Читать книгу Ein Grund zum Bleiben - Peter Seeberg - Страница 5
Eine andere Hand
ОглавлениеLeo Gray hat seinen Wagen vor dem Restaurant eines Motels geparkt, etwa einhundertzwanzig Kilometer von Tauben entfernt, wo er früh am Morgen eine geliebte Frau verlassen hat. Während der Fahrt hat er eine moralische Krise durchgemacht, die um ein Haar dazu geführt hätte, seine Existenz in seinen Augen überflüssig zu machen, eine Auffassung, die wir nicht zu teilen brauchen. Wir können behaupten, daß Leo Gray, solange er sich selbst etwas bedeutet, für uns andere genug Bedeutung hat. Ja, auch wenn er sich selbst nichts bedeuten würde, für jemanden von uns könnte er trotzdem von Bedeutung sein.
Das Restaurant hatte eine Veranda, die er durchqueren mußte, bevor er ins eigentliche Lokal kam. Es war wie ein kanadisches Blockhaus eingerichtet : Hirschgeweihe und Hirschfelle an den Wänden und große Zielscheiben zum Bogenschießen und Pfeilwerfen. Eigentlich toll zu so früher Morgenstunde.
Obwohl es noch unchristlich früh war, saßen schon Gäste im Restaurant: vier Lastwagenfahrer, die ihre Mäuler über belegten Broten aufrissen, eine Dame, bereits etwas über das beste Alter hinaus, die offensichtlich darauf wartete, daß ihr Ehemann herunterkam, und eine Anzahl zierlicher Papiermenschen, die Akten durchsahen, während sie ihr englisches Frühstück verzehrten, Spiegeleier mit Schinken, Salami, Käse, Konfitüre, Butter und diverse Brotsorten; dazu tranken sie Kaffee. Der Duft vermochte Leo völlig zu überzeugen.
Der Kellner hatte leichtes Spiel.
Das Glück ist die beste Versicherung gegen Selbstvorwürfe, zitierte Leo bitter einen älteren Schriftsteller, auf den sein Vater in seiner langen Rentnerzeit immer wieder zurückgekommen war. Er griff nach der Zeitung vom Vortag, die zerknittert auf einem Stuhl neben ihm lag, und blätterte sie aufs Geratewohl durch, während er auf das Frühstück wartete.
Beim Essen bekam er Lust, zu Hause anzurufen, um zu hören, ob Viola schon zurück sei – dieser Anruf stand fest –, und Lust, Erna anzurufen, die bestimmt noch nicht aufgestanden war, auf keinen Fall aber das Hotel bereits verlassen hatte. Dieser Anruf wäre ein Verstoß gegen ein Prinzip, und fast alles sprach dagegen: Er hatte Erna noch nie angerufen; die vorbehaltslose Ergebenheit füreinander hing vielleicht an sehr dünnen Ketten, die bei der geringsten Belastung reißen konnten; er wußte nicht, was er mit dem Anruf beabsichtigte, abgesehen davon, daß ihm vorschwebte, er könne zurückfahren und mit Erna frühstücken, mit ihr sprechen, sich vielleicht von ihr helfen lassen, obwohl er noch nie mit ihr über solche Fragen gesprochen und ihm noch nie jemand geholfen hatte. Es würde sie sicherlich erstaunen, daß er eine Ermunterung gebrauchen konnte, so wie sich Schneider Belinsky wundern würde, wenn er zu ihm kommen und ihn um Rat und Hilfe bitten würde. In solchen Fällen war eine überzeugende Katastrophe nötig, um die Rollen zu vertauschen zwischen denen, die berufen waren zu helfen, und denen, die Hilfe brauchten, obwohl im Grunde niemand entscheiden kann, wer hilfsbedürftig und wer Helfer war.
