Читать книгу Der Fluch von Azincourt Buch 3 - Peter Urban - Страница 3

Kapitel 1 Das Geheimnis von Brocéliande

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I

Jean de Craon fühlte, wie ein leichtes Frösteln ihm tückisch den Rücken hinaufkroch, als er vom Fenster des Turmes aus die Reiterschar erblickte.

Die Männer trugen alle Fackeln. Ihre Banner flatterten stolz im Wind und sie ritten kräftige, große Kriegspferde. Er schätzte sie auf etwa zwei Dutzend und sie schienen bis an die Zähne bewaffnet. Langsam wandte er sich von dem nächtlichen Schauspiel ab. Zuerst nahm er einen Mantel, dann verlies er seine Räume. Während er noch die Treppe hinunter stieg hörte er bereits eine laute, gebieterische Stimme, die im Namen von Herzog Yann de Montforzh Einlass forderte. Die Wachen von Champtocé ließen die Zugbrücke hinunter, der schwere Querbalken wurde aus seinen Verankerungen gehoben und das Tor der Festung öffnete sich. Hufgetrampel hallte zuerst auf der harten, gestampften Erde wieder, bevor die Eisen der Pferde über die Steine der flachen Stufen der Grêde klapperten, die hinauf zum Palas führte.

„Sorg dafür, dass die Thouars und die Gouvernante in ihren Gemächern eingesperrt bleiben“, zischte der alte Mann einem seiner Wachleute zu. Der Kriegsknecht verbeugte sich kurz, bevor er seinen Posten verließ und zu den Frauengemächern hinaufeilte. Einen Augenblick lang glaubte de Craon zwischen seinen Schulterblättern eine eisige Hand zu spüren, als die großen, eisernen Feuerbecken der Eingangshalle das Wappen auf der Brust des Anführers der Reiterschar beleuchteten. Er war ein hochgewachsener Mann Mitte Zwanzig, mit einem schmalen, scharfen Falkengesicht und einer langen Narbe über der rechten Wange. Jean erinnerte sich nicht daran, ihn jemals zuvor gesehen zu haben, doch er schien genau zu wissen, wem er gegenüberstand.

„ Mesire de Craon“, grüßte er den Seigneur von Champtocé zackig, „Yann de Kerpert, Offizier im persönlichen Dienst des Herzogs von Breizh.“ Dann streckte er dem alten Mann eine Pergamentrolle entgegen, die das Wappen von Yann de Montforzh trug. Jean nahm die Botschaft. Unwillkürlich schlug sein Herz rascher. Er konnte sich denken, worum es ging. Die Kriegsknechte von Montforzh, die mit de Kerpert geritten waren sahen aus, wie Männer die ihr Handwerk verstanden. Der Offizier schien kampferprobt und ungewöhnlich selbstbewusst: Herzog Yann musste irgendwie von der überraschenden Eheschließung zwischen seinem Enkel und der Waisen Catherine de Thouars erfahren haben....und dabei waren ihm auch die Details der vorhergehenden brutalen Entführung des Mädchens durch Gilles und Yves de Kerma’dhec zugetragen worden. Es hatte ein Dutzend Tote gegeben; drei Überlebende, ein Onkel und zwei Cousins der Kleinen, verrotteten langsam in den Kerkern von Champtocé... Und nun forderte der bretonische Lehnsherr Rechenschaft für den räuberischen Akt und die erzwungene Heirat zwischen zwei engen Blutsverwandten.

„ Ich habe Order Eure Antwort sofort mitzunehmen, Baron. Die Situation verlangt von uns allen rasches Handeln“, informierte de Kerpert, de Craon hochmütig. Seine Augen fixierten scharf den Herren von Champtocé. Dann drehte er sich um und gab seinen Sarjenten Zeichen ihm zu folgen. Einige Pferde, von harter Hand zurückgerissen, bäumten sich wiehernd auf. Der Offizier rief seinen Männern einen scharfen Befehl zu. Als alles sich wieder beruhigt hatte, wandte er sich noch einmal um und sagte gelassen und sich ganz seiner Stellung im persönlichen Haushalt des Herzogs der Bretagne bewusst. „Zwei Stunden Zeit reichen, damit unsere Tiere wieder zu Atem kommen, Mesire. Ihr könnt Eure Antwort für meinen Herrn also in aller Ruhe verfassen.“

De Craon erbrach das Siegel. Bereits nachdem er die ersten Sätze überflogen hatte, entspannte er sich sichtlich. Anstatt von ihm Rechenschaft einzufordern, verlangte Montforzh lediglich die Bereitstellung von Bewaffneten.

Ein Treffen zwischen Charles de Ponthieu und dem Herzog von Burgund hatte blutig geendet: Ein Mann aus dem Gefolge des Dauphin hatte sich plötzlich und wie ein Besessener auf Jean Sans Peur gestürzt und ihn mit seinem Dolch niedergestochen. Unglücklicherweise war der Mörder aber im Anschluss an seine frevlerische Tat sofort von Tanguy de Châtel, dem Favoriten des Dauphins ins Jenseits befördert worden. Damit hatte keiner der neutralen Vermittler dieses Treffens die Möglichkeit bekommen, herauszufinden, wer den Auftrag für den heimtückischen Anschlag erteilt hatte. Die Namen des Herzogs von Cornouailles und Yolandes d’Aragón fielen im Zusammenhang mit dem missglückten Treffen. Offensichtlich waren sie die neutralen Vermittler zwischen Burgund und dem Dauphin Charles gewesen und darüber entsetzt, dass der von ihnen ausgehandelte Gottesfriede so verräterisch gebrochen worden war. Cornouailles und Anjou forderten nicht nur Rechenschaft, sondern auch Genugtuung für ihre verletzte Ehre.

Yann unterstrich in seinem Schreiben allerdings, dass trotz des raschen Todes des Mörders irgendwelche Beweise in seine Hände gelangt waren. Diese belegten, dass Charles de Ponthieu in das Komplott gegen seinen Intimfeind von Anfang an eingeweiht worden war. Er hätte der Zusammenkunft in Monterau nur mit dem Ziel zugestimmt, endlich Jean Sans Peur zu beseitigen: Die Situation entlang der bretonischen Grenze zu Frankreich spitzte sich zu. Darum überlegte Yann ernsthaft, ob es nicht sinnvoll war, bis zu einem gewissen Grad seine Neutralität aufzugeben und Partei zu ergreifen. Gegen den jungen Thronanwärter aus dem Hause Valois.

De Craon las weiter und schluckte. Diese Botschaft enthielt indirekt mehrere Beweise dafür, dass der Herzog der Bretagne Verrat gegen das angestammte französische Königshaus im Sinn hatte und eine enge, aber streng geheime Verbindung zu Phillipe de Bourgogne, dem Sohn des ermordeten Jean Sans Peur haben musste. Natürlich erkannte man dies nur, wenn man intelligent genug war, zwischen den Zeilen seiner Botschaft zu lesen... und ein paar Schlussfolgerungen zu ziehen. Montforzh und Cornouailles waren Busenfreunde. Der ketzerische Herzog war ein alter Verbündeter der Herren von Anjou. Man munkelte, dass es gar sein Werk gewesen war, König Louis II von Sizilien und Neapel noch kurz vor dessen Tod davon zu überzeugen, die Hand seiner jüngsten Tochter Yolande an Herzog Yann zu verschachern…für dessen ältesten Sohn Francois, den Thronerben der Bretagne.

Anstatt sich einfach damit zu begnügen, den Tod seines Vaters in ein paar blutigen Gemetzeln mit den Anhängern von Armagnac und Valois zu rächen, war Phillipe, der neue Herzog von Burgund, angewidert durch die Falschheit des Dauphin und seiner Berater, so schnell ein Pferd ihn tragen konnte zu König Henry Lancaster von England geeilt.

Es wurde gemunkelt, dass der Sohn dem Vater seinerzeit, unterstützt durch Nicolas Rolin, dem bewährten Kanzler von Burgund, von jeglicher Annäherung mit dem Dauphin abgeraten hatte. In Phillips Augen barg die englische Karte bessere Friedensaussichten für Frankreich, als ein unbequemes, halbherziges militärisches Bündnis mit dem schwachen und wankelmütigen Erben des wahnsinnigen Valois-Königs Charles VI.

Und nicht nur Bourgogne hatte sich nach der Katastrophe von Monterau im November am Hof des jungen englischen Königs Henry V. in Arras eingefunden: Isabeau de Bavière, die Königin von Frankreich, die ihren schwachen Sohn Charles de Ponthieu genauso leidenschaftlich hasste, wie ihren wahnsinnigen Gemahl Charles VI., war offensichtlich ganz ohne Zwang in den Norden gereist. Das Gerücht über einen Geheimvertrag zerfraß bereits, wie ein bösartiges Geschwür das von Krieg und Bürgerkrieg erschütterte Frankreich. Im Januar war dann Henry Lancaster selbst nach Troyes geritten, wo Isabeau ihren Hof im Exil versammelt hatte. Um ihre eigenen finsteren Pläne voranzutreiben war die Wittelsbacherin ganz offensichtlich dazu bereit gewesen, ihre eigene Tochter Catherine wie ein Rind auf dem Viehmarkt an den Engländer zu verschachern. Während Lancaster scheinbar dem Charme und der Schönheit der jungen Prinzessin sofort erlegen war, unterstützte Phillipe de Bourgogne diese Verbindung zwischen dem französischen und dem regierenden englischen Königshaus mit allen Mitteln, weil sie bedeutete, dass der Dauphin Charles in seiner Position als offizieller Thronfolger von Frankreich entscheidend geschwächt wurde.

Der Hass der Burgunder auf die Valois reichte so weit, dass sie nicht davor zurückschreckten, Lancaster die Doppelkrone auf einem Tablett anzubieten. Diese undurchsichtige Situation verlangte, dass Montforzh sein Land gegenüber Frankreich genauso vollständig abschottete, wie er dies bereits seit dem Desaster von Azincourt mit den Grenzen zwischen der Bretagne und der von den Engländern beherrschten Normandie tat.

