. Wie Ihr nach Eurer Heimatstadt kommt, müsst Ihr dann selber sehen. Ich denke aber, dass dies nicht allzu weit weg sein sollte. Seid Ihr einverstanden?“
„Über dieses Angebot muss ich erst nachdenken“, meinte Heinrich darauf zurückhaltend. „Versteht, ich kenne Euch nicht. Andererseits scheint das in dieser Stadt so üblich zu sein.“ Und schon mehr zu sich selbst: „Kurze Absprachen, Angebote. Entweder man nimmt sie oder man schlägt sie aus.“ Heinrich wollte seine Unsicherheit etwas überspielen und sagte deshalb zu dem Fremden: „Übrigens, wenn Ihr bei meiner Kleidung ausgewähltes Tuch erkennt, dann erkenne ich an Euch, dass Ihr trotz scheinbar weniger ausgewählter Kleidung Euch teuren Kautabak aus Ostindien leisten könnt. Er duftet nach Vanille. So etwas leistet sich mein Vater nur an Festtagen.“ Darauf verzog sich die Narbe des Fremden etwas. Es sollte wohl ein Lächeln sein.
Nach einiger Zeit nickte Heinrich. „Ist das ein Ja, Herr?“, fragte Gottfried. Heinrich nickte noch einmal. „Mein Name ist Heinrich Hulter und mein Vater ist in der Tat Tuchhändler, deshalb meine Kleidung.“ Dann nach kurzem Zögern: „Und welche Sicherheit habt Ihr eigentlich dabei? Ich könnte doch mit Eurem Pferd gleich nach Hause reiten!“ „Die hier!“, dabei zeigte Gottfried auf seine bisher versteckt gehaltene Pistole, in dem er seinen Umhang leicht zur Seite zog. „Und das!“, wobei Gottfried mit dem Zeigefinger auf seinen Kopf zeigte. „Glaubt mir, Heinrich. Ich kenne mich mit Menschen aus. Ihr macht so etwas nicht, stehlen!“ Es waren nur ein paar Schritte von der Marktkirche bis zum Gasthof „Zum grauen Hund“. Hier kehrte nicht der Bürgermeister und seines Gleichen ein. Aber es sei eine leidlich sauber geführte Wirtschaft mit ordentlichen Zimmern, versicherte Gottfried. Der eigentliche Anziehungspunkt hier war aber das täglich stattfindende Würfelspiel. Sonntags verging kaum eine Predigt in den Kirchen der Stadt, ohne dass nicht dieser Umstand erwähnt wurde. Die Prediger und Pfarrer zogen gegen die vermeintliche Verlockung des Teufels mit Worten zu Felde, ohne freilich viel zu erreichen. Mancher brave Bürger, der dem Spiel verfallen war, gab aber aus diesem Grunde sonntags etwas mehr in den Klingelbeutel. Und so war eine Art friedlicher Stellungskampf zwischen der Geistlichkeit und dem Gasthaus entstanden. Die Kirchen blieben gut gefüllt, der Gastwirtschaft „Zum grauen Hund“ fehlten oft genug die Sitzplätze. Gottfried hatte dies Heinrich auf dem Weg in knappen Worten erzählt. Dann fand sich Heinrich beim Betreten der Wirtschaft in einer für ihn zwar ungewohnten, aber nicht minder angenehmen Umgebung wieder. Es war hier warm und es roch nach Entenbraten. An vier der fünf Tische spielten und tranken für ihre Zunft typisch gekleidete Leute. Es waren vor allem Angehörige einer Bruderschaft, die Sole aus den vier Solebrunnen der Stadt förderten und in großen Pfannen zu Salz verkochten. Gottfried nickte in Richtung eines Tisches, wo besonders kräftige Kerle saßen, die für Heinrich mehr als verwegen aussehen mussten. Gottfried erklärte mit einem Kopfnicken in Richtung der Männer grüßend halblaut, so dass diese es hören mussten: „Und das, Heinrich sind ehrenwerte Bornknechte. Sie fördern die Sole aus den einzelnen Bornen, den Solebrunnen. Dafür braucht man Kraft. Und schau, hier sind auch die ehrenwerten Salzwirker. Sie sieden dann die Sole in großen Pfannen, dass sie zu Salz werde. Dafür braucht man Geschicklichkeit und Ausdauer. Auch Beamte vom Flusshafen und Schiffer findest Du hier. Sie alle sichern den Wohlstand dieser Stadt.“ Die Leute im Gastraum waren von dieser Lobesrede freundlich angetan und hießen beide einladend willkommen. Heinrich und Gottfried nahmen an einem freien Tisch, neben dem einzigen Fenster des Gasthauses, Platz. Gottfried bestellte kurz darauf zwei Abendmahlzeiten beim Wirt. Gottfried schien dem Wirt, der ein Riese von Wuchs war, bekannt zu sein. Zumindest kam es Heinrich so vor. „Gottfried, oder wie Ihr richtig heißt, Ihr wisst, dass ich das nicht bezahlen kann“, sagte Heinrich, nachdem der Wirt gebratenes Geflügel, Soße und warmes Brot auf den Tisch gestellt hatte. „Sorgt Euch nicht Heinrich, gebt mir das Geld, welches Ihr habt. Vertraut mir.“ Was blieb Heinrich nun noch übrig. Während Gottfried sich eine Geflügelkeule griff und aufmunternd zu Heinrich blickte, fühlte Heinrich nach seinem Geldbeutel. Dieser war von der Magd gut in die Innenseite des Unterhemdes eingenäht. Sie hatte ihm gezeigt, wie er den Beutel ziehen musste, um an das Geld zu gelangen. Ein möglicher Dieb hätte dies nicht geschafft, ohne das gesamte Hemd mitnehmen zu müssen. Heinrich gab Gottfried nun schnell das Geld. Seine Hand war dabei halb vom Tisch verdeckt.
