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Teil I

Hilf dir selbst, so hilft dir Gott

1. Die Geschichte mit den Weintanks

Im Wintersemester 1957/58 immatrikulierte ich mich an der Ludwig-Maximilian-Universität in München und begann mit dem Studium der Betriebswirtschaftslehre. Besonders motiviert war ich nicht, bis ich von meiner Mutter einen verzweifelten Brief bekam: Bei meinen Eltern hatte das Finanzamt eine Betriebsprüfung durchgeführt, die zu sehr hohen Steuernachzahlungen führte. Die Betriebsprüfung bezog sich auf Betriebe meines Großvaters, die meine Mutter 1948 geerbt hatte. Nachdem ihr Steuerberater nicht helfen konnte, sah sie in mir die letzte Chance.

Zu den Betrieben meines Großvaters gehörten eine Obstkelterei, eine Brennerei und eine Likörfabrik. In seinem Geschäftshaus befanden sich in einem Keller, in dem Weinfässer lagerten, auch vier große gemauerte Tanks, die innen gefliest waren. Mein Großvater hatte für seine Brennerei aus Frankreich Wein importiert, den er in diesen Weintanks lagerte. Jeder Tank hatte ein Fassungsvermögen von 20.000 Litern. Während des Kriegs wurden die Tanks durch von Bomben verursachte Erschütterungen stark beschädigt. Eine Reparatur war zunächst nicht möglich, weil alle Bürger der Stadt evakuiert wurden. Nach Kriegsende besetzte französisches Militär die Stadt und gab sie erst ab 1951 nach und nach wieder frei.

Eines Tages meldete sich ein Geschäftsfreund meines Großvaters bei meinen Eltern, der aufgrund seiner früheren geschäftlichen Kontakte Kenntnis von den Weintanks hatte. Für die Einfuhr von Wein aus Frankreich war eine Einfuhrgenehmigung erforderlich, die deutschen Staatsbürgern während der Besatzungszeit nicht mehr erteilt wurde. Andere Unternehmer bekamen zwar eine Einfuhrgenehmigung, hatten aber keine Lagerkapazität. Durch den Besuch des Kaufmanns eröffnete sich für meine Eltern die Chance, endlich wieder ein Einkommen zu erzielen. Sie nahmen einen Kredit auf, ließen die Weintanks reparieren und vermieteten sie anschließend zu günstigen Konditionen an besagten Geschäftsmann.

Dazu muss man wissen, dass nach Abzug des französischen Militärs auch die Behörden wieder aktiv wurden. Im Dritten Reich waren Beamte, insbesondere leitende Beamte, meistens Parteigenossen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Das galt auch für die Finanzverwaltung.5 Nach der Freigabe der Stadt 1951/52 übernahmen dieselben Finanzbeamten, die 1945 ihre Arbeit verloren hatten, ihre früheren Arbeitsplätze wieder und sorgten bis zu ihrer Pensionierung zwangsläufig für eine Kontinuität des vom Dritten Reich geprägten Verwaltungshandelns in der Bundesrepublik Deutschland.6

Nach dem Ende des Dritten Reichs war der Staat pleite. Eine hohe Inflationsrate entwertete die Reichsmark so, dass man dafür nichts mehr kaufen konnte. Zum Essen bekam man nur noch etwas gegen Lebensmittelmarken, die staatliche Stellen jedem Bürger zuteilten. Wer mehr haben wollte, musste irgendwelche Tauschobjekte auf dem Schwarzmarkt anbieten. Da auch die Mittel zur Finanzierung des bürokratischen Apparats fehlten, war der Druck der Finanzbeamten auf die Bevölkerung enorm hoch. Insbesondere für die Umsiedlung der Ostflüchtlinge in den Westen wurden immense Mittel benötigt.

Der Staatsentschuldung diente einmal die Währungsreform vom 20. Juni 1948, durch die die Reichsmark im Verhältnis 10: 1 in die Deutsche Mark (DM) umgetauscht wurde. Ein weiteres Mittel war das sogenannte Lastenausgleichsgesetz. Es bestand aus den Teilen Hypothekengewinnabgabe, Kreditgewinnabgabe und Vermögensabgabe. Alle Hypothekenforderungen und Kreditforderungen wurden im Verhältnis 10: 1 abgewertet. Der Schuldner musste zwar seine Hypotheken- oder Kreditschuld in voller Höhe zurückbezahlen, der Gläubiger bekam davon aber nur 10 Prozent – 90 Prozent kassierte der Staat. Die Vermögensabgabe diente hauptsächlich der Finanzierung der Umsiedlung der Ostflüchtlinge.

Für alle Bürger, die im Westen lebten und ihre Heimat nicht verloren hatten, wurde eine Abgabe in Höhe von 50 Prozent ihres Vermögens eingeführt. Das Vermögen wurde nach dem Stand am Tag der Währungsreform in DM berechnet. Das Gesetz, das am 01.09.1952 in Kraft trat, konnte deshalb sehr schnell verabschiedet werden, weil es dazu bereits eine Vorlage gab, die noch aus dem Dritten Reich stammte, denn im Reichsfinanzministerium wurde bereits ab 1936 an einer antisemitischen Sonderabgabe gearbeitet, die kurz nach den Novemberpogromen im Jahr 1938 als Judenvermögensabgabe in Kraft trat. Maßgeblich beteiligt war an den Planungen Walter Kühne, der bis 1938 im Reichsfinanzministerium Referent für Steuern und Vermögen war und von 1949 bis 1952 im Bundesfinanzministerium, Sondergruppe Lastenausgleich, arbeitete. Auf diese Weise konnte das bereits vorhandene Wissen kurzfristig in das Lastenausgleichsgesetz eingebracht werden.7

Auch die Vermögensabgabebescheide konnten bald erlassen werden. Bei den Plünderungen während der Besatzungszeit hatte sich niemand für die Steuerakten interessiert, sie waren alle noch vorhanden. Die Vermögensabgabe musste 30 Jahre lang in vierteljährlichen Raten an das zuständige Finanzamt abgeführt werden. Um die vierteljährlichen Raten finanzieren zu können, mussten viele Bürger immer wieder Vermögensteile verkaufen, vor allem Grundstücke.