Der alte Mann verzog den schmalen Mund zu einem hinterhältigen Grinsen: Die Situation hatte ihren Reiz. Einerseits war Henry Lancaster dem Haus Montforzh ganz und gar nicht gewogen, weil Yann im Krieg stur seine Neutralität aufrechterhielt und hierbei vergaß, dass einst ein englischer König seinem Vater Söldner ausgeliehen hatte, um in der Schlacht von Auray seine Herzogs-Krone zurückzuerobern. Andererseits betrachteten die Valois die unabhängigen und eigensinnigen Bretonen und ihren ebenso eigensinnigen Herrscher voller Misstrauen, denn Montforzh hielt sich aus allem heraus und schien nur davon besessen, für sein eigenes Land Reichtum und Wohlstand zu schaffen, während um ihn herum die Welt in Krieg und Blut versank.

De Craon würde Yann de Montforzh natürlich gehorchen, denn er hatte ihm für die bretonischen Besitzungen der Familie Laval-Craon-de Monmorency den Lehenseid geschworen: Der Herzog wollte Bewaffnete für seinen Grenzen? Er sollte sie bekommen. Dank der schier unerschöpflichen Geldmittel, die insbesondere seit der Verbindung zwischen Gilles und dem Thouars-Mädchen zur Verfügung standen, war es ein Leichtes vierhundert oder fünfhundert Männer auszurüsten, um Yanns Aufmerksamkeit von Champtocé abzulenken.

Noch in der Hochzeitsnacht hatte de Craon einen Eilboten mit einem Schreiben und reichen Geschenken nach Rom geschickt. Während seine großzügige Bereitstellung von Waffenleuten Montforzh gewogen stimmte, würde in der Zwischenzeit der päpstliche Dispens für die Ehe zwischen Gilles und Catherine eintreffen. Mit einer offiziellen Genehmigung des Vatikans hatte selbst der Herzog keine Handhabe mehr und vielleicht war die Kleine ja sowieso schon schwanger. Vor ein paar Tagen, als er sie zufällig auf dem Weg zur Kapelle bemerkte, war sie ihm sehr verändert vorgekommen. Ihr Leib, der im Augenblick der Entführung und anschließenden Vermählung so mager gewirkt hatte, war plump geworden. Obwohl ihr Gesicht gesund ausgesehen hatte, hatte um Augen und Mund des Mädchens jener eigentümlich überschattete Zug gelegen, wie man ihn bei Weibern in anderen Umständen oft gewahrte.

Der alte Mann eilte mit dem herzoglichen Schreiben in der Hand hinauf in seine Gemächer. Zuerst wollte er Montforzh ruhig stellen und in Sicherheit wiegen, dann galt es eine Reise vorzubereiten. Er musste sich nun ganz energisch um die Zukunft und die Karriere von Gilles kümmern. De Craon konnte sich durchaus vorstellen, dass diese Zutraulichkeit, die zwischen Henry Lancaster, Phillipe de Bourgogne und Isabeau de Bavière in Arras entstanden war und ihre Fortsetzung in dem Geplänkel von Troyes fand andere Folgen haben würde, als nur den Verlust der Jungfernschaft einer französischen Königstochter.

Henry Lancaster wollte die französische Krone um jeden Preis. Nur eine einzige Person stand noch zwischen ihm und der Erfüllung seiner Träume......Charles de Ponthieu, der Dauphin selbst. Doch dem jungen Mann fehlte eine ganz entscheidende Karte in seinem Spiel um Macht und Herrschaft; eine Möglichkeit die normannische Bastion von Henry Lancaster so zu bedrohen, dass die Aufmerksamkeit des Engländers endlich von der Hauptstadt Paris und der Krönungsstadt Reims abgelenkt würden.

Als Jean sich an seinen Arbeitstisch setzte und die Feder in sein Tintenfass tauchte, lag ein heimtückischer, berechnender Zug um den schmalen Mund des alten Mannes. Nur wer es wagte jetzt hoch zu spielen, der würde am Ende auf der siegreichen Seite stehen und dabei alles gewinnen...und vielleicht konnte er dem Montforzh ja dabei noch gleichzeitig einen bösen Streich spielen, ohne ertappt zu werden.

II

Claire spürte, wie seine Waden sich schmerzhaft verkrampften. Trotzdem streckte er sich so hoch er konnte. Die Finger seiner Rechten schlossen sich um den eisernen Gitterstab. Er stöhnte leise auf, als auch seine Linke endlich einen zweiten Gitterstab greifen konnte. Das Handgelenk, das der junge Laval ihm vor Wochen gebrochen hatte war schlecht zusammengewachsen und schmerzte. Mühsam zog Saint Germain seinen mageren, ausgemergelten Leib hoch, bis seine Augen endlich durch den schmalen Spalt des Verlieses hinaus in den großen Innenhof der Festung sehen konnten. Alles was er erkannte waren Pferdebeine.

Er hätte viel dafür gegeben, die Aufmerksamkeit eines der Reiter auf sich zu lenken und ihm eine verzweifelte Botschaft zuzuflüstern. De Craon und Laval waren eiskalte Mörder, sie versuchten nicht nur Dämonen zu beschwören und paktierten mit dem Bösen, sie schlachteten auch unschuldige Kinder und brachten der Finsternis Blutopfer dar. Was er in den Monaten, als er noch Gast auf Champtocé gewesen war geahnt hatte, wusste er heute bestimmt. Seit er ihr Gefangener war, war er ihnen schutzlos ausgeliefert. Während sie früher ihr unseliges Treiben sorgfältig vor ihm verborgen gehalten hatten, ergötzten sie sich nun an seinem Grauen.

Claire wollte es hinausschreien. Die ganze Welt musste erfahren, was auf Champtocé geschah. Irgendjemand musste den Mut finden dem Treiben der beiden Teufelsanbeter ein Ende zu setzen. Der Alchimist nahm seine ganze Kraft zusammen, stemmte seine Füße in den unebenen Mauerstein und hievte sich hoch bis zu dem elenden, kleinen Loch. Da waren Männer. Sie trugen Rüstungen und waren für den Krieg ausgestattet. Schwerter, Lanzen, Schilde. Undeutlich erkannte er das Wappen, das auf der Surcotte des Nächststehenden eingestickt war im Fackellicht: Weißer Grund und schwarze Hermeline.....die Reiter waren eindeutig Männer des bretonischen Herzogs selbst. Claire schöpfte Mut. Er holte tief Luft, um laut zu schreien.

,In der Tat, mein Freund. Wir haben hohen Besuch auf Champtocé. ‘ Gilles schmunzelte, als er de Saint Germain, wie eine Spinne in der Mauer hängen sah. Das Schauspiel, das der Ritter aus Anjou bot war pathetisch. Er war lautlos durch eine geheime Tür in den Kerker geschlichen, weil er sich fast hatte denken können, dass ihr wertvoller Gefangener versuchen würde, die Aufmerksamkeit der unerwünschten Gäste auf sich zu ziehen. Der Alchimist seufzte leise und lies sich zurück auf den Boden des Gewölbes fallen, das ihm gleichzeitig als Labor und als Gefängnis diente. Seine Muskeln schmerzten von der Anstrengung. Nun, in diesem Augenblick in dem ihm klar wurde, dass seine Hoffnung mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen durch Lavals plötzliches Auftauchen zerstört worden war, fühlte er grenzenlose Erschöpfung und Müdigkeit. Er hatte seit Wochen schon kein wirkliches Tageslicht mehr gesehen und diese kleine vergitterte Spalte direkt unter der Decke war die einzige Öffnung, die frische Luft in den Kerker ließ, sie war seine letzte Verbindung mit der Welt der Lebenden.

Claire wurde schmerzhaft bewusst, wie schwach er geworden war. Er ging langsam, wie ein Greis zu einem einfachen Stuhl. Seitdem de Craon und Laval ihn gewaltsam auf Champtocé festhielten, bekam er den gleichen Fraß, den sie vermutlich auch den Unglücklichen zuwarfen, die in einem anderen, finsteren Gewölbe direkt unter dem Seinen saßen und deren verzweifelte Schreie ihn bis vor Kurzem noch Nachtens von seinem Werk abgehalten hatten. Seit ein paar Tagen waren die Schreie verstummt. Entweder hatten der Teufel und sein Enkel die Unglücklichen endlich umgebracht, oder sie waren zu hoffnungslos, um sich überhaupt noch aufzubäumen und zu kämpfen.

Laval hatte sich bequem auf dem anderen Stuhl vor Claires Arbeitstisch niedergelassen. Seine dunklen Augen betrachteten interessiert einen neuen Versuchsaufbau des Alchimisten.

Claire war davon überzeugt, dass die Materia Primae zum großen Werk sich nur im Mineralreich finden ließ. Seitdem es ihm gelungen war, das Merkurialwasser perfekt zu destillieren, arbeitete er fanatisch an der zweiten Stufe des Flamelschen Prozesses. Ohne diese Forschungen - davon war Saint Germain überzeugt - wäre er in Anbetracht der Schrecken, an denen Laval und de Craon ihn teilzunehmen zwangen, schon lange wahnsinnig geworden. Er verfluchte den Tag, an dem er sich dazu hatte überreden lassen, die Grabschändung von Paris vorzunehmen.

Ohne um Erlaubnis zu fragen, zog Gilles das Buch des Leviterprinzen vom Tisch und begann nachlässig darin zu blättern. Jedes Mal, wenn er die Drohung las, die Abraham sozusagen als Einführung zu seinem Werk verfasst hatte, musste er schmunzeln. Worte. Nichts als Worte. Sie hatten offensichtlich Nicolas Flamel keinen Schaden zugefügt. Der Alchimist war hochbetagt eines natürlichen Tod gestorben.

