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Säkularisierung und die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen bei drei Komponisten des 19. Jahrhunderts

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Als ich am 14. Oktober 2001 in Vertretung für den Ratsvorsitzenden der EKD in der Frankfurter Paulskirche der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Jürgen Habermas beiwohnte und die große Rede des Preisträgers hörte, traute ich zunächst meinen Ohren nicht. Der Redner, in dessen großem Werk „Theorie des kommunikativen Handelns“ der Abschnitt über Religion deutlich unterkomplex behandelt worden war1, der sich im Vortrag selbst mit feiner Ironie als ein „religiös Unmusikalischer“ eingeführt hatte, plädierte für eine „kooperative Übersetzung religiöser Gehalte“ zwischen dem liberalen Staat und der Religion in einer „postsäkularen Gesellschaft“2. Auf der Basis der „in der Verfassung festgeschriebenen säkularen Entscheidungsgrundlagen“3 zeigt sich, dass auch solche „Religionsgemeinschaften das Prädikat ,vernünftig‘“ verdienen, „die aus eigener Einsicht auf eine gewaltsame Durchsetzung ihrer Glaubenswahrheiten und auf den militanten Gewissenszwang gegen die eigenen Mitglieder, erst recht auf eine Manipulation zu Selbstmordattentaten, Verzicht leisten.“4 Andererseits hat die „Entzauberung der Welt“ die Natur verobjektivierend entpersonalisiert, und die Gefahr, dass die Naturalisierung des Geistes „das personale Selbstverständnis durch eine objektivierende Selbstbeschreibung nicht nur ergänzt, sondern ablöst“, steht vor der Tür, auch wenn das „nicht Wissenschaft, sondern schlechte Philosophie“5 ist. Habermas hält es für einen Fehler, die tatsächliche Säkularisierung entweder für eine notwendige Ersetzung religiöser Denkweisen und Lebensformen durch „vernünftige, jedenfalls überlegene Äquivalente“ zu halten, oder umgekehrt, die „modernen Denk- und Lebensformen als illegitim entwendete Güter“ zu diskreditieren. „Beide Lesarten machen denselben Fehler. Sie betrachten die Säkularisierung als eine Art Nullsummenspiel zwischen den kapitalistisch entfesselten Produktivkräften von Wissenschaft und Technik auf der einen, den haltenden Mächten von Religion und Kirche auf der anderen Seite … Dieses Bild passt nicht zu einer postsäkularen Gesellschaft, die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt.“6 Um der Gefahr einer „entgleisenden Säkularisierung“7 zu entgehen, ist die postsäkulare Gesellschaft darauf angewiesen, dass in einer pluralistischen Gesellschaft die Autorität von Wissenschaften auf das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen und die Prämissen des Verfassungsstaates, die sich aus einer profanen Moral begründen, von allen gesellschaftlichen Gruppen, also auch von den Religionsgemeinschaften, anerkannt werden.8 Habermas begründet seine These damit, dass „etwas verloren“ geht, wenn säkulare Sprachen das, was die religiöse Sprache gemeint hat, bloß eliminieren oder, wie bei Heidegger, in dessen Ontologie „eine sich selbst dementierende Vernunft“ in Versuchung gerät, „sich die Autorität und den Gestus eines entkernten, anonym gewordenen Sakralen bloß auszuleihen.“9 Eine postsäkulare Gesellschaft wird in diesem Sinn sich auf dem Boden einer säkularen Verfassung weiter mit dem auseinandersetzen, was religiös mit dem Begriff der Sünde, der Hoffnung der Auferstehung, dem Jüngsten Tag, dem Menschen als Ebenbild Gottes u.a. einmal gemeint war. Vor allem aber hat „die profane, aber nichtdefaitistische Vernunft zu viel Respekt vor dem Glutkern, der sich an der Frage der Theodizee immer wieder entzündet, als dass sie der Religion zu nahe treten würde“10.

