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Kapitel 2 Ein Offizier kann nur der Krone dienen.

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Ein paar Tage nach dem gemeinsamen Abend mit Sarah bat der britische Premierminister William Pitt Arthur in die Downing Street. Diese formlose Einladung zum Frühstück und zu einem Gespräch unter vier Augen verwunderte und beunruhigte den Offizier. Pitt nahm sich sogar die Zeit, ihm zu erklären warum man seinen Bruder als General-Gouverneur von Britisch-Indien abberufen hatte. Es klang fast wie eine Entschuldigung. Genauso wie Castlereagh versuchte auch Pitt ihn zu überzeugen, sich aus dem Konflikt zwischen Richard und der Ostindischen Kompanie herauszuhalten: "Wellesley, es wäre das Beste, diese Geschichte einfach auszusitzen. Der Kampf in der Leadenhall Street ist nicht Ihr Krieg!“ Arthur legte den Kopf schief und blickte den Premierminister misstrauisch an. Egal wem er über den Weg lief, jeder versuchte ihm auszureden, sich in Richards Ärger mit „John Company“ einzumischen. Lord Clive, der Gouverneur von Madras und Sir Alured Clarke, sein ehemaliger Vorgesetzter in Indien hatten damit angefangen. Castlereagh investierte viel Zeit und Energie in dieses leidige Thema. Sogar Georgiana, die Herzogin von Richmond versuchte ihn zu überzeugen, seinen ältesten Bruder dem Schicksal zu überlassen. Nicht etwa, dass Arthur, Richard innig liebte oder sich ihm in irgendeiner Weise verpflichtet fühlte. Eher das Gegenteil war der Fall. Aber er wollte trotzdem verstehen, worum es ging. Er wollte wissen, was zwischen Kalkutta und London gelaufen war, während er im Herzland des indischen Subkontinents mit den Marattha gekämpft hatte: “Sir, gestatten Sie mir ein Frage.“, unterbrach Arthur den Premierminister, „Bis zum heutigen Tage habe ich eigentlich keine Anstalten gemacht, mich in diese sonderbare Geschichte einzumischen. Wie können die Direktoren in der Leadenhall Street gerade dem Mann Misswirtschaft vorwerfen, der ihr Einflussgebiet in Indien in wenigen Jahren verfünffacht hat. Kalkutta und London trennen neun Monate beschwerlichen Seeweges. Es ist sicher nicht ganz einfach aus der Ferne zu verstehen, warum vor Ort ad hoc bestimmte Entscheidungen gefällt werden?“

„General, halten Sie mir bitte nicht einen Ihrer berüchtigten gelehrten Vorträge über die politische Lage am anderen Ende der Welt“, bremste der Premierminister Arthur barsch. “ich weiß, dass die Entscheidung den Marattha den Krieg zu erklären richtig war und äußerst profitabel für die Ostindische Kompanie und die Krone. Doch außer Macht, Einfluss und Handelskonzessionen existieren auch noch andere wirtschaftliche Faktoren.“ Arthur sprang entrüstet aus seinem Sessel hoch:“Wirtschaftliche Faktoren? Gütiger Himmel! Mylord, als Soldat kann ich auf dieses Argument der Krämerseelen aus der Leadenhall Street nur enttäuscht und verbittert reagieren. Wir haben ‚kostendeckend‘ gearbeitet. Ich habe tonnenweise Beutegut nach Mumbai, Kalkutta oder Madras verschickt...“

Der Premierminister brach in schallendes Gelächter aus. Er lachte so laut, dass Arthur zusammenschrak, augenblicklich verstummte und sich wieder ganz brav hinsetzte.

„Kostendeckend. Natürlich waren Sie kostendeckend, mein lieber General. Und dann? Was ist dann geschehen? Denken Sie einmal nach. Benutzen Sie ihren Kopf und wenn das nicht weiterhilft, nehmen Sie einen Abakus zur Hand.“ Pitts Gesichtsausdruck hatte sich plötzlich verändert: Die Züge waren kalt und hart geworden. Eine böse Fratze starrte Arthur durch die ersten Strahlen der Morgensonne hindurch an. Der Premierminister hatte Englisch mit ihm gesprochen. Trotzdem verstand er nicht.

„Wenn Sie sich schon unbedingt in diese traurige Geschichte einmischen müssen, ohne überhaupt zu verstehen, worum es geht, Arthur“, fuhr Pitt fort, “dann tun Sie es gefälligst in einer durchdachten Art und Weise, anstatt einfach blindlings und mit gezogenem Schwert vorwärts zu stürmen. Man kann nicht jedes Problem mit einem großen Holzknüppel lösen! Entweder Sie bemühen sich um einen Sitz im britischen Unterhaus und unternehmen etwas auf politischer Ebene mit Unterstützung einer Partei, oder Sie sitzen den Ärger, den Ihr Bruder hat einfach aus. Keiner, auch nicht der übelste Kritiker Lord Morningtons stellt Sie, Ihre Leistungen als Offizier oder Ihre Verwaltung der Provinz Mysore in Frage."

Arthur versuchte Pitt zu erklären, dass er kein Politiker war. Er war davon überzeugt, dass Offiziere politisch neutral sein sollten und nur König und Vaterland dienen sollten. Doch der erfahrene ältere Mann widersprach seinem jüngeren Gegenüber heftig: "Sie müssen Ihre Seite wählen, General“, sagte er scharf, “die Whigs sind gegen den Krieg mit Frankreich. Sie wollen die Streitkräfte auf ein absolutes Mindestmaß reduzieren. Das Geld, das wir heute in eine Berufsarmee investieren, möchten sie lieber in die Weiterentwicklung und Verbesserung der Wirtschaft stecken. Dabei übersehen sie allerdings Bonapartes Kontinentalsperre. Wir tun uns im Augenblick schwer mit dem Zugang zum europäischen Markt und die Whigs tendieren traditionell zum Isolationismus. Das ist, wie Sie sich denken können, für eine kleine Insel mitten im Atlantik verhängnisvoll.“ Der Premierminister ließ seinem ganzen Unmut freien Lauf. Dann senkte er endlich die Stimme. “General, die Armee braucht einen energischen Fürsprecher im Unterhaus, einen Mann vom Fach, nicht irgendeinen interessierten Amateur. Dort könnte es Ihnen vielleicht sogar gelingt, mit den richtigen Argumenten die Kritiker der indischen Politik Ihres Bruders umzustimmen." Arthur sah Pitt lange an. Er hatte das Gefühl, dass sowohl Castlereagh, als auch der britische Premierminister versuchten ihn zu manipulieren. Den Streit zwischen Richard und der Ostindischen Kompanie benutzten sie dabei lediglich als Aufhänger.

"General, ich kann Ihnen im Namen meiner Partei einen Wahlkreis anbieten und Ihnen so die Möglichkeit geben, im Unterhaus nicht nur für die Soldaten zu sprechen, sondern auch für eine konsequenten Politik gegen den französischen Erzfeind und Bonaparte."

