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Kontrollpunkt
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Ich traf Peter Ch. Anfang Oktober an der Theke einer großen alten Bar in einem großen alten Hotel, das in einer Seitenstraße des Kuhdamms lag. Er war dürr und leptosom, ein schlankwüchsiger, grauhaariger Amerikaner, den man sich eher in mahagonigetäfelten britischen Bibliotheken als in Langley, Virginia vorgestellt hätte.
Sein vollständiger Name lautete Peter Cheyney, aber diese Namensgleichheit mit meinem berühmten Kollegen und Schöpfer der Lemmy-Caution-Figur war wirklich rein äußerlich (obwohl ich den Autor zweifellos vorgezogen hätte).
Er bat mich, ihn "Tsche" zu nennen, was eine hübsch perfide Anlehnung an Che Guevara war, wie er später augenzwinkernd bemerkte.
Er sagte: "Sie haben verteufelte Ähnlichkeit mit jemand, den wir gern 'rüberbringen würden, Quand."
Ich nippte an meinem leicht verwässerten Scotch und versuchte mir einen Reim auf seine Bemerkung zu machen. Es war kurz nach Mitternacht und kaum die Zeit für Plaudereien. Ch. wirkte auch nicht so, als lege er es darauf an, seine Beobachtungsgabe unter Beweis zu stellen. Draußen klappte man schon die Bürgersteige hoch, vor dem Café wurden Tische und Stühle gestapelt und mit Ketten verbunden, und ein Wagen des Fuhr- und Reinigungsamts arbeitete sich mit rotierendem Warnlicht durch die Straße.
"Hat Ihnen das Mädchen an der Rezeption meinen Namen verraten? Oder wie komme ich zu der Ehre?"
"Oh, das beschäftigt Sie, Quand?“, fragte er und schnaufte belustigt durch die Nase. "Wir wissen sogar noch mehr. Sie sind Schriftsteller, kein allzu erfolgreicher übrigens. Ihre alte Reiseschreibmaschine klappert sich gerade zu Tode.
Aber Sie können sich keine neue leisten. Und die Hotelrechnung? Na ja – weiß wohl nur der Schutzengel der Hoteliers, ob Sie die jemals begleichen werden."
"Ich warte auf einen Buchvertrag."
"Warten Sie", bestätigte er. "Warten Sie schon lange."
"Außerdem ist mir schleierhaft, was Sie meine privaten Verhältnisse angehen?"
"Bloß keine falschen Empfindlichkeiten, Quand. Wenn Sie jetzt den Durchblick behalten, machen Sie ein beachtliches Geschäft. Sie verdienen soviel Geld, dass Sie sich ganz dem Luxus Ihrer literarischen Ambitionen hingeben können, jedenfalls für einige Zeit." Er lächelte verhalten, hütete sich aber, auch nur den Anschein von Ironie in seinen Stimme zu legen. "Und eine interessante Erfahrung wird's obendrein."
"Hört sich fast so an, als wenn Sie mich mit Ihrer sitzengebliebenen Schwester verkuppeln wollen?"
"Gehen wir doch 'rüber zu den Sesseln", sagte er ohne das geringste Anzeichen von Irritation.
Er zeigte vielsagend in den Durchgang, wo man das Mädchen aus der Rezeption sah; es bediente zugleich an der Bar, und wahrscheinlich konnte es unser Gespräch verstehen, vorausgesetzt, es wollte.
Es war jung und hübsch, mit einem dunklen Kostüm, das in der Schickeria keinen Anlass zu Klagen gegeben hätte, und wenn es von seinen Papieren aufblickte, lächelte es mit soviel erfrischender Natürlichkeit, dass man sich unwillkürlich fragte, ob es jetzt Kurse für nettes Dreinschauen gab. Wir hatten uns beide so an der Bar postiert, dass wir sie im Auge behielten.
"Also, Quand?"
"Ich hab wirklich keine Ahnung, was Sie mir verkaufen wollen", sagte ich lustlos.