An die von Habermas vorgetragene These möchte ich mit dieser kleinen Studie anknüpfen. An einigen Opern aus dem 19. Jahrhundert möchte ich zeigen, dass sie mit ihren Mitteln, also mit Text und Musik, den Säkularisierungsprozess ihrer Zeit thematisch in sich aufnehmen, beurteilen und ihre Kunst als ästhetische Kompensation für eine nicht mehr überzeugende Religion ins Spiel bringen, um die Säkularisierung vor einer Entgleisung zu bewahren. Religiöse und profane Überzeugungen stehen zunächst nebeneinander, Lebenserfahrungen, Lebenszielkonflikte und Emanzipationsbewegungen begründen neben philosophischen Einsichten eine radikale Kritik der Religion, vornehmlich des Christentums in Gestalt der Kirche. Jedoch führt diese Religionskritik und eine auf ihr aufruhende, im Kunstwerk abgebildete Gesellschaft ohne Transzendenzbezug nicht zu einer Preisgabe von Religion als Religion, sondern setzt eine neue Religionsproduktivität in Gang. An den ausgewählten Opern ist erkennbar, dass der Säkularisierungsprozess des 19. Jahrhunderts nicht zu einer Eliminierung der Religion aus dem öffentlichen Bewusstsein führt, sondern neue Religionsformen gebiert. Deswegen kann man nicht sagen, im 19. Jahrhundert sei die Gesellschaft auf dem Weg in einen religionslosen Zustand. Im Gegenteil: Trotz des massiven Angriffs auf Religion in Gestalt des Christentums durch die Französische Revolution, die allzu bald entgleiste und selber religionsaffin wurde, lässt sich die Behauptung nicht halten, „das 19. Jahrhundert sei insgesamt ein Zeitalter jenseits der Religion gewesen“11. Allerdings erlebt die Religion, vor allem in Gestalt der christlichen Kirche, eine tiefgreifende Umbruchszeit, die hart an die Grenze von Entkirchlichung führte.12 Es gibt empirisch gute Gründe, „die These von der ,Entzauberung der Welt‘ gerade für das 19. Jahrhundert, an dessen Ende [Max] Weber seine These formulierte, zu bezweifeln. Denn in diesem Zeitraum gab es eine Fülle verschiedenster Formen und Praktiken abergläubischer und magischer Religiosität, die bereits von den Zeitgenossen intensiv diskutiert wurden.“13 Diese Beobachtung kann man in der Religionsgeschichte stets dann machen, wenn in religionskritischen Epochen, wie zum Beispiel in der griechischen Aufklärung im Athen des 4. Jahrhunderts vor Christus, neben der kritisierten öffentlichen Religion andere Kulte und Praktiken einströmen. In Griechenland waren das die orientalischen Kulte. Säkularisierungsprozesse ziehen zugleich die Produktion von einer Fülle von neuen Mythen, Kulten und Riten in der eignen oder als Importe aus anderen Kulturen nach sich. Neu ist für das 19. Jahrhundert, dass die Kunst mit Formen der Kunstreligion an die Stelle der in der Kirche formalisierten Religion tritt und die Religionskritik in sich aufnimmt.

Die Säkularisierungsthese ist so umfangreich und facettenreich, dass sie in alle Sektoren der Kultur spezifisch aufgefächert werden kann.14 Dieser eigentlich notwendigen Breite der These kann ich in dieser kleinen Studie nicht nachgehen. Daher beschränke ich mich auf die philosophische und auf die soziologische Bedeutungsvariante. Die philosophische Perspektive kreist um die Frage nach der Gottheit Gottes und hat als religionskritische Spitze den Atheismus. Andere Religionen, wie zum Beispiel der Buddhismus strömen in Europa ein, die man fasziniert studiert und bisweilen hofft, mit ihnen entgehe man den schwierigen Gottesdiskussionen. Die Religionskritik Feuerbachs sieht in der Religion ein zu beseitigendes Entfremdungsphänomen, Nietzsche verkündet den Tod Gottes und kritisiert, dass die Menschen die weitreichenden Folgen dieser notwendigen Tat noch nicht begriffen hätten15. Habermas gibt wie schon Max Weber16 den „Glutkern“ der Theodizee als zentrales Problemfeld an. Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts des Übels in der Welt ist für den christlichen Glauben, der die Gottheit Gottes nicht ohne den Allmachtsgedanken denken und auf das Leben beziehen kann, ebenso unabweisbar wie unlösbar. Sie ist eine philosophische Frage, die einerseits besonders in Krisen- und Umbruchszeiten die Religionskritik befördert, andererseits die Philosophie an ihrer Verflachung hindert.