Als sie beide aßen, wurde es allmählich immer voller in dem Gastraum. Der Wirt bahnte sich mit ruhigen Bewegungen den Weg durch die Menschenmasse. Dabei hielt er in der einen Hand fünf Krüge und mit der anderen stemmte er sich an der Decke festhaltend entlang. Als dann ein Spielmann seine Fiedel herausholte und zu spielen begann, strömten noch mehr Leute herein. Sicher kann man die Musik wegen des offenen Fensters bis auf den Vorplatz der Marktkirche hören, dachte Heinrich. An ihrem Tisch waren mittlerweile alle Stühle besetzt. Gottfried nahm irgendwann schwungvoll einen hölzernen Becher aus seiner Tasche und setzte diesen bedeutungsvoll verkehrt herum auf den Tisch. Aha, dachte Heinrich, so macht man das, ohne Worte. Ein Gottfried gegenübersitzender Mann, der wie ein Beamter aussah, legte daraufhin eine geschnitzte Pfeife, ein anderer einen Beutel mit Tabak auf die Mitte des Tisches. „Nichts da, meine Herren! Ich muss Sie enttäuschen, heute geht es nicht um solche guten Dinge. An diesem Tisch wird heute nur um Geld gespielt“. Im selben Augenblick sah Heinrich, wie Gottfried, einen Gulden, eben seinen Gulden, auf den Tisch warf. „Oh mein Herr, das ist viel Geld für eine Partie Würfel“, meinte der Beamte. Dann, nach einer kurzen Überlegung und mit einem aufmunternden Nicken in Richtung des Mannes, der den Tabakbeutel als Einsatz gelegt hatte: „Nun gut, ich denke wir nehmen die Partie an. Allerdings nur unter einer Bedingung.“ „Nur zu!“, antwortete Gottfried und lehnte sich bequem zurück. Der Beamte meinte darauf: „Also, bitte dann aber nicht mit Euren Würfeln. Ich,… eh… wir wünschen Würfel des Hauses!“ Gottfried nickte darauf und meinte: „So soll es sein!“ Fast wie auf ein Stichwort fragte der Wirt plötzlich laut aus Richtung seines Schankbrettes: „Meine Herren, Ihr wünscht noch etwas?“ Gottfried antwortete für alle: „Es werden Würfel gewünscht!“ Auch jetzt wieder erschien es Heinrich, als ob es dieser Gottfried sehr eilig hatte, seine Ideen umzusetzen. Er kannte solch einen auffälligen Charakterzug noch nicht und fand dies interessant. Zu Hause galt Ungeduld als etwas Unschickliches, ja sogar als eine Art des unhöflichen Benehmens. „Wollt Ihr Würfel aus Stein oder aus Bein, mein Herr?“, fragte der Wirt in Richtung Gottfried. „Heute spielen wir mal mit steinernen Würfeln, Wirt!“ Mit einem Achselzucken ging der Wirt darauf zu einer Lade, die an der Wand stand. Er schien einige Zeit darin zu suchen. In Wirklichkeit ließ er jeden einzelnen der zwei Dutzend Würfel durch seine Finger gleiten. Er musste möglichst schnell den einen speziellen Würfel finden. Manchmal gab es bei dem verwendeten Mineral Einschlüsse von anderen, eben schwereren Mineralien. Der Steinschleifer kannte die genaue Struktur dieser Steine und hatte gute Arbeit geleistet. Der gesuchte Würfel, den er bald darauf zwischen den Fingern spürte, wies dadurch in einer Ecke ein größeres Gewicht auf. Im Spiel brachte das, wenn er Gottfried glauben sollte, eine dreimal höhere Gewinnchance. Diese Form der Manipulation war für einen uneingeweihten Spieler nicht zu entdecken. Auf andere Möglichkeiten der Manipulation, wie zum Beispiel durch kleine Bleistückchen auf der Seite der Eins deren Gewicht zu erhöhen, und somit mehr Sechsen beim Würfeln zu erzielen, hatte man bewusst verzichtet. Selbst die Möglichkeit, Würfel mit zwei Sechsen und fehlender Eins auszustatten, wurde verworfen. Obwohl der Wirt erst anderer Meinung war, da man ja nie die beide gegenüberliegenden Seiten zugleich sehen konnte und dieser Betrug leicht unentdeckt bleiben würde. Doch Gottfried war das immer noch ein zu großes Risiko. Bei dem hier verwendeten speziellen Würfel hätte man selbst beim Zerschlagen mit einem Hammer in den Bruchstücken unterschiedliche Mineralien nur sehr schwer erkennen können. Der Vorwurf der mutwilligen Verwendung eines gezinkten Würfels wäre kaum nachzuweisen gewesen. Schließlich wollte keiner der beiden seine Hand durch den Henker wegen Falschspielerei verlieren. Der Wirt ging an den Tisch zurück und legte fünf Würfel vor den Beamten hin. „Ich hoffe, Ihr wisst mein Herr, dass es in meinem Gasthaus eine wichtige Regel beim Würfelspiel gibt.“ „Ja, ja, wir sind nicht zum ersten Mal hier. Ein Prozent des Gewinns gehören Euch.“ „Nun ja, mein Herr, das ist in diesem Fall nur die halbe Wahrheit! Hört genau zu! Es sind zwei Prozent, wenn Ihr die steinernen Würfel des Gasthauses nutzt.“ Der Beamte zog die Augenbrauen hoch, schaute auf seinen Kumpanen und fragte dann: „Und was ist, wenn wir die beinernen, ich meine, die aus Knochen nehmen würden?“ „Dann wären es drei Prozent! Es ist also Euer Glückstag heute, mein Herr“, brummte der Wirt gleichmütig. Ein Hauch von einem leichten Schmunzeln machte sich für einen Moment um seinen Mund breit. Dann drehte er sich um und postierte sich wieder hinter sein Schankbrett.