"Nicht wir wollen Ihnen was verkaufen. Sie sollen uns Ihr Gesicht verkaufen – für ein paar Stunden." Er stand auf, das Glas in der Hand, und winkte mir von den Sesseln aus zu. "Nun kommen Sie schon, Quand. Was Sie jetzt trinken, geht auf unsere Rechnung."
Anscheinend war er der Meinung, das bisschen eisgekühlte Bewusstseinsveränderung aus dem Glas würde mich wie einen durstigen Straßenköter auf die Beine bringen; aber da überschätzte er den Grad meiner Abhängigkeit.
Ich war nie ein Trinker gewesen und würde auch nie einer sein. Ich hatte andere Pläne, als meinen Verstand in Sprit zu ertränken. Ich wusste, dass ich das Zeug zu einer neuen Art von Literatur hatte. Einer, die sich mit den politischen Verhältnissen auseinandersetzte wie keine andere vor mir.
Aus genau dem Grund hielt ich mich in West-Berlin auf. Ch. hatte ganz recht, wenn er behauptete, mein größtes Problem sei das Geld.
"Sie wollen mein Gesicht? Sind Sie Impresario?"
"Hübscher Vergleich. So könnte man's wohl nennen", meinte er nachdenklich; es war unverkennbar, dass ihn der Ausdruck amüsierte. "Wir vermitteln Künstler, Künstler für die Ost-West-Bühne."
Ich ließ mich in den Sessel sinken.
"Zehntausend, wenn Sie mein Gesicht wollen. Pro Tag, versteht sich."
"Kein Problem", sagte er.
Ich war überrascht, weil ich mein Angebot mehr als Scherz aufgefasst hatte.
"Zehntausend. Sie verdienen sogar daran, falls man Sie drüben festhält. Und zehntausend als Erfolgsprämie nach Ihrer Rückkehr, wenn Sie sich genau an unsere Abmachungen gehalten haben. Alles unversteuert, in bar und ohne Quittung. London ist nicht kleinlich, Quand."
"Was meinen Sie mit festhalten?"
"Betrachten Sie's als Schmerzensgeld. Je mehr Unannehmlichkeiten, desto mehr Geld."
"Nun sollten Sie mir bloß noch sagen, wer so versessen auf den Anblick meiner Visage ist, oder?"
CH. nickte bereitwillig und stand auf. Ich blickte ihm nach, wie er mit staksigen Schritten zur Theke ging, um eine Flasche Scotch und einen Kübel Eis zu ordern. Er hatte was von einem alt gewordenen Fohlen, aus dieser Perspektive. Irgendwie erweckte er mit seinen wackligen Schritten meinen Pflegeinstinkt.
Mag sein, dass man ihn mit Bedacht und Umsicht für seine Aufgabe ausgewählt hatte. Womöglich hätte er mir als Waschmaschinenvertreter auch noch einen Wartungsvertrag angedreht. Und eine Zusatzversicherung gegen Wasserschäden.
"Sehen Sie sich das Foto an", sagte er, als er wieder saß.
Es zeigte mich in hellgrauem Sommeranzug und braungebrannt vor dem Hintergrund einer südlichen Hotelfassade. Bulgarien oder die Krim, nahm ich an. Zwei Palmwedel hingen pittoresk ins Bild, und links war ein mittelgroßer Jachthafen. Ich hatte weder den Hafen noch das Hotel jemals in meinem Leben in natura zu Gesicht bekommen. Geschweige denn den Maßanzug; er war aus bestem englischen Tuch, dem Faltenwurf nach zu urteilen. Für ein derartiges Stück hätte ich wohl erst einen guten Rechtsanwalt engagieren müssen – um den Argwohn meiner Gläubiger zu beschwichtigen.
"Wer ist das?"
"Verblüffende Ähnlichkeit, was?"
"Ich bin etwas irritiert, ehrlich gesagt."
"Er ist drüben – einer unserer Leute", sagte Ch., "und wenn Sie ihm nicht helfen, Quand, hat er keine Chance, das Land zu verlassen. Er sitzt fest. Unsere übliche Ausschleusungsmethode hat versagt. Bis Anfang der Woche hatten wir noch den Tunnel in der Stresemannstraße."