Die soziologische Variante geht davon aus, dass es eine Folge des gesellschaftlichen und des innerreligiösen Rationalitätsprozesses ist, dass die Religion ihre Inhalte an die Gesellschaft ausliefert und sich selber damit überflüssig macht. Oft wird zugleich behauptet, die drei verschiedenen Säkularisationsprozesse seien strukturell stets miteinander verbunden. José Casanova hat aber gezeigt, dass die These „in Wirklichkeit aus drei ganz verschiedenen, ungleichartigen und kein Ganzes bildenden Behauptungen besteht: Unter Säkularisation wird zum einen die Ablösung und die Emanzipation weltlicher Bereiche von religiösen Einrichtungen und Normen verstanden, zum anderen aber auch der Niedergang religiöser Überzeugungen und Verhaltensformen und drittens die Abdrängung der Religion in die Privatsphäre.“17 Nicht nur die Situation in den USA, welche die säkularisierteste und die am wenigsten säkularisierte Gesellschaft der Neuzeit sind, was im 19. Jahrhundert schon Karl Marx18 wusste, zeigt, dass der Schluss auf die Notwendigkeit des Verschwindens aus der Öffentlichkeit und das stets gemeinsame Auftreten dieser drei verschiedenen Prozesse irrig ist. Ich orientiere mich durchgängig an Casanovas Begriffsbildung. Auch Habermas schränkt in seiner Beschreibung von Säkularisierung die weitreichende Behauptung ein, die von Max Weber diagnostizierte „Entzauberung der Welt“19 enthalte in sich das „modernisierungstheoretische Schema, demzufolge Religion als ein traditionaler Überhang in der Moderne säkularisiert und abgeschmolzen“ werde.20 Religion verschwindet nicht aus dem öffentlichen Bewusstsein der säkularen Gesellschaft, sofern sie gewisse Bedingungen erfüllt. Allerdings verändert sie sich aus äußeren und inneren Gründen. Umgekehrt verlangt das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften auch von einer epistemisch eingestellten Gesellschaft einen „Mentalitätswandel, der kognitiv nicht weniger anspruchsvoll ist als die Anpassung des religiösen Bewusstseins an die Herausforderungen einer sich immer weiter säkularisierenden Umgebung.“21 Dieser Mentalitätswandel drückt sich in der Gegenwart institutionell darin aus, dass die christlichen konfessionell gebundenen Theologien, inzwischen auch manche islamische Theologie, vom Wissenschaftsrat ausdrücklich als Wissenschaften an deutschen Hochschulen anerkannt worden sind. Die überkommene Religion mag den Menschen nicht mehr die für ihr Leben nötige Daseinsgewissheit vermitteln, aber ohne Religion gibt es auch keine handlungsleitenden Gewissheiten, wie die Diskussion um die Entstehung der Werte zeigt.22

Diesen zwei Perspektiven, der philosophischen und der soziologischen, will ich in der gebotenen Kürze nachgehen und ihre Bedeutung für die Interpretation der von mir gewählten Opern deutlich machen. Dabei mache ich die Voraussetzung, dass es das 19. Jahrhundert abgesehen von der formal-kalendarischen Begrenzung auf Jahreszahlen so nicht gegeben hat. Die ungeheuren Verwandlungen der Welt, die sich in diesem Zeitrahmen ergeben haben, haben ihre Wurzeln weit vor der Jahrhundertwende im 18. Jahrhundert. Die Umbrüche, die sich im 19. Jahrhundert auf allen Feldern menschlichen Lebens, aber auch in der Naturauseinandersetzung ergeben haben, reichen weit ins 20. Jahrhundert hinein. Es gibt sogar gute Gründe, die epochalen Bedingungen und ihre Veränderungen noch einmal in drei Perioden zu unterteilen. Jürgen Osterhammel hat die erste Periode dieses Jahrhunderts mit Reinhard Kosselecks Begriff der „Sattelzeit“ auf die Zeit von 1760/70 bis 1830 terminiert. Sie würde von der „viktorianischen Zeit“ abgelöst, die wir gewöhnlich als „das“ 19. Jahrhundert bezeichnen. Und schließlich hat sich zwischen 1880 und 1890 noch einmal eine solche Dynamik auf allen Ebenen der Welt ergeben, dass man hier von einer Unterepoche, dem „Fin de siècle“, sprechen kann.23 Die Komponisten und ihre Werke, die ich vorstellen möchte, lebten und arbeiteten jeder in einer dieser drei Epochen. Beethoven in der Sattelzeit, Wagner im „Victorianismus“ und Strauss im „Fin de Siècle“. Es ist davon auszugehen, dass sich ihre jeweils andere Welt in ihren Werken, in Theorie oder in ihren Opern einen Ausdruck gesucht hat.