Der Wirt kannte fast alle hier, die Salzwirker, die Beamten und die Huren. Er sah sie alle jeden Tag, jede Woche und jeden Festtag. Er war sich sicher, eine Wirtschaft zu führen war eine Kunst. Er beherrschte sie. Hier herrschte sein Gesetz. Dies hier war seine Burg. Wer ohne zu murren zahlte, war gern gesehen. Wer regelmäßig kam, war geadelt. Anschreiben gab es hier nicht. Das war für Otto Graufell das erste Gesetz. Das zweite Gesetz hieß: Wer sich prügelt, hatte für ein Jahr Hausverbot. Seine Kunden fürchteten dieses Gesetz. Er war ein gottesfürchtiger Mann. Er hielt sich an die Schrift. Alle Psalmen und Sprüche kannte er in Latein und in Deutsch. Er war sich sicher, dass Grobheiten und Händel nur aus der Missgunst, der Unehrlichkeit und der Eifersucht entstanden. Alle diese Sünden waren ein direkter Verstoß gegen die Gebote des Moses. Während er den Ledereimer mit frischem Brunnenwasser in das gemauerte Becken kippte, ärgerte er sich zum wiederholten Male über die letzte Sonntagspredigt in der Marktkirche. Dieser Prediger vom Dom, wie hieß er doch gleich, ach ja, Conrad, Conrad von Wiesenfeld oder so ähnlich, dachte Otto erbost. Jedenfalls schüttete dieser Prediger wieder und wieder Salz in die offene Wunde. Immer und immer wieder wurde das Würfelspiel gegeißelt. Er sah dann die alten Jungfern aus seiner Gasse tuscheln. Hinter seinem Rücken zeigten sie mit ihren gichtigen Finger auf Otto. Manche konnten sich selbst nach der Predigt kaum beruhigen. Wenn dies so weiter geht, dachte Otto, werde ich mir wohl eine andere Kirche suchen müssen. In diesem Moment nahm er eine Bewegung war. Durch die am Ausschank nun schon fast zweireihig stehenden Männer, schnellte eine Hand hervor und legte blitzschnell ein winziges Goldstück auf das Ausschankbrett. Sofort wurde es völlig still am Ausschank. Otto kannte seine Schwäche für Gold. In der gleichen Sekunde wusste Otto: Das konnte nichts Gutes bedeuten! Niemand hatte hier seit Jahren mit Gold bezahlt! Nun suchte er das Gesicht zu der Hand. Sein Blick blieb an einem feisten runden Gesicht mit typischer Tonsur hängen. Was Otto weiter sah, beruhigte ihn überhaupt nicht. Ein Dominikaner! Auch das noch, dachte Otto. Im gleichen Moment siegte Ottos Erfahrenheit im Umgang mit solchen unliebsamen Personen. „Wollt Ihr, Pater, gleich ein ganzes Fass kaufen oder für einen Monat Eure Schlafstatt im Konvent mit der in einer Wirtschaft tauschen?“ Die Antwort ging im schallenden Gelächter der Umstehenden unter. Die kleinen Augen des Mönches blitzten wieselhaft auf. Gequält das Gesicht verziehend, winkte der Mönch mit seinem Zeigefinger Otto vertraulich zu sich. Otto ging deshalb näher an das Ende des Ausschankbrettes, neben einem Stützbalken der Decke. Der Dominikaner verstand und war blitzschnell an der Seite von Otto. Otto ertappte sich dabei, dass er sich innerlich schüttelte. Irgendetwas Boshaftes ging von diesem kleinen feisten Mann aus. Dieser klebte nun förmlich an Ottos Ohr, der sich zu ihm herunter beugte. Mit einer, so schien es Otto, schmerzhaft hohen Fistelstimme, schnappte der Mönch die Worte: „Man sagte uns, Ihr seid ein gottesfürchtiger Mensch. Beweist es und gebt mir Auskunft. Wer sind die Beiden dort am hinteren Tisch gleich neben dem Fenster? Schaut nicht hin! Wie lange bleiben Sie? Wollten Sie ein Zimmer? In welchem Zimmer werden sie nächtigen?“
Otto nahm sich ein Glas und begann, es mit einem Zipfel seiner Schürze zu putzen. Dabei antwortete er betont langsam, ohne dem Mönch in die Augen zu schauen:
„Nichts dergleichen. Allerlei Gesindel kehrt hier ein. Wir nehmen die Bestellung auf, wenn man uns bedeutet, dass man zahlen kann. So ist es auch bei diesen. Steckt Euer Geld ein und gebt es den Bedürftigen.“ Ein Zischen war die Antwort. Als Otto das Glas weggestellt hatte und er zum Mönch schauen wollte, war dieser schon nach hinten in den vollen Schankraum geschlüpft. Otto sah noch kurz, dass sich die Eingangstür öffnete und dann wieder schloss. Otto hatte verstanden. Ich werde Gottfried schnell warnen müssen, dachte er, bevor er nach hinten in die Küche ging. Hier arbeitete Maria, die Küchenmagd. Sie hatte ihren Rock wegen der Hitze weit über die Knie nach oben gezogen. Mit einem Strick hatte sie den Stoff unter der Brust befestigt, was sicher ungehörig war. Otto übersah es beflissen und bat Gott in Gedanken um Abbitte für dieses ansehnliche Weib. Hochgerötet und schwitzend vor Eile schüttete Maria gerade etwas Brühe zur Hirse. Ihre beiden kleinen Kinder lagen fest geschnürt am Rücken der Mutter. Beide schienen winzig auf diesem breiten Rücken. Otto sah liebevoll, wie ein Vater, auf die Kinder. Sie nuckelten beide mit geschlossenen Augen an ihrem Daumen. Er rief nun halblaut mit belegter Stimme: „Maria!“ Sie war so in die Arbeit versunken, dass sie nicht gleich reagierte. Nun lauter: „Maria, Ihr habt jetzt frei!“ Und um vieles leiser, nachdem sie sich erschrocken umgedreht hatte: „Verlasst schnell das Haus. Es droht Gefahr! Vertraut mir. Hier habt Ihr Euren Lohn.“ Mit dem Hemdsärmel wischte er sich über die Augen. Das leichte Erschrecken Marias war schnell einem aufmerksamen Gesichtsausdruck gewichen. Maria schaute Otto liebevoll an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie nickte langsam. „Habt Dank, Otto Graufell“, sagte sie. Dann griff sie sich den gepackten Tragesack und verschwand, wie vor langer Zeit besprochen, durch die Hintertür. Draußen öffnete sie kurz ihre Faust. Auf ihrer Hand lag ein kleines Goldstück.