"Sie wollen mich als Fluchthelfer einsetzen?" "Warum sollte er damit Probleme haben, jetzt, wo jeder reisen kann?"
"Alles, was Sie tun müssen, ist zu einem Tagesbesuch nach drüben zu gehen. Sie besichtigen den Alexanderplatz, die Nationalgalerie – oder was Sie wollen –, bringen ihren Zwangsumtausch unters Volk und kehren zum Übergang Heinrich-Heine-Straße zurück."
"Ich bin nicht motorisiert, falls Ihnen das entgangen sein sollte?"
"Den Wagen besorgen wir."
"Und wo liegt der Dreh des Ganzen?"
"Sind Sie nun Autor, Quand, oder ist Ihnen die Phantasie ausgegangen?"
"Ich arbeite auf dem Gebiet der Facts", sagte ich. "Mein neuestes Buch wird sich mit den Machenschaften der CIA beschäftigen, mit realen Machenschaften. Ich warte nur darauf, dass mein Verlag grünes Licht gibt. Für diese Art von Arbeit ist weniger Phantasie als Scharfsinn und Beobachtungsgabe nötig."
"Ihre Art von Enthüllungsjournalismus hat drüben hinter dem großen Teich schon eine Menge Kollegen vergrault, Quand. Wir in London haben unseren Peter Wright und können Ihre Arbeit eher mit Distanz und Amüsiertheit betrachten. Aber wie Sie es immer wieder verstehen, eine Menge Staub aufzuwirbeln, ist schon grandios."
"Warten Sie erst mein nächstes Buch ab. Es befasst sich mit den Verstrickungen der amerikanischen Behörden in die Mittelamerikapolitik. Washington hat versucht, es durch einstweilige Verfügungen zu stoppen – vergeblich. Wenn alles klappt, wird es in drei Sprachen gleichzeitig herauskommen."
"Dann sind Sie ein gemachter Mann, was? Aber momentan sitzen Sie noch auf dem Trockenen – warten auf ein Lebenszeichen Ihres Verlegers, oder?"
"In West-Berlin halte ich mich vor allem wegen eines neuen Buchprojekts über den Ostberliner Staatssicherheitsdienst auf. Und auch da interessieren mich keine erfunden Agentengeschichten, sondern Fakten."
"Machen wir uns doch nichts vor, Quand. Was das Finanzielle anbelangt, müssen Sie momentan nehmen, was Sie kriegen können. Ein bisschen Geld würde Ihnen bei den Verlagsfritzen mehr Ellbogenfreiheit verschaffen."
"Also gut, Sie wollen Ihren Mann an meiner Stelle herüberbringen, stimmt's? Und was wird aus mir?"
Ch. nickte bedächtig. "Nehmen wir mal an, Sie ließen Ihre Jacke mit Pass und eingelegtem Tagesvisum im Café am Stuhl hängen, um sich auf der Toilette frisch zu machen. Das 'Wiener Kaffeehaus' auf der Berliner Allee, oben in Pankow.
Am Ende des Schlauchs gibt's immer freie Tische, da wären Sie ganz unbeobachtet, Quand. In der Zwischenzeit hat sich unser Mann Ihres Passes, der Fahrzeugpapiere und des Wagenschlüssels bemächtigt. Er reist über den Kontrollpunkt Heinrich-Heine-Straße aus.
Wenn Sie die Abfertigungsprozedur kennen, wissen Sie, wie wichtig Ihr Passfoto ist. Die Grenzbeamten sind auf Gesichter geschult. Als Sie draußen sind, entdecken Sie, dass Ihr Wagen gestohlen wurde.
Sie suchen die nächste Polizeidienststelle auf – oder fahren mit der S-Bahn bis Jannowitzbrücke, Nähe Kontrollpunkt Heinrich-Heine-Straße, das bleibt Ihnen überlassen – und melden den Diebstahl. Sie können sich mit Ihrem westdeutschen Personalausweis identifizieren.
In Ihrer Jackentasche finden sich Westberliner Restaurantquittungen vom Vortag. Was sollte man Ihnen also vorwerfen, Quand? Bestohlen worden zu sein, ist kein strafbares Delikt."
"Man wird mich verhören, oder?"