Zugleich gibt es aber auch Themen, die sich bei allen dreien durchhalten, auch wenn ihre Antworten auf Fragen und Herausforderungen verschieden ausfallen. Das sind die Fragen nach Gott oder der Transzendenz, und die Frage nach dem Zustand von Welt, Mensch und Gesellschaft und der möglichen Erlösung aus einem Zustand der Welt, der nicht nur unbefriedigend ist, sondern geradezu lebensfeindlich. In der Frage nach der möglichen Erlösung aus dem beschädigten Leben in einer tief versehrten Welt zu einem erfüllten Dasein ziehen sich die Frage nach Gott und die Frage nach einem erlösten Dasein und einer nicht mehr zerstörten Welt zusammen.

Nach dem Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755 geraten die christliche Religion und die traditionelle Metaphysik in eine Krise, die, verbunden mit einer Neubestimmung des Menschen, drei neue Philosophien hervorbringt: die Geschichtsphilosophie, die philosophische Anthropologie und die philosophische Ästhetik.24 Alle drei neue Philosophien reagieren auf das durch das Erdbeben virulent gewordene Problem der Theodizee und verschieben ganz unterschiedlich die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt auf den Menschen und seine Lebenswelt. Alle Antworten haben nicht mehr, wie noch Leibniz, das Zutrauen, dass die von Gott geschaffene Welt die beste aller möglichen Welten ist. Sie ersetzen Gott als die für das Dasein des Kosmos bürgende Legitimationsinstanz durch den Menschen. Die im 18. Jahrhundert in der Folge dieser Krise einsetzende Versachlichung entzaubert die Welt, um das Webersche Bild zu benutzen, insofern der Mensch an die Stelle Gottes tritt. Die gesellschaftliche Dynamik, die sich im 19. Jahrhundert dann als Säkularisierung breite gesellschaftliche Bahn bricht, hat ihre Wurzeln auch in den kritischen Reaktionen auf den nach Lissabon einsetzenden Legitimationsverlust für eine gute und verlässliche Welt. In der Folge verwandelt sich an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert mit Kants Kritiken der Sinn von Religion in Moralität. Gott, dessen Existenz angesichts des Übels bezweifelbar geworden war, verblasst zum Postulat der praktischen Vernunft. Kants Religionsphilosophie hat der organisierten Religion noch den Stellenwert zuerkannt, als regulative Idee mitzuhelfen, Moralität zu begründen. Gott, Freiheit, Unsterblichkeit allerdings sind als bloß regulative Ideen nur noch Denkvoraussetzungen, über deren empirischen Charakter philosophisch keine Aussagen gemacht werden können.

Aber die Übel bleiben in der Welt. Auch wenn die Kompensationen der Übel durch die Religion wegfallen, um das funktionale Vokabular der Kompensationstheorie zu gebrauchen, ist die Welt nicht im Gleichgewicht. Wenn Gott nicht mehr als Verursacher oder Kompensator in Frage kommt und diese Welt nicht mehr überzeugend religiös als die beste aller möglichen erklärt werden kann, dann bleibt alles am Menschen selber hängen. Sowohl für die Kausalität der Übel wie deren mögliche Kompensation rückt der Mensch auf die Anklagebank. Das wiederum hat weitreichende Konsequenzen für das Verständnis des Menschen, seiner Individualität, seiner Verfassung als Leib, Seele und Geist und seiner Vergesellschaftung in den Institutionen seiner Vergemeinschaftungen. Ist der Mensch mit dieser Stellung im Kosmos nicht überfordert und sucht er sich dieser Verantwortung nicht immer wieder zu entziehen, sich zu entlasten?