Er ging in die Telefonzelle und rief dreimal seine eigene Nummer an: keine Antwort. Dennoch fühlte er sich irgendwie verbunden. Sein ungemachtes Bett kam ihm in den Sinn, die schmutzigen Teller und die Haferflocken, die in der ganzen Wohnung verstreut lagen, weil Rosa so viel darin herumgelaufen war.
Er überlegte ein Weilchen, spielte mit der Münze auf dem Tablar, dann rief er das Hotel an und bat, mit dem und dem Zimmer verbunden zu werden. Würde Erna antworten?
Sie meldete sich sofort – ein wenig verwirrt – mit einem «Hallo».
Er mußte sich räuspern; es war, als hätte er noch nie mit ihr gesprochen.
«Erna, hier ist Leo.»
«Donnerwetter, du bist's! Das ist wirklich schön.
Es ist wunderbar, daß du anrufst. Ich liege noch im Bett und habe eben an dich gedacht. Glaub mir, hier ist es nicht die Spur gemütlich, wenn du nicht da bist.»
Er räusperte sich abermals.
«Erna, mir geht es verflucht schlecht.»
«Was ist denn mit dir los, Leo? Wo bist du?»
«Hundertzwanzig Kilometer von dir entfernt. In einem Restaurant an der Landstraße.»
«So ein Pech. Stell dir vor, du säßest jetzt unten in der Hotelhalle!»
«Genau das habe ich auch gedacht.»
«Was?»
«Daß es praktischer wäre.»
«Du bist wohl verrückt.»
«Ich brauche anderthalb Stunden, wenn ich zügig fahre. Hast du es eilig? Es ist ja erst halb acht.»
«Leo, ich fürchte, wir können nicht mehr aufhören.»
«Ich hatte immer geglaubt, es könnte nicht länger dauern, als – nun, als es eben dauerte.»
Sie schwieg ein Weilchen, dann sagte sie leise:
«Du bist ein Dummkopf, Leo.»
«Ich weiß, ich hätte nicht anrufen sollen.»
«Wir werden nie mehr Ruhe finden, Leo.»
«Warum nicht, Erna?»
«Es geht wie immer, Leo: ewig oder gar nicht, das weißt du genau.»
«Machst du mir Vorwürfe, daß ich angerufen habe, Erna?»
«Komm nur, Leo», sagte sie ruhig. «Ich freue mich darauf. Ich gebe Bescheid, daß ich heute nicht zur Arbeit komme.»
«Ich fahre in zehn Minuten, und in spätestens zwei Stunden hast du mich.»
«Gut, Leo. Ich freue mich. Du bist verrückt.»
Er legte den Hörer behutsam auf und ging zurück zu seinem Frühstück. Als er sich eben setzen wollte, kam Connie in seinem grünen Lodenmantel zur Tür herein. Er war offenbar auf dem Weg nach Tauben und nur ausgestiegen, um rasch eine Tasse Kaffee zu trinken.
Leo Gray winkte ihm, zeigte auf den Stuhl neben sich und ärgerte sich zugleich darüber, daß er nun erst später würde abfahren können. Connie nickte abweisend; er ging zu einem der Fenstertische, legte den Mantel über einen Stuhl und setzte sich, den Blick unverwandt auf die Straße gerichtet, wo die Karawane der Tankwagen aufs Land hinausrollte. Er war nicht zu sprechen, das war deutlich, und Leo mußte an Rosa denken, die Connies giftige Bemerkungen nun schon mehr als zwei Tage lang hatte erdulden müssen, weil sie sich endlich einmal einen Abend frei gemacht und alle fünf hatte gerade sein lassen.