Pitt ließ wirklich nichts unversucht! Arthur schüttelte energisch den Kopf: "Keinesfalls, Sir. Das ist gegen die Ehre eines Soldaten. Ein Offizier kann nur der Krone dienen. Man darf die Armee nicht zu einer politischen Kraft in unserem Land machen. Sehen Sie nur, wohin es die Franzosen geführt hat…"

Der Premierminister setzte sich hinter seinen schweren Mahagonischreibtisch und ließ den Kopf in die Hände sinken: "General, sind Sie weltfremd oder borniert?“

"Weder das Eine, noch das Andere, Sir“, erwiderte Arthur ungerührt, „ich bin nur kein Politiker. Dafür besitze ich weder die Ausbildung, noch die notwendige Überheblichkeit. Ich bin Soldat!” Pitt zog seine Uhr aus der Tasche und öffnete sie. An der goldenen Kette hingen ein kleiner Stechzirkel und ein fein gearbeitetes Dreieck, mit einem Auge in der Mitte. Der Premierminister verbarg die seltsamen Anhänger nicht vor seinem Gegenüber. "Es ist bereits 11 Uhr, General! Ich muss den Außenminister und meinen Kriegsminister treffen. Sie sollten den Brüdern in den nächsten Tagen unbedingt einen Besuch abstatten...", verabschiedete er seinen morgendlichen Besucher.

Arthur verließ die Downing Street mit einem unguten Gefühl im Magen. Der Termin mit Pitt hatte nur einen einzigen Zweck gedient: ‚Sie‘ wollte herausfinden, wer diese unbekannte Größe aus Indien wirklich war, denn irgendjemand hatte irgendwelche undurchsichtigen Pläne mit ihm. Er konnte sich nur noch keinen Reim darauf machen. Arthur verstand sehr gut, dass er gerade eben nicht Englands Premierminister getroffen hatte, sondern als Freimaurer von einem anderen Freimaurer an seine Pflichten und den Schwur erinnert worden war. Die britische Armee war durchsetzt mit Freimaurer-Logen. Vom gemeinsten Soldaten bis hinauf zu den höchsten Offiziersrängen verbargen sich hinter so gut wie jedem roten Uniformrock das Lot und der Stechzirkel. Arthur machte hier keine Ausnahme. Doch im Lauf der indischen Jahre hatte er ein distanziertes Verhältnis zum Freimaurertum entwickelt. Es missfiel ihm das ‚Sie‘ versuchten, sie auf allen Ebenen in die Politik des Landes einzumischen. Sie übten einen ungesunden Einfluss auf Großbritannien aus. Damit verrieten ‚Sie‘ in seinen Augen ihre Ideale und die Grundsätze der Alten Pflichten. Auf dem Rückweg nach Richmond Palace gingen ihm die Worte des Premierministers durch den Kopf und vor allem die von Castlereagh.

Arthur war seinen Freunden gegenüber nie misstrauisch. Castlereagh zählte er dazu, denn sie hatten schon als vier- oder fünfjährige Kinder zuhause, drüben in Irland miteinander gespielt. Und auch der Premierminister war jemand, der seit Arthurs Kindertagen zum engsten Umfeld der Familie zählte… und sie waren alle Iren. Trotzdem hatten Castlereagh und Pitt versucht, ihn zu manipulieren. Arthur fühlte sich bei diesem Gedanken plötzlich unwohl: Sein Soldatenleben in Indien war so einfach gewesen; er hatte sich nie mit politischen Spitzfindigkeiten und Ränkespielen aufhalten müssen. Seine Vorgesetzten hatten sich damit begnügt, ihm aus der Ferne ein paar Befehle zu erteilen. Dann hatten sie ihm die Entscheidung überlassen, wie er diese Befehle ausführte. Genauso war es gelaufen, wenn er mit lokalen Machthabern verhandeln sollte: eine knappe Leitlinie und den Rest hatte man in seine eigene Hand gelegt. Hier in London erkannte er nun plötzlich schmerzhaft, dass das Leben doch vielschichtiger war, als einfacher Befehl und Gehorsam oder Schwarz und Weiß. Er erkannte auch, dass diese Situation ihn gänzlich unvorbereitet traf. Zehn Jahre lang hatten sie alle ihn an einer sehr langen Leine laufen lassen. Und nun wollten sie ihn plötzlich hart an die Kandare nehmen? Arthur saß nachdenklich auf der Bettkante und starrte auf die schwarzen Wasser der Themse hinunter. Von hinten legten sich plötzlich sanft zwei Arme um seine Schultern und er schrak aus seiner Grübelei hoch.

„Was ist mit Dir los? Ich klopfe seit zehn Minuten gegen die Tür und Du sagst keinen Ton.“, Sarah trug ein einfaches dunkelgraues Kleid mit einem weißen Spitzenkragen. Sie musste gerade erst aus ihrem Krankenhaus oder von der Universität nach Hause zurückgekommen sein.

„Ich denke nach!“, seufzte Arthur unglücklich. „Du machst Dir wieder einmal Sorgen.“ Sarah setzte sich neben ihm auf die Bettkante, „Möchtest Du darüber reden?“ Arthur betrachtete interessiert den Boden: „Eigentlich nicht, wenn ich es irgendwie vermeiden kann.“ Die junge Frau verzog belustigt den Mund. „Was hast Du heute Abend vor?“, fragte sie. Arthur runzelte die Stirn. Dann grinste er einen Stoß Karten und einen Haufen Papier auf seinem Schreibtisch an. Ein kurzer Augenblick des Nachdenkens genügte und er antwortete entschlossen. “Nichts!“

„Wir haben unser monatliches Abendessen am Lehrstuhl. Das ist eine muntere Angelegenheit. Und Du könntest gleichzeitig noch das Versprechen einlösen, das Du McGrigor in Lambeth gegeben hast. Du erinnerst Dich doch noch?“ Die beunruhigenden Gedanken, die Wellesley seit seinem Gespräch mit Pitt verfolgt hatten, waren auf wundersame Weise verschwunden. Das Kartenmaterial über Napoleon Bonapartes Italienfeldzug, das er sich aus dem Generalstab als Nachtlektüre mitgenommen hatte, hatte plötzlich seinen ganzen Reiz verloren. “Ich halte meine Versprechen immer ein, Sarah.“, sagte er.