"Sie sind Tourist auf Tagesbesuch in Ost-Berlin. Ihr Pass ist abhanden gekommen. Man wird eine Unterschriftsprobe nehmen und Ihnen ein paar Fragen stellen, unangenehme Fragen, mag sein. Vielleicht wird man sogar versuchen, Sie einzuschüchtern oder zu bluffen. Falls Sie für kurze Zeit in Haft genommen werden – nehmen wir mal den Extremfall an –, bringt Ihnen das, wie gesagt, zehntausend pro Tag."
"Ihr Mann scheint ziemlich wichtig zu sein? Warum kann er nicht ausreisen wie die anderen?"
"Alles, was Sie tun müssen, ist die Nerven zu behalten. Sie sind aufgeregt – hauptsächlich wegen des Wagens. Sie verlangen, mit Westberliner Dienststellen zu telefonieren."
"Und wenn man sich stur stellt? Man schummelt mir eine Umtauschbescheinigung in die Jackentasche und macht mir wegen Devisenvergehens den Prozess."
"Warum sollte man, Quand? Jetzt, wo drüben das Volk regiert?""
"Keine Ahnung. Weil man mir misstraut."
"Es gibt keine Handhabe gegen Sie."
"Wie ich schon sagte: Man könnte eine fingieren."
"Das wäre nur interessant, wenn es konkrete Verdachtsmomente gäbe."
"Bleibt immer noch die Frage, warum ich Ihnen trauen sollte. Sie haben Ihren Mann in West-Berlin... und an wen richte ich meine Ansprüche? Etwa an London? Eine Woche in Ostberliner Gefängnissen, um festzustellen, dass Sie längst über alle Berge sind?"
"Sie bekommen Ihre Anzahlung", sagte er und legte ein in Zeitungspapier eingeschlagenes Paket auf den Tisch. "Die restlichen Sicherheiten – eine geschätzte Maximalsumme – gehen auf ein Konto der Dresdner Bank. Es werden zwei Codeworte vereinbart. Nur wenn beide Codeworte zusammen angeben werden, eines von Ihnen und das andere von uns, kann der Betrag abgehoben werden. Ohne Ihr Codeword wäre das Geld für uns verloren. Warum sollten wir Sie also betrügen wollen, Quand?"
Ich dachte nach. "Sagen Sie mir, wer der Mann ist. Das Unternehmen kostet Sie leicht an die hunderttausend. Anzahlung, Prämie und acht Tage Untersuchungshaft gerechnet. Er muss ziemlich wichtig sein?"
"Einzelheiten würden Sie nur belasten, Quand. Was Sie nicht wissen, kann Ihnen auch niemand beim Verhör entlockten. Aber lassen Sie sich sagen, dass wir noch keinen unserer Agenten wegen ein paar Zehntausender haben verrecken lassen. Was das anbelangt, gibt's für London noch so was wie echte Standesehre. Falls Sie unvorhergesehene Schwierigkeiten bekommen sollten – ich will Ihnen keine Angst machen – werden wir hier in West-Berlin einen kleinen Presserummel veranstalten. Autor Quand in Ost-Berlin verschollen? Enthüllungsjournalist zu unrecht von den Behörden festgehalten? – und so weiter. Klingt doch hübsch sensationsträchtig, oder? Das bringt Ihnen eine Menge Publicity. Diplomatische Kreise werden sich einschalten und Sie loseisen, Quand."
"Ihr Wort in Gottes Ohr."
"Wenn ich Sie wäre, würde ich jetzt das Geld nehmen und mich noch ein wenig aufs Ohr legen. Macht sich immer gut, bei solchen Manövern ausgeschlafen anzutreten. Hier sind die Wagenpapiere – auf Ihren Namen ausgestellt. Der Volvo steht neben dem Hoteleingang. Wir fahren morgen früh gemeinsam zur Bank, um das Geld zu deponieren. Danach bringe ich Sie persönlich zum Übergang Heinrich-Heine-Straße."
"Sie wollen sehen, ob ich wirklich 'rübergehe, was? Könnte schließlich sein, dass mir zehntausend und ein neuer Volvo reichen?"