„Und Ihr seid wirklich davon überzeugt, dass es ausreicht Gold, Silber, Blei, Magnesium, Schwefel und Arsen in eine unnatürliche, flüssige Form zu quälen und schon erreichen wir die Schwärzung und den Abschluss der Nigrendo?“, erkundigte der junge Mann sich amüsiert bei seinem Gefangenen, während sein schlanker Zeigefinger sorgsam jeden einzelnen goldenen Buchstaben des Fluches von Abraham nachzog: „Marantha“, formten seine Lippen leise das Wort der Macht, „Marantha. Fluch jedoch, über jeden, der diese Schrift aufschlägt und der nicht aus dem Stamme Judah ist. Fluch jedem, der nicht Priester oder Gelehrter und der diese Schrift in Händen hält. Er soll vernichtet und ausgelöscht werden. So wie Korah, Dathan und Airam soll er vernichtet werden oder im Feuer verbrennen.“

Claire hob kurz den Kopf und betrachtete durch einen Vorhang aus fettigen, blonden Haaren seinen Peiniger. Er war offensichtlich direkt aus seinen Gemächern im Palas hinunter in die Gewölbe des Turms geeilt, denn Laval trug feine, ungefütterte Gewänder aus dunkelgrünem Samt und eine leichte Cotte aus Seide. Sein rundes Gesicht war frisch rasiert und er verströmte einen angenehmen Geruch nach teuren orientalischen Ölen, mit denen diejenigen die sich diesen Luxus leisten konnten ihr wöchentliches Badewasser parfümierten. Der junge Mann wirkte völlig entspannt und schien in prächtiger Gemütsverfassung. Der Alchimist seufzte leise und ergab sich in sein Schicksal. Er fand sich damit ab, dass der Gedanke an ein heißes Bad Illusion war. Doch vielleicht würde es ihm in dieser Nacht wenigstens gelingen, seine Haftbedingungen etwas zu verbessern, wenn er dem Erben des Montmorency-Laval-Craon Vermögens nach dem Mund redete.

Die Wochen die seiner erzwungenen Eheschließung mit der unglücklichen Catherine de Thouars gefolgt waren, hatten Gilles in einer erbärmlichen Stimmung gesehen. Er war nur selten im Laboratorium aufgetaucht und die wenigen Besuche waren fast genauso schlimm gewesen, wie die Nacht, in der Laval ihn zum Bleiben überredet hatte.

Claire erhob sich mühsam von seiner Sitzgelegenheit und begab sich hinüber zu seinem Versuchsaufbau. Er bemühte sich aufrecht zu gehen, damit Laval nicht den Eindruck bekam, er wäre in dieser Nacht schwach oder verzweifelt. „Wenn Ihr das dritte Kapitel der Schrift aufschlagen wollt, Mesire de Laval.“ Seine Stimme war fest. Er verdrängte für einen Augenblick die Hoffnungslosigkeit, die seit Wochen schon in müßigen Stunden sein ständiger Begleiter war: „ Betrachtet dabei ebenfalls die zweite Allegorie von Abraham. Genau gesehen ist die in der Rohmaterie enthaltene Erde der Schwefel - Sulfur. Und das Wasser ist das Quecksilber - Merkur.“

„Das eine warm und trocken, das andere kalt und feucht.“ Laval nickte zustimmend und nahm seinen Finger von den mysteriösen, goldenen Lettern des Fluches von Abraham Eleazar. Die Allegorie war eindeutig: Sonne und Mond. Zwei Drachen. Der eine mit Flügeln, der andere ohne Flügel. „Dies ist der Drache...“, fuhr Saint Germain schulmeisterlich fort, „...der die goldenen Äpfel im Garten der hesperidischen Jungfrauen bewacht. Es sind folglich die beiden Schlangen, die von Juno dem jungen Herkules in die Wiege gelegt wurden. Der Drache ist im Bereich der Allegorie lediglich eine andere Darstellungsform der Schlange...“

Gilles schlug das Buch endlich zu und zog die Augenbrauen hoch. Dann überlegte er einen Augenblick. Seine Bildung und seine Kenntnisse der Klassiker standen in nichts seinen Fähigkeiten mit Schwert und Lanze nach. Er besaß in seiner eigenen, kostbaren Bibliothek eine wundervoll illustrierte Abschrift der „Zwölf Arbeiten des Herkules“. Vor seinem inneren Auge versuchte der junge Mann den Garten der Hesperiden entstehen zu lassen und sich an die Details zu erinnern: „Herkules erwürgte diese Schlangen, Saint Germain.“

Der Alchimist nickte: „In der Tat. Er überwand sie, wie sie der Adept des Großen Werkes im Anfang seiner Arbeit überwinden muss. Das heißt, er muss sie zerstören, wie Herkules die Schlangen der Juno zerstört hat...damit aus der Zerstörung Rebis, res bina, die zweifache Sache entstehen kann.“

„ Und Ihr seid davon überzeugt, dass der Merkur der Weisen, der in sich den Schwefel enthält diese Materia Secunda ist ?“

Claire stand Laval gegenüber und hatte die Hände auf der Holzplatte seines Arbeitstisches abgestützt. Die Anstrengung an der feuchten Wand hochzuklettern machte sich bemerkbar. Seine Knie zitterten. Sein Herz schlug in einem unregelmäßigen Rhythmus. Seit den Morgenstunden, als ihm der schweigsame Mann, der über die Gewölbe von Champtocé wachte, ein Stück dunkles Brot und einen Becher frischer Milch gebracht hatte, hatte er keine Nahrung mehr zu sich genommen. Die winterliche Kälte setzte ihm trotz des Feuers, das ständig im Athenor brannte heftig zu und die Feuchtigkeit des unterirdischen Gewölbes ließ seine Gelenke schmerzen. Dazu gesellten sich noch die Folgen seiner Misshandlung durch Gilles...nach seiner Rückkehr von Machécoul hatte de Craon lediglich dafür gesorgt, dass er aus dem Verlies, in das Laval ihn blutend und gebrochen geworfen hatte, zurück in sein Laboratorium geschafft wurde. Dann hatte er die Natur ihr Werk tun lassen. Claire spürte, wie die Rippen, die Laval ihm gebrochen hatte über seine Lunge kratzten. Sie waren genauso krumm zusammengewachsen, wie das vermaledeite Handgelenk. Er hustete trocken, bevor er sich dazu aufraffte dem Teufelsbraten in seinen feinen Kleidern eine diplomatische Antwort zu geben: „ Es ist einen Versuch wert, Mesire de Laval.“

Natürlich war Claire von seiner Theorie überzeugt, doch Laval hatte schon mehrfach deutlich ausgesprochen, dass er nicht viel von den Mineralisten unter den Alchemisten hielt. Er vertrat, dass die Allegorien in Abrahams Handschrift keine Hinweise auf irgendwelche toten Substanzen enthielten, sondern klar zeigten, das sämtliche Grundstoffe des großen Werkes lebendige Stoffe waren...Harn, Blut, Samenflüssigkeit und dergleichen. Er rechtfertigte seine grauenvollen Kindsmorde kaltblütig mit der Suche nach eben dieser Substanz, die notwendig wäre, um die zweite Stufe des Flamelschen Prozesses erfolgreich abzuschließen.

Sowohl Gilles, als auch de Craon suchten das in ihren Augen allein Wirksame, das Astral zu erhalten und bearbeiteten daher die organischen Substanzen entweder nach dem Quaternär: Putrefaktion, Separation, Purifikation, Union, oder vereinfacht nach dem Ternär: Putrefaktion, Zirkulation, Destillation.

Allerdings hatte ihre Methode bis zu diesem Tag noch genauso wenig Resultate gebracht, wie die seine. Lediglich das Kinderschlachten und Kindersterben auf Champtocé nahm inzwischen unheimliche Ausmaße an.

Wo früher Mesire de Laval gelegentlich mit einem Tonkrug voller Innereien aufgetaucht war, brachte nun der Kerkermeister beinahe täglich schreckliche Ingredienzien hinunter ins Labor.

, Unternehmt Euren Versuch, Saint Germain. ‘ Erwiderte Gilles freundlich. ‘...aber vergesst dabei nicht an Eurer Übersetzung der Handschrift weiterzuarbeiten...denn auch ich habe einen Versuch auf dem Athenor stehen und ich wage zu behaupten, dass es vielversprechend aussieht. Die Materie daraus unser Stein bereitet wird, ist ein schlichtes unansehnliches Wesen, da bei ihr nicht die geringste Schönheit anzutreffen. Es ist eben die Materie, daraus Gott im Anfang Himmel und Erde schuf, nämlich aus einem Chaos oder Klumpen...‘

Er erhob sich von seinem Stuhl, strich sorgfältig seine teuren Gewänder glatt und verbeugte sich mit leisem Spott vor seinem Gefangenen. ,Diese Erde war wüst und leer und es war finster in der Tiefe; derselbe Abgrund war voller dicker Finsternis, so wie ein schwarzer Nebel....,Ich nehme an, Ihr legt keinen Wert darauf mich in mein Laboratorium zu begleiten und dort meine letzte Arbeit zu betrachten. Sie war ausgesprochen.....unterhaltsam. ‘

Während die schwere Eichentür sich hinter dem Baron von Laval schloss, drangen laute Befehle, das metallische Geräusch von Waffen, die aufeinander schlugen und das aufgeregte Wiehern vieler Pferde durch den schmalen vergitterten Belüftungsspalt des Kerkers zu Claire de Saint Germain hinunter. Er war wieder alleine in der Kälte und in der Hoffnungslosigkeit seines grausamen Gefängnisses. Die Männer mit dem Wappen des bretonischen Herzogs auf ihren Waffenröcken und die für einen kurzen Augenblick der Euphorie seine Hoffnung auf einen Kontakt mit der Außenwelt gewesen waren, verließen Champtocé im gestreckten Galopp.

Der leere Magen des Alchimisten knurrte immer noch genau so erbärmlich, wie vor dem Höflichkeitsbesuch des jungen Teufels Laval und er war keinen Schritt weiter in seinem Leben. Claire seufzte aus tiefstem Herzen. Dann ging er langsam um den Arbeitstisch herum und zu seinem Versuch. Wenn es überhaupt noch eine Chance für ihn gab, dann lag sie in einem sichtbaren Fortschritt mit dem Manuskript des Leviterprinzen Abraham. Solange weder Gilles noch sein bösartiger, machtbesessener und habgieriger Großvater ein neues Ergebnis der Arbeit sahen, würden sich seine Haftbedingungen vermutlich nicht verbessern. Er warf einen Bund Reisig in den Athenor und konzentrierte sich.

III

Der Erbe des Herzogs von Cornouailles konnte bei einer Lanze kaum unterscheiden, wo vorne und hinten war, aber er bewegte sich flink und geschmeidig und er war ein hervorragender Reiter. Zu seinem eigenen Glück war Sévran mutig und für sein Alter bereits ausgesprochen kaltblütig.