Beim Abendessen im Hause von Professor McGrigor ging es laut her. Seine Assistenten debattierten hitzig miteinander. Sie stritten sich zwischen zwei Gläsern Wein, wie die Rohrspatzen. Man verhörten Arthur respektlos zu Krankheiten, denen er in Indien begegnet war. Ihr Lehrmeister schmunzelte vergnügt über sein Glas hinweg in die Runde. Er griff nur ein, wenn die Diskussion auszuarten drohte oder man den Gast aus der Armee zu sehr bedrängte. Sarah war so in ihrem Spiel gefangen, dass sie Arthur vergessen zu haben schien. In einem völlig unverständlichen Fachjargon legte sie sich mit einem schnauzbärtigen Schotten namens Hume an. Ihre Wangen glühten. Sie ähnelte wieder dem kleinen Hitzkopf, dem er vor vielen Jahren Dornen aus den Fingern gezogen hatte, weil sie es bei irgendeinem unerlaubten Vergnügen im Garten zu weit getrieben hatte. Er hatte das Gefühl, dass er gerade dabei war, sich Hals über Kopf in Sarah Lennox zu verlieben. Sie war Charlotte so ähnlich: diese Angewohnheit, ihre Worte mit wilden Gesten zu unterstreichen; die kleine Brille, die zwischen ihren Fingern kreiste, wenn sie sich über irgendetwas ärgerte.

Als die Tafel spät in der Nacht aufgehoben wurde, stand ihm der Sinn nicht danach, sich mit ihr in die Kutsche zu setzen und auf dem schnellsten Weg nach Richmond Palace zurückzukehren. „Hast Du Lust auf frische Luft nach dem vielen Wein und den heißen Diskussionen?“, fragte er sie leise. „Hat es Dir bei uns gefallen, Sepoy-General?“, antwortete sie spitzbübisch mit einer Gegenfrage. Arthur nickte. “Ihr seid ein munteres Völkchen. Es ist schon sehr lange her, dass ich mich so gut unterhalten habe.“

Sarah gab dem Kutscher ihres Vaters Zeichen ohne sie ins West End zurückzukehren. Dann schlug sie an Arthurs Arm den Weg Richtung St.James Park ein. “Es macht Dir also doch nichts aus, über Indien und über den Krieg zu erzählen?“ Er schüttelte den Kopf: “Das Gespräch heute Abend hat wenig mit dem Krieg zu tun gehabt.Ich erzähle Dir ja auch immer bereitwillig über Indien und über die Menschen, ihre Sitten, Gebräuche und den ganzen Rest. Es gibt aber auch ein paar Dinge, an die möchte ich mich nicht mehr erinnern, obwohl sie England in einen Zustand hellster Begeisterung versetzt haben: das Soldatenhandwerk ist ein blutiges Geschäft, Sarah!“ Obwohl es ihn viel Selbstbeherrschung kostete, gelang es Arthur einen Schein von Gelassenheit und Ruhe zu wahren. Bereits ein falsches Wort, eine falsche Bemerkung konnten vor seinem inneren Auge Bilder des Grauens auslösen. Zum Glück war der Park beinahe menschenleer. Irgendwo fanden sie eine kleine Holzbank und er bat Sarah sich zu setzen.

"Lasse mir ein wenig Zeit. Ich muss zuerst einmalmit mir selbst wieder ins Reine kommen und ein paar Dinge verdauen“, bat es sie, “und irgendwann erzähl ich Dir dann die ganze Geschichte vielleicht... Nur nicht hier und heute…es geht einfach nicht…“ Arthurs graublauen Augen blickten Sarah flehend an. Sie waren nicht mehr so kalt und hart, wie auf dem Ball von Lady Holland. Auf den Schlachtfeldern Indiens hatten viele gute Freunde ihr Leben verloren…und noch mehr Feinde. Er war sich nach knapp zwanzig Jahren im roten Rock immer noch nicht sicher, ob er überhaupt für das Kriegshandwerk das Herz besaß. Arthur war nie auch nur im Geringsten auf irgendeinen seiner militärischen Erfolge stolz gewesen. Er hatte sich über keinen einzigen seiner Siege je gefreut. Seit dem Feldzug in den Niederlanden und Boxtel verfolgten ihn die Toten bis in seine Träume. Und es wurden immer mehr: nachts wachte er regelmäßig schweißgebadet und zitternd vor Angst auf, weil die Schreie der Verletzten und Sterbenden ihm in den Ohren klangen…und das Grollen der Kanonen. Namen, wie Assaye, Argaum oder Gawilghur, die sein Land in hellste Begeisterung versetzt hatten, versetzten ihn nur in einen Zustand tiefster Niedergeschlagenheit. Hinter seinen kalten Augen versuchte Arthur verzweifelt ein viel zu weiches Herz und eine sehr verletzliche Seele zu verbergen. “ Du wolltest vorhin doch wissen, worüber ich mir Sorgen mache", wechselte er rasch das Thema. Er hoffte, dass Sarah seine zittrigen Hände übersah. Er klemmte sie sich zwischen die Knie. Während ihm der kalte Schweiß über den Rücken lief und sein Hemd durchtränkte, erzählte ihr ausführlich von den Gesprächen mit dem Kriegsminister Castlereagh und dem Premierminister von England. Als er fertig war, hatte er sich innerlich wieder beruhigt. Die Antwort, die Arthur von Sarah erhielt, ähnelte der, die, er sich selbst einige Stunden zuvor auch gegeben hatte: "Gehe Deinen Weg und lasse Dich nicht kaufen. Wenn Du heute sofort nachgibst, wird man Dich morgen nicht mehr achten und anschließend wird dich irgendjemand aus der Regierung immer wieder als Instrument der Macht benutzen. Und wenn Du niemandem mehr nützlich bist, wird man Dich wegwerfen, wie einen alten Knochen."

Nachdem Arthur, den Premierminister verlassen hatte, hatte er bereits einen ähnlichen Entschluss gefasst. Er würde genau das Gegenteil von dem tun, was man ihm geraten hatte und in erster Linie seinen eigenen Weg weitergehen. Er wollte sich weder beugen, noch einschüchtern lassen. Sollte er sich allerdings doch irgendwann einmal entscheiden, dann wollte er den Tories seine Bedingungen nennen. Sollte man versuchen ihn zum Gehorsam zu zwingen, wo es nur um persönliche Überzeugung ging, hatte er beschlossen, sich einfach aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen. Sollte es unvermeidbar sein, dann war Arthur sogar bereit seinen Abschied aus der Armee zu nehmen. Sie hatte ihn in Indien nicht mit Geld kaufen können, sie würden ihn in England nicht mit Einfluss und Macht korrumpieren.