Leo nutzte die Zeit und telegrafierte seinem Büro, er sei krank geworden und komme an diesem Tag nicht mehr. Dann rief er noch ein paarmal zu Hause an, um sich zu vergewissern, ob Viola zurückgekommen sei, doch niemand meldete sich. Nun, er gönnte ihr diese freien Tage. Er las die Zeitung und beobachtete Connie, der nur eine Tasse Kaffee und Gebäck bestellt hatte und es ziemlich eilig zu haben schien. Wenig später stand er taumelnd wieder auf, es war, als brauchte er Wände, um sich zu stützen, er ging vornübergebeugt – wie bei Gegenwind und in hohem Schnee – an der Tür nickte er Leo flüchtig zu. Leo winkte zurück. Es schien Connie ziemlich mitgenommen zu haben. Leo sah, daß er in seinen alten schwedischen Wagen stieg, mit dem er vor einigen Jahren bei der Rallye Monte Carlo Nr. 21 geworden war. Er fuhr verdammt gut, das wußte Leo aus der Zeit, da sie sich noch häufig getroffen und gemeinsam Ausflüge unternommen hatten.
Leo wollte aufbrechen. Er bezahlte. Er zog den Mantel an. Er ging hinaus und startete den Motor. Er fuhr zur Tankstelle, ließ Benzin auffüllen, das Öl kontrollieren, den Reifendruck prüfen und die Scheiben putzen, so daß alles klar war für die Hinund Rückfahrt. Er zahlte, rollte zur Ausfahrt und fuhr in Richtung Tauben davon. Einhundertzwanzig Kilometer.
Das Zukunftsbild, das er auf der Hinfahrt für sich entworfen hatte, mußte er nun revidieren. Er fuhr zurück zum Glück, zu Erna, doch die Freude verminderte nicht die Unruhe über den Kurs, den er nun eingeschlagen hatte. Im Gegenteil, er spürte, daß er die Sache auf die Spitze getrieben hatte, daß er im Begriff war, das letzte Brot aufzuessen. Dahinter wartete der alte Hunger.
Er fuhr gleichmäßig, ging kein Risiko ein. Er ließ sich überholen, wich aus bis an den bröckelnden Straßenrand und den Grasstreifen zwischen der Fahrbahn und den Alleebäumen. Der Verkehr war noch ungleichmäßig und vom Temperament des einzelnen geprägt, ein paar Hitzköpfe jagten mit Höchstgeschwindigkeit auf dem Mittelstreifen entlang und ließen alles hinter sich. Sie hatten eine Agentur zu betreuen oder irgendwelche Waren abzuliefern. Schlimmer waren die großen Landwirtschaftsmaschinen, die ohne Licht und Signal daherfuhren, und die breiten Bautransporter – mit verschlafenen Fahrern –, die unvermittelt nach links abbogen. Leo ging kein Risiko ein.
Er sah auf die Uhr. Es war zwanzig nach acht.
Kurz vor zehn konnte er in Tauben sein.
Allmählich würde es hell werden, dann konnte er ein wenig schneller fahren. Sobald er die Autobahn erreicht hatte, würde es ohnehin besser werden.
Er näherte sich, bedrückt, dem Glück, das ihn erwartete.
Ein Autofahrer richtet sich in seinem Sitz auf – ohne sich dessen bewußt zu sein, hat er plötzlich weniger Bedenken. Genau dies passierte Leo. Im gleichen Augenblick gab er seine Vorsicht auf. Er spürte geradezu, wie er sich zusammenriß. Er richtete sich auf und setzte sich zurecht. Er steigerte die Geschwindigkeit um zwanzig Kilometer und fühlte sich klar, konzentriert, gefaßt. Die Abstände zwischen den Bäumen am Straßenrand wurden kleiner, die Leitlinie floß zusammen, die Fahrbahn lebte in den Rädern und im Lenkrad, wurde zur Herausforderung, die beantwortet werden wollte. Er fuhr hundertzwanzig. Es waren weder Landwirtschaftsmaschinen noch Bulldozer auf der Straße, der Weg wurde für ihn freigehalten.
Unter solchen Umständen greift das Schicksal nicht unmotiviert ein. Die Möglichkeiten für eine Erklärung werden offengehalten.