Odo Marquard hat den damals entstehenden neuen Begriff des Menschen „Homo compensator“ genannt, der sich auf vielfache Weise Ventile sucht, um sich von dieser ungeheuren Verantwortung eben auch für das Übel zu entlasten und Balancen und Kompensationen zu entdecken, in denen der Mensch gerade nicht mit seiner Verantwortung behaftet werden kann und sich nicht rechtfertigen muss.

Eines dieser Kompensationsfelder ist die Ästhetik, die sich gerade in dieser Zeit, um 1750, zu entfalten beginnt. Sie ist die Ausbildung eines Organs zur Kompensation der Entzauberung der Welt durch Wiederverzauberung durch die Kunst und die Ästhetisierung der Religion. Der Gang geht „von der Rationalität zur Sensibilität, vom Normativen zum Originellen, von der imitatio zum Genie“25. In diesem Kompensationsfeld der Ästhetik fallen Entzauberung und Wiederverzauberung der Welt zusammen. Anders ausgedrückt: Religion verschwindet unter dem kritischen Druck der Welterfahrung und taucht verwandelt wieder auf, weil der Druck der Welt und die anthropologischen Entlastungsmechanismen nicht ausreichen und die Götter sich zwar verdrängen und verschieben, aber nicht auslöschen lassen. Das unendliche Leid, das über der Welt liegt, und die Einsicht in die eigene Sterblichkeit lassen das „metaphysische Bedürfnis“ (Schopenhauer) der Menschen nicht verkümmern, selbst wenn die Antworten der zeitgenössischen Religion – oder was man dafür hält – nicht zu überzeugen vermögen. Oder theologisch gesprochen: Weil Gott die Wandlungen seiner Welt mitgeht und die Menschen in ihrer Not nicht ihrer Verzweiflung überlässt, können die Menschen nicht schweigen vom Unaussprechlichen.

Die Wiederkehr der Religion ins öffentliche Bewusstsein der Gegenwart hat auch hier ihren Ursprung – und eben auch ihre ästhetische Gestalt. Die „Entzauberung der Welt“ führt zur Transformation religiöser Gehalte aus der organisierten Religion als Kirche in die säkulare Kultur, zum Beispiel in die Ästhetik in Gestalt der Kunstreligion. In ihr bekommt das zentrale religiöse Thema der Erlösung eine besondere Farbe und es ist interessant, dass schon Max Weber genau diese Transformation als Säkularisierungsvorgang beschrieben hat: „Die Kunst konstituiert sich nun als ein Kosmos immer bewusster erfaßter selbständiger Eigenwerte. Sie übernimmt die Funktion einer, gleichviel wie gedeuteten, innerweltlichen Erlösung: vom Alltag und, vor allem, auch von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus. Mit diesem Anspruch aber tritt sie in direkte Konkurrenz zur Erlösungsreligion.“26

Die Besprechungen von Beethovens „Fidelio“, Wagners frühen Opern „Tristan“ und „Parsifal“ und schließlich Strauss’ „Salome“ sollen zeigen, wie stark der Säkularisierungsprozess sich in ihnen abbildet und wie sehr er von ihnen zugleich durch religiöse Produktion abgefangen und vor „Entgleisung“ bewahrt werden soll. Immer wieder steht dabei die Frage im Vordergrund, ob und in welcher Weise in den jeweiligen Werken das Thema der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen behandelt, gefühlt oder als eine unstillbare Sehnsucht umkreist wird. Ich hoffe, dass ich zeigen konnte, dass und wie auch in den Kunstwerken Religion den Menschen davor bewahrt, als homo compensator sich hoffnungslos zu überfordern oder in tiefste Einsamkeit und Verzweiflung zu stürzen.