Sarah legte ihren Arm um seine Schulter. Er hatte einen schweren Weg gewählt. Sie befürchtete, dass man einen von Englands begabtesten Soldaten so lange auf einem langweiligen militärischen Posten würde schmoren lassen, bis er entweder nachgab, oder den Abschied nahm. Arthur legte den Kopf zutraulich an ihre Schulter. Er schloss die Augen. Er fühlte sich in diesem Augenblick einfach nur todmüde und erschöpft. Alles war ihm so gleichgültig: seine Karriere, sein nächstes Kommando, der Krieg gegen Frankreich, Bonaparte, Richard. "Verzeih mir bitte, Sarah, aber außer Dir habe ich niemanden, mit dem ich offen reden kann. Es ist sonst nicht meine Art, andere mit meinen Sorgen zu belästigen.", seufzte er leise. Sarah zog ihn fester an sich: „Du belästigst mich nicht mit Deinen Sorgen. Freunde sind dazu da, einander in schwierigen Augenblicken beizustehen. Du hast Dich sehr verändert, Arthur …und nicht zu Deinem Nachteil. Als Du damals mit Deinem Regiment aus Europa fortgegangen bist, hat Papa sich große Sorgen um Dich gemacht. Er war sich nicht sicher, ob Du in der indischen Schlangengrube auch nur einen Tag überleben würdest. Und dann kamen die ersten Nachrichten aus der Kolonie: mein Vater und viele andere haben sich gewundert. Niemand hatte Dir je etwas zugetraut und dann warst Du plötzlich der Einzige, der keine Fehler machte, der nur siegte, dessen Provinz blühte. Weißt Du, Papa hat mir sogar erzählt, dass es einflussreiche Männer in der Regierung und in der Ostindischen Kompanie gab, die an Richards Stelle Dich zum Generalgouverneur von Britisch-Indien ernennen wollten. Doch dann besannen sie sich darauf, dass ‚General Wellesley‘ ja nur ein Soldat sei und der steinalte, todkrank Cornwallis wurde übers Meer geschickt. Den Rest der Geschichte kennst Du." Als Sarah geendet hatte, stand Arthur auf und nahm ihre Hand in die Seine. Langsam gingen die Beiden durch den St.James‘ Park nach Richmond Palace zurück.


Am 21.Oktober 1805 wurde Frankreich von den Briten in der Seeschlacht bei Kap Trafalgar vernichtend geschlagen. Doch England bezahlte für diesen Erfolg einen hohen Preis: das Leben von Admiral Lord Horatio Nelson. Es hatte kaum eine Woche gedauert, bis diese Nachrichten den Kriegsminister und die Regierung erreichten. Arthur befand sich im Kartenraum des Generalstabs der englischen Landstreitkräfte. Er betrachtete gerade eine große Karte. Am 5.August 1796 hatte in der Anfangsphase des Italien-Feldzuges den Österreicher Wurmser geschlagen, weil dieser sein Heer geteilt hatte, um die französischen Kommunikationslinien zu unterbrechen.

„General Wellesley, ein Befehl des Kriegsministers,“, riss ihn ein Ordonnanzoffizier aus seinen Gedanken, “man wünscht, Sie umgehend zu sehen!“ Arthur nahm dem Mann den Umschlag ab und lass. Wenn Castlereagh ihm gegenüber das Wort unverzüglich benutzte, dann war irgendetwas Schlimmes geschehen. Er ließ seine Notizen und die Karte liegen und ließ sein Pferd aus dem Stall holen. Nur zehn Minuten später übergab er die Zügel eines aufgeregten und schweißnassen Tieres einem der Wachposten vor dem War Office in Whitehall und betrat das Büro des Kriegsministers ohne anzuklopfen.

"General, die französische Flotte existiert nicht mehr! Es wird nie eine Invasion Englands geben. Wir haben sie vor Kap Trafalgar geschlagen und die meisten Schiffe der Frösche versenkt!", überfiel der Kriegsminister Arthur mit den letzten Neuigkeiten. Dann zögerte er einen kurzen Moment. “Nelson ist gefallen. Kurz vor dem Ende traf ihn die Kugel eines französischen Scharfschützen ins Rückgrat.“

Arthur nahm die Nachricht vom Tod seines Kameraden ohne einen Kommentar hin. Die Überlebenschancen hoher Offiziere im Fronteinsatz waren nicht besonders hoch. Doch der Verlust eines so brillanten Soldaten, wie Horatio Lord Nelson war für die Kriegsmarine des Landes natürlich tragisch. "Dann werden wir Bonaparte jetzt endlich in die Defensive zwingen?", fragte er den Kriegsminister. Castlereagh nickte. Er erhob sich und ging um seinen Schreibtisch herum. Freundschaftlich legte er Arthur die Hand auf die Schulter: "Aber Nelson und Trafalgar waren nicht der Grund, warum ich Dich gerufen habe, alter Freund. Du hättest diese Neuigkeiten morgen zum Frühstück in der Times lesen können. Es geht um Deinen Bruder. Wir müssen uns ernsthaft miteinander unterhalten."

"Was ist jetzt schon wieder mit diesem Unglücksraben Richard los?“, fragte Arthur frustriert.

"Nichts, mein Freund! Du solltest nur endlich damit aufhören, von Hinz zu Kunz zu Rennen, um für ihn gut Wetter zu machen. Damit schaffst Du Dir im Augenblick nämlich eine Menge Feinde, die Du nicht brauchen kannst. Heute hast Du drei Trumpfkarten und einen Schwarzen Peter in der Hand: Zum einen hat Premierminister Pitt einen hervorragenden Eindruck von Dir. Euer Gespräch Ende September ist äußerst positiv verlaufen. Du hast ihm bewiesen, dass nichts und niemand Dich einzuschüchtern können. Dann ist ganz England Dir für Deine indischen Siege immer noch verpflichtet. Dass Du der jüngste General des Stabes bist, spielt im Augenblick nicht gegen Dich. Drittens kommt noch, dass der Untersuchungsausschuss gegen Richard Dich nicht vorladen möchte. Doch der Herzog von York, Sohn unseres Königs und als Oberkommandierender unserer Streitkräfte Dein großer Chef, kann den Namen Wellesley nicht hören. Er macht dabei auch keinen Unterschied zwischen Dir und deinen Brüdern! Der fette Freddie hat sich also in den Kopf gesetzt, Dich irgendwo in die finstere Provinz zu verschicken auf einen gottverlassenen Außenposten und mit einem absolut unwichtigen Kommando."

Arthur schien von Castlereaghs Ausbruch völlig ungerührt. Anstelle einer Antwort zuckte er die Schultern. Obwohl er sich mit seinem ältesten Bruder Richard nie vertragen hatte und ihr Verhältnis zueinander seit Jahren schon äußerst gespannt war, gebot ihm sein Sinn für Gerechtigkeit, zumindest auf beruflicher Ebene ein paar Entscheidungen zu verteidigen, die der Unglücksvogel während seiner Zeit als Generalgouverneur von Britisch-Indien getroffen hatte. Ob die Politikerclique in London Arthur für seine Siege auf dem Subkontinent dankbar war, war ihm gleichgültig. Er diente seinem Land und der Krone und erfüllte seine Pflicht als Soldat. Und Frederick von York war dafür bekannt, dass er niemanden im aktiven Dienst leiden konnte, der politisch konservativ und Freimaurer war. Damit befand Arthur sich in allerbester Gesellschaft: Der fette Freddie hatte mit rund achtzig Prozent der britischen Offiziere im Generalsrang erhebliche Probleme. Doch seine Reaktion brachte Castlereagh endgültig aus der Fassung: "Dein verdammtes Ehrgefühl und Deine Gleichmut gehen mir auf die Nerven!“, keifte er Arthur an,“ Da planen wir, ein britisches Expeditionskorps auf den Kontinent zu schicken und mein fähigster General beschließt genau in diesem Augenblick, sich mit dem gesamten Londoner Establishment anzulegen. Du bist gerade dabei, das einzig vernünftige Kommando zu verspielen, dass wir dem Sieger von Assaye anbieten können. Man wird es also irgendeinem steinalten Knochen anvertrauen, der sich vor lauter Gicht nicht mehr im Sattel halten kann, dafür aber politisch korrekt eingestellt ist!"