Arzhur de Richemont verfolgte vom Rücken seines spanischen Goldfuchses aus interessiert und ein wenig skeptisch die kriegerischen Anstrengungen des sonderbaren Knappen, der sich nun schon seit etwas mehr als drei Monaten in seiner Obhut befand: Schwarzes Haar, schwarze Augen, der Körper eines Tänzers und das Benehmen eines jungen Wolfes, der in der Falle saß. Er gehörte also offensichtlich doch zu dieser Rasse, die selbst in der ausweglosesten Situation bis zuletzt mit dem Mut der Verzweiflung kämpfte, und eher starb, als sich zu ergeben: Melius mori quam feodari - Lieber tot, als beschmutzt! Richemont verzog unmerklich das Gesicht zu einem leisen Lächeln.

Wo es allerdings um reine körperliche Kraft und die Erfahrung im Umgang mit Kriegswaffen ging, konnte der junge Carnac sich auch mit seinem Gegner an diesem Morgen nicht messen. Der Sohn des Seigneurs von Giron war unter den Edelknappen in Rennes der Ungeschickteste und am wenigsten Begabte. Trotzdem hatte Patrice keine Mühe gehabt, Sévran mit ein paar wuchtigen Schlägen des Streitkolbens vom Pferderücken in den Dreck zu befördern. Selbst seine außergewöhnlichen Reitkünste hatten den Sohn des Herzogs von Cornouailles nicht retten können.

Der Unterschied hätte nicht größer sein können zu diesen beiden älteren Brüdern, die Arzhur so gut gekannt hatte. Sie waren die über viele Jahre hin seine Freunde gewesen ...bis zu dem Tag von Azincourt, an dem irgendeine höhere Macht befunden hatte, dass er weiterleben durfte, während ihnen die Stunde schlug. Aorélian und Glaoda hätten ihren jüngeren Bruder gewiss genauso kopfschüttelnd betrachtet, wie er es nun seit einiger Zeit schon tat.

Doch unten auf dem Boden schien Carnac plötzlich wieder mehr in seinem Element. Den Sturz hatte er erstaunlich rasch verdaut. Obwohl Brustpanzer, Beinschienen und Helm ihn behinderten, rollte er wie eine Katze durch den Dreck und sprang hoch. Noch in der Bewegung gelang es ihm das Schwert in der Scheide zu lösen. Der junge Giron bremste sein wuchtiges, normannisches Kriegspferd, um es auf dem rutschigen Untergrund zu wenden und seinen Gegner noch einmal anzugreifen.

Und damit fingen die Schwierigkeiten erst richtig an.

Er konnte Carnac vom Rücken des mächtigen Streitrosses aus einfach nicht folgen. Sévran hielt ihn geschickt auf Abstand und verwirrte ihn, während er sich gleichzeitig zu Richemonts Verwunderung von seinem sperrigen Brustpanzer befreite. Dann warf er auch noch den Helm in den Dreck. Als er schließlich nur noch das leichte Kettenhemd am Leib trug, griff er Giron an...blitzschnell glitt seine Hand zur Hüfte und Sévrans Schwert glänzte in seinen eisenbehandschuhten Händen.

Patrice war seit seinem siebten Geburtstag in der Waffenkunst ausgebildet worden. Genau aus diesem Grund überraschte Carnacs Angriff ihn so vollkommen. Einen kurzen Augenblick zügelte er sein Pferd, ohne zu begreifen welchen Plan sein Gegner verfolgte. Dieses Zögern genügte Sévran. Er stand mit gespreizten Beinen, das Schwert drohend erhoben und in diesem Augenblick –ohne Zweifel - selbst für einen kampferprobten Mann eine Gefahr. Jeder Muskel seines Körpers war gespannt. Über seine schwarzen Augen lag ein kalter, kalkulierender Ausdruck. Er beobachtete jede Bewegung des schweren Kriegspferdes, das im Galopp direkt auf ihn zustürmte. Sein Reiter hielt bereits die Streitkeule zum Schlag.

Arzhur de Richemont überlegte, ob er den Übungskampf nicht unterbrechen sollte, bevor es zu einem fatalen Zusammenstoß zwischen den beiden ungleichen Gegnern kam. Doch ein erneuter Blick auf Carnac ließ ihn diese Idee wieder verwerfen. Der Junge war vollkommen ruhig und gelassen. In seinen Augen war nicht einmal eine Spur von Angst zu erkennen. Offensichtlich wusste er wirklich, was er tun wollte.

Als die riesigen, eisenbeschlagenen Hufe von Girons Hengst beinahe über dem am Boden stehenden Carnac waren, löste der junge Mann sich so blitzschnell aus seiner Erstarrung, das keiner der Zuschauer im ersten Moment richtig begriff was geschah.

Nie wäre einem Ritter von Rang und Ehre in den Sinn gekommen sein Leben zu riskieren, nur um sich wie ein ungehobelter Landsknecht einem wütenden Streitross in die Zügel zu werfen und dabei gleichzeitig dem Tier mit der flachen Seite des Schwertes einen kräftigen Schlag auf die Kruppe zu versetzen.

Der Hengst bremste scharf und erhob sich vor Schreck hoch auf die Hinterbeine. Er schnaufte erregt. Weil Carnac trotz der gefährlichen, eisenbeschlagenen Hufe über seinem ungeschützten Kopf die Zügel der Kandare einfach nicht losließ, verlor das Tier auf dem rutschigen Grund dabei das Gleichgewicht. Mit einem lauten, metallischen Scheppern landeten Giron und sein Pferd im Dreck. Da lag der Knappe nun, wie eine Schildkröte hilflos auf dem Rücken, rang verzweifelt nach Atem und ruderte wild mit Armen und Beinen. Es war klar, dass er sich ohne fremde Hilfe aus diesem Schlamassel nicht befreien konnte.

Anstatt seinen überraschenden und ungewöhnlichen Sieg zu genießen, lies Sévran endlich die Zügel von Girons Hengst los, damit das Pferd aufstehen und sich wieder beruhigte konnte. Mit dem Handrücken wischte er sich Schweiß und Schmutz aus dem Gesicht, bevor er sein Schwert zurück in die Scheide steckte und seinem Gegner auf die Beine half.

Richemont hob kurz die Augen zum Himmel und warf seinem Ecuyer Jeannin Cotuyt einen verzweifelten Blick zu. Cotuyt gab zwei Waffenleuten Zeichen die freilaufenden Rösser einzufangen. Ein dritter Soldat trug rasch Decken für die verschwitzten Tiere herbei. Ausgebildete Kriegspferde waren wertvoll. Ein anständiges Tier kostete mindestens den Gegenwert von zwanzig guten Zugochsen.

Unterdessen lenkte Arzhur seinen spanischen Fuchs hinüber zu den beiden jungen Männern, die sich in der Mitte des Kampfplatzes dreckverschmiert und atemlos gegenüberstanden. Trotz Carnacs Geste spürte der Ritter eine ungesunde Feindseligkeit zwischen Sieger und Besiegtem aufsteigen. Patrice hatte schon die Hand am Knauf seines Schwertes. Er fluchte leise zwischen zusammengebissenen Zähnen. Als Giron versuchte seine Waffe blank zu ziehen, blitzten Sévrans Rabenaugen kurz gefährlich auf, während er gleichzeitig mit der Linken ausholte, so als ob er einen unsichtbaren Stein nach Giron schleudern wollte. Seine Lippen bewegten sich kaum sichtbar, aber Giron winselte plötzlich, wie ein ängstlicher junger Hund und wich mit angstgeweiteten Augen einen Schritt zurück. Seine Rechte ließ den Knauf seines Schwertes los, so als ob er ihm die Finger verbrannte. Mit der anderen Hand machte der Knappe eine altertümliche Geste gegen den bösen Blick. Doch noch bevor Carnac zu Ende bringen konnte, was er so offensichtlich vorgehabt hatte, rief Arzhur de Richemont ihn energisch zurück. Dann lenkte er sein Tier zwischen die Opponenten, um sie zu trennen. Zuerst wandte er sich an Patrice, der sich nur langsam vom Schreck zu erholen schien.

„Glaubt nur nicht, dass ein wirklicher Gegner Euch im Kampf je auf die Beine helfen wird, wenn er Gelegenheit hat, Euch das Schwert in den Leib zu rammen, Giron“, sagte Richemont ruhig, bevor er mit einem leisen Hauch von Tadel in der Stimme fortfuhr, „und noch etwas: Die ritterliche Ehre gebietet, dass auch Ihr vom Pferd absteigt, wenn Euer Gegner sein Tier verliert.“ Endlich entließ er den durch seine Niederlage bereits tief gedemütigten jungen Adeligen mit einer knappen Handbewegung. Erst nachdem Giron außer Hörweite war, richtete Richemont seine Aufmerksamkeit auf den Sohn des Herzogs von Cornouailles. Der gelassene Ausdruck verschwand aus dem vernarbten Kriegergesicht. Seine klaren, hellblauen Augen funkelten den jungen Mann zornig an, während sein Mund sich zu einem dünnen, geraden Strich verzog. Er wusste genau, was Sévran am Ende vorgehabt hatte und es gefiel ihm überhaupt nicht.

„Wenn Ihr Euch überhaupt schlagt, dann schlagt Ihr Euch nicht wie ein Ritter, Carnac...sondern wie ein tollwütiger Köter!“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen leise und mit kalter Stimme, „Was für eine Überraschung haltet Ihr beim nächsten Mal für uns bereit? Werdet Ihr, wie ein englischer Söldner aus dem Hinterhalt mit Pfeil und Bogen schießen, oder habt Ihr vor, Euch wie ein Vogelfreier mit dem Stock in der Hand zu prügeln, Ollamh?“ Der beißende Spott, der in Richemonts Worten lag, war nicht zu überhören.

Sévran zuckte unwillkürlich zusammen. Blut stieg ihm in den bereits von der Anstrengung des Kampfes geröteten Wangen hoch und seine Augen blitzten einen kurzen Augenblick lang empört auf, doch die Selbstbeherrschung besiegte den Stolz. Langsam hob er den Kopf und blickte seinen ritterlichen Lehrmeister fest an. Er tat, was er konnte, um das Versprechen, dass er seinem Vater nach Aorélians und Glaodas Tod gegeben hatte zu erfüllen.