Wegen der Vermietung der Weintanks mussten meine Eltern eine Einkommensteuererklärung abgeben. Dadurch bekam das Finanzamt Kenntnis von der günstigen Vermietung, witterte unvermutete bisher nicht bekannte Steuerquellen und ordnete eine Betriebsprüfung an. Der Betriebsprüfer war der Auffassung, die Weintanks seien bei der Festsetzung der Vermögensabgabe übersehen worden und erhöhte die vierteljährlichen Raten so, dass die gesamten Mieteinnahmen an das Finanzamt abzuführen waren. Daneben hatte er noch elf weitere Beanstandungen. Die Prüfung hatte zu so hohen Steuernachzahlungen geführt, dass meine Eltern insolvent geworden wären, wenn sie sie akzeptiert hätten. Der zugezogene Steuerberater meinte dazu nur, da könne man nichts machen, die Gesetze seien nun mal so.

Meine Mutter übersandte mir also den Bericht des Betriebsprüfers und erwartete von mir, dass ich ihr helfen würde. Ich hatte aber von Steuern keine Ahnung und verstand zunächst gar nichts; bisher hatte ich mich mit ganz anderen Dingen beschäftigt, mein eigentliches Berufsziel war nämlich die Schauspielerei. Ich hatte bereits während der Schulzeit Schauspielunterricht genommen und bewarb mich nach dem Abitur an der Schauspielschule Stuttgart, die mich aber ablehnte. Ich zog mich daher zunächst in die Staatsbibliothek zurück und studierte Kommentare zu den verschiedenen angesprochenen Steuerarten, entdeckte zahlreiche Widersprüche und erhob gegen alle zwölf Punkte des Betriebsprüfungsberichts Einwendungen.

Das Finanzamt schrieb zurück, dass es schwierig sei, einem Laien die Richtigkeit der Feststellungen des Prüfers in einem Brief zu erläutern, und bat mich zu einem persönlichen Gespräch. Als armer Student blieb mir nichts anderes übrig, als von München zum Finanzamt in Kehl zu trampen. Dort warteten in dem angegebenen Zimmer bereits der Betriebsprüfer und sein Vorgesetzter. Die Unterhaltung verlief ausgesprochen einseitig. Die beiden redeten auf mich ein, ohne auch nur auf einen der von mir beanstandeten Punkte einzugehen. Ich forderte sie auf, zu erklären, warum sie meine Beanstandungen ablehnten.

Da sie dazu nicht bereit waren, verließ ich den Raum und suchte das Zimmer des Vorstehers. Ich klopfte an die Tür, trat ein und stand der Sekretärin gegenüber. Dieser erklärte ich, dass ich den Vorsteher sprechen müsse. Sie sagte, so gehe das nicht, ich müsse erst einen Termin vereinbaren. In diesem Moment hatte ich Angst, die lange Reise könnte umsonst gewesen sein, fasste meinen ganzen Mut zusammen, drängte sie zur Seite, öffnete die Tür und trat ein.

Ich blickte auf den Vorsteher. Er saß hinter einem Schreibtisch, der sich auf der der Tür gegenüberliegenden Seite des Raumes befand. Es war ein typischer massiver Schreibtisch, wie er in den Fünfzigerjahren in Amtsstuben üblich war. Das Vorzimmer mit der Sekretärin, der Schreibtisch, der Ort seiner Aufstellung im Raum und die Amtsbezeichnung des Vorstehers waren seine Insignien der Macht. Sie dienten allein dazu, einen Besucher einzuschüchtern. Mir war das damals allerdings nicht bewusst und reagierte nicht so, wie man es erwartete. Mich machte die ganze Situation eher aggressiv. Ich war der Meinung, ein berechtigtes Anliegen zu haben, und gewann den Eindruck, nicht ernst genommen zu werden. Der Vorsteher hatte Angst. Es war nicht alltäglich, dass ein Jugendlicher, der in diesem Augenblick noch nicht einmal volljährig war, beim Vorsteher eines Finanzamts ohne Anmeldung vorsprach.

Ich trug mein Anliegen vor, er griff zum Telefon und sagte: »Hier ist Herr Uhl und behauptet, Sie beide wären unfähig, konkrete Fragen zu beantworten, kommen Sie bitte zu mir.« Auf mich wirkte dieses Telefonat wie ein weiterer Einschüchterungsversuch und steigerte meine Aggressivität noch.