"Wem denn?", erkundigte Arthur sich neugierig und etwas belustigt.

"Cathcart!“,antwortet Castlereagh frustriert.

"Was für ein Unsinn!“, Arthur grinste, “Der hat als junger Leutnant noch in der letzten Schlacht des Siebenjährigen Krieges mitgemacht. Cathcart muss inzwischen schon fast achtzig Jahre alt sein." Arthur drehte Castlereagh den Rücken zu und sah aus dem Fenster in den Park: " Es tut mir leid, doch ich kann mich nicht beugen. Bitte, versuche es zu verstehen. Im Augenblick geht es hier nicht um meine Karriere als Soldat oder um meinen Ruf. Du kennst meine Einstellung. Es geht nur um Recht und Unrecht. Mein Bruder hat das alles nicht aus reinem Eigennutz gemacht, sondern zum Besten Englands… so wie Richard dieses Beste eben interpretiert hat." Castlereagh schüttelte energisch den Kopf. "Arthur, hör endlich auf zu Träumen. Du kannst doch nicht so weltfremd sein. Das grenzt ja fast an kindliche Naivität. Dein Bruder Richard hat seine gesamte indische Politik darauf zugeschnitten, als ein Sprungbrett in die britische Regierung zu dienen. Du warst weit weg von Kalkutta. Du kannst Dir nicht einmal in Deinen wildesten Phantasien vorstellen, welche Intrigen dort gesponnen wurden. Frage den Herzog von Richmond! Selbst er, der sonst immer so gelassen und ruhig ist, konnte am Ende die penetrante Drängelei Deines hinterhältigen Bruders nicht mehr ertragen: Richard wollte um jeden Preis den Job des Außenministers haben und ist dabei über Berge von Leichen gegangen. Er hat jeden einzelnen Deiner militärischen Erfolge ausgeschlachtet und sein übles Spiel mit London getrieben. Hast Du je Gelegenheit gehabt, eine seiner Depeschen zu lesen? Man hätte glauben können, er habe die Marattha im Alleingang mit dem Drachentöter in der Hand geschlagen…" Arthur antwortete erneut mit einem Schulterzucken. Es verwunderte ihn nicht, dass Richard versuchte sich mit anderer Leute Federn zu schmücken: "Robert, ich bin nur Soldat.“, erwiderte er ungerührt, „Der gute König Georg bezahlt mir meinen Sold und ich kämpfe! Es interessiert mich nicht, wer womit Politik macht. Gebt der Armee nicht diese Macht! Das ist gefährlich und außerdem verfassungswidrig!" Castlereagh verstand seinen Freund aus Kindertagen nicht mehr. Man hofierte ihn und bot ihm Macht und Einfluss auf einem silbernen Tablett an und er dozierte altklug über die Verfassung und wies alles mit einem gelangweilten Schulterzucken zurück: „Was willst Du wirklich, Arthur?“, fragte er ihn schließlich misstrauisch. "Hat einer von Euch eigentlich schon einmal daran gedacht, dass ich ein erwachsener Mann bin und meine Entscheidungen gerne selber treffe?“, fragte Arthur ruhig. “Ich muss zuerst einmal gründlich darüber nachdenken, ob es für einen Berufssoldaten schickt, seine Unparteilichkeit zugunsten eines politischen Amtes aufzugeben. Robert, ich bin vieles, aber ich bin kein Demokrat! Für mich ist das Unterhaus eine Institution die regiert. Dieses ganze Zeug…das Volk zu repräsentieren.....alle Schichten, die Steuerzahler...ich habe da meine Zweifel. Irgendwie ist mir das alles nicht geheuer. Vergiss nicht, dass ich weit weg von Europa war, als hier viele politische und wirtschaftliche Veränderungen abgelaufen sind!"

"Das heißt, Du akzeptierst ein Kommando in der Provinz."

"Die Armee ist keine fröhliche Diskussionsrunde. Ich bin Soldat, Robert. Ich befolge Befehle. Und wo man mich hinschickt, dorthin muss ich gehen.", antwortete Arthur aufgeräumt. " Weißt Du eigentlich mit wem Cathcart sich im Königreich Hannover herumschlagen soll?"

"Jean-Baptiste Bernadotte, Marschall von Frankreich und um ein paar Ecken herum mit Bonaparte verwandt. Ich glaub, er hat die Schwester von Napoleons Schwägerin geheiratet."

"Was hältst Du von ihm, Arthur?" Hannover schien mit dem französischen Marschall ganz glücklich zu sein. Das klang seltsam, denn Hannover war erobertes Gebiet und Bernadotte der Befehlshaber einer Okkupationsarmee. Doch der Mann hatte seine Regierung mit der Einführung der Menschenrechte begonnen. Er hatte die Prügelstrafe abgeschafft, die Juden-Ghettos aufgelöst und den Juden gestattet, alle Berufe zu ergreifen, zu denen sie Lust hatten. Die Steuern, die er den Bürgern des besetzten Landes zur Unterhaltung seiner Armee auferlegte, erdrückte sie nicht und er hatte alle Zollschranken beseitigt.

" Wenn man einmal davon absieht, dass er Franzose ist, dann scheint dieser Bernadotte ein anständiger Kerl zu sein, Robert. Er verwaltet seine Provinz ordentlich und das Volk ist zufrieden."

Castlereagh seufzte leise: "Wellesley und Mysore. Mein lieber Arthur, Hannover ist eine englische Besitzung auf dem Kontinent. Es ist aus diesem Grund unmöglich, selbst wenn die Hannoveraner Bürger noch so zufrieden sind, eine französische Okkupationsarmee auf unserem Boden zu dulden."