Allerdings ist nicht jede Religion hilfreich und den existenziellen Fragen angemessen. Daher wage ich immer auch einmal eine theologische Religionskritik. Sie ist nötig angesichts der Inhalte und der Formen der ästhetischen Religionen, die Wagner und Strauss aus der Kritik an der traditionellen Religion ihrer Gesellschaft entfalten und propagieren. Bei dem einen führt sie in solche theologischen Unklarheiten, dass allein die Musik überzeugen kann. Bei dem anderen führt das Hervortreten der neuen Gottheit in solche eisige, rauschhafte Individualität, dass von einer Religion als Sozialform, wie es der historische Dionysoskult ja gewesen ist, nicht mehr die Rede sein kann – auch hier bleibt die Musik das entscheidende Vergemeinschaftungselement zwischen Komponist, den Darstellern und den Zuschauern.

Es gibt keinen allgemein anerkannten Religionsbegriff. Die gängigen Definitionen von Religion übertragen allesamt europäische Vorstellungen und Begriffe auf fremde Selbstverständnisse und Praktiken. Das ist besonders für die Religionssoziologie ein Problem. Sie muss sich ja einen Begriff von dem Phänomen machen, das sie erforschen will. So bildet sie verschiedene Theorien wie zum Beispiel die Integrations-, die Kompensations- oder eben auch die Säkularisierungsthese unter der Voraussetzung eines Religionsbegriffs. Es geht nicht anders, aber es ist schwierig, weil das Phänomen so unüberschaubar vielfältig ist. Dabei ist deutlich, dass es nicht statthaft ist, die Religion des 19. Jahrhunderts, aber auch unserer Gegenwart nur unter dem Begriff der Säkularisierung zu betrachten.27 Religion in der Moderne, aber auch generell, ist funktional und substantiell mehr als diese eine Perspektive. Insofern ist auch die Reichweite meiner Arbeit begrenzt. Dennoch hoffe ich, dass sie etwas an der Entwicklung der Religion erhellen kann. Sie will und kann die Angst vor Säkularisierung und vor dem Religion-Sein des Christentums nehmen.

Eines ist aber unstrittig: Religion gibt es nur in den Religionen. Nicht alle Religion ist dabei institutionalisiert, es gibt die veränderte Sozialform der „unsichtbaren Religion“28, eines Produktes der Selbstmodernisierung als Privatisierung und Individualisierung des Glaubens. Die Tendenz dazu lässt sich an den Opern des 19. Jahrhunderts ablesen. Sie deutet sich bei Beethovens „Fidelio“ nur an, wird in Wagners Parsifalreligion explizit und verstärkt sich in Salomes Dionysosoffenbarung. Auch die Bezeichnungen das Christentum, der Buddhismus etc. sind nur Hilfsbestimmungen, weil es das Christentum etc. nicht gibt. Religion bezeichnet stets ein Pluraletantum und die einzelne Religion meint ebenfalls stets eine Vielheit.

Manche Religionswissenschaft, mehr noch manche Theologie, nimmt angesichts dieses Befundes bisweilen die Zuflucht zu den Bildern des einen Berges, zu dessen Spitze alle Religionen unterwegs sind, um zu behaupten, alle Religionen hätten das gleiche Ziel: Sie führten alle zu Gott. Diesen Behauptungen folge ich nicht. Die sogenannte pluralistische Religionstheorie ist nicht pluralistisch, weil sie meint, die Kerne aller Religionen seien nicht plural, sondern gleich. Die Religionen, auch die großen, sind in ihrem jeweiligen Kern, ihrer Gottheit oder ihrem Heilsweg unanalogisierbar verschieden. Es gibt auch kein religiöses „Weltethos“. Der amerikanische Religionswissenschaftler Stephen Prothero hat das aus der Perspektive der Religionswissenschaft zusammengefasst: „Die Religionen der Welt haben nicht ein gemeinsames Ziel, sondern vielmehr einen gemeinsamen Ausgangspunkt. Sie beginnen mit einer einfachen Beobachtung: Etwas ist nicht richtig in der Welt. In der Sprache der Hopi-Indianer meint das Wort Koyaanisqatsi, dass das Leben aus dem Gleichgewicht geraten ist. Shakespeares Hamlet erzählt uns, dass nicht nur im Staate Dänemark etwas faul ist, sondern auch mit der menschlichen Existenz. Folgt man der hinduistischen Kosmologie, leben wir im Kali-Yuga, im Zeitalter des Verderbens. Die Buddhisten sind der Meinung, dass die menschliche Existenz mit Leid wie von Pockennarben überzogen ist. Aus jüdischen, christlichen und islamischen Geschichten wissen wir, dass dieses Leben jenseits von Eden stattfindet. Zion, der Himmel und das Paradies liegen noch weit vor uns. Die religiösen Menschen auf der ganzen Welt stimmen überein, dass etwas schiefgegangen ist. In der Frage jedoch, was genau falsch gelaufen ist, gehen die Meinungen auseinander. Und wenn sie von der Diagnose des menschlichen Problems zur Verschreibung einer Lösung übergehen, gehen sie ihre jeweils eigenen Wege.“29 Ich spreche also dann von Religion, wenn in den theoretischen Texten oder in den Kunstwerken die Theorie oder die Erfahrung davon zum Ausdruck kommt, dass etwas ganz grundsätzlich nicht richtig in der Welt ist und etwas grundsätzlich schief gelaufen ist. Das Wort grundsätzlich hat eine metaphysische Dimension.