Seit drei Monate schon, biss er sich auf die Zunge. Er beugte sich brav den Regeln, die der jüngste Bruder des bretonischen Herzogs ihm als Knappen auferlegte. Dabei war bislang nicht viel mehr herausgekommen, als haufenweise blaue Flecken und der beißende Spott der anderen. Die hielten ihn auch noch für einen Feigling, nur weil er mit ihren ritterlichen Waffen nicht vernünftig umzugehen wusste.

Was die anderen Edelknappen in Rennes von ihm hielten, war Sévran egal, doch dass der beste Freund seiner beiden toten Brüder ihn verspottete, tat weh.

Während Richemont ihn noch eine Weile mit scharfen Worten für seine Tollkühnheit zurechtwies mitten in einem Kampf sowohl den schützenden Brustpanzer als auch den Helm abgelegt zu haben, um sich dann ohne Schild und nur mit dem Schwert in der Hand vor einen Berittenen mit einem Streitkolben zu werfen, schwieg er höflich, wenn auch durchaus nicht eingeschüchtert. Er wusste, dass Arzhur eigentlich Recht hatte und Arzhur wusste vermutlich, dass er es irgendwie auch wusste... Trotzdem: Die ganze Situation war für beide Seiten nicht einfach!

„Es ist wohl an der Zeit, dass wir beide ein vernünftiges Gespräch miteinander führen, Carnac… von Mann zu Mann und unter vier Augen“, sagte Richemont schließlich etwas freundlicher, nachdem er mit seiner Strafpredigt zu Ende war und Dampf abgelassen hatte. „Ich erwarte Euch vor dem Nachtmahl im kleinen Saal.“

Marguerite de Montforzh schmunzelte, als sie vom Fenster der Gemächer ihrer Mutter aus die kleine Szene beobachtete. Der junge Giron, Knappe von Colinet de Lignières, einem vertrauten Freund ihres Onkels, trottete mit hängendem Kopf, unglücklich, dreckverschmiert und offensichtlich tief gedemütigt zu den Stallungen. Das große, schwere Kriegspferd, dass er am Zügel hinter sich her zog, war genauso dreckig, wie sein Reiter und schien auf den ersten Blick fast ebenso unglücklich, denn es lies sowohl den Kopf, als auch die Ohren hängen.

Oft lächelte der breitschultrige, kräftige Patrice sie unbeholfen und schüchtern an, wenn ihre Wege sich kreuzten. Gelegentlich versuchte er dabei so höflich er es konnte diesen sonderbaren Kratzfuß zu machen, den Dame Tiffaine de Raguenelle, eine der Gesellschafterinnen ihrer Mutter, allen Edelknappen am herzoglichen Hof erbarmungslos einbläute. Dabei färbte sich sein braungebranntes Gesicht immer genau so feuerrot, wie sein Haarschopf. Marguerite mochte Giron gut leiden, weil er im Gegensatz zu ein paar anderen jungen Männern, die sich in Rennes ihre Sporen verdienten von freundlichem und ausgeglichenem Charakter war und nicht diese schlechte Gewohnheit hatte, wann immer es nur ging aufzutrumpfen und anzugeben. Er rieb auch nicht jedem unter die Nase, welche entscheidende Rolle sein Großvater einst bei der Zurückeroberung des herzoglichen Throns gegen die verräterischen Penthièvres und das französische Haus Blois gespielt hatte...und trotzdem freute sie sich an diesem Frühlingsmorgen tief in ihrem Inneren ein kleines Bisschen über seine schmähliche Niederlage.

Nicht etwa, das Patrice es verdient hätte, vom Pferd zu fallen, sich dabei alle Knochen grün und blau zu schlagen und mit dem schlammigen Grund Bekanntschaft zu machen. Obwohl Giron zu diesem wundersamen Menschenschlag gehörte, in deren Kopf nie Platz für mehr als einen Gedanken zur gleichen Zeit schien, war er ein ganz braver und wohlerzogener Bursche. Doch irgendwie hatte sein Gegner an diesem sonnigen Frühjahrsmorgen den Erfolg einmal als Sieger aus einem Übungskampf hervorzugehen dringender gebraucht, als er. Und jetzt musste der Rabe trotz seiner außergewöhnlichen Leistung wieder eine lange Strafpredigt von Onkel Arzhur über sich ergehen lassen!

Marguerite schmunzelte. Sie wusste natürlich auch, dass es sich für einen künftigen Ritter gar nicht ziemte zuerst seine Rüstung in den Dreck zu schmeißen, nur um anschließend einfach dem Pferd des Gegners in die Zügel zu fallen. Doch jedes Mal, wenn der Rabe versuchte sich an die ritterlichen Regeln zu halten, zog er gegen die anderen jungen Männer den Kürzeren: Seitdem er bei ihnen war, hatte er nicht nur ihre spöttischen Blicke ertragen müssen, sondern sich auch viele kränkende Bemerkungen und Sticheleien gefallen lassen.

Marguerite war davon überzeugt, dass er weder das eine noch das andere verdiente. Sie hatte nicht den Eindruck, dass er ein Feigling war und sich drückte...eher, dass er es einfach nicht besser wusste und eben versuchte in den Übungskämpfen mit schwerer Rüstung und scharfen Waffen, so gut es ging seine Kartoffeln aus dem Feuer zu holen.

Als Kind hatte die jüngste Tochter des bretonischen Herzogs einen anderen Sohn von Ambrosius de Cornouailles am Hofe ihres Vaters kennen gelernt: Er war Graf von Leon gewesen und als Yéhan de Lannion, der Leutnant ihres Vaters ihn als Knappen zu sich genommen hatte, hatte sie noch in ihren Windeln in den Armen einer Amme gelegen. Glaoda war offensichtlich von klein auf von seiner Familie für den Ritterstand erzogen worden. Als sie ein bisschen größer geworden war, hatte sie ihn immer Claudius gerufen, weil ihr die lateinische Form seines Namens leichter von den Kinderlippen kam.

Glaoda: Gutmütig, gelassen und freundlich hatte er immer Zeit für Marguerite und ihre älteren Geschwister gehabt. Es hatte ihn nie gestört, sie vorne auf dem Pferd sitzen zu lassen, wenn er mit Lannion zur Zerstreuung ausritt. Manchmal hatte er ihnen auch kleine Spielsachen aus Holz geschnitzt und ihnen dabei Geschichten erzählt. Sie war traurig gewesen, als er am Weihnachtstag vor dem schrecklichen Jahr 1415 den Ritterschlag erhalten und den herzoglichen Hof wieder verlassen hatte.

Und dann war da noch der Andere gewesen: Aorélian de Douarnenez, der Erbe von Cornouailles. Der, mit dem Arzhur so eng befreundet gewesen war und den sie zusammen mit ihrem Onkel oft auf den Turnieren beobachtet hatte, die ihr Vater in Suscinio in der Nähe von Vannes veranstaltete, wenn der herzogliche Hof sich im Sommer ans Meer verlegte.

Aorélian: Für Marguerite das kleine Mädchen war Aorélian genau so fern und unwirklich gewesen, wie in dieser Zeit ihr Onkel Arzhur. Eigentlich erinnerte sie sich nur noch an den sonderbaren Schild - zwei schwarze Drachen, die zwischen ihren mächtigen Klauen ein Pentagramm hielten - und an den Glanz, der von ihm ausging, gleichgültig ob er sich im ritterlichen Kampf mit einem Gegner maß, oder den Damen bei Tisch und bei gesellschaftlichen Anlässen seine Aufwartung machte.

Als sie zufällig aufschnappte, dass er über seine Mutter, die Herzogin Maeliennyd Glyn Dwyr dem uralten, mystischen Geschlechts des Drachen –Pendragon- entstammte, hatte sie es sofort geglaubt. Genau wie der legendäre König Arthus, hatte Aorélian in jeder seiner Handlungen, in jeder Geste und in jedem Wort dem Bild des edlen Ritters entsprochen, das sie damals in den wundervollen Erzählungen von Robert de Boron oder Chretien de Troyes kennengelernt hatte.

Ganz unscharf konnte sie Aorélian de Douarnenez sogar heute noch vor ihrem inneren Auge heraufbeschwören, wenn sie sich konzentrierte: Hochgewachsen, breitschultrig, braungebrannt. Er hatte sein Haar fast genauso lang getragen, wie Sévran und es war von der gleichen rabenschwarzen Farbe gewesen…

Als Kind hatte Marguerite sich Mesire Galahad vom Saint Graâl immer so vorgestellt, wie Aorélian und Gauwein, den grünen Ritter mit dem Löwen, wie ihren Onkel Arzhur... Wie so viele andere vor ihm hatte natürlich auch Aorélian de Douarnenez seinen Saint Graâl am Ende der Queste nicht gefunden: Er war auf dem Feld von Azincourt geblieben...zusammen mit seinem Bruder Glaoda, dem jungen Grafen von Leon.

Der Rabe musste folglich der Jüngste der Söhne von Ambrosius Arzhur von Cornouailles sein. Vielleicht hatte der Herzog ihn ja von Kindesbeinen an für den geistlichen Stand bestimmt und ihm deshalb nur eine sehr unzureichende Ausbildung in der Waffenkunst zukommen lassen? Ihr eigener Vater hatte kurz nach dem Dreikönigstag und Carnacs Ankunft in Rennes einmal eine kryptische Bemerkung fallen lassen, die auf so etwas hindeutete. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihn vom Fenster aus heimlich beobachtete und es war auch nicht das erste Mal, dass sie ihn im Dreck liegen sah. Aber es war das erste Mal, dass Sévran sich hingestellt hatte, um einen Gegner anzugreifen.