Der General nickte müde: "Was wollt Ihr von mir, Robert?" Der Kriegsminister erläuterte ihm in kurzen Zügen, was die englische Regierung vorhatte. Arthur sollte eine Infanterie-Brigade übernehmen und mit ihr die bereits in den Hansestädten stationierten Truppen von Lord Cathcart verstärken. Dann sollten sie gemeinsam das Königreich Hannover von Marschall Bernadotte und seiner Okkupationsarmee befreien. Allerdings wussten sowohl Pitt, als auch sein Kriegsminister, dass Cathcart träge war. Es mangelte ihm an Initiative. Und der steinalte Mann hatte weder die intellektuellen Fähigkeiten, noch die geistige Beweglichkeit, die notwendig waren, um einen solchen militärischen Auftrag erfolgreich zu erfüllen. „Arthur, falls Du die Planung übernimmst und dann dafür Sorge trägst, dass Cathcart sich nicht in die Operation einmischt: unsere Erfolgsaussichten sind gar nicht so schlecht!“

"Robert, ich bin mir nicht sicher, ob es im Hannoverschen je zu einer Konfrontation zwischen uns und den Franzosen kommen wird. Gut, Premierminister Pitt hat eine dritte Koalition gegen Napoleon zustande gebracht. Das bedeutet aber lediglich, dass Österreich, Russland, Schweden und verschiedene kleine Fürstentümer und Stadtstaaten auf der linken Seite des Rheins auf dem Papier mit uns verbündet sind. Und wir haben eine Handvoll Soldaten und einen altersschwachen Kommandeur in den Hansestädten. Ich gebe ja zu: Die Feldheere unserer Alliierten sind beeindruckend. Von Mack, der Österreicher, ist Anfang September im Königreich Bayern einmarschiert. Kutuzov, ein Russe ist mit einer gigantischen Unterstützungsarmee für Erzherzog Karl auf dem Weg, um diesen in Italien gegen Massena zu verstärken. Doch Ihr vergesst eine Variable in Eurem Spiel. Napoleon Bonaparte hat sich Ende August aus Boulogne weggeschlichen. Und während wir beide hier miteinander diskutieren, ist seine Armee auf dem Weg nach Osten. Lasse eine vernünftige Karte aus dem Stab holen und ich zeige Dir, was vermutlich passieren wird.“

Eine halbe Stunde später bedeckte eine große Generalstabskarte den Tisch des Kriegsministers. Arthur zeichnete mit roter Kreide die alliierten Truppen auf dem Kontinent ein. Dann nahm er ein Stück blauer Kreide und zeichnete für Castlereagh auf, wie er sich den französischen Schachzug vorstellte. Ein breiter Pfeil überquerte den Rhein und zog sich zur Donau hin. Dann machte er einen weiten Bogen um die Armee des österreichischen Generals von Mack. Arthur zog einen Kreis um die Stadt Ulm: "Wenn ich an Napoleon Bonapartes Stelle wäre, dann würde ich von Mack hier in die Zange nehmen“, er zeichnete weiter," und Du kannst davon ausgehen, dass der Korse den Österreicher schlägt. Ohne Nachschub kann von Mack nichts tun. Und den Nachschub habe ich ihm gerade an der Donau abgeschnitten. Die beiden Kreuze sind Marschall Ney und General Dupont, jeder mit einer beachtlichen Truppenstärke." Arthurs blaue Pfeile, der eine für den französischen Kaiser, der andere für Massena, bewegten sich auf die Grenze der tschechischen Provinz der Donaumonarchie zu. „Sollte ich Recht haben, dann ist die dritte Koalition tot, Robert. Es wird noch vor Jahresende eine Entscheidungsschlacht in dieser Gegend geben. Unsere Truppen im Hannoverschen werden nicht einen einzigen Schuss abfeuern. Es ist sinnlos, Cathcart zu verstärken. Ihr tätet besser daran, schnellstmöglich seine Truppen nach England abzuziehen." Castlereagh biss nervös auf seine Lippen, während er die roten und blauen Pfeile des Generals fixierte: " Wie kommst Du auf diese Idee?" Arthur hatte die Wochen seit seiner Ankunft in England damit zugebracht, alles verfügbare Material über die Aktivitäten der Franzosen seit 1793 intensive zu studieren. Die Pfeile auf der Karte waren seine notwendige Schlussfolgerung. "Napoleon Bonaparte ist der beste General unserer Zeit, Robert! Und seine Marschälle stehen ihm in nichts nach. Ich habe für dich eine Realität gezeichnet!" Arthur verabschiedete sich und ritt zurück in den Generalstab. Der Kriegsminister dagegen verlor keine Zeit: Er rollte die Karte zusammen, eilte zu William Pitt, stellte dem britischen Premierminister die Überlegungen des Generals vor und bat um die sofortige Einberufung einer Kabinettssitzung. Nur vier Tage später übermittelte ein Agent des englischen Geheimdienstes der Regierung in London die Nachricht, dass General von Mack bei Ulm vor dem französischen Kaiser kapituliert hatte. Eine Woche zuvor hatte Dupont ihn bei Haslach besiegt. Und zeitgleich waren die Generale Wernecke und Ries bei Elchingen von Marschall Ney geschlagen worden.

Am selben Abend trafen sich Premierminister Pitt und der Führer der liberalen Opposition im Unterhaus Lord Ponsonby in einem Haus in der Berkley Street. Wieder lag Arthurs Karte auf dem Tisch. Die Männer sprachen mit gedämpfter Stimme miteinander. Pitt bat seinen politischen Gegner, die Pläne der Regierung Truppen auf den Kontinent zu schicken nicht zu sabotieren. Ansonsten würde die Koalition gegen Bonaparte zerbrechen. Die Österreicher waren durch die Niederlage von Ulm so in Bedrängnis geraten, dass die Franzosen, wenn sie es wollten, auf Wien marschieren konnten. Es gab keinen bewaffneten Widerstand auf diesem Weg. Die Truppen von Erzherzog Karl hatten sich noch nicht mit der russischen Armee unter Marschall Kutuzov zusammengeschlossen. In dieser schwierigen Situation musste England für die in Bedrängnis geratenen Verbündeten zumindest ein Zeichen setzen.