Das zweite: Religion liegt dann vor, wenn Menschen in ihrer Todverfallenheit sich über ihren zerrissenen, zwiespältigen Zustand klar werden und aus der Situation, dass etwas grundsätzlich nicht richtig ist in der Welt, aus eigener Kraft nicht herausfinden. Wenn dann eine Gottheit oder eine Heilspotenz (eine heilige Lehre) sie nicht in dieser verzweifelten Lage belässt, sondern ihnen helfend zur Seite tritt, werden Menschen über ihre Todesgrenzen hinaus verwandelt. Solchen Verwandlungsprozess des Menschen, seine Transzendierung auf Leben hin, nenne ich Religion: „Religion in allen Religionen wäre also der Vorgang, in dem Menschen die Todesgrenzen ihres Menschseins überschreiten oder transzendieren. Der Grund der Möglichkeit für diese Transzendierung ruht in der Manifestation oder der Inspiration. Es gibt keine Lebensbewegung, die wir in einer Kultur als Religion beobachten, die nicht diese Transzendierung des ,allzu Menschlichen‘ ermöglichte oder zum Inhalt hätte. Mit seinen Religionen und in ihnen macht sich der Mensch auf, sein verfallenes Dasein zu überschreiten. In allen Religionen ist das Heil, das diese Transzendierung zielhaft leitet, mit Leben und Lebensmöglichkeit verbunden. Es geht in den Religionen um Leben.“30

Nun gibt es ein Problem, das ich offen legen muss, um die begrenzte Reichweite meiner Versuche, diese Opern zu interpretieren, nicht zu verschweigen. Ich bin kein Musiker. Zwar bin ich auch kein Soziologe, kein Literaturwissenschaftler – aber das ist etwas anderes. Diese beiden Wissenschaften legen ihre Ideen, Techniken und Ergebnisse in Theorien und empirischen Befunden vor. Ich bin Theologe und geschult im Umgang mit Texten. Hier ist mein Dilettantismus nicht so schmerzlich. Die Musik legt ihre Ideen in der Komposition und im Klang vor. Sie ist ein intellektueller und ein sinnlicher Vorgang, beides gehört zusammen und zum wirklichen Verstehen ist beides erforderlich, verbunden mit dem subjektiven Faktor des Interpreten. Ich bin bei den musikalischen Kunstwerken stets auf Andere angewiesen, um mich mit ihrer Hilfe soweit wie möglich verstehend einzufühlen. Darum ist mein Dilettantismus besonders schmerzlich. Aber Gottfried von Straßburg hat seinem Parsifal mitgegeben, dass derjenige, der die Schmerzen der Liebe nicht erfahren hat, auch niemals wirklich geliebt hat. Ich liebe Musik. Jedenfalls habe ich versucht, eine Bemerkung Adornos zum Verhältnis von Gesellschaft und Musik im Werk Beethovens für alles, was ich geschrieben habe, ernst zu nehmen. Adorno meint, Beethovens autonome Musik sprenge „das Schema willfähriger Adäquanz von Musik und Gesellschaft … Gesellschaft wird von Beethoven begriffslos erkannt, nicht abgepinselt.“31 Ich hoffe, dass ich nicht abgepinselt habe.