Der Betriebsprüfer und sein Vorgesetzter traten ein und das Spiel ging weiter wie zuvor, nur dass nun drei Beamte auf mich einredeten und keiner willens war, mir zuzuhören. Keiner äußerte sich konkret zu den Beanstandungen. Hätte der Prüfer recht gehabt, wäre es leicht gewesen, meine Einwendungen zu widerlegen. Da sie dies aber nicht einmal versuchten, stieg in mir der Verdacht hoch, dass meine Hinweise nicht so abwegig waren, wie sie vorgaben. Da sie bereits im Dritten Reich in Amt und Würden waren, hatten sie sich daran gewöhnt, den Bürger als bloßen Befehlsempfänger zu behandeln, und mussten das Zuhören, Nachdenken und Abwägen erst noch lernen8.

Der Vorsteher machte kurzen Prozess und wies mich mangels Eignung zum mündlichen Vortrag zurück. Auf gut Deutsch: Er warf mich hinaus. In diesem Augenblick war ich sprachlos. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich konnte nicht verstehen, dass ein älterer Beamter mit langer Berufserfahrung sich einer sachlichen Auseinandersetzung durch Hinauswurf entzog. Ich fühlte mich so, wie ich es viele Jahre später bei Stefan Zweig las: Jugendliche hatten nichts zu sagen, die Meinung des Lehrers galt als unfehlbar, die Einrichtungen des Staates waren absolut und in alle Ewigkeit gültig. Bevor jungen Leuten irgendwelche Rechte zugebilligt wurden, sollten sie erst einmal Pflichten erfüllen und sich vor allem vollkommen fügsam unterwerfen. Sie hatten kein Recht etwas zu fragen oder zu fordern.9

Während meiner Schulzeit von 1944 bis 1957, 40 Jahre nach Stefan Zweigs Erlebnissen, hatte sich rein gar nichts geändert. Zur Durchsetzung dieses Erziehungsgrundsatzes war bis 1951 die Prügelstrafe noch eine gängige Erziehungsmethode und wurde erst 1973 per Gesetz verboten.

Das Verhalten des Vorstehers war rechtswidrig, das Grundgesetz war immerhin schon seit acht Jahren in Kraft. Er konnte sich aber auf die Reichsabgabenordnung berufen, die noch bis 1976 galt. Sehr spät nach dem Untergang des Dritten Reichs, Spötter behaupten, nachdem fast alle Finanzbeamten mit Nazivergangenheit in den Ruhestand getreten oder gestorben waren und sich deshalb nicht mehr mit dem an demokratische Regeln angepassten Verfahrensrecht befassen mussten, also erst ab 1977 wurde das steuerliche Verfahrensrecht reformiert. Der Maulkorbparagraf, der dem Finanzamt erlaubt, einen Bürger, der nicht Steuerberater oder Rechtsanwalt ist, mangels Eignung zum mündlichen Vortrag zurückzuweisen, wurde zwar beibehalten und gilt auch heute noch, ist aber nach der Rechtsprechung restriktiv anzuwenden.10

Der Vorsteher des Finanzamts Kehl rechnete wohl nicht damit, noch einmal etwas von mir zu hören. Er war überzeugt, dass ich selbst weder über ausreichendes Wissen noch über die notwendigen finanziellen Mittel verfügte, um mich wehren zu können. Heute weiß ich, dass sich Finanzbeamte mitunter auch deshalb rechtswidrig verhalten, weil sie um die Unwissenheit oder die finanzielle Notlage der Betroffenen wissen, sich keinen Steuerberater leisten zu können. – Aber so leicht gab ich mich nicht geschlagen.

Zurück in München ging ich wieder in die Staatsbibliothek und versuchte herauszufinden, was in dieser Situation noch unternommen werden konnte, und wurde fündig. Ich schrieb eine Dienstaufsichtsbeschwerde an die nächsthöhere Behörde, in diesem Fall die Oberfinanzdirektion Freiburg, beschwerte mich über das undemokratische Verhalten, verwies auf das in Artikel 103 des Grundgesetzes enthaltene Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, nicht nur im Prozess, sondern auch im davor liegenden Verwaltungsverfahren,11 und trug meine zwölf Einwendungen vor.

Nach einiger Zeit bekam ich Post vom Finanzamt Kehl. Man teilte mir mit, die Aufsichtsbehörde habe das Finanzamt angewiesen, mich anzuhören. Ich wurde gebeten, nochmals beim Finanzamt vorzusprechen, und trampte also wieder von München nach Kehl.

Dem Vorsteher des Finanzamts Kehl stand die Prügelstrafe – aus seiner Sicht wohl leider – nicht mehr zur Verfügung und so rächte er sich auf die einzige Art, die ihm noch verblieb: Er ließ mich die lange Reise per Anhalter machen, lediglich um mir mitzuteilen, dass sich das Finanzamt entschlossen habe, den Fall an die Aufsichtsbehörde zur weiteren Bearbeitung abzugeben. Dafür hätte auch ein einfacher Brief genügt.

Die Akten befanden sich nunmehr in Freiburg. Von dort bekam ich nach einiger Zeit positive Nachricht. Ich hatte vorgetragen, dass Sachverhalte im Prüfungsbericht unzutreffend dargestellt wurden, woraus sich eine zusätzliche – unberechtigte – Steuerbelastung ergab. Das ist übrigens auch heute noch eine gängige Methode der Betriebsprüfung, um zusätzliche Steuereinnahmen zu erzielen. An die übrigen Einwendungen, die ich gegen den Betriebsprüfungsbericht vorgetragen hatte, kann ich mich heute nicht mehr erinnern, sie waren aber so stichhaltig, dass die Oberfinanzdirektion Freiburg zustimmte. Das Finanzamt musste daraufhin die Änderungsbescheide aufheben und meine Eltern keine Steuern nachzahlen. Ich hatte mich auf ganzer Linie durchgesetzt.