Noch bevor der Hahn schrie, brannte das Gasthaus lichterloh. Gespenstisch schlugen die Flammen meterhoch. Hinter einem umgestoßenen Gläserschrank lag Otto auf dem Rücken. In seinem aufgerissenen Mund steckte seine ihm vorher abgetrennte Hand. Die ehemals leuchtenden Augen schauten in die Weite des Alls, als das Dach berstend über ihm aufriss. Auch jetzt noch schien das Gesicht wissend zu lächeln. Der Türmer stürmte beim ersten hellen Lichtschein aus der Hausmannsstube. Von der Brücke, die die beiden Hausmannstürme der Marktkirche verband, schaute er entsetzt hinunter auf das Inferno. Dann hing er sich mit ganzer Kraft in das Seil der Großen Glocke „Zur Rettung des Seelenheils“. Zwischen den gewaltigen Schlägen der Glocke hörte der Türmer nur das Knarren des dicken Hanfseiles, wenn es nach dem Ziehen aus der Höhe zurück kam. Mit einem Mal waren die Bürger der Stadt wach. Nach wenigen Augenblicken des Entsetzens begannen sie, aufgeschreckt von allen Seiten kommend, Ledereimer und Holzzuber mit Wasser zu füllen. Ein Gedanke beherrschte nun jede Seele. Wenn man das Feuer nicht eindämmen konnte, würde bald die ganze Stadt brennen. Diese Angst und bei vielen auch Mitleid mit dem Unglück der Bewohner der Gastwirtschaft, stand in den Gesichtern der Helfer. Der Türmer brach erschöpft zusammen.
Die Funken stoben aus dem offenen Dach, weit hinauf in die Nacht. Sie aber schwebte langsam nieder. Für einen winzigen Moment blieb die kleine Daunenfeder einer Taube auf Ottos Stirn liegen. Dann verglühte sie in der Hitze, wie eine flüchtige Sternschnuppe, als ein letztes Streicheln der Unendlichkeit.
Als Heinrich wach wurde, hörte er merkwürdige Geräusche. Sein Kopf stieß an Holz. Er lag in etwas Schaukelndem. Seine Schulter und sein Kopf schmerzten. Wo war er hier nur? Wo war Gottfried? Es roch verbrannt, nein sein Umhang, Hemd, selbst die Beinkleider rochen intensiv nach verbranntem Holz und heißer Asche. Er tastete neben sich und fand den Beutel. Er hatte ihn immer noch bei sich. Conrad, der Oberprediger, hatte diesen ihm als einzigen Dank fast vor die Füße geworfen. Nun merkte er, wo er war. Er war auf einem Schiff! Er lag kurz unter einer niedrigen Decke in einer Hängematte! Doch wie kam er hierher? Sie waren doch beide im Gasthaus. Beschämt erinnerte er sich nun daran, dass er am Tisch irgendwann eingeschlafen sein musste. Er war gewürztes Bier nicht gewohnt. Aber so fest zu schlafen und nichts zu hören? Dann polterte auch schon etwas auf einer Treppe. Vor Heinrich auf Gesichtshöhe stand plötzlich ein Schiffer. „Nun junger Herr, wir haben schon vor Stunden abgelegt, es wird Zeit fürs Mittagsgebet. Euer reicher Begleiter hat zwar Eure Tour bezahlt, aber fürs Essen müsst ihr selbst aufkommen. Heißer Tee ist fertig! Der Eimer für Eure Notdurft steht dort in der Ecke. Bringt ihn dann herauf und kippt ihn selbst aus. Waschen könnt Ihr Euch oben. Wir haben viel Wasser um uns!“ Dann lachte er schallend und polterte die Treppe hinauf aufs Deck. Nun setzte sich Heinrich auf und musterte erst einmal seine Umgebung. Die Kajüte war winzig. Gleichzeitig wurde Heinrich bewusst, dass er hier ein großes Privileg nutzte. Auf solchen Flussschiffen gab es höchstens eine einzige Kajüte. Dieser Gottfried musste wohl etwas mehr Geld beim Würfeln gewonnen haben. Sollte er wirklich so viel Glück haben, jetzt schon auf dem Weg nach Magdeburg zu sein? Merkwürdig! Seine Schulter schmerzte nun richtig. Er versuchte, genauer hinzuschauen und spürte, dass sie mit einem kreuzartigen Verband fest verbunden war. Vorsichtig stieg er aus der ungewohnten Hängematte. Heinrich kletterte die schmale Leiter, denn eine Treppe war es wirklich nicht, mit dem stinkenden Eimer nach oben. Nun erst merkte er, wie sich seine Augen an das Halbdunkel der Kajüte gewöhnt hatten. Die Sonne blendete Heinrich und er hatte Mühe, seinen Eimer über die Bordwand zu bringen. Da rief auch schon der Schiffer: „Aber Ausspülen, junger Mann! Nehmt das Seil! Ich will meinen Eimer nicht verlieren!“ Heinrich kam sich an zu Hause erinnert vor. Als alles erledigt war, setzte er sich hinter den Schiffer, der stand und konzentriert mit einer Stange manövrierte. „Ich kann Euch leider den Tee nicht einschenken, hier gibt’s verdammte Sandbänke!“, lachte der Schiffer. „Herr, seid Ihr mit Eurer Arbeit hier allein auf dem Schiff?“, fragte Heinrich. „Nein, junger Herr. Mein Sohn hilft mir. Er liegt weiter vorne hinter einem Scheiben. Er hatte die ganze Nacht Wache gehalten.“ „Und was nun wieder ist ein Scheiben?“, fragte Heinrich. Der Schiffer brummte, ohne sich umzusehen: „Ihr Landratten würdet dazu Fass sagen.