"Na also, jetzt kommen Ihre Gehirnwindungen ja doch noch in Bewegung, Quand. Dachte schon, Sie hätten Schwierigkeiten, zwei und zwei zusammenzuzählen." Er hob sein Glas. "Und nicht vergessen: Wiener Kaffeehaus an der Berliner Allee. Pass, Wagenpapiere und Schlüssel in der linken Innentasche."
II
Als ich das Kontrollgebäude der Westberliner Polizei passierte, sah ich mich noch einmal nach Ch.s Wagen um, aber er war längst im Kreisverkehr des Moritzplatzes untergetaucht.
Ich fuhr langsam durch die von schrägen Betonabsperrungen gesäumte Kurve und dann in Richtung zum ersten Posten auf ostdeutscher Seite …
Das dunkel getönte Fenster im Kontrollturm war unbesetzt. Dahinter erstreckte sich ein leerer Parkplatz; und auch zwischen den niedrigen Flachdachgebäuden der Abfertigung mit dem Wechselschalter und dem von Gittern eingerahmten Weg für Fußgänger zeigte sich um diese frühe Morgenstunde keine Menschenseele.
Ich fuhr bis ans Stoppschild vor dem Parkstreifen und stellte den Motor ab. In diesem Augenblick trat ein Grenzer aus der Tür und winkte mich heran.
Er nahm meinen Pass entgegen und verschwand damit in der Baracke.
Ich parkte den Wagen an der nächsten Absperrung, ging zum Wechselschalter und wartete dann, bis im Fenster eine Baracke weiter meine Nummer aufgerufen wurde.
III
Das 'Wiener Kaffeehaus' war eine jener merkwürdig unzulänglichen Hommagen an die kapitalistische Kultur, denen man in Ost-Berlin auf Schritt und Tritt begegnet.
Die Kopie ist immer ein wenig blasser und blinder als das Original. Ich habe nie herausgefunden, was mich an dieser Form des Sozialismus reizte. Sie überzeugte mich so wenig wie das protzige Gehabe auf kapitalistischer Seite.
Es musste etwas Atmosphärisches sein: die Art, wie man ohne Widerspruch an den Imbisstheken für einen jener fett-wässrigen sozialistischen Einheitsknacker oder ein Bier zu achtundfünfzig Aluminiumpfennig anstand, um dann mit einer Zwanzig-Pfennig-S-Bahn-Fahrkarte in dem Gefühl nach Hause zurückzukehren, man habe sich den grauen sozialistischen Alltag vergoldet.
In den Restaurants ging das Essen meist schlagartig etwa genau eine knappe Stunde vor dem Zeitpunkt aus, der auf der Speisekarte ausgedruckt war.
Eine auf ewig geheimnisvoll bleibende prästablierte Harmonie des Küchenbestandes mit dem Ruhebedürfnis der Kellnerinnen; dann gab es nicht einmal mehr eine übriggebliebene Suppe.
Im vorderen Teil des Cafés spielte ein älteres Pärchen westliche Evergreens; sie bediente das Keyboard, er zupfte verhalten an einer Bassgitarre. Weiter hinten verengte sich der Raum genauso zum Schlauch, wie CH. es vorausgesagt hatte.
Ich nahm einen kleinen runden Tisch im Schutze der Säule und hängte meine Jacke über die Stuhllehne.
Nachdem ich ein Kännchen "Mokka komplett" bestellt hatte, ging ich hinüber in die Toilette.
Ich hatte niemand bemerkt, der mir ähnlich sah; aber wenn mein "Bruder im Gesicht" es klug anstellte, ließ er diese Arbeit besser von jemand anders erledigen.
Als ich zurückgekehrt war, vergewisserte ich mich mit schnellem Griff, dass Pass, Schlüssel und Wagenpapiere den Besitzer gewechselt hatten. Ich ließ mir Zeit, meinen Kaffee zu bezahlen, es war erst kurz nach elf, und als ich die Straße in Richtung auf die S-Bahnstation Pankow überquerte, überzeugte ich mich mit einem Blick in die Seitenstraße, dass der Volvo verschwunden war.