Es stellten sich mir nach dem für meine Eltern erfolgreichen Ausgang der Betriebsprüfung verschiedene Fragen: Wie konnte es sein, dass Finanzbeamte in so eklatanter Weise rechtswidrig handeln? Ich wusste es nicht, hatte aber eine Vermutung: Es könnte mit den Nachwehen des Dritten Reichs zu tun haben. Während meiner Schulzeit endete der Geschichtsunterricht 1914, vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Zeit danach existierte nicht. In der Schule waren Fragen, die diese Zeit betrafen, unerwünscht. Unmittelbar nach dem Abitur wusste ich nicht, wie Bürokratie funktionierte. Was die wichtigsten Vertreter der Philosophie, Politologie und Soziologie über Macht und Machtmissbrauch erforscht haben, war mir – wie wohl den meisten Bürgern – unbekannt. Unterricht über die Grundzüge eines demokratisch organisierten Staatswesens stand während meiner Schulzeit nicht auf dem Lehrplan. Mit berühmten Philosophen, Politologen und Soziologen wie Hobbes, Hume, Locke, Max Weber oder Hannah Arendt habe ich mich erst viele Jahre später beschäftigt, als meine Frau ein zweites Studium, Politologie, begonnen hatte und wir über dieses Fachgebiet interessante Gespräche führten. Mein Wissen über die Zeit von 1914 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war also minimal. Die Macht, die Beamte in der Nazizeit gegenüber der Bevölkerung hatten, hatte ich als Kind lediglich in meinem Elternhaus zu spüren bekommen: Über bestimmte Angelegenheiten wurde nur sehr leise gesprochen und aus dem Verhalten meiner Mutter wurde deutlich, dass sie Angst hatte. Als Schüler litt ich unter der Sprachlosigkeit meiner Lehrer, die sich für ihre Vergangenheit vielleicht schämten. Da sie nicht reden konnten, spürte ich, wie sich ein roter Faden der Verlogenheit durch den Unterricht zog. Hinter dieser Verlogenheit stand wohl die Absicht des Kultusministeriums, die Komplizenschaft des Staatsapparats bei den begangenen Verbrechen zu verschleiern.12

Und nun hatte ich aufgrund der Betriebsprüfung zum ersten Mal in meinem Leben mit einer Behörde, einem Finanzamt zu tun. In meiner jugendlichen Naivität konnte ich mir nicht vorstellen, dass Beamte nach dem Desaster des Dritten Reichs nichts hinzugelernt hatten.13 Viele Jahre später begriff ich jedoch: Warum sollten Beamte, die bereits in der vergangenen Diktatur in Amt und Würden standen, ihr Verhalten ändern? Sie hatten kaum etwas zu befürchten, wie der Fall Globke zeigt. Er war das prominenteste Beispiel für die Übernahme der Verwaltungseliten des Dritten Reichs in den Behördenapparat der frühen Bundesrepublik Deutschland während der Adenauer-Ära. Globke war an der Entstehung der Nürnberger Rassengesetze beteiligt und verfasste 1936 zusammen mit Stuckart auf das Widerwärtigste den ersten Kommentar zu diesen Gesetzen. Unter Adenauer war er Staatssekretär im Bundeskanzleramt.14 Der FDP-Politiker Thomas Dehler äußerte sich so: »Globke hat einem Geist gedient, dem Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind.«15

Das Versagen des Verwaltungsapparats im Dritten Reich ist heute wissenschaftlich in großem Umfang erforscht. Das Buch von Christiane Kuller, Bürokratie und Verbrechen – Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland, ist im Jahr 2013, das Buch von Götz Aly, Hitlers Volksstaat – Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, im Jahr 2005 erschienen. Mit dem 2016 veröffentlichten Abschlussbericht Die Akte Rosenburg ist die NS-Vergangenheit des Bundesjustizministeriums aufgearbeitet worden.

Da rechtswidriges Handeln in allen Gesellschaftssystemen vorkommt, sowohl in einer Diktatur als auch in einer Demokratie, egal ob sie marktradikal, sozialradikal oder als soziale Marktwirtschaft organisiert ist, werde ich bei meiner Untersuchung, warum Mitarbeiter im öffentlichen Dienst sich nicht immer an Gesetz und Recht halten, zum Vergleich an einigen Stellen die Zeit der NS-Diktatur mit einbeziehen.

In allen Behörden sorgen geduldete Verhaltensweisen, Techniken und Hilfen zur Förderung unethischen Verhaltens für rechtswidrige Entscheidungen. Auch in einer Demokratie wird bürokratische Macht missbraucht. Der verstorbene bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß war unter den Politikern ein besonders schwarzes Schaf. Die mit seiner Person verbundenen zahlreichen Affären, die insbesondere durch die willfährige Mitwirkung mehrerer leitender Beamter des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen erst möglich wurden, hat Schlötterer in seinem Buch Macht und Missbrauch – Franz Josef Strauß und seine Nachfolger – Aufzeichnungen eines Ministerialbeamten ausführlich beschrieben.