“ Heinrich merkte, dass er nun nicht noch mehr Fragen stellen sollte. Also begann er, den kleinen Beutel aufzuwickeln. Etwas Brot und Speck aus der Schlossküche sollten schon darin sein, dachte Heinrich. Im Beutel befanden sich zwei umwickelte Gegenstände. Ein Päckchen war kleiner und etwas schwerer als das größere. Dann zog er noch ein Tuch heraus. Was sollte das denn? Es war ein Schweißtuch. Solch ein Tuch trugen Bäcker oder einfache Mühlenarbeiter als Halstuch bei Kälte oder zum Schutz vor dem Mehlstaub, dachte Heinrich verwundert. Neugierig wickelte er den schwereren Gegenstand aus. Speckschwarte konnte eigentlich nicht so schwer sein, vielleicht harter Käse? Plötzlich hatte er eine seiner silbernen Medaillen in der Hand liegen. Er spürte es augenblicklich. Es war wie ein kleiner Stromschlag. Seine Handfläche wurde warm. Conrad von Wiese hatte ihm eine der Medaillen mit in den Beutel gelegt. Wieso hatte er das getan? Heinrich schaute sich die runde silbern glänzende Scheibe genauer an. Jetzt bemerkte er, dass es sein erstes Stück war, welches er noch mit dem alten Oberstempel geschlagen hatte. Das Relief war nach Heinrichs Meinung noch nicht so überzeugend gewesen. Deshalb hatte er Conrad gebeten, einen neuen Oberstempel herstellen zu dürfen. Aber wieso hatte Conrad das getan? Sollte dies doch der Lohn sein, für das Schlagen von über tausend Silberstücken? Heinrich hätte sich nie getraut zu fragen, ob er ein solches Gesellenstück mitnehmen hätte dürfen. Dazu waren diese Stücke viel zu wertvoll und Eigentum des Erzbischofs. Es war tatsächlich ein kleiner Schatz. Das Material war von außergewöhnlicher Qualität. Das Gewicht enorm. Er konnte bei jedem Kaufmann bestimmt mehrere Gulden dafür eintauschen. Schnell schlug er den Stoff wieder um das Silberstück. In dem anderen Päckchen befanden sich nun tatsächlich etwas Käse und Brot. Er nahm sein Messer, schnitt sich ein Stück Käse ab. Dann überlegte er kurz und rief zum Schiffer: „Wollt Ihr auch ein wenig Käse?“ Der Schiffer schaute kurz über seine Schulter und brummte: „Ja, wenn Ihr ihn entbehren könnt. Es wär mal eine Abwechslung.“ Heinrich schnitt ein größeres Stück ab. Unschlüssig, wo er damit hinsollte, fiel sein Blick auf das Schweißtuch. Er legte das Stück Käse auf das Tuch und schob beides in Reichweite des Schiffers. Wegen des Niedrigwassers kamen sie nur langsam voran. Heinrich wurde es auf dem Schiff nicht langweilig.
Die Landschaft glitt sanft dahin. Er hatte nun endlich Zeit, über das Erlebte nachzudenken. Schwarzerlen glitten am Ufer lautlos vorbei. Nur selten streiften deren tiefhängende Äste noch vereinzelte Eisschollen. Vorbei zogen fast schneeweiße Uferbänke mit feinem Flusssand, auf denen schwarze alte Holzstücke lagen. Der Frost hatte sich schon vor Tagen zurückgezogen. Nasser, schwerer Schnee lag hier und da noch an sonnenabgewandten Seiten des Flussufers. Plötzlich ging es dem Schiffer schlecht. Es geschah beim Wortwechsel mit seinem Sohn über den günstigsten Winkel, um das Schiff an einer Sandbank vorbei zu manövrieren. Zuerst griff er sich mit beiden Händen an den Kopf. Die Manövrierstange rutschte über das Deck. Sein Sohn, ein kräftiger etwa 16 Jahre junger Bursche, sprang vor Schreck auf und rannte zu seinem Vater. Dieser sackte in einer Art Krampf auf die Knie und kippte dann langsam nach vorn. Fast gleichzeitig bewegte sich das Schiff gefährlich nach steuerbord in Richtung Ufer. Nun blieb der Bursche unschlüssig stehen, große Tränen standen ihm in den Augen. Er war völlig überfordert und wusste nicht was er tun sollte. Entweder, er half seinem Vater oder er nahm die Manövrierstange. Heinrich lief, so schnell es auf dem glatten Deck eben ging, zum Schiffer. Er nahm ihn in die Arme und legte dessen Kopf dabei auf sein Knie. Dann öffnete er dessen Hemd, um den Hals frei zu machen. Der Schiffer atmete stoßweise und Heinrich spürte das Fieber auf seinem Knie. Als der Bursche sah, dass Heinrich sich um seinen Vater kümmerte, reagierte er dann doch ziemlich vernünftig. Er nahm schnell die Manövrierstange und mit wenigen ruhigen Bewegungen brachte er das Schiff wieder auf Kurs. Heinrich sprach beruhigend auf den Schweratmenden ein. Der neigte den Kopf leicht zur Seite, was ihm offensichtlich schwer fiel. Er fieberte stark und flüsterte die Worte: „Mein geliebter Fluss komm, komm, kühle mich.“ Dann, plötzlich, wurde Heinrich etwas bewusst. Er hatte sie bisher nicht bemerkt, weil er so etwas noch nie gesehen hatte. Aber nun sah er sie deutlich, diese Flecken. Da waren sie, blauschwarze Flecken in der Halsbeuge. Oh mein Gott, dachte Heinrich, das durfte einfach nicht sein, die Pest! Im selben Moment fing er an zu zittern, er fror, seine Zähne klapperten aufeinander. Es war die Pest, es war die Angst. Mit nasskalter klebriger Zunge leckte sie auf seiner Stirn, dann unter den Achseln. Sein Hemd klebte an der Brust. Heinrich versuchte, sich zu konzentrieren, es klappte nicht, die Angst wurde größer. Seine Beine fingen an zu schütteln. Der Kopf des Schiffers schlug dadurch hin und her. Heinrich hielt den Kopf fester. Vielmehr hielt er sich an dem Kopf des Schiffers fest. Er versuchte zu beten, doch nichts fiel ihm ein. War der Teufel hier? Dann legten sich kalte nasse Hände langsam um seinen Hals. Schlagartig versteifte sich sein Körper. Er war