Gewidmet ist das Buch unserer Tochter Sonja, die Wagner besonders liebt, obwohl sie als Kind seinetwegen oft nicht einschlafen konnte. Gedankt sei Benjamin Landgrebe für sein verständnisvolles und kritisches Lektorat.

1 Weil das Thema Religion nur in der Perspektive der Integrationstheorien von Mead und Durckheim bearbeitet wurde, die beide religionswissenschaftlich unzureichend sind, vgl. Theorie des Kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a. M 1981, S. 7–170.

2 Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a. M. 2001, S. 46 bzw. 40.

3 A.a.O., S. 42.

4 A.a.O., S. 41.

5 A.a.O., S. 45.

6 A.a.O., S. 40f.

7 A.a.O., S. 38.

8 Vgl. a.a.O., S. 41.

9 A.a.O., S. 52.

10 Ebd. Habermas erörtert das Gemeinte an dem konkreten Beispiel der Gentechnik.

11 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1240.

12 Vgl. Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870 – 1918, München 1988.

13 Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M./New York 2009, S. 35. Dazu gehören z.B. Magnetismus, der die Naturphilosophen beschäftigte, Hypnose, Spiritismus etc.

14 Vgl. Ulrich Barth, Art.: Säkularisierung I, in TRE Bd. XXIX, 1998, S. 603– 634.

15 Die fröhliche Wissenschaft Aph. 125, KSA Bd. 3, S. 480 – 482.

16 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Köln/Berlin 1964, S. 405: „Es ergibt sich „das Problem: wie die ungeheure Machtsteigerung eines solchen Gottes mit der Tatsache der Unvollkommenheit der Welt vereinbart werden könne, die er geschaffen hat und regiert.“

17 Religion und Öffentlichkeit. Ein Ost-/Westvergleich, 1994, in: Karl Gabriel/Hans-Richard Reuter (Hg.), Religion und Gesellschaft. Texte zur Religionssoziologie, Paderborn u.A. 2004, S. 271.

18 Casanova, ebd., verweist auf Marx’ Streitschrift „Zur Judenfrage“, in: MEW 1, Berlin 1981, S. 352: Amerika sei sowohl ein Paradebeispiel für die „vollendete politische Emanzipation“ als auch „vorzugsweise das Land der Religiosität“.

19 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, (1920), Tübingen 1988, S. 94. Weber hat die These im Rahmen seiner Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ aufgestellt, sie mit der Ablehnung der sakramentalen Magie als Heilsweg begründet. Er sieht diesen Prozess mit der altjüdischen Prophetie einsetzen und im englischen Puritanismus seinen Höhepunkt finden.

20 Benjamin Ziemann, a.a.O., S. 35.

21 Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005, S. 145f.

22 Vgl. Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1997.

23 A.a.O., S. 102–116.

24 Odo Marquard, Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 2005, S. 39–42.

25 Odo Marquard, a.a.O., S. 54.

26 Max Weber, Zwischenbetrachtung, a.a.O., S. 555. Habermas bedenkt die Ästhetisierung der Religion mit skeptischer Ironie: „Wenn sich der Posthumanismus in der Rückkehr zu den archaischen Anfängen vor Christus und vor Sokrates erfüllen soll, schlägt die Stunde des religiösen Kitsches. Dann öffnen die Warenhäuser der Kunst ihre Pforten für die Altäre aus aller Welt, für die aus aller Welt eingeflogenen Priester und Schamanen“, Glauben, a.a.O., S. 52.

27 Vgl. Benjamin Ziemann, a.a.O., S. 160.

28 Mit Bezug auf Thomas Luckmanns Veröffentlichung von 1963 Benjamin Ziemann, a.a.O., S. 161.

29 Die neun Weltreligionen. Was sie eint, was sie trennt. Aus dem Amerikanischen von Stefan Matzig, München 2011, S. 23.

30 Carl Heinz Ratschow, Das Verständnis des Menschen in den Religionen und im Christentum, in: Von der Gestaltwerdung des Menschen. Beiträge zur Anthropologie und Ethik, hg. von Christel Keller-Wentorf und Martin Repp, Berlin/New York, 1987, S. 148.

31 Theoder W. Adorno, Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2004, S. 73.



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