IV
Ich wurde in derselben Baracke verhört, an der man meinen Pass kontrolliert hatte. Durch das Fenster sah man die Dächer der westlichen Seite. Sie waren nah und zugleich fern. In so einer Situation nimmt man Unterschiede wahr, die gewöhnlichen Grenzgängern verborgen bleiben: die Form eines Dachs, der Fenster, die Struktur einer Fassade; selbst der Himmel scheint eine andere Färbung anzunehmen: seine Bläue ist verlockender. Alles atmet ein geradezu aufdringliches Maß an Freiheit, und diese Freiheit ist noch bis in die feinsten Verästelungen der Zirruswolken zu spüren.
"Wie sind Sie ausgerechnet auf einen so abgelegenen Ort wie das 'Wiener Kaffeehaus' in Pankow verfallen?"
Der Offizier in der Verhörbaracke war jung, hellblond und unscheinbar. Man merkte seinen bemühten Gebärden an, dass er das Gefühl hatte, er müsse sich durch Skepsis und misstrauische Fragen Autorität verschaffen – oder indem er seine Uniformmütze auf- und wieder absetzte. (Er ahnte nicht, dass für jemand in meiner Situation seine Autorität schon dadurch gesichert war, dass er beliebig lange in meinem Personalausweis blättern durfte.)
Ich war einer gründlichen Leibesvisitation unterzogen worden, der Inhalt meiner Taschen lag vor ihm auf dem Schreibtisch.
Merkwürdigerweise hatte sich in meiner rechten Innentasche das zusammengefaltete Doppelblatt einer Zeitung befunden. Es musste schon im Café in mein Jackett geschmuggelt worden sein. Man hatte mir nicht erlaubt, einen Blick darauf zu werfen. Es lag zwischen den übrigen "Beweisstücken" (alles schien diesen Charakter anzunehmen, wenn man die Sorgfalt betrachtete, mit der selbst meine Kugelschreibermine einer genauen Prüfung unterzogen wurde); und mein Blick wanderte wohl ziemlich sorgenvoll zwischen diesem mysteriösen Stück Papier und dem blauen Nachmittagshimmel jenseits der Mauer hin und her.
"Es ist nicht verboten, sich nahe beim Stadtrand aufzuhalten, oder? Die Besuchserlaubnis gilt für ganz Berlin."
"Ich frage Sie nach dem Grund, Herr Quand", sagte er eine Tonlage schärfer. "Wir streiten hier nicht darüber, was erlaubt ist."
"Ich bin ein großer Freund Ihres Landes, aber Ihr Schaukastensozialismus rund um den Alexanderplatz liegt mir nicht."
"Sie sind Schriftsteller, nicht wahr?"
Draußen hielt ein schwarzer Wolga, und zwei Männer in Zivil stiegen aus, der eine mit deutlichem Ansatz zum Wohlstandsbauch. Die selbstsichere Art, mit der sie sich zwischen den Absperrgittern bewegten, ließ mich vermuten, dass es sich um Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit handelte. Der eine langte ohne große Umstände hinter die Absperrung und betätigte den elektrischen Tordrücker. Als er die Barackentür öffnete, war es, als mustere er mich für den Bruchteil einer Sekunde mit unverhohlenem Vergnügen.
"Bringen Sie Quand in die Gefängnisbaracke."
Man legte mir Handschellen an, dann wurde ich über den Hof zu einem Gebäude aus Backstein gebracht. Der Raum, in den man mich führte, ähnelte dem ersten, nur dass in ihm statt des Schreibtischs ein gewöhnlicher leerer Holztisch mit vier Stühlen stand. Die beiden Fenster waren vergittert und die Tür zum Nebenraum bestand aus Eisenblech.
"Oberst Fall von der Staatssicherheit. Ich nehme an, der Name dieser Institution ist Ihnen als Journalist und politischer Schriftsteller ein Begriff?"
"Irgendein besonderer Grund, mich hier festzusetzen?"
"Kann man wohl sagen."
Der Jüngere der beiden schwieg die ganze Zeit über, warf mir aber verstohlene Blicke zu. Er hatte meine Habseligkeiten samt der Zeitung in einem roten Ablagekorb herübergebracht.
"Sie wissen, dass man mich bestohlen hat, Oberst? Jemand aus Ihrer Republik, vermutlich. Und Sie werden mir daraus doch keinen Strick drehen wollen? Das wäre einem braven deutschen Touristen gegenüber, der sich lediglich ein paar schöne Stunden in der Hauptstadt Ihrer Republik machen wollte, nicht fair."
"Sind Sie denn wirklich nur ein braver bundesdeutscher Tourist, Quand?“, fragte er und lächelte unmerklich.
"Ich bin mir keiner strafbaren Handlung bewusst."
"Der Tatbestand, dessen Sie angeklagt werden, ist eindeutig Passvergehen."
"Sie sagen eindeutig – habe ich das richtig verstanden? Ich bin nicht so naiv, mir keinen Reim auf Ihren Verdacht machen zu können. Sie werden verdächtigen, dem seine Papiere abhanden gekommen sind. Das liegt in der Natur der Sache. Sie wären ein schlechter Polizist, wenn Sie diesen Verdacht von vornherein ausschlössen."
Ein Beamter, den ich nicht kannte, brachte eine schwere Kladde herein, die mit einem Ring aus Stahlblech verschlossen war. Als Oberst Fall sie geöffnete hatte und zu blättern begann, sah ich, dass es eine Fotosammlung war.
"Ich frage mich, was Sie den Fehler begehen ließ, diese Zeitung mit sich zu führen, Quand", sagte er nachdenklich und zeigte auf die Ablage. "War es wirklich nur Gedankenlosigkeit?"
"Ehrlich gesagt habe ich ziemliche Mühe, Ihren Fragen zu folgen."
"Einer unserer wichtigsten Militärexperten, Oskar Kreitz, ist heute gegen Mittag mit Ihrem Pass in den Westen übergelaufen. Das war nur möglich, weil Kreitz ungewöhnliche Ähnlichkeit mit Ihnen besitzt. Als Geheimnisträger hätte er niemals legal ausreisen dürfen. Ein Informant in West-Berlin unterrichtete uns darüber, dass er dort sofort von CIA-Leuten in Empfang genommen und an einen geheimen Ort gebracht wurde. Bitte schauen Sie sich diese Portraitsammlung an. Es handelt sich um Mitarbeiter der CIA. Ist Ihnen ein Gesicht davon bekannt?"
Das Foto Cheyneys befand sich auf Seite fünfzehn. Aber hatte er nicht behauptet, für London zu arbeiten? Ich schüttelte den Kopf und schlug die Mappe zu.
"Kreitz ist Experte für die Rüstung der Volksarmee." Oberst Fall zeigte auffordernd zur Ablage.
Ich nahm das Zeitungsblatt – es war eine Doppelseite aus dem Neuen Deutschland – und faltete es auseinander. Der Artikel unten links zeigte Kreitz während eines Empfangs in der bulgarischen Botschaft. Sein Gesicht war mit Kugelschreiber eingekreist. Die Ähnlichkeit war nicht so deutlich wie auf dem Foto, das CH. mir in West-Berlin gezeigt hatte, aber was bedeutete das jetzt noch? Kein Zweifel: eine chemische Analyse in den Labors des Ministeriums würde ergeben, dass es mein eigener Kugelschreiber gewesen war. Ich dachte an mein Enthüllungsbuch über die Mittelamerikapolitik der amerikanischen Regierung. Zwei vergebliche Versuche, es durch einstweilige Verfügungen zu stoppen. Das Manuskript lag in meinem Hotelzimmer. Der Verlag hatte mich gebeten, vor Vertragsabschluß noch Korrekturen über die Rolle General Woolrichs in der Iran-Contra-Affäre anzubringen...
An der vergitterten Scheibe der Baracke summte eine Schmeißfliege, deren Flügel im Sonnenlicht schwarzblau glänzten; durch irgendeine geheimnisvolle Verwandlung nahm sie in diesem Augenblick mehr und mehr das Aussehen Cheyneys an – aber sie lag außerhalb meiner Reichweite. Er hatte zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.