„Der Rabe“, spottete das Mädchen, „ was für ein Strolch!“

Genauso, wie Giron, mochte sie ihn irgendwie gut leiden, weil er so ganz anders war, als die anderen Edelknappen am Hofe ihres Vaters. Sie konnte sich zwar nach drei Monaten immer noch keinen Reim darauf spinnen, was er wirklich hinter dieser steifen Höflichkeit und der Zurückhaltung verbarg, die er der ganzen Welt gegenüber an den Tag legte, aber seit sie zufällig entdeckt hatte, dass er genauso wie sie, die Handschriften in der Bibliothek ihres Vaters liebte und deren ruhige Lektüre an einem stillen Ort dem lauten und wilden Zeitvertreib der anderen jungen Männer vorzog, hatte er sich einen Platz in ihrem Herz erobert. Außerdem konnte er wunderschön auf der Harfe spielen und dabei alte Sagen und Legenden erzählen. Er benahm sich bei Tisch gesittet, schnäuzte sich nicht ins Mundtuch und stank auch nicht dauernd, wie die anderen, nach Rossäpfeln und Schweiß, dass es einer Dame davon übel wurde. Selbst die scharfzüngigen Gesellschafterinnen ihrer Mutter Jeanne kritisierten Sévrans Benehmen nie, obwohl er ihnen mit seinen dunklen, schmucklosen Gewändern, seinem scharf geschnittenen dunklen Gesicht und den schwarzen Rabenaugen, die nie lachten ganz offensichtlich ein bisschen unheimlich war.

„Meine Liebe?“, Tiffaine de Raguenelle hob kurz den Kopf von der Stickerei, an der sie zusammen mit der Herzogin arbeitete.

„Es ist nichts, Dame Tiffaine. Ich hab nur laut nachgedacht“, log Marguerite unverfroren, während sie weiterhin fasziniert die kleine Szene zwischen ihrem Onkel Arzhur und Sévran de Carnac beobachtete. Es war auch nicht die erste Strafpredigt, die sie heimlich mitverfolgte: Ihr Onkel hob, wie immer verzweifelt die Hände gen Himmel. Sie hätte zu gerne gewusst, was der Ritter seinem Knappen dieses Mal zu sagen hatte. Wie immer lies Sévran alles stumm über sich ergehen. Wie immer verzog er keine Miene und senkte auch nicht den Kopf.. Sie hoffte, dass ihr Onkel nicht allzu zu hart mit ihm umsprang oder ihn zu streng bestraften würde.

Marguerite seufzte leise und riss sich endlich von ihrem Platz am Fenster los. Es war nicht notwendig, das irgendeine der Damen ihrer Mutter begriff, was sie die ganze Zeit über getan hatte und sie vor aller Welt wegen ihres unschicklichen Verhaltens tadelte. Für ein junges, unverheiratetes Mädchen ihres Ranges gehörte es sich eben nicht, den Knappen und Waffenleute heimlich bei ihren Übungen zuzusehen. Sie erhob sich von ihrem Sitzplatz und strich sorgfältig das weite dunkelrote Kleid glatt, die sie an diesem Frühlingsmorgen ausgewählt hatte.

Es war an der Zeit etwas Sinnvolles zu unternehmen. Sie musste sich wirklich um die dumme Geschichte mit den Tischtüchern kümmern, die man bei einem Meister in Dinan bestellt hatte und die während des Transportes beschädigt worden waren. Der Kämmerer ihres Vaters war gewöhnlich nicht Manns genug ein Problem zu lösen, das die herzogliche Geldschatulle betraf und ihr Vater würde nie und nimmer auf eine solch unwichtige Sache seine Zeit verschwenden. Dabei ging es lediglich darum, ein paar energische Worte zu sprechen und von dem Flussschiffer, den der Haus-und Hofmeister für den Transport verpflichtet hatten Schadensersatz für seine Nachlässigkeit einfordern.

Außerdem wollte sie noch zusammen mit dem Mundschenk die Weinfässer im Keller nachzählen und dafür sorgen, das endlich die Bestellung für Rotwein auf den Weg nach Bordeaux gebracht wurde, bevor sie alle dazu verdammt waren, bei Tisch Bier und Apfelmost zu trinken. Und sie erwarteten in wenigen Tagen schon hochgestellten Besuch: Ihr Vater hatte ihr während eines gemeinsamen Ausrittes unter vier Augen anvertraut, dass ein Botschafter aus Cornouailles und ein Bevollmächtigter des englischen Regenten über die Normandie Lord Bedford in Kürze zu einer geheimen Konferenz in Rennes eintreffen würde. Nicht einmal der bretonische Kanzler und die Versammlung der Standesherren waren zu dieser Stunde über die Missionen des Earl of Suffolk und des Professors Anselmus von Vannes informiert.

Marguerite hauchte ihrer Mutter Jeanne einen zärtlichen Kuss auf die Wange und verließ mit züchtig gesenkten Augen und gemessenem Schritt die Frauengemächer. Sie hatte nie verstanden, warum man seine Zeit damit vertrödelte, unnütz Tücher zu besticken oder Spitzen zu klöppeln, oder wie ihre älteren Schwestern von morgens bis abends miteinander zu schwatzen und dabei Schoßhündchen mit Leckerbissen vollzustopfen. An einem so großen Hof, wie dem des Herzogs der Bretagne, gab es Hunderte anderer Aufgaben zu bewältigen, die für das Gemeinwesen und den guten Ruf der Familie wichtiger waren, als ein Wandbehang, ein zierliches Häubchen oder das Wissen um den letzten Klatsch.

Eine ältliche Bedienstete reichte der jüngsten Tochter von Yann de Montforzh ihren blauen gefütterten Mantel und schloss die Tür der Kemenate, bevor sie schweigend hinter der jungen Frau her trottete.

Als Marguerite endlich mit ihrem Tagwerk zufrieden war, fing es draußen bereits an dunkel zu werden. Sie verwarf die Idee, ihren Vater so lange zu plagen, bis er sie auf einen kleinen Ausritt hinunter an die Ufer der Vilaine begleitete, wo zu dieser Jahreszeit die ersten Enten, Gänse, Störche und Graureiher von ihren Winterquartieren im Süden eintrafen. Stattdessen beschloss sie, vor dem gemeinschaftlichen Abendmahl im großen Saal des Palas eine Weile mit einem Buch in der Hand auszuruhen. Marguerite ließ sich geschwind von ihrer Zofe helfen und tauschte das praktische Tageskleid gegen ein hübsches dunkelblaues Gewand mit schmalen Ärmeln und einen weiten, hellblauen Mantel ohne Ärmel. Ein perlenbesticktes silbernes Netz über den langen, dunkelbraunen Haaren schloss ihre Garderobe für den Abend ab. Sie warf kurz einen zufriedenen Blick in ihren Spiegel. Dann ging sie mit einer dicken Handschrift unter dem Arm die Wendeltreppe hinunter in den kleinen Saal und suchte sich eine bequeme Nische voller Kissen und in der Nähe des ganz neuen Kachelofens, den Handwerker aus Flandern erst im letzten Sommer gebaut hatten. Ein ältlicher Diener eilte herbei und stellte einen dreiarmigen Leuchter neben ihre Nische, damit sie bequem lesen konnte. Dann verschwand er genauso geisterhaft aus dem Saal, wie er gekommen war.

Liebevoll strich Marguerite mit der Hand über den ledernen Einband der kostbaren und seltenen Historia Regum Britanniae von Godefroi de Monmouth, die sie auf ihren Knien hielt. Sie war inzwischen fünfzehn Jahre alt und kein Kind mehr. Zum letzten Weihnachtsfest hatte ihr Vater ihr etwas geschenkt, das ihr mehr bedeutete, als das schönste Geschmeide oder ein neues Gewand. Er hatte ihr erlaubt sämtliche Manuskripte der herzoglichen Bibliothek auszuleihen, ohne ihn zuerst um Erlaubnis zu fragen und sie hatte das Recht die Handschrift, die sie gerade las in ihr eigenes Gemach mitzunehmen.

Schon ihr Großvater Yann IV., den man auch den Eroberer nannte, hatte trotz seiner Vorliebe für solch bodenständige Dinge, wie die Jagd oder die Waffenkunst nie Kosten gescheut, um seltene und wertvolle Manuskripte zu erwerben, oder von den Benediktinern in Saint Aubin kopieren zu lassen und auch ihr Vater hielt an dieser Familientradition fest. Der Hof der bretonischen Herzöge hatte den Ruf alle schönen Künste und die Gelehrsamkeit eifrig zu fördern und fast ebenso elegant zu sein, wie der berühmte Hof der Herzogin Yolande von Anjou zu Angers.

Die junge Frau schlug den großen Band auf und begann das Kapitel zu lesen, in dem der Chronist Monmouth detailliert schilderte, wie der legendäre König Arthus bei Mount Badon drei Tage und drei Nächte mit den Sachsen gefochten hatte. Sie war so in ihre Lektüre und die farbenprächtigen Miniaturen der Ritter der Tafelrunde versunken, dass sie dabei die ganze Welt um sich vergaß und nicht sah oder hörte, was um sie geschah.

IV

Dumpf fiel die schwere Eichentür hinter ihm zu. Sévran drehte sorgfältig zweimal den Schlüssel im Schloss, bevor er mit einer knappen Handbewegung die Fackel entzündete, die neben dem alten Laboratorium tief unter dem Donjon der herzoglichen Festung von Rennes in einem rostigen Wandhalter bereit steckte. Yann de Montforzh, der treue Verbündete und Freund seines Vaters, hatte ihm den großen, altertümlichen Schlüssel kurz nach seiner Ankunft bei Hof augenzwinkernd und mit Verschwörermiene in die Hand gedrückt. Als Gegenleistung hatte er lediglich verlangt, dass Sévran ihr Geheimnis für sich behielt, den Hofgeistlichen so weit wie möglich aus dem Weg ging und ihn gelegentlich als Gast in seinem Laboratorium duldete.

Die beiden ersten Versprechen zu halten fiel dem jungen Mann nicht schwer: Einerseits war er sowieso nicht sonderlich gesprächig und andererseits fand er, dass die Kirchenmänner am Hof von Rennes wohl dank der großzügigen Apanagen von Yann zu fett und zu träge waren, um sich auf ordentliche Streitgespräche einzulassen. Der Unterschied zwischen ihnen und den drahtigen, lebhaften Mönchen von Brocéliande unter ihrem schlauen und tiefgründigen Abt Fulques de Loudéac, war wie Tag und Nacht.

Was den dritten Schwur anbetraf, so hatte Yann seine Geduld noch nicht allzu sehr auf die Probe gestellt: Die Bauarbeiten an den Befestigungsanlagen von Rennes schienen den Herzog um vieles mehr in ihren Bann zu ziehen, als seine Experimente und Forschungsarbeiten. Yann hatte mit geübtem Blick schnell erkannt, dass er nicht von der Gelbsucht befallen war.