Heute gibt es über die Zeit der Fünfziger- und Sechzigerjahre Informationen, die mir damals nicht zugänglich waren. Vor allem der ARD-Film Die Akte General16 setzt sich mit dieser Zeit auseinander. Die Mehrheit der Beamten, die im Dritten Reich zur Verwaltungselite gehörte, war mit dem Nazi-Virus infiziert. Dieser Personenkreis übernahm in der jungen Bundesrepublik die Schalthebel der Macht in Politik, Behörden und Gerichten und verhinderte die Aufklärung der Naziverbrechen.

Von der von mir erwarteten Redlichkeit staatlichen Handelns war also weit und breit nichts zu sehen. Ich fragte mich, warum der Steuerberater meinen Eltern nicht helfen konnte, und fand heraus, dass er mit dem Betriebsprüfer verwandt war. Der Steuerberater hatte nicht die Interessen seiner Mandanten, also meiner Eltern wahrgenommen, sondern mit dem Betriebsprüfer zusammengespielt. Aber warum sollte er das tun?

Am Anfang der jungen Bundesrepublik waren viele Gesetze noch nicht demokratisiert worden. Für bestimmte Rechtsgebiete fehlten sogar noch die entsprechenden Gesetze. Das Steuerberatungsgesetz, die Berufsordnung für Steuerberater, trat erst am 01.11.1961 in Kraft, mehr als 16 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine unabhängige Finanzgerichtsbarkeit gab es im nationalsozialistischen Staat nicht. Der sah darin nur eine unbequeme Hemmung der Verwaltungsbeamten, die sich zum Führen und Handeln berufen wähnten und nicht auf das Erkennen und Einhalten von rechtlichen Schranken eingestellt waren.17 Die Rechtsgrundlage für den gerichtlichen Rechtsschutz bei Streitigkeiten mit der Finanzverwaltung wurde erst 1965 durch die Finanzgerichtsordnung geschaffen, also 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und somit nach Pensionierung der Finanzrichter mit Nazivergangenheit.

Vor 1962 musste jemand, der als Steuerberater tätig werden wollte, keine besonderen Kenntnisse nachweisen. So wurden zum Beispiel Beamte, die aufgrund ihrer besonders kriminellen Verstrickung in die Nazi-Ideologie die Beamtenlaufbahn verlassen mussten, als Steuerberater zugelassen,18 auch wenn sie bisher mit Steuern wenig zu tun hatten. Noch während meiner Tätigkeit bei einem Finanzamt in den Jahren 1961–1966 haben sich ältere Steuerberater, die aus dem Beamtenverhältnis entlassen wurden, ohne ausreichendem eigenen Wissen von Finanzbeamten beraten lassen, wie steuerliche Probleme zu lösen sind. Es ist nicht zu erwarten, dass ein Steuerpflichtiger, der sich von einem Steuerberater beraten lässt, gut beraten wird, wenn sich der Steuerberater seinerseits von einem Finanzbeamten beraten lässt. Der Steuerberater meiner Mutter ließ sich von seinem Verwandten beraten, schloss sich dessen Meinung an und erklärte den Fall für aussichtslos. Leider gibt es auch heute noch Steuerberater, die sich von Finanzbeamten beraten lassen.

Meine Hoffnung, dass nach dem Ausscheiden der Finanzbeamten mit Nazivergangenheit aus dem Staatsdienst durch Pensionierung oder Tod sich die Verhältnisse bessern würden, hat sich indes nicht erfüllt. Als die Nachwehen der Nazizeit längst vorbei waren, hatte ich gleichwohl immer wieder mit vergleichbarem Fehlverhalten von Finanzbeamten zu tun, über das ich im Verlauf dieses Buches berichte.

Meine bis heute anhaltende tiefe Skepsis gegenüber allem hoheitlichen Verwaltungshandeln – das zwangsläufig mit Macht verbunden ist, die missbraucht werden kann und auch wird – hat ihren Ursprung in der eingangs geschilderten Geschichte und einem weiteren Ereignis, das sich in der Schule abspielte: Ich war damals vierzehn Jahre alt und musste wegen eines Umzugs die Schule wechseln. Ich kam eine Woche nach Beginn des Schuljahrs in die neue Klasse. Während des Mathematikunterrichts wollte der Lehrer wissen, wie eine Aufgabe zu lösen sei. Es meldeten sich der neben mir sitzende Schüler, drei weitere und ich. Zuerst kam mein Banknachbar dran. Sein Lösungsvorschlag war falsch. Danach entwickelten die drei anderen ihre Lösungen, die ebenfalls nicht richtig waren. Während ich mich mit erhobenem Zeigefinger weiter meldete, fragte mich mein Nachbar nach meinem Lösungsvorschlag, den ich ihm erklärte. Sogleich meldete er sich zum zweiten Mal. Der Lehrer, der das alles beobachtete, schimpfte, ich solle meinen Nachbarn nicht stören, nahm diesen ein zweites Mal dran und lobte ihn für die richtige Lösung. Das Verhalten dieses Lehrers hat mich tief verletzt, ich fühlte mich in diesem Augenblick absolut hilflos und ausgeliefert. Ich kann diesen Machtmissbrauch eines schlechten Pädagogen bis heute nicht vergessen. Er demonstrierte auf primitive Weise seine Macht und offenbarte seine allseitige Bereitschaft, sie gegenüber Schülern zu missbrauchen, die keine Chance hatten, sich zu wehren. Er hat mir sehr früh vermittelt, Macht und Hierarchien zu misstrauen.

