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2.

Sonntagmorgen. Andi und Igor schnarchten vor sich hin. Der Schallplattenspieler war auf Repeat geschaltet und so wachte ich pünktlich zu einem weiteren Beginn der Mondscheinsonate auf.

Draußen regnete es. Ich stand auf, schaltete die Musik ab, ging auf den Balkon und zündete mir eine Zigarette an. Ich blickte noch einmal den Abgrund, der sich vorm Balkon auftat, hinunter, riss meinen Blick weg und setzte mich hin. Freitage waren besser als Sonntage. Ich musste mich an diesem Tag schonen, wollte ich montagmorgens fit sein. Ich war seltsamerweise gar nicht richtig verkatert, aber fühlte mich, wie wohl ein Astronaut sich fühlen musste, wenn er nach einiger Zeit in Schwerelosigkeit wieder auf der Erde war. Ich fühlte mich echter. Wenn auch der Alkohol trügerisch war, so war er immerhin doch noch ehrlicher als die meisten Neuroleptika, welche nur bewirken, dass der Botenstoffwechsel im Körper „reguliert“ wird. Das eigene Leben wird immer dickflüssiger, bis es irgendwann ausgehärtet ist und man den Glückseligen nur noch eine gute Reise durch den Fluss des Lebens wünschen kann, auf dessen Grund man selbst wie ein Stein sinkt und ertrinkt. Ich dachte über den Tod nach und über die Art meiner Bestattung. Hoffentlich würde man mich, wie ich es mir wünschte, im Mariannengraben versenken. Keinesfalls verbrennen oder verscharren. Sondern mich dem weiten, tiefen, reinen Ozean übergeben. Aber vermutlich spielte das dann auch keine Rolle mehr. Tot ist tot. Ich erinnere mich nicht was davor war, wie sollte ich mir vorstellen was danach kommen würde. Ich drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Als ich wieder reinkam, öffnete Andi die Augen. „Au, mein Kopf.“ „Dein Kopf würd’ mir auch wehtun“, sagte Igor mit noch geschlossenen Augen daliegend. „Und, gut geschlafen, schön geträumt?“, fragte ich. „Ja“, sagte Andi. „Von einer überdimensionalen Super-Mario-Figur, die zu krächzendem Gameboy-Gedudel auf und ab sprang.“ „Da kenn ich schlimmeres“, meinte ich. Igor raffte sich auf und streckte sich. „Uahrg, Morgen miteinander. Ist noch Wodka da?“ „Gerade noch genug gegen die Kopfschmerzen“, sagte Andi und schenkte sich reichlich ein. Mein Apfelmost war aufgebraucht, aber das war auch gut so. Ich hätte mich gerne noch weiter gehen lassen, aber ich beschloss mich auf den Heimweg zu machen. Ich verabschiedete mich. Igor bot mir an, mich nachhause zu fahren, aber ich lehnte ab, nicht zuletzt weil ich Bewegung brauchte. Ich polterte die Treppen runter und eine alte Stimme rief laut: „Ruhe!“. Aber da war ich sowieso fast schon unten. Ich setzte meine Kapuze auf und ging Richtung Bahnhof, hinter dem meine Wohnung auf mich wartete. Für einen Sonntag war auffällig viel Verkehr, vermutlich ist man aus dem ganzen Land hergekommen, um das Konzert irgend so einer neuen Boyband zu besuchen. Wie hießen die noch gleich? Ich sah mich am Weg nach ihren Plakaten um. Aber sah nichts was mir mehr ins Auge stach als eine McRonalds-Werbung mit einem Huhn und der Aufschrift „Bock, Bock, Bock drauf!“. Mir knurrte der Magen und ich legte einen Zahn zu, um mir endlich Zuhause etwas kochen zu können. Die Wolken verdichteten sich und der Regen wurde heftiger, um mich kurz vor meiner Ankunft nochmal richtig zu durchnässen. Ich sperrte die Wohnungstür auf, schloss sie hinter mir und zog mir frisches Gewand an. Ich briet mir Garnelen in Olivenöl und würzte sie mit Knoblauchgranulat. Das Essen schmeckte mir gut und gab mir wieder Energie. Ich fühlte mich lebendig, allzu lebendig. Es war seltsam sein inneres Gesicht wieder zu sehen und mit einem Blick in den Spiegel festzustellen, dass dessen Abglanz nur eine Belanglosigkeit war. Plötzlich spielte das Archiv sorgsam eingeteilter Verhaltensmuster, Sorgen und Kalküle zwischenmenschlicher Belange eine immer geringere Rolle und zum Vorschein kam das, was man gemeinhin als Seele bezeichnet. Das Eis begann langsam zu tauen und floss Richtung Ozean. Die Ketten im Kopf lösten sich. Konnte es wirklich sein, dass ich 2 Jahre lang alles Wesentliche ignoriert hatte? Doch ich hatte keine Wahl, genau so wenig wie ich Macht über die Gesichte und Gesichter, Eindrücke und Erinnerungen hatte, die in langen Warteschlangen vor meinem Kopf auf Einlass warteten. Seelenfragmente, die ich erbarmungslos ausgesperrt und Druck, den ich eingesperrt hatte, gerieten aneinander. Ein Leben lang zu vergessen, nur um kompatibel zu sein und am Ende ein sinnentleertes Leben in einem Pflegeheim? Nein, auf diese Art nicht. Ich nahm die Nagelfeile, die mir meine Mutter geschenkt hatte und die bisher nur nutzlos herumgelegen war und feilte an einer meiner Tabletten ein Stück weg. Dann nahm ich ein Lineal. Genau ein Millimeter weniger. Würde man sie so schnell absetzen, wie die Ärzte es in nicht seltenen Fällen taten, würden einem starke Halluzinationen und Dyskinesien nicht erspart bleiben. Deswegen war ich vorsichtig. Denn es würde heißen, dass man mich vor mir selbst schützen müsste und mir wäre nicht anders zu helfen, als mich wegzusperren. Sie hatten schon immer die Falschen als minderwertig bezeichnet, sie von der Gesellschaft abgesondert oder sogar kastriert, in der Hoffnung ihr makelloses Volk zu züchten. Für sie war ich nur ein nutzloser Esser. Doch diesmal würden sie mich nicht kriegen. Ein Millimeter weniger pro Monat und es musste einfach funktionieren. Aber eins nach dem anderen, mit zu viel Träumerei fing bei mir immer jedes so tückische Pathos an, mit dem ich meinem Psychiater besser nicht vor die Augen träte. Am Mittwoch musste ich wieder zu ihm. Er erkundigte sich immer genauestens nach meinem Zustand. Wenn auch nur sehr kurz, denn obwohl es in meiner Stadt mehr Psychiater als Zahnärzte gab, war seine Praxis immer pump voll. Kein Wunder bei einem Umfeld, das sich nicht um Raum und Zeit, Tag und Nacht, Anfang und Ende scherte. Kompromisse eingehen, hieß nicht selten die These zu sein, die durch die Antithese zu etwas Synthetischem wird. Ja, wer konnte schon ahnen, in welche Richtung die ganze synthetische Welt steuerte. Alles voller Plastik und anderen auf Erdöl basierenden Stoffen. Es war ein Kompromiss, dass ich seit Jahren Olanzapin nahm. Man probierte schon alles Mögliche an mir aus, als wäre ich ein lebendes Reagenzglas. Levomepromazin, Haloperidol und anderes Zeug. Doch das Schlimmste war Amilsulprid. Ich erinnere mich noch, als ich bei meiner ersten Einweisung Amilsulprid bekam. 2 Monate schlief ich nicht mal 20 % der Nacht oder konnte zumindest nicht empfinden zu schlafen. Es ging mir so elend, wie noch nie zuvor, doch vor lauter Benzodiazepinen grinste ich ununterbrochen, was offensichtlich einen guten Eindruck machte. Ich wurde entlassen und setzte schlagartig wieder alles ab, was zu sehr real erscheinenden Halluzinationen führte. So ging es noch einige Jahre weiter. Einweisung, Entlassung, Psychose und das fünfmal. Und die Jahre vergingen. Als ich mich schließlich damit abfand, war ich auch „krankheitseinsichtig“. Ob ich je vor meiner ersten „Behandlung“ wirklich krank war, daran konnte ich mich nicht erinnern. Um mir meine Seele wieder zu holen, brauchte ich Geduld. Morgen in der Arbeit würde ich auf andere Gedanken kommen. Ich legte mich hin und wartete bis 20 Uhr, nahm meine Tabletten und wurde müde, todmüde. Des Todes müde.

Euch aufgesetzt

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