Leo Gray sah eine Gestalt auf der Straße. Seine erste Reaktion war Zweifel an ihrer Existenz, die zweite, es sei doch besser, sie nicht zu überfahren. Diese zweite Reaktion war noch nicht artikuliert, als er schon voll auf die Bremse trat. Der Wagen schleuderte mit blockierten Rädern, Leo versuchte, ihn durch Loslassen der Bremse wieder unter Kontrolle zu bringen, doch der Wagen gehorchte nun eigenen Gesetzen. Er schlitterte über das fette Gras, prallte schräg gegen einen Baum. Leo Gray wurde gegen die Frontscheibe geschleudert und verlor das Bewußtsein. Der Wagen glitt seitwärts die Böschung hinunter, überschlug sich zweimal und blieb – auf allen vier Rädern – auf einem gepflügten Acker stehen. Der Motor war verstummt.
Das Fahrzeug stand in seiner ursprünglichen Fahrtrichtung ungefähr zehn Meter von der Straße entfernt. Wegen des Nebels war die Sicht schlecht, aber da und dort schimmerte ein Stallfenster, und manchmal drang das Licht eines Scheinwerfers durch ein Loch im Nebel. In der rieselnden, dampfenden Stille war das langsame Klopfen der Pumpenmotoren zu hören, das Poltern der Scheunentore, die zugeschlagen oder aufgerissen wurden und ewig klemmten, eine Stimme, die jemandem etwas zurief, Autos und Traktoren, die angelassen wurden und auf Seitenwegen davonfuhren. Die Tiere schwiegen.
Nichts roch. Das alles überschattende Phänomen dieses Monats war diese feuchte Kälte. Roch es dennoch, dann nach Wasser. Die Ackererde hatte sich vollgesogen mit Wasser, und der Druck des Wagens preßte ab und zu eine Blase hervor, die mit einem leichten Seufzer zerplatzte.
Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei. Die Fahrer hatten alle eine Hand vor dem Gesicht, wenn sie in regelmäßigen Abständen gähnten. Ein riesiger Feuerschein erfüllte die Wagen, wenn sie mit einem Streichholz oder Feuerzeug sich eine Zigarette oder Pfeife anzündeten. Kein Fahrer war so wach, daß er die große, frische Rindenwunde an der hundertjährigen Ulme bemerkte, gleich beim Kilometerstein fünfundachtzig, keiner bemerkte die lange Schleuderspur am Straßenrand, keiner die Furchen in der Böschung, keiner das stille Auto auf dem Acker. Privat hatte Leo Gray zu diesem Zeitpunkt beinahe aufgehört zu existieren, und auch öffentlich erhob er keinen Anspruch auf ein Dasein. Er war fast ein Nichts.
Das Licht wurde weißer. Die Bäume knackten ein wenig in den Kronen, als es Tag wurde, und hätte jemand den Kopf zu der großen Rindenwunde herabgeneigt, hätte er den Duft verborgenen Frühlings, ja beinahe des Sommers unter den Bäumen verspürt.
Mittlerweile war ein großes Milchauto – ein Aluminiumtankwagen – unterwegs nach Tauben, der Fahrer saß hellwach am Steuer. Es näherte sich mit gleichmäßiger Fahrt dem übel zugerichteten Baum, der nicht übersehen werden wollte. Alles wird umgehend gesehen werden, und der große Wagen wird anhalten. Hilfe wird kommen.
Gregor kannte den Weg wie seine Westentasche. Die Katze an der Böschung, den Vogel im Baum, jede Stelle kannte er; die Menschen, die aus einem Seitenweg herauskommen oder an einer Haltestelle warten und ihm mit der Hand ein Zeichen geben konnten.