Montforzhs Vater hatte sich in seinen jungen Jahren dieses unterirdische Gewölbe eingerichtet, als ihn seine Pflichten für sein Land, der elende Krieg gegen die Penthièvres und ihre imaginären Ansprüche auf die bretonische Krone noch nicht vollauf beschäftigten. Wie die meisten gebildeten Männer seiner Zeit, war auch Yann IV. von der königlichen Kunst – der Ars Alchimia- fasziniert gewesen, die die Kreuzzüge und der lange Umweg über das maurische Spanien wieder zurück nach Europa gebracht hatten. Im Gegensatz zu vielen fürstlichen Adepten, hatte er aber selbst experimentiert und sich nicht mit Scharlatanen und Schwindlern abgegeben, die ihm im Austausch für Speis und Trank und eine gesicherte Stellung bei Hofe irgendeine imaginäre Hoffnung auf Homunkulus, Stein der Weisen oder Gold ohne Ende verkauften.

Doch der blutige Bürgerkrieg, der die Bretagne in ihren Grundfesten erschüttern sollte und ein ernüchterndes, siebenjähriges Exil in England hatten aus dem jungen, verträumten Schöngeist Yann IV. einen harten Krieger gemacht.

Nachdem er endlich in der Schlacht von Saint Anne-d’Auray die Penthièvres, Blois und seine französischen Feinde bezwang und die herzogliche Krone wieder auf dem Haupt trug, war er nie mehr hinunter in sein Gewölbe gestiegen. Anstatt sich in geheimnisvollen Handschriften zu verlieren und vor dem rauchenden Athenor die Welt zu vergessen, hatte der alte Herzog Yann fortan nur noch für die Bretagne gelebt. In einer Herrschaft von mehr als dreißig Jahren, hatte er alles Menschenmögliche unternommen, um sicherzustellen das weder Kriege, noch Blutvergießen, noch die Ansprüche fremder Fürsten sein kleines Reich an der Küste je wieder bedrohten.

Sévran war Montforzh in seinem Herzen für den alten, rostigen Schlüssel und dieses eisige, altertümliche Laboratorium zutiefst verpflichtet und dankbar, auch wenn seine Gründe sich in alten Handschriften zu verlieren oder über dem rauchenden Athenor die Welt zu vergessen nur wenig mit der Suche des alten Herzogs von Breizh gemein hatten. Ein Schmunzeln schlich sich in seine Mundwinkel: Oder etwa doch?

Die größten Meister der geheimen Wissenschaft der ägyptischen Weisen –denn das war die Ars Alchimia wirklich- waren wie die Drouiz, auch Meister der Heilkunst gewesen. Aodrén hatte es immer vorgezogen, den Begriff der „Spagirik“ zu verwenden, der sich aus dem Griechischen ableitete und so viel bedeutete wie „trennen, um wieder zu einen“.

Dieses Wort wurde zwischenzeitlich zwar eher in den Übersetzungen heilkundlicher Werke aus dem Griechischen verwendet, doch für seinen alten Lehrer beschrieb es klar die Quintessenz der königlichen Kunst. Nur wenige Gebiete der Wissenschaft waren derart sagenumwoben, wie die Alchemie: Dabei handelt es sich hier rein formal lediglich um ein biederes Handwerk, das auch ein paar geistige Themen beinhaltet.

Das Bestreben vieler Alchimisten, sich auf die Suche nach dem Stein der Weisen zu begeben, sowie der Wunsch aus unedlen Metallen Gold zu machen, waren die wahren Gründe, die in Sévrans Auffassung zu dieser absurden Mystifizierung der Ars Alchimia geführt hatten.

„Disce ergo Alchimiam quae alias Spagirica dictur - Lerne also die Spagirik kennen, die anderweitig auch Alchemie genannt wird!“

Dies waren vor langer Zeit Aodréns Worte gewesen, als er Sévran zum ersten Mal erlaubt hatte, ein uraltes, halbzerfallenes Manuskript auf hauchdünnem Hundsleder zu entrollen, dass er von einer seiner langen Reisen mitgebracht hatte. Aodrén hatte ihm damals mit leuchtenden Augen erklärt, dass es in Hippokrates’ eigener Hand niedergeschrieben war. Wie alle anderen Dinge, die sein alter Mann ihm hinterlassen hatte, hütete Sévran diese Schriftrolle, wie einen Schatz.

„Ach, lasse es doch gut sein! Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, tadelte er sich selbst mit leisem Spott. Aodrén - zu seinen Lebzeiten – hätte ihn genauso gescholten. Sévran beschleunigte den Schritt. Als er den eisigen, engen Gang endlich hinter sich gelassen hatte, stieg er energisch und mit leichtem Schritt die steile Treppe nach oben ans Tageslicht.

Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was sein neuer „Lehrmeister“ Arzhur de Richemont nach der zünftigen Strafpredigt vom Morgen noch unter vier Augen unbedingt mit ihm ausdiskutieren musste. Egal wie deftig Richemont ihn jeden Tag ausschimpfte; seine Fähigkeiten mit Schwert und Lanze umzugehen wurden davon auch nicht besser! Er brauchte eben einfach mehr Zeit und die Gelegenheit, die anderen zu beobachten, um dann die Fertigkeiten die er sah auszuprobieren. Irgendwann würde er schon herauszufinden, wie sie es anstellten auf dem Pferderücken zu bleiben, wo er immer in den Dreck flog.

Trotzdem zog Sévran es vor diese unangenehme Geschichte lieber gleich hinter sich zu bringen, anstatt die wenigen kostbaren Nachtstunden nach dem gemeinsamen Abendmahl mit Richemont zu vergeuden. Die Nacht war das Einzige, was ihm alleine gehörte, seit er in Rennes lebte. Er hatte absolut keine Lust, sich diese kostbaren Augenblicke, verderben zu lassen, für die er niemandem Rechenschaft schuldig war. Darüber hinaus hatte er einen höchst interessanten Versuch in „seinem“ Laboratorium stehen…eine Idee, die er in den Notizen von Aodrén gefunden und vervollständigt hatte. Er musste diesen Versuch unbedingt vor der nächsten Mondphase zum Abschluss bringen, wenn er versuchen wollte, dem Weib eines der Knechte der herzoglichen Stallungen noch zu helfen, bevor es zu spät war. Die Ärmste litt an einer seltsamen Art der Schwindsucht und die Bader trauten sich nicht, sie zu behandeln, weil der Fall so hoffnungslos aussah. Die Sterne standen günstig. Sie würden die Kraft seiner Tinktur ungemein verstärken.

Sévran de Carnac durchquerte den Innenhof der Festung in für ihn ungewöhnlicher Eile. Die Sonne verschwand bereits in einem weichen, roten Farbton hinter dem Horizont. Ein paar gräulich schimmernde Wolken vereinigten sich mit den Nebeln, die über der Ille und der Vilaine langsam hochzogen, während die frühlingshafte Wärme des Tages nächtlicher Kühle und Frische wich. Für einen kurzen Augenblick erkannten die Augen des jungen Mannes undeutlich den großen und den kleinen Wagen am Himmel. Sein Herzschlag wurde schneller... Nicht mehr lange und der Drache würde über ihnen auftauchen, während zur Rechten Andromeda, Kassiopeia und Perseus leuchteten. Sämtliche Wintersternbilder verschoben sich gerade langsam hinüber in die westliche Hemisphäre. Sie machten endlich der Jungfrau und der Wasserschlange Platz am Firmament. Und über der Wasserschlange erschien, wenn alle seine Berechnung richtig waren, genau um Mitternacht der Rabe... Nur wenige Adepten schenkten ihm bei ihrer Arbeit überhaupt noch Beachtung. Die meisten waren einfach zu ängstlich und wagten es nicht, sich auch der dunklen Kräfte der Natur zu bedienen. Sévran riss sich vom Himmel und den Gedanken an seinen Versuch und das kranke Weib los. Es war noch viel zu hell für Mond und die Sterne, auch wenn das rasch schwindende Tageslicht schon lange alles Arbeiten im Freien unmöglich machte. Mit Ausnahme der Stallknechte, die in großen Körben Heu für die Pferde zu den Stallungen schleppten, war der Innenhof der Festung menschenleer. Aus den Küchengebäuden zog bereits der angenehme Duft von frisch gebratenem Fleisch und kräftig gewürzten Soßen an seine Nase und brachten ihm einen ausgesprochen hungrigen Magen in Erinnerung, doch bis zum Abendmahl hatten sie unglücklicherweise noch viel Zeit.

Sévran nahm zwei Stufen auf einmal, als er die Treppe zum Palas hinaufeilte. Sein weites, schwarzes Gewand und die offenen, schwarzen Haare flatterten im Wind seiner geschmeidigen Bewegungen und gaben ihm in der anbrechenden Dunkelheit das Aussehen eines unheimlichen Nachtvogels. Die beiden Wachleute an der Pforte wurden von seinem unvermuteten Auftauchen aus der Dunkelheit so überrascht, dass sie ihre Lanzen hoben und einfach zur Seite sprangen, um ihn einzulassen. Er war schon fast im kleinen Saal, direkt neben der großen Halle angekommen, als er einen von ihnen bösartig „Satansbraten“ hinterher fluchen hörte.

Ein hinterhältiges, kleines Lächeln schlich über sein junges Gesicht. Anstatt ihn zu beschimpfen sollten die beiden Kerle lieber dankbar sein, dass nur er durch die Pforte gerannt war. Wenn je einer ihrer Offiziere oder Arzhur de Richemont sie so überrumpelt hätten, dann wäre beiden zur Strafe nicht nur für mindestens einen Tag der Sold gestrichen worden. Sie hätten vor versammelter Mannschaft, ohne viel Federlesen, auch noch eine gewaltige Tracht Prügel für ihre Nachlässigkeit bezogen. Es war ihre Aufgabe jeden – ohne Unterschied - zu kontrollieren, um sicher zu stellen, dass niemand sich mit einer Waffe oder einem anderen gefährlichen Objekt Herzog Yann de Montforzh nähern konnte.

Gerade weil Yann sich in den Krieg zwischen den Engländern und den Franzosen nicht einmischte, hatte der Herr der Bretagne, dem sein Volk sogar den Ehrennamen „Yann der Weise“ gegeben hatte, entlang beider Landesgrenzen und jenseits des Meeres nachtragende und gefährliche Feinde. Es waren natürlich genau die gleichen Männer, die auch seinem Vater den Tod wünschten.