"Und Sie wollendem alten Cathcart wirklich das Kommando über dieses Expeditionskorps anvertrauen, William?“, erkundigte sich Ponsonby, “Wäre Arthur Wellesley nicht die bessere Wahl?" Pitt schüttelte den Kopf: „Ich habe das Gefühl, dass General Wellesley die Lage richtig einschätzt und unsere Truppen im Hannoverschen keinen einzigen Schuss abfeuern werden. Ich will diesen Mann nicht in einer politischen Operation verheizen, die keinen großen Sinn macht. Cathcart ist fast achtzig Jahre alt. Er hat keine militärische Zukunft mehr. Und er hat einen so schlechten Ruf als Soldat, dass er nichts mehr ruinieren kann. Den jungen Wellesley müssen wir im Augenblick gemeinsam aus der Schusslinie des Oberkommandierenden heraushalten. Sollte der fette Freddie noch mehr Vorurteile gegen ihn aufbauen, werden wir ihn vielleicht nie einsetzen können. Entweder wird Freddie, Wellesley vergraulen oder die beiden geraten sich eines Tages so in die Haare, dass unser heißblütiger, junger Freund aus der Armee ausgestoßen wird. Vergessen Sie nicht, der Sepoy-General ist ein temperamentvoller Ire! Erinnern Sie sich, was damals dem Herzog von Richmond passierte, als er den fetten Freddie zum Duell herausgefordert hatte. Doch bei Gott, James. Es wird ein Tag kommen, da werden wir Sir Arthur Wellesley dringend brauchen. Er ist heute der einzige Offizier im Generalsrang, der praktische Erfahrung in der Kriegführung zu Lande hat. Er ist der einzige, der schon große Feldheere geführt hat und dabei noch als Stratege und als Taktiker kompetent ist. Arthur gehört zu dieser winzig kleinen Gruppe britischer Offiziere, die das Soldatenhandwerk wirklich von der Pike auf gelernt haben. Außerdem ist er jung und in ganz ausgezeichneter, körperlicher Verfassung. In unserem Generalstab sieht es ansonsten düster aus. Die meisten Generäle sind unfähig, steinalt, todkrank oder gleich alles zusammen. Außer Arthur Wellesley haben wir im Augenblick nur noch vier weitere, gute Männer: Moore, Paget, Abercrombie und Picton. John Moore hat allerdings keine praktische Kampferfahrung, er ist lediglich ein begnadeter Theoretiker und ein großartiger Ausbilder von Soldaten. Henry Paget ist ein kleines Genie, wenn es um Kavallerietruppen geht. Das hat er in Ägypten bewiesen. Aber er hat keine Erfahrung mit der Infanterie. Abercrombie ist erstklassig und erfahren, doch er erholt sich einfach nicht von der schweren Verwundung, die er bei Alexandria erlitten hat. Es geht ihm so dreckig, dass die Ärzte keine jeden Tag mit seinem Ableben rechnen. Und Tom Picton ist Gouverneur von Trinidad, am anderen Ende der Welt. Außerdem hat der einen unmöglichen Charakter. Picton ist möglicherweise noch streitsüchtiger und gefährlicher, als Arthur Wellesleys Busenfreund aus indischen Tagen, Davie Baird. Der wäre eigentlich die Nummer Fünf auf meiner Liste kompetenter Männer gewesen, doch er will absolut nicht nach England zurückkehren."

"Wellesley wird enttäuscht sein, wenn er nur als Cathcarts Stellvertreter auf den Kontinent geschickt wird."

"Einen kurzen Augenblick lang. Aber Arthur ist vernünftig. Er wird die Situation schnell begreifen. Außerdem ist er wirklich noch sehr jung. Er ist gerade einmal fünfunddreißig Jahre alt und erst seit knapp einem Jahr offiziell als General-Major auf der britischen Dienstliste eingetragen .In diesem Alter verkraftet ein Mann Enttäuschungen noch leicht. Außerdem zeigt er keinen politischen Ehrgeiz." Pitt rollte die Karte wieder zusammen und schickte sich an, das Haus in der Berkley Street zu verlassen, doch Ponsonby hielt ihn zurück: „William, schicken Sie uns den jungen Wellesley ins Unterhaus. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns mit ihm zu militärischen Fragen einig werden können. Wir sind bereit den Sepoy General als Vermittler der Konservativen zu akzeptieren. Die Zeiten sind schwer."

"Mein Freund, er will nicht! Er sagt, dass Soldaten sich nicht in die Politik einmischen dürfen.“

"Er hat Recht, William! Es wäre vielleicht am einfachsten, wenn der Herzog von Richmond ihm gut zuredet. Es heißt, die beiden stehen sich sehr nahe und Richmond besitzt Wellesleys Vertrauen."

Am nächsten Morgen war die Nachricht der Kapitulation des österreichischen Generals von Mack noch immer nicht an die Öffentlichkeit durchgedrungen. Der Premierminister beorderte Arthur bereits früh um sieben Uhr in die Downing Street. William Pitt fühlte sich schlecht. Seine Gesundheit war nie sehr gut gewesen. Der Druck der letzten Wochen hatte sein Herz zusätzlich geschwächt. Während der letzten Nacht hatte er außerdem keinen Schlaf gefunden. Napoleons neuer Siegeszug über den europäischen Kontinent würde schlimme Auswirkungen haben. Die Tatsache, dass die österreichische Hauptstadt Wien jetzt direkt bedroht wurde, konnte katastrophale Auswirkungen auf England haben. Wenn der Kaiser gezwungen wurde, einen Sonderfrieden zu schließen, dann stürzte seine mühevoll geschaffene Koalition gegen Bonaparte in sich zusammen, wie ein Kartenhaus. Großbritannien stünde erneut alleine gegen Frankreich. Und dieses Mal würden sich noch mehr Häfen für ihre Handelsschiffe schließen. Die englische Wirtschaft wurde langsam erdrosselt. Wortlos hielt Pitt, Arthur die Depesche des Geheimagenten hin, die von der Kapitulation von Macks bei Ulm berichtete. Dann sah er den Offizier lange an. Als er wieder an seinen Schreibtisch zurückging, hörte Arthur, Pitt vor sich hinmurmeln. " Erstaunlich dieser General! Wirklich erstaunlich! " Zuerst verstand er nicht, was den Premierminister so erstaunte. Jeden Tag machten irgendwelche Offiziere irgendwelche dummen Fehler, kapitulierten oder verloren Schlachten. Als Pitt seine Verwunderung bemerkte, stand er noch einmal von seinem Schreibtisch auf und bohrte ihm den Finger in die Brust. "Sie sind erstaunlich, Wellesley! Sie besitzen die Gabe, bevor Sie irgendetwas anfangen, alle Schwierigkeiten und Probleme, die auftreten könnten vorherzusehen. Wenn Sie sich durchringen, irgendetwas zu unternehmen, gibt es dann plötzlich keine Probleme oder Schwierigkeiten mehr. Ich bin von unserem Generalstab diese Weitsicht in der Initiative einfach nicht gewohnt. Falls wir Ihnen je die Chance geben sollten, werden Sie es weit bringen! Sehr weit!" Pitt gebot Arthur, sich zu setzen. Er zeigte auf einen bequemen, grünen Ledersessel am Fenster: " Haben Sie gefrühstückt? Möchten Sie Kaffee oder Tee?”

"Kaffee!" Pitt klingelte nach seinem Sekretär und bat ihn eine große Kanne Kaffee für Arthur zu bringen. Dann schenkte er sich selbst ein Glas Portwein ein und setzte sich dem Offizier gegenüber: "Wie wird Bonaparte weiter vorgehen, Wellesley?“

"Ich bin kein Orakel, Sir!"