Schon aus etwa hundert Meter Entfernung machten die Scheinwerfer den hellen Fleck in der Rinde aus, und Gregor begann zu verstehen. Ein Auto war ins Schleudern geraten, war gegen den Baum geprallt. Er sah die große Wunde, die im Licht der Scheinwerfer und des bescheidenen Tages schimmerte. Er drehte den Kopf zur Seite, setzte die Geschwindigkeit herab und sah das Auto auf dem Acker stehen. Ein Stückchen weiter, das wußte er, verbreitete sich die Fahrbahn, eine Haltestelle. Dorthin ließ er den Wagen rollen; er stellte den Motor ab, schaltete das Standlicht ein und kletterte hinaus. Sein kleines Maskottchen, ein Gummitroll, drehte sich eifrig an seiner Schnur. Er ging langsam am Straßenrand entlang, blieb vor dem Baum stehen, betrachtete die nackte Wunde und die Rinde, die in Fetzen herabhing. Dann blickte er zum Wrack hinüber. Er stieg vorsichtig die Böschung hinunter, blieb ein paar Meter vor dem Auto stehen und schob die Hände in die Hosentaschen. Er wollte es nicht glauben, doch dort saß noch jemand hinter den geborstenen Scheiben. Er ging um das Auto herum und sah die Gestalt gegen die Frontscheibe gepreßt daliegen, wie dikker Rauch, der sich an dem Glas vorbeiwälzte. Er ging auf die andere Seite. Dort war die Scheibe einen Spalt heruntergekurbelt, so daß er hineinsehen konnte. Es hatte den Motor in das Wageninnere gestaucht, gegen die Beine des Mannes, dessen Arme herabhingen, der eine schräg über das Lenkrad.
Gregor trat hinter das Auto. Es war mühsam zu gehen. Er schüttelte den Kopf, sah sich um, und dann rannte er los, schräg über das Feld, so daß ihm der Atem knapp wurde und er für sein Herz zu fürchten begann. Hinauf zu seinem Auto, Motor an, Blinker’raus, sorgfältige Rückspiegelkontrolle, und nun fuhr er davon, fast einen Kilometer weit, wo ein Hof lag. Er bedauerte, daß er keine Funkanlage hatte. Er bog in den Hof ein, wo der Mann eben den Traktor vor einen Anhänger spannte, stellte den Motor ab und sprang heraus.
«Was willst du denn so früh am Morgen?» rief der Mann und kam ihm auf dem Traktor ein Stück entgegen.
Gregor zögerte und sah den Mann an, so daß der unwillkürlich den Traktor abstellte.
«Ich muß telefonieren», sagte Gregor. «Ein Auto ist von der Straße abgekommen, nicht weit von hier.»
Der Mann kletterte vom Fahrzeug und ging voraus. Er zog die Stiefel an der Küchentreppe aus.
«Komm mit», sagte er und drehte sich nach Gregor um, «komm schon», sagte er und schaute auf die Stiefel.
Die Frau stand in der Küche und wusch ab. Dampf wogte ihr ums Gesicht.
«Es ist ein Unglück passiert», sagte der Mann. «Er will bei uns telefonieren.»
Sie nickte Gregor zu.
«Das muß es gewesen sein, was wir vor einer halben Stunde gehört haben», sagte sie. «Der Kleine fing an zu schreien, die merken so etwas.»
Der Mann zeigte auf das Telefon. «Dort ist es, du brauchst nur dreimal die Null zu wählen.»
Gregor nahm den Hörer ab und wartete auf den Summton.
«Stimmt etwas nicht?» fragte der Mann. «Soll ich?»
Gregor schüttelte den Kopf, der Summton war zu hören. Er wählte dreimal die Null, es knarrte und knackte in den Relais, dann meldete sich die Stimme des Wachhabenden.
«Ja», sagte Gregor. «Es ist beim Kilometerstein fünfundachtzig in Richtung Stadt. Ein Mann ist dort von der Straße abgekommen. Es sieht böse aus. Sie müssen sofort kommen.»
Der Wachhabende stellte eine Frage.