Doch um Cornouailles anzugreifen zu können, musste man zuerst einmal die Bretagne besiegen und besetzen. Und solange der magische Schild, den die Korred vor eintausend Jahren für seinen Vorfahren Rhiotomas geschmiedet hatten sich in der Festung von Concarneau befand, war es für jeden widerlichen Meuchelmörder oder treulosen Verräter tödlich auch nur den Versuch zu unternehmen, Ambrosius anzugreifen. Die wenigen, die es je gewagt hatten, die Quinotauren herauszufordern, waren für ihren Frevel von den Göttern grausam bestraft worden.

Bedienstete stellten in der Halle schon die langen Bänke und Tische auf, an denen der gesamte Hof abends immer speiste. Die herzogliche Tafel befand sich, wie gewöhnlich mit schönen, weißen Leintüchern abgedeckt, ganz in der Nähe des Kamins. Yanns Mundschenk überwachte ein paar Mädchen, die vorsichtig kostbare Kristallkelche für Wein und Wasser aufstellten. Ein kräftiger, junger Knecht schichtete riesige Holzscheite neben dem offenen Feuer. Ein zweiter Mann zündete Fackeln an. Sévran konnte bereits eine behagliche Wärme spüren, als er den Raum durchquerte. Das Gesinde war so mit ihren Pflichten beschäftigt, das niemand seine schlanke, dunkle Gestalt bemerkte, die wie ein Schatten durch den Raum glitt.

Als er im kleinen Saal ankam, schien der Ort genauso verlassen, wie der Innenhof. Nur in einer Ecke, neben einer Fensternische am Kamin brannte ein einsamer Leuchter. Sévran wollte schon kehrt machen, als er plötzlich Schritte auf dem nackten Steinboden hörte. Kurz zuckte der junge Mann zusammen. Dann erkannte er im sanften Kerzenschein seinen neuen Lehrmeister Arzhur de Richemont.

„Mesire“, unwillkürlich dämpfte Sévran seine Stimme.

Ein flüchtiges Lächeln glitt über das vernarbte Gesicht von Richemont. Abgesehen von einer sehr eigensinnigen Auffassung über die ritterliche Waffenkunst und den Gebrauch der Waffen gefiel ihm Ambrosius Arzhurs jüngster Sohn gar nicht übel: Natürlich konnte er sich weder mit Aorélian, noch mit Glaoda messen, doch Sévran war kaltblütig und umsichtig. Er besaß Mut und Geistesgegenwart und im Gegensatz zu den meisten anderen jungen Männern am Hof von Rennes hatte er mehr im Kopf, als nur dass, was für einen Krieger absolut überlebensnotwendig war...und zäh und verbissen war er auch.

Natürlich war der Jüngste des Herzogs von Cornouailles sehr still in seiner Art und die langen Jahre, die er in der geheimnisvollen Welt von Brocéliande gelebt hatte, hatten offensichtlich auch nicht dazu beigetragen einen Menschen, der von Natur aus bereits verschlossen und misstrauisch war, gegenüber der Welt zu öffnen.

Richemont zog spöttisch eine Augenbraue hoch: “Das ist das vierte Wort, dass Du in drei Monaten freiwillig gesprochen hast, Sévran. Du machst ja richtige Fortschritte!“ ,seine klaren, blauen Augen funkelten vergnügt.

Er hatte seinen Knappen nicht zu dieser Unterhaltung befohlen, um ihm unter vier Augen eine weitere, gewaltige Strafpredigt zu halten oder um ihm Vorwürfe wegen seiner mangelhaften, ritterlichen Fähigkeiten zu machen. Als Richemont der Bitte des Herzogs von Cornouailles nachgekommen war und akzeptiert hatte, den jungen Carnac für ein paar Jahre zu sich zu nehmen, hatte er sehr genau gewusst, wen der Seigneur Rohan de Tintegnac eines Tages im Auftrag seines Lehnsherren nach Rennes begleiten würde. Und er hatte trotzdem zugestimmt und Ambrosius sein Wort gegeben, einen Ritter aus diesem jüngsten Sohn zu machen, der nur aufgrund der Katastrophe von Azincourt zum Thronerben des kleinen Landes geworden war.

Arzhur hatte Sévrans Brüder sehr gut gekannt. Sie waren seine Freunde gewesen: Echte Freunde, durch dick und dünn, auf Leben und Tod. Sowohl Aorélian, als auch Glaoda hatten ihm gelegentlich Anekdoten über diesen seltsamen, kleinen Bruder in Concarneau erzählt, den sie beide heiß und innig liebten, obwohl er ganz und gar nicht die Seele eines Kriegers hatte und den alten Göttern von Keltìa näher war, als dem wirklichen Leben und dem Hier und Jetzt.

Er hatte auch einmal Gelegenheit gehabt Sévrans Lehrmeister, Aodrén Jaouen Kréc’h Elis kennenzulernen, einen bemerkenswerten und furchteinflößenden Mann, der das geradezu biblische Alter von einhundert Jahren erreicht hatte: Über Aodrén wurde hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, dass seine Zauberkräfte –schwarz und weiß- den Kräften von Gwenc’hlan, dem legendären Drouiz des Hochkönigs Conan Meriadec kaum nachstanden. Und Gwenc’hlan hatte seinerzeit noch sterbend und aus den Abgründen des Kerkers, in dem man ihn gefangen hielt, die Heerscharen der Sachsen in den Fluten des Atlantik ertränkt und ihren Prinzen so grauenvoll verflucht, dass die wilden Tiere ihn bei lebendigem Leib in Stücke gerissen und aufgefressen hatten.

Nach drei Monaten mit Sévran konnte Richemont, was die Kriegerseele seines neuen Knappen anbetraf im Stillen den Geistern seiner beiden bei Azincourt gefallenen Waffengefährten nur recht geben: Es war eben diese abschließende Erkenntnis über den jungen Mann, der für die nächsten Jahre seiner Verantwortung und Aufsicht unterlag, die ihn dazu veranlasst hatte in aller Ruhe mit ihm sprechen zu wollen. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass es bald schon wichtig sein würde, zu wissen aus welchem Holz der Jüngste des Herzogs von Cornouailles wirklich geschnitzt war.

Sévran biss sich verschämt auf die Lippen und senkte den Kopf. Dann verschränkte er, wie ein verlegenes Kind die Arme hinter dem Rücken und fixierte den Steinboden: „Ihr wolltet mich sehen, Mesire de Richemont. Hier bin ich“, murmelte er kaum hörbar.

Der Hof, die Menschen, die Umtriebigkeit und Lebhaftigkeit in Rennes, die christlichen Priester, die ihn anstarrten, als ob er aussätzig oder von der Krätze befallen war, der Übermut und die Skrupellosigkeit, mit der die anderen jungen Männer sich tagtäglich aufeinander stürzten, obwohl zwischen ihnen keine Feindschaft herrschte, der Lärm, das Waffenklirren. Montforzh selbst, der ihn so neugierig studierte, wie einen exotischen Käfer in einem Einmachglas. Das zauberhafte Lächeln der jüngsten Tochter von Yann, wenn sie sich einfach ungefragt neben ihn setzte und so lange geduldig ausharrte, bis er aufgab und ihr aus lauter Verlegenheit und Unbehagen irgendeine alte Legende erzählte, nur um sich nicht Auge in Auge mit einem Mädchen unterhalten zu müssen. Jedes Mal wenn er ihre Nähe spürte, spürte er etwas, dass er weder mit dem Verstand, noch mit der Logik erklären konnte, etwas das weder seine Schwestern, noch die Bandrouiz oder die Töchter von Sena je in ihm ausgelöst hatten. Es war zwar nicht unangenehm oder gar erschreckend, aber es war vollkommen unbekannt und neu und es verwirrte ihn zutiefst, weil alle Gelehrsamkeit eines Drouiz nicht weiterhalf, um zu ergründen... Ihr Traumbild raubte ihm oft sogar den Schlaf und lies ihn völlig erschöpft und ausgelaugt aufwachen.

Sein ganzes Leben war still gewesen, genauso, wie die Lehrjahre bei Aodrén und die Zeit im Heiligen Wald von Brocéliande: Niemand hatte je etwas anderes von ihm verlangt, als das Wissen um den alten Weg in sich aufzunehmen und die magischen Kräfte zu kontrollieren, die ihm in die Wiege gelegt worden waren. Niemand hatte ihn je gezwungen, den Mund aufzumachen, wenn es nicht unbedingt nötig war, denn die Bruderschaft überlebte nur, weil sie eine in sich geschlossene Gesellschaft war, welche strengste Geheimhaltung verlangte und Stillschweigen höher schätzte, als dumme Redseligkeit. Niemand hatte ihm je erklärt, was man tat, wenn man plötzlich vor einer jungen Frau stand, die den Geist ganz ohne Magie verhexen konnte. Und insbesondere hatte niemand ihn je gelehrt, alleine und nur auf sich gestellt in einer vollkommen fremden Welt zu überleben. So sicher und gelassen er sich im Kreis der Bruderschaft von Brocéliande bewegt hatte, so unsicher und verwirrt fühlte er sich zurzeit am Hof des Herzogs der Bretagne.

Er fühlte sich... irgendwie... fehl am Platz.

Richemont schüttelte den Kopf. Dann legte er Sévran freundschaftlich den Arm um die Schultern und schob ihn zu einem kleinen, orientalisch anmutenden Tisch, auf dem ein Schachbrett schon zum Spiel bereit stand. Während sie schweigend die ersten Figuren im Schein der Kerzen über das schwarz-weiße Brett aus Marmorstein schoben, schien der junge Mann sich sichtlich zu entspannen. Die Logik des königlichen Spiels war ein Terrain, auf dem Sévran sich mühelos bewegen konnte. Genau darauf hatte sein ritterlicher Lehrmeister drei Monate lang gewartet.

„Es ist nur ganz wenigen Männern bestimmt die Nebelschleier über dem uralten Reich der Drouiz zu heben, nicht wahr Sévran?“, fragte der Ritter ihn freundlich.

Als Antwort seufzte der junge Mann lediglich leise und schob seinen Springer über das Schachbrett ohne zu Richemont aufzublicken. Als er das alte