Durch diese beiden Fälle von Machtmissbrauch – der in der Schule erlittene, dem ich hilflos ausgeliefert war, und der von Finanzbeamten, den ich abwehren konnte – gewann ich die Erkenntnis, dass die einzige infrage kommende Möglichkeit, mich gegen einen behördlichen Machtmissbrauch zu wehren, nur darin bestehen kann, selbst Macht zu haben, und zwar Macht durch Wissen. Die zu Beginn meines betriebswirtschaftlichen Studiums fehlende Motivation war nun plötzlich vorhanden. Kein Finanzbeamter sollte künftig in Fällen, zu denen ich zugezogen wurde, noch eine Chance haben, offenkundig rechtswidrige Verwaltungsakte durchzusetzen. Ich wollte mir künftig bei einem Streit mit einer Finanzbehörde selbst helfen können und nicht auf fremde Hilfe angewiesen sein. Diese Erfahrungen waren das Schlüsselerlebnis für meinen künftigen Beruf als Steuerberater und Wirtschaftsprüfer.

2. Kleiner Einblick in das Innenleben eines Finanzamts

Schon während meines Studiums entschloss ich mich, meine ersten Berufserfahrungen bei der Finanzverwaltung zu sammeln. Ich wollte meinen künftigen Gegner näher kennenlernen, herausfinden wie das Innenleben einer Behörde abläuft und insbesondere einen Einblick in die Arbeitsweise der Betriebsprüfer gewinnen. Dafür musste ich allerdings ein Opfer bringen: Die Bezahlung war für Angestellte im öffentlichen Dienst damals schlechter als in der freien Wirtschaft, in der man als Berufsanfänger dreimal so viel verdiente; mit einem Hochschulabschluss als Diplomkaufmann konnte man bei der Finanzverwaltung keine Karriere machen, eine Übernahme in das Beamtenverhältnis war ausgeschlossen.

Ich bewarb mich bei der Oberfinanzdirektion Freiburg für die Laufbahn eines Betriebsprüfers und hatte vor, drei bis fünf Jahre zu bleiben, dies musste ich aber beim Vorstellungsgespräch verheimlichen, denn die Finanzverwaltung hatte damals mit Diplomkaufleuten und Diplomvolkswirten schlechte Erfahrungen gemacht: Kaum hatten sie als Betriebsprüfer begonnen, wurden sie auch schon von den geprüften Großbetrieben abgeworben. Aus diesem Grund gab es einen Einstellungsstopp für Akademiker, die keine Juristen waren. Ich fühlte mich beim Vorstellungsgespräch also als eine Art Undercoveragent, auch wenn der Ausdruck nicht so richtig zutrifft.

Ich hatte Glück und bekam einen Arbeitsvertrag. Mein Einsatzort war bei einem Finanzamt in Südbaden. Dort war die Betriebsprüfung für mehrere Finanzämter zu einer Großbetriebsprüfungsstelle zusammengezogen. Zuerst wurde ich im Innendienst jeweils zwei Monate in den Bezirken Einkommensteuer, Besteuerung der Personengesellschaften und Besteuerung der Kapitalgesellschaften eingesetzt. Danach besuchte ich einen einmonatigen Lehrgang für Betriebsprüfer, der mit einer schriftlichen und mündlichen Prüfung abschloss. Anschließend war ich dreieinhalb Jahre als Betriebsprüfer tätig.

Was ich während meiner Tätigkeit bei der Finanzverwaltung erlebte, ist mir in der Privatwirtschaft auch in ähnlicher Form nicht begegnet. Es waren Ereignisse, die in staatlichen bürokratischen Systemen wohl typisch sind. Um die Stimmung in meinem neuen Umfeld zu illustrieren, stelle ich hier einige Episoden vor:

An meinem ersten Arbeitstag wurde ich dem Vorsteher und den leitenden Beamten vorgestellt. Bereits am zweiten Tag fiel ich unangenehm auf: Ich begegnete auf dem Flur dem Vorsteher des Finanzamts und grüßte ihn mit seinem Namen. Kaum war ich in mein Zimmer zurückgekehrt, klingelte das Telefon, ich möge sofort zum Vorsteher kommen. Er erklärte mir, dass er mit Herr Regierungsdirektor angesprochen werden wollte. Das ging mir aber nicht über die Lippen, ich grüßte künftig nur noch mit einem »Guten Morgen« oder »Guten Tag«.

Warum will jemand nicht mit seinem Namen, sondern mit einer Amtsbezeichnung angesprochen werden? Der Gruß »Guten Morgen Herr Regierungsdirektor« offenbart autoritäres Gehabe, das nichts mit Autorität zu tun hat. Der Philosoph Karl Jaspers setzte sich nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus für eine konsequente Abkehr des viel zu lange währenden obrigkeitsstaatlichen Denkens ein, von dem heute noch mächtige Gesinnungen geblieben sind. Er sah die Gefahr, dass die Demokratie sich über den autoritären Staat (einschließlich Beamtenschaft) hin zu einer Diktatur entwickeln könnte.19 In der untergegangenen Diktatur galt es nach der Rechtsprechung des Reichsdisziplinarhofs beispielsweise als schweres Dienstvergehen, das die Entlassung aus dem Staatsdienst nach sich ziehen musste, wenn ein Beamter den deutschen Gruß nicht in der vorgeschriebenen und von jedem Beamten zu beachtenden Form erwiesen hatte, denn das Bekenntnis zum Führer, das sich im deutschen Gruß offenbarte, gehörte zu den vornehmsten Pflichten eines Beamten.