"Sie haben kein Selbstvertrauen, General! Ich will Ihre Meinung hören. Jetzt sofort! „Arthur seufzte und gehorchte: “Napoleon hat von Mack ausmanövriert, Sir! Die Kapitulation von Ulm wird in dieser Beziehung als Geniestreich des französischen Kaisers in die Geschichte eingehen. Eine ganze Armee zu vernichten, ohne eine Entscheidungsschlacht zu riskieren...dieser Mann macht dem Krieg Ehre!“

"Sie hätten das Gleiche getan, Wellesley! Gestern haben Sie es mit einer Stabskarte und zwei Stück verschiedenfarbiger Kreide bewiesen. Weiter !" Arthur fing an sich unbehaglich zu fühlen. Die Aufmerksamkeit, die sie ihm widmeten und das ganze Lob nur wegen ein paar richtiger Schlussfolgerungen stimmten ihn sehr misstrauisch. William Pitt spürte die innere Spannung des Jüngeren. Beruhigend legte er ihm die Hand auf die Schulter: "Was würden Sie tun, wenn Sie Napoleons Armee kommandieren würden und die Macht des Kaisers hätten, Entscheidungen zu treffen?"

Arthur starrte gedankenverloren in seine leere Kaffeetasse. Leise, fast so als ob er zu sich selbst sprach, erklärte er dem Premierminister "Ich würde auf Wien marschieren, Sir. Die Hauptstadt ist ungeschützt. Die zweite, große österreichische Armee unter Erzherzog Karl schlägt sich in Italien mit Massena. Sie sind zu weit weg, um einzugreifen. Ich würde die Hauptstadt besetzen und ein oder zwei Divisionen als Besatzungstruppen zurücklassen, ohne mich lange aufzuhalten. Dann muss der Russe Kutuzov ausgeschaltet werden. Seine Unterstützungsarmee muss aus dem Hoheitsgebiet der Donaumonarchie vertrieben werden. Sie darf sich auf keinen Fall mit den Truppen von Erzherzog Karl vereinigen. Am besten wäre es natürlich, Kutuzov dazu zu verleiten, sich irgendwo zu einer Schlacht zu stellen. Die Initiative zum Angriff würde ich meinem Gegner überlassen. Ihm eine schwache Position vorgaukeln, meine Position so wählen, dass nur der kleinere Teil meiner Truppen sichtbar ist. Am besten irgendwo, wo es Hügel und Hänge hat. Irgendwo hinter Wien, in Tschechien… Wenn ich diese Armee hätte und die Macht des Kaisers!" Er sah von seiner Tasse auf und William Pitt in die Augen. "Wir haben kein Feldheer von dieser Stärke. Wenn England je den politischen Konsens findet, um ein 15.000 oder 20.000 Mann starkes Expeditionskorps auf den Kontinent zu schicken, dann dürfen wir uns nicht irren. Unser Land hat eine Berufsarmee und Soldat wird nur der, der keinen anderen Ausweg im Leben hat. Wir müssen uns deshalb genau überlegen, wo wir eine zweite Front aufbauen und wofür wir bereit sind, zu bluten und zu sterben. Nicht in den deutschen Ländern. Wir müssen dorthin, wo natürliche Hindernisse die Franzosen von ihrer eigenen Nachschubbasis abschneiden, wo die Bevölkerung bereit ist, unser Expeditionskorps zu unterstützen, wo die Geographie den großen, französischen Armeen zu schaffen macht und wo wir uns im Notfall, auf dem Seeweg wieder ganz schnell nach Hause zurückziehen können." Pitt lächelte zufrieden. Er trank sein Glas Portwein leer und schenkte sich nach." Wo?" Fragte der Premierminister neugierig. "Portugal und Spanien oder Dänemark und Schweden!", antwortete Arthur. "Gehen Sie nach Hause, General. Schreiben Sie alles auf, was Sie mir gerade erzählt haben. Vergessen Sie Ihr Kommando in der Provinz! In ein paar Tagen werden Sie vom Generalstab neue Befehle erhalten." Arthur stand auf und verbeugte sich leicht vor Pitt. Er hatte die Hand schon auf der Türklinke liegen, als der Premierminister ihn noch einmal zurückrief. "Wellesley seien Sie über Ihren Auftrag im Hannoverschen nicht zu enttäuscht! Sie sind Englands jüngster General…eigentlich noch viel zu jung für diesen Rang! Sie haben eine lange Karriere vor sich. Wenn Sie ein wenig nachdenken, werden Sie verstehen, warum Sie hinter Cathcart nur an zweiter Stelle kommen und warum wir, gegen Ihren Rat doch Verstärkung auf den Kontinent schicken. Geduld, mein Freund! Ihre Zeit ist noch nicht gekommen!"

Nachdenklich bestieg Wellesley sein Pferd und ritt die kurze Strecke von der Downing Street zum Generalstab zurück. Vor dem Gebäude angekommen überlegte er es sich anders und schlug den Weg zur Themse hinunter ein. Er ritt am Wasser entlang, aus der Stadt hinaus, nach Reading. Von dort führte ein hübscher Pfad durch den Wald nach Windsor. Er fühlte sich in London eingeengt und konnte umgeben von Lärm, Menschen und Häusern nicht vernünftig nachdenken. Stunde um Stunde trödelte er im Schritt auf seinem Pferd durch die Gegend. Er dachte über das Gespräch mit Pitt nach, über die Treffen mit Castlereagh, die alle einen ähnlichen Tenor hatten, über einen Abend, den er vor kurzem gemeinsam mit Frederick Ponsonby, einem Freund aus Kindertagen, im Hause von Lady Bessborough verbracht hatte. Der Abend hatte damit geendet, dass Lord William Ponsonby, Freddys Vater, ihm eine ganze Stunde lang zu erklären versucht hatte, wie wichtig es für England sei, dass auch die Armee endlich eine Stimme im Unterhaus bekäme, die nicht die Sprache eines Politikers sprach. Zumindest ein Berufssoldat, der sein Handwerk verstand und der für die Konservativen und die Whigs gleichermaßen akzeptabel sei, müsse sich doch finden lassen. Wellesley hatte Lord Ponsonby daraufhin vorgeschlagen, Henry Paget anzusprechen. Die einzige Antwort, die der Führer der Whigs auf diesen Vorschlag wusste, war: " Ich weiß nicht, ob unser Land es fertigbringen wird, Krieg ohne Infanterietruppen und ohne Artillerie zu führen. Außerdem, Arthur! Wie sollen wir dreißig oder vierzigtausend Pferde verschiffen?" Am Tag nach dem Besuch bei Ponsonby, war dann auch noch Henry Paget bei den Richmonds aufgetaucht, hatte sich kurzerhand zum Essen eingeladen und mit Engelszungen auf Arthur eingeredet, sich ins Unterhaus wählen zu lassen. Lediglich der Oberkommandierende der Streitkräfte, der Herzog von York, hatte sich seit seiner Rückkehr aus Indien noch nicht die Mühe gemacht, den General zu treffen.


Adler und Leopard Teil 1

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