wie gelähmt. Er versuchte zu schlucken, bis es im Hals schmerzte. Dann schmeckte er bitteren Speichel, er schluckte und schluckte und spürte seine Zunge, die sich wie ein Fremdkörper in seinem Mund bewegte. Heinrich glaubte zu spüren, wie sich die Fingerknochen der fremden Hand fast elegant leicht anspannten. Heinrich würgte sofort. Sein Puls raste und übergangslos spürte er ein hartes Klopfen im Kopf. Jedem Schlag folgte ein stechender Schmerz im Hinterkopf. Immer noch hielt er mit seiner linken Hand den Kopf des Schiffers, mit der rechten tastete er jetzt unbewusst nach seinen Sachen. Vielleicht suchte er Halt nach etwas ganz Persönlichem, wie ein Kind, dass nach seiner Strohpuppe sucht, um bei ihr Trost zu finden. Er fand das kleine Bündel. Schwer glitt das Metallstück aus den Lappen. Er drückte es instinktiv an seine heiße Stirn und schloss dabei stöhnend die Augen. Schlagartig hörten das Klopfen und die Schmerzen auf. Erleichtert öffnete er die Augen. Was er noch flüchtig sah, bevor es sich farblos werdend auflöste, würde er sein Leben lang nicht vergessen. Hunderte Rattenaugen schauten ihn an. Er war sich sicher, er hatte auch ein Bedauern in diesen Augen gesehen. Dieses Bild brannte sich in Heinrichs Gehirn ein. Die Zunge hatte also ein Gesicht. Aber es ging ihm sofort besser, der Albtraum schien vorüber. Heinrich schaute nach vorn. Der Sohn des Schiffers saß leicht zusammen gekrümmt an einem Salzfass. Er war wohl völlig erschöpft von der ungewohnten Arbeit und Verantwortung für das Salzschiff. Dann sah Heinrich, wie der Junge versuchte, aufzustehen. Er schwankte dabei stark. Die Bordwand kam gefährlich näher. Der Junge schlug hart mit dem Kopf an ein massives Holzteil der Ankerwinde. Heinrich blickte völlig gebannt. Das alles dauerte keine drei Sekunden. Durch den harten Schlag wieder bei Sinnen, rappelte sich der Junge vor Schmerz stöhnend hoch. Doch als er endlich wieder stand, verlor er das Gleichgewicht und kippte einfach über Bord. Heinrich schrie vor Angst: „Nein!“ Dann sah er den Lockenkopf auftauchen. Er war schon meterweit von der Bordwand entfernt. Heinrich legte den Kopf des Schiffers schnell aber vorsichtig auf den beplankten Boden. Dann rannte er auf das hintere Deck, wo Tauwerk und Stangen lagen. Die Taue waren lang und schwer. Ohne zu Zögern, legte sich Heinrich eines der fast Kinderarm dicken Enden über die Schulter und wollte sofort damit loslaufen. Er strauchelte, rutschte dann auf ein Knie und zog mit aller Kraft am Tau. Er stemmte sich dabei mit den Füßen gegen die rutschigen Planken. Aber er schaffte es nicht einmal, ein paar Meter mit dem Tau über das Deck zu gehen. Verzweifelt schaute er in die Richtung, wo er den Jungen im Wasser vermutete. Seine Augen füllten sich vor Verzweiflung mit Tränen. In diesem trüben Schleier sah er, wie der Lockenkopf kurz auftauchte und dann schon weit entfernt vom Schiff im Wasser unterging. Heinrich sollte keine Zeit bleiben zur Trauer. Das Schiff ruckte kurz, dann krachte es ohrenbetäubend. Heinrich wurde nach vorn geworfen, hart schlug er auf das Deck. Das Schiff war auf Grund gelaufen. Kaum stand Heinrich wieder auf den Beinen, knirschte und ächzte das Schiff und begann sich zu drehen. Augenblicklich lag es quer zum Fluss und die Strömung brauste gegen die Bordwand. Das Schiff ging sofort in eine gefährliche Schräglage. Verzweifelt versuchte Heinrich, sich irgendwo festzuhalten. Es polterte und krachte beim Verrutschen der Salzfässer. Heinrich klammerte sich an eine Seilöse an der Bordwand, die durch die zunehmende Schräglage des Schiffes schon fast mannshoch über dem Fluss stand. Hastig schaute er über das Deck nach dem Schiffer, doch da war niemand mehr. Taue, Fässer, Besen und Schaufeln rutschten von Deck in das schäumende Wasser. Mit kreischendem Geklirr löste sich die Ankerkette, etwas hatte sich in dem Mechanismus der Winde verklemmt. Nun veränderte sich das Geräusch des Flusses merklich. Für Heinrich klang es so ähnlich, als ob Gertrude die Magd den Badezuber mit Wasser füllen würde. Nur viel, viel gewaltiger. Das Schiff nahm Wasser auf. Dort wo Heinrich noch vor wenigen Stunden im unteren Lagerdeck geschlafen hatte, musste das Wasser schon brusthoch stehen. Ich werde hier ertrinken, wenn ich hier oben bleibe, dachte Heinrich. Er wunderte sich dabei selbst über seine scheinbare Ruhe. Vielleicht lag es an den Erlebnissen? Er hatte in das Gesicht der Angst gesehen und wie durch ein Wunder überlebt. Er gab sich einen Ruck, doch seine Hände wollten sich nicht lösen von der Bordwand. Mit aller Macht drängte es seinen Körper nur noch fester gegen das Holz. Ich gehe hier nicht weg! Doch du musst, du willst doch nach Hause, flüsterte sein zweites Ich. Er zwang sich ruhig zu atmen. Ich zähle jetzt bis drei, dann klettere ich auf dem Rand der Bordwand auf allen Vieren an die Bugspitze und versuche, ein paar Äste am Ufer zu ergreifen. Dort vorn hängen doch so große Äste einer Erle fast bis aufs Deck, überlegte