Diese Absurdität war nun zwar glücklicherweise vorbei, aber autoritäres Gebaren ist nicht so leicht auszurotten. Für das Verlangen des Vorstehers des Finanzamts gab und gibt es keine Rechtsgrundlage. Es hat auch nichts mit einer Höflichkeitsformel zu tun. Ein Mensch, der sich hinter einer Amtsbezeichnung verstecken muss, besitzt keine persönliche Autorität. Sie entsteht auch nicht durch Anweisungen mit Befehlscharakter. Persönliche Autorität hat etwas mit positiven Gefühlen und persönlicher Wertschätzung gegenüber dem Vorgesetzten zu tun. Nicht Zwang oder Überredung schaffen Autorität, sondern nur Respekt vor der Person. Ihr gefährlichster Gegner ist Verachtung und am sichersten wird sie unterminiert durch das Lachen.20 Wer von einer Person, die ein Amt innehat, keinen Respekt hat, kann in diesem Augenblick auch vor dem Amt selbst keinen Respekt haben.

Ich hatte aus Unkenntnis über die hierarchischen Gepflogenheiten die meiner Stellung gemäße untertänige Haltung nicht eingenommen. Der Versuch des Vorstehers, aus mir einen disziplinierten Bürokraten zu machen, war jedoch vergebens. Ich merkte wohl, dass ich zu einem willfährigen und kritiklosen Beamten nicht taugte.

Am Ende des Betriebsprüferlehrgangs führte der Ausbildungsleiter mit mir ein Gespräch und sagte: »Leute wie Sie bleiben nicht lange bei der Finanzverwaltung. Bleiben Sie wenigstens vier Jahre, damit der ganze Aufwand sich auch für uns rechnet. Ich werde dafür sorgen, dass Sie sofort, wenn Sie beim Finanzamt anfangen, in die nächste höhere Gehaltsstufe aufrücken. Normalerweise muss allerdings eine Wartefrist von sechs Monaten eingehalten werden, deshalb wird der Personalrat des Finanzamts wahrscheinlich nicht einverstanden sein. Sollten Sie Schwierigkeiten haben, rufen Sie mich an. Ich sorge dann dafür, dass Sie die Gehaltserhöhung bekommen.«

Am ersten Tag nach Beendigung des Lehrgangs wurde ich zum Vorsteher des Finanzamts gerufen. Der Personalrat war versammelt. Die von der Aufsichtsbehörde vorgeschlagene Gehaltserhöhung wurde abgelehnt. Ich rief daraufhin den Ausbildungsleiter an. Er setzte die Gehaltserhöhung durch. Anschließend wurde ich längere Zeit von den Herren, die dagegen waren, nach heutigem Sprachgebrauch gemobbt. Bei der Gehaltserhöhung ging es übrigens um keinen hohen Betrag – brutto waren es monatlich 45,- DM.

Eine meiner ersten Prüfungen war ein kleines EDEKA-Lebensmittelgeschäft, das in einer Kleinstadt betrieben wurde. Mit der Bahn fuhr ich hin. Der Steuerpflichtige, ein Kriegsversehrter mit einer Beinprothese, erklärte einen Gewinn, der für eine vierköpfige Familie – ein Ehepaar mit zwei schulpflichtigen Kindern – kaum zum Leben reichte. Ich hatte den ausdrücklichen Auftrag, auch etwaige Sparbücher einzusehen.

Das Geschäft und die Wohnung befanden sich im selben Haus. Es gab kein Arbeitszimmer. Der Steuerpflichtige führte mich in das Wohnzimmer und wies mir einen Platz am Wohnzimmertisch zu. Während der Prüfung bat ich um Vorlage der Sparbücher. Bei dem Wort Sparbücher drehte der Steuerpflichtige durch. Er brüllte, schimpfte über den Staat, hob die Krücke und wollte auf mich einschlagen. Ich rannte um den Wohnzimmertisch, drehte mehrere Runden, und er humpelte hinter mir her. Nach jeder Runde sammelte ich einige Unterlagen, die auf dem Tisch lagen ein und als ich schließlich alle in der Hand hatte, schnappte ich meine Aktentasche und flitzte zur Tür hinaus in Richtung Bahnhof. Er schrie mir noch einige Verwünschungen hinterher.

Am nächsten Tag, ging ich zu meinem Vorgesetzten und unterrichtete ihn über diesen Vorfall. Er hatte wohl selbst einschlägige Erfahrungen dieser Art und war nicht besonders erstaunt. Er ordnete das persönliche Erscheinen des Steuerpflichtigen an.

Der Steuerpflichtige erschien in Begleitung eines Steuerberaters. Er legte das einzige Sparbuch vor, das er besaß. Auf dem Sparbuch waren monatliche Eingänge in Höhe von 30,- DM eingetragen – es handelte sich um die Kriegsversehrtenrente für das im Krieg verlorene Bein. Der Sachgebietsleiter wunderte sich und wollte wissen, warum er die Vorlage des Sparbuchs zunächst verweigerte, die Rente sei ja nicht steuerpflichtig. Der Steuerpflichtige erklärte, er habe das nicht gewusst und angenommen, er müsse auch noch die magere Rente versteuern. In seiner Verzweiflung, wie er mit dem Wenigen, was er verdiente, seine Familie durchbringen solle, habe er die Nerven verloren, zumal er sich sowieso vom Staat betrogen fühle.