Der Mann stand in der Mitte des Zimmers und beobachtete Gregors Gesicht. Der Frau wischte den Tisch ab und hängte den Abwaschlappen an seinen Platz.
«Das weiß ich nicht», sagte Gregor. «Ich habe nicht nachgeschaut. Es sieht böse aus, sehr böse. Sie müssen sofort kommen.»
Der Wachhabende sagte etwas.
«Ja, ich warte», sagte Gregor. «Ich warte, bis Sie kommen.» Er legte den Hörer auf.
«Das kostet nichts», sagte der Mann. Gregor blickte in das Gesicht der Frau, ein Gesicht mit kleinen Augen hinter Brillengläsern.
«Sie kommen gleich», sagte er.
Er ging zur Tür. Der Mann folgte ihm.
«Hole lieber erst die Rüben vom Feld», sagte die Frau.
Gregor hob die Hand und winkte, als er vom Hof rollte. Der Mann stieg eben wieder in seine Stiefel. Gregor fuhr zur Haltestelle zurück und parkte dort, ohne den Wagen zu wenden. Er ging zum Baum und blieb an dessen unbeschädigter Stelle stehen, etwa einen Schritt vor dem Stamm, so daß die Ambulanz ihn rechtzeitig sah und anhalten konnte. Er hielt die Hände anfangs auf dem Rücken verschränkt, dann vorn, zur Faust geballt, schließlich ließ er sie seitlich hängen. Er wußte nicht mehr wohin mit den Händen. Es ging ja nicht an, sie in die Taschen zu stecken.
Nach einer Weile verschränkte er sie wieder auf dem Rücken und setzte den linken Fuß einen halben Schritt zurück. Er beobachtete den Verkehr von und zur Stadt. Alle Fahrer warfen ihm einen hastigen Blick zu, doch alle fuhren weiter, jeder hatte auf sich selbst aufzupassen. Gregor lauschte angestrengt, um die Sirene der Ambulanz schon von weitem zu hören. Er hörte sie oft, doch ihr Ton verhallte immer wieder. Es hatte noch andere Unfälle gegeben.
Gregor blies große weiße Fahnen aus den Nasenlöchern. Er bemerkte es, und es schien ihm irgendwie unpassend. Er putzte sich die Nase, und die Fahnen blieben eine Weile aus; dann kamen sie wieder: große Signale seiner Anwesenheit. Das war ihm nicht recht. Er hob den Kopf ein wenig, doch sie bildeten sich auch über seinem Kopf. Sie verflogen, aber andere, fast genau gleiche, bildeten sich, sobald er ausatmete. Er atmete weniger kräftig und ließ den Atem behutsam seitlich ausströmen.
Nun tat sich etwas, kein Zweifel, er blickte auf die Uhr. Seit er telefoniert hatte, waren zwanzig Minuten verstrichen. Die Sirene der Ambulanz ertönte weit hinter den Hügeln; der Ton kam näher, Gregor hörte, daß er sich die Hügel hinaufbewegte, sich oben ausbreitete, dann wieder in die Täler tauchte und nur noch gedämpft herüberklang. Endlich kam er geradenwegs auf ihn zu. Im Nebel fing es an zu flammen und zu flimmern, das Auto verringerte hörbar die Geschwindigkeit, und langsam, in einer Lichtorgie, mit verklingenden Signalen, tauchte es aus den Nebelschwaden auf. Gregor trat vor, winkte mit weit ausholenden Armbewegungen, und die Ambulanz fuhr an den Straßenrand. Der Beifahrer hatte die Scheibe heruntergedreht und nickte ihm unter seiner Mütze zu, sagte jedoch kein Wort. Auch der Fahrer hatte das Wrack auf dem Acker gesehen; er wendete den Wagen, und die beiden stiegen aus.
Gregor blieb abwartend stehen.
Die zwei Männer in den langen Mänteln kletterten die Böschung hinunter.
Er wollte ihnen nicht nachschauen. Die beiden sprachen miteinander, es klang nicht gerade zuversichtlich. Etwas später redeten sie abermals, jeder stand auf einer Seite des Autos. Gregor hörte das Glas klirrend zu Boden fallen, als einer der Männer an der Tür zerrte. Dann herrschte abermals Stille. Die beiden dachten nach. Schließlich war ein entschlossener Ausruf zu hören: Sie wußten, was sie zu tun hatten.
Der Beifahrer kam zur Ambulanz gelaufen, klappte die Tür auf und zog die Tragbahre heraus. Er warf die Wolldecken in den Wagen, nahm ein Extralaken und hastete mit der leichten Tragbahre die Böschung hinunter. Sie arbeiteten in kleinen Etappen. Daran merkte Gregor, daß sie den Mann herausholten. Ihn schauderte. Er sah zu seinem Wagen hinüber.
Ein Auto auf dem Weg nach Tauben hielt hinter ihm. Der Fahrer kam, eine kalte Zigarette im Mund, mit wiegenden Schritten heran und fragte, was geschehen sei. Gregor deutete hinter sich, und der Fremde sah selbst. Er stand neben Gregor und atmete sehr langsam. Nach einer Weile steckte er die Zigarette in die Jackentasche. «Das sieht nicht gut aus», sagte er.
Gregor drehte sich zu ihm um.
Der Fremde war etwas größer. Er beobachtete die Sanitäter. Dann ging er umher und sah sich die Spuren und die Wunde am Baum an.
«Der ist mindestens achtzig gefahren», sagte er. Gregor merkte, daß die beiden über den Acker kamen, der Fremde wich bereits zur Seite. Die beiden stiegen seitwärts die Böschung hinauf, sie hatten Angst auszugleiten.
Der Fremde fuhr sich mit der Zungenspitze hastig über die Lippen.
Aus dem Nebel war ein Traktor zu hören, und wenig später hielt der Bauer auf der anderen Straßenseite, ein Radpaar schon auf der Böschung. Er kletterte herunter und überquerte vorsichtig die Straße, eine Hand in der Tasche.
Die Sanitäter schoben behutsam die Bahre in den Wagen.
Gregor hatte sich entschieden; er würde bleiben, bis das Polizeiauto kam.
Der Bauer stand ihm gegenüber, ohne ihn anzusehen. Er ließ den Blick von der Ambulanz hinunter zum Wrack auf dem Acker wandern und sagte: «Wird nicht leicht sein, das wieder’raufzubekommen, was?»
Der Fremde schlenderte zu seinem Wagen.
«Er lebt noch», sagte Gregor plötzlich.
«Lebt noch», sagte der Bauer überrascht und ging auf die Böschung zu, um sich genauer umzusehen. Die Ambulanz brauste bereits durch den Nebel davon, ihr entgegen kam ein anderes Auto mit einer anderen Sirene, das Polizeiauto. Die beiden Sirenen begegneten sich irgendwo im Nebel, und dann war das Polizeiauto heran. Gregor gab ein Handzeichen, und man bremste. Die Türen klappten. Sie kamen zu ihm herüber, morgenwach, mit Bandmaß, Papier und Kamera, auf das beste vorbereitet. Sie verschafften sich rasch einen Überblick und sahen sich gemeinsam die große Wunde am Baum an. Der Bauer blickte durch die offene Vordertür in das Wrack, zog sich aber sofort zurück, und ging zu den anderen hinauf.
«Das sieht nicht gut aus», sagte er zu Gregor. Gregor holte tief Atem.
«Ich muß jetzt fahren», sagte er. «Die glauben sonst noch, daß mir was passiert ist.»
Er ging langsam am Straßenrand entlang, kletterte in die Fahrerkabine, sah einen Moment die eigenen Augen im Rückspiegel, startete den Motor und lenkte den Wagen behutsam auf die Straße hinaus. Heller als es nun war, wurde es an diesem Tag nicht mehr.