Heinrich und schaute voller Zweifel zu den weit entfernten Ästen. Er begann zu zählen: „Eins, zwei, drei, vier…“ Tränen kullerten an seinen Wangen herunter. Das Schiff ging immer mehr in Schräglage und drohte, in wenigen Augenblicken zu kentern. Die Angst hatte nun Heinrich voll im Griff, er zitterte und verkrampfte immer mehr. Seine Hände waren schneeweiß vom Festhalten und er begann zu frieren. Dann bemerkte er eine Bewegung unter sich. Es flogen kleine Späne aus einem Spalt der schon schräg stehenden Decksplanken. Nach kurzer Zeit sah Heinrich eine Schnauze mit fingerlangen Haaren, lange blutverschmierte Zähne zeigten sich. Es war eine Ratte, die um ihr Leben kämpfte und sich verbissen durch den Plankenboden nagte. Trotz des rauschenden Getöses um sich, meinte Heinrich, deutlich ein schlurfendes Geräusch zu hören, als sie es schaffte, sich durch das entstandene Loch zu zwängen. Sie blieb neben dem Loch sitzen. Unmittelbar nach ihr folgte eine weitere Schnauze und ein viel größerer Körper zwängte sich durch das Loch. Deren vier Füße suchten nun den direkten Weg nach oben in Richtung Heinrich und rutschten zwei, dreimal ab. Das rotbraune Fell glänzte matt mit stumpfen grauen Flecken. Es war das Leittier. Alte, kluge Augen schauten Heinrich aus weniger als fünf Schritten Entfernung an. Die Ratte gab einen hohen Pfeifton von sich, schwenkte ihren fast körperlangen Schwanz wie ein Fähnrich seine Fahne auf die andere Seite. Dann begann sie sofort schräg, aber mit absehbarem Zick-Zack-Kurs, die Wand zu erklimmen. Über sechzig Füße folgten als rotbraune Schlange ihr nach. Ganz unten kam Panik auf. Zwei Kontrahenten, mit schon nassem Fell, bissen sich im Überlebenskampf. Die Wächterratte, die bis dahin neben dem Loch die ganze Zeit ausgeharrt hatte, schnappte nach den Schnauzen. Sofort trat Ruhe ein. Heinrich beobachtete alles fasziniert und hätte dadurch fast den Grund seiner eigentlichen Angst, nämlich hier jämmerlich zu ertrinken, vergessen. Der letzte Blick in die Augen des graubraunen Leittieres lehrte ihn jedoch eines Besseren. Nun zögerte er keine Sekunde mehr und schwang sich, ohne weiter zu überlegen vollends auf den Rand der Bordwand. Er kletterte, nein kroch, auf allen Vieren in Richtung Bugspitze zum Flussufer. Während er kroch, meinte er, im Rücken den Blick der Ratte zu spüren. Er kannte diesen Blick. Als er die ersten Äste einer Schwarzerle erreicht hatte, stellte er sich auf und bilanzierte die letzten Schritte auf dem Rand des Schiffes. Von oben sah er jetzt, wie weit sich der Rumpf in den Uferschlick gegraben hatte. Er kletterte herunter und sprang den letzten Meter, um trocken ans Ufer zu kommen. Überall lag noch Schnee. Ohne sich weiter umzudrehen, lief er eine kleine Böschung hoch. Oben angekommen, schaute er sich dann doch noch einmal zum Schiff um. Das lag wie ein künstliches Wehr vor dem Fluss. Die Strömung drückte und presste große Wassermassen an das Schiff, dessen Bordwand zunehmend mit angespülten Baumstämmen und Eisschollen zu kämpfen hatte. Irgendwann kippt das Schiff oder es bricht entzwei, dachte Heinrich und schüttelte sich innerlich, ob der überstandenen Gefahr. Er musste sich kurz sammeln. Wo war er hier eigentlich? Plötzlich spürte er die Erschöpfung und die Schmerzen in den Muskeln, die nach dem langen Festhalten an der Bordwand verspannt waren. Wenn ich hier bleibe und mich hinlege, erfriere und verhungere ich, dachte Heinrich. Nach kurzer Zeit stand sein Entschluss fest. Er würde so lange am Fluss entlang laufen, wie es hell war, um vielleicht auf ein Dorf zu stoßen, wo er über Nacht bleiben konnte. Er lief los und merkte sehr bald, dass es sehr schwierig war, einfach am Flussufer entlang zulaufen. Heinrich durchquerte sumpfige, nur teilweise gefrorene Wiesenabschnitte, undurchdringliches Ufergehölz und kniehoch verschneite Bachläufe. Manchmal musste er wieder zurück und ganze Abschnitte am Flussufer umgehen. So werde ich nicht weit kommen, dachte Heinrich. Nun setzte er sich doch auf einen Baumstamm, hielt kurz inne und überlegte, wie er es anstellen könnte, den Fluss nicht aus den Augen zu verlieren und trotzdem gut voran zukommen. Es war hier völlig windstill und für Ende Februar in der Sonne schon merklich warm. Hier bleibe ich jetzt einige Augenblicke, dachte Heinrich und streckte seine Beine aus. Er durfte sich hier nur nicht verirren, dachte er als er sich im Sitzen nach allen Seiten umdrehte. Unbewusst tastete er an die Brusttasche seines dicken Leinenhemdes, das er unter einem dünnen Umhang trug. Hier lag immer noch schwer und fast körperwarm sein Gesellenstück. Er hatte es nach seinem Fieber hier verborgen. Während er gedankenverloren das Metallstück mit der ganzen Hand umschloss, kreisten seine Gedanken um die nächsten Stunden. Gottfried, sein Bekannter oder besser gesagt der große Unbekannte, hatte Wort gehalten. Er hatte dafür gesorgt, dass Heinrich auf das Salzschiff kam. Nun musste Heinrich auch sein Wort halten. Egal, welche Schwierigkeiten sich noch auftaten, er hatte einen Auftrag. Er musste nach Magdeburg und sich um Gottfrieds Pferd kümmern. Von dort würde er zum Wolfenbütteler Schloss reiten und das Pferd dem herzoglichen Stallmeister übergeben. Dann konnte es nicht mehr weit bis Goslar sein. Vor seinen Augen sah er schon seinen Vater, wie der dann ungläubig auf das Gesellenstück schauen würde. Also gab er sich einen Ruck, stand auf und lief in gerader Linie mit einem fast Neunzig-Grad-Winkel vom Fluss weg. Dabei war er aber sorgsam darauf bedacht, sich einige Merkmale der Landschaft einzuprägen, hier ein größerer Baum, dort eine alte Biberburg. Sehr schnell änderte sich die Landschaft um ihn herum. Alles wurde lichter und überschaubarer. Als er die letzten Weißdorn- und Schlehenhecken hinter sich gelassen hatte, öffnete sich die Landschaft vor ihm völlig und er sah nichts als Felder und Wiesen. Ganz am Horizont entdeckte er Reihen von schlanken Bäumen, wahrscheinlich Pappeln. Er lief weiter und wäre im selben Moment fast eine Böschung hinab gestolpert. Vorsichtig kletterte er hinunter und fand eine einer Art Hohlweg. Tiefe Wagenspuren, die allerdings noch hart gefroren waren, wiesen diesen Weg als kleine Straße aus. Erst jetzt realisierte er auch die Kopfweiden, die den Weg säumten und irgendwann einmal geschnitten worden waren. Also sollten eigentlich menschliche Behausungen, wie Hufehöfe oder sogar ein Dorf nicht weit sein, überlegte Heinrich. Und weil dieser Weg ziemlich nah am Fluss verlief, konnte es sich auch um eine Handelsstraße handeln. Mit einem Mal waren seine Lebensgeister zurückgekehrt. Die Richtung der Flussströmung hatte er sich gemerkt, also lief er in diese Richtung. Denn er sagte sich, irgendwo da vorn musste Magdeburg sein. Er war nur kurze Zeit unterwegs, da durchbrach lautes Grollen und kurz darauf unheimlicher Donner die Stille. Heinrich duckte sich vor Schreck. Ganze Schwärme von Saatkrähen waren plötzlich in der Luft. Zwei, drei verängstigte Wildentenpaare flogen ziemlich tief über Heinrich hinweg. Das ist kein Gewitter, das ist das Schiff! Jetzt zerbricht es, dachte Heinrich sofort. Er meinte, fast einen Luftzug wahrnehmen zu können, der auf seine Brust traf, als ein noch gewaltigerer Donner mit einem langen metallischen Kreischen nach und nach verebbte. Nur weiter, nur weiter jetzt! Was sind nur für Teufel hinter mir her, waren seine Gedanken. Er atmete kräftig durch und beschleunigte seinen Schritt, den Blick nach vorn gerichtet. Weit voraus nahm er dann eine Bewegung wahr. Im ersten Moment dachte Heinrich an ein Tier oder auch Bäume und Sträucher, die sich stärker bewegten. Dann merkte er, dass das keine Bäume oder Sträucher sein konnten. Dazu war es hier viel zu windstill. Da lief jemand mit weit ausholenden Schritten. Heinrich beschleunigte sofort seinen Schritt und fing fast an zu laufen. Dann sah er sie besser. Sie war gekleidet wie eine Küchenmagd. Auf ihrem Rücken hatte sie sich ihre zwei kleinen Kinder, die sich schlafend an das geblümte Kleid schmiegten, mit einem derben Tuch festgebunden. Natürlich hatte sie ihn schon bemerkt, trotzdem ging sie kein wenig langsamer. Mit weit ausholenden Schritten, den Blick nach vorn gerichtet schien sie eine Frau zu sein, die wusste was und wohin sie wollte. Heinrich näherte sich auf nicht mehr als zwanzig Schritte und hielt nun den Abstand etwas unschlüssig. Was ihn zögern ließ, war ein Gefühl. Er spürte etwas schon lange Vermisstes, ein Gefühl von Wärme, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Seine Unerfahrenheit und damit verbundene Angst, von der Frau abgewiesen zu werden, kämpften mit seiner Neugierde und dem Drang endlich nicht mehr allein unterwegs zu sein. Sein Blick fiel auf die kräftigen Waden, sofort spürte er die Wärme, die ihm ins Gesicht schoss. Unsicher blickte er sich um, wohl wissend, dass hier niemand ihn sehen konnte. Er schämte sich einfach für seinen unzüchtigen Blick auf diese kräftigen Frauenwaden. „Hallo Jungfer, guten Tag“, rief er plötzlich ohne richtig nachgedacht zu haben. Die Antwort kam prompt, dabei drehte sich die Angesprochene aber nicht um: „Macht Euch nicht lustig über mich. Könnt Ihr nicht richtig sehen? Ich habe zwei Kinder, wie sollte ich da noch Jungfrau sein? Schaut nicht so, sondern schließt auf und begleitet mich, wenn Ihr nicht gerade ein Räuber seid.“ „Nein, …nein, bin ich nicht!“, stammelte Heinrich laut, während er fast zu ihr rannte. Als er sie erreichte, schaute sie kurz zur Seite und es entfuhr ihr ein: „Oh,… wie jung Ihr seid!“ Kurz darauf, aber mit dem Blick wieder nach vorn gerichtet: „Nein, Ihr könnt kein Räuber sein, mit solchen Augen…“ Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander. „Verzeiht, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Heinrich und ich bin auf den Weg nach Braunschweig.“ „Ich bin Maria“, und mit einer leichten Kopfbewegung nach hinten, „und das sind Anna und Hans.“, antwortete sie schlicht.