3. Wechsel in die Privatwirtschaft

Während meiner Tätigkeit beim Finanzamt bekam ich gesundheitliche Probleme und hatte oft Migräneanfälle, musste regelmäßig einen Arzt aufsuchen. Die Diagnose lautete: Überfunktion der Schilddrüse. Er verschrieb ein Medikament, das ich täglich einnehmen sollte. Dessen Wirkung hat meine Probleme aber nicht gelöst, sondern neue waren die Folge. Die Tabletten hatten eine stark dämpfende Wirkung und erzeugten eine große Müdigkeit.

Als ich nach vier Jahren meine Tätigkeit beenden wollte, führte der Vorsteher mit mir ein Gespräch und versuchte, mich von einem Wechsel in die Privatwirtschaft abzuhalten. Er schilderte das raue Klima, das mich erwarten würde, und malte meine Zukunftsaussichten in düsteren Farben. Er glaubte, mir so viel Angst machen zu können, dass ich mich umstimmen ließ. Diese Bemühungen blieben aber erfolglos. Ich beendete meine Tätigkeit und trat eine neue Stelle bei einer mittleren Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft in München an. Ich hatte eine Arbeit gefunden, die mir außergewöhnlich viel Freude bereitete. Meine gesundheitlichen Probleme waren wie weggeblasen. Meine Flucht in die Privatwirtschaft habe ich auch deshalb nie bereut.

Mein nächstes Ziel war die Ablegung der Steuerberaterprüfung. Zur Vorbereitung auf diese Prüfung besuchte ich einen der hierfür angebotenen Lehrgänge. Diese wurden damals von Finanzbeamten und Steuerberatern nebenberuflich angeboten und waren deshalb nicht von bester Qualität. Steuerberater mit gut gehender Steuerkanzlei hatten nicht die notwendige Zeit, um den Unterricht gut vorzubereiten. Ich habe unter dem schlechten Unterricht oft gelitten.

Nach bestandener Prüfung wollte ich eine gut gehende Steuerkanzlei erwerben, scheiterte aber an der Finanzierung des Kaufpreises. Die Alternative war, selbst einen Lehrgang zur Vorbereitung auf die Steuerberaterprüfung anzubieten. Meine Marktchance sah ich darin, mich hauptberuflich auf den Unterricht zu konzentrieren, dadurch konnte ich ein wesentlich höheres Unterrichtsniveau erreichen. Der Erfolg stellte sich bereits nach kurzer Zeit ein. Deshalb gab ich meine bisherige Tätigkeit auf und widmete mich für den Rest meiner beruflichen Laufbahn der Ausbildung angehender Steuerberater.

Mein eigentliches Berufsziel, Schauspieler zu werden, konnte ich nicht verwirklichen. Fähigkeiten jedoch, die zum Beruf eines Schauspielers gehören, und die ich in Vorbereitung auf die Schauspielschule erworben hatte, kamen mir nun zugute, denn diese konnte ich weitestgehend in meine Unterrichtstätigkeit einbringen.

Neben meiner Lehrtätigkeit übte ich nebenberuflich auch noch eine Beratungstätigkeit aus. Steuerberater mit gutlaufenden Kanzleien sind ausgelastet und haben oft nicht die notwendige Zeit, um nur gelegentlich anfallende komplexe Sachverhalte zu bearbeiten. Manchmal ist auch das erforderliche Wissen nicht vorhanden und müsste erst zeitaufwendig erschlossen werden. Solche Mandate sind immer schwierig. In der Regel lassen sich die Probleme auch nicht schnell lösen. Dieses Wissen stand mir hingegen durch die intensiven Vorbereitungen auf den Unterricht abrufbereit zur Verfügung, denn ich hatte jedes Jahr den aktuellen Stand des für die Steuerberaterprüfung erforderlichen Gesamtwissens. Die von mir ausgebildeten Steuerberater wussten das. Sie baten mich um Hilfe, wenn sie bei Auseinandersetzungen mit dem Finanzamt nicht weiterkamen.

Bei der Beratung beschäftigte ich mich hauptsächlich mit zwei Bereichen:

Zum einen interessierten mich Fälle, die wegen behaupteter falscher Beratung zu einem Haftungsfall des Steuerberaters hätten führen können. Die Haftpflichtversicherer sind oft sehr schnell bereit, dem Steuerpflichtigen den Schaden zu ersetzen, und erhöhen anschließend die Versicherungsbeiträge. Nicht selten ließen sich Fehler aber noch reparieren und so die Haftung eines Kollegen vermeiden. Mit dem notwendigen Wissen und einer genauen Analyse ließen sich aber auch vermeintliche Schadensersatzansprüche eines Mandanten abwehren.

Der zweite Bereich betraf Mandate, bei denen sich eine Finanzbehörde maßlos zulasten eines Steuerbürgers rechtswidrig verhalten hatte. Solche Fälle werde ich weiter unten genauer beschreiben. Sie haben sich, verteilt über die vielen Jahre meiner Berufsausübung, bis in die jüngste Zeit ereignet. Es wurden mir von Steuerberatern so viele Fälle angeboten, dass ich bereits dadurch voll ausgelastet gewesen wäre. Da ich aufgrund der Auswahl der Mandate weitgehend mit offenkundig rechtswidrigem Verhalten zu tun hatte, zeichne ich zwangsläufig ein äußerst negatives Bild von Finanzbeamten. Übliche Streitereien zwischen Finanzamt und Steuerpflichtigem interessierten mich nicht, wenn sie sich im Rahmen von Gesetz und Recht bewegten.

Die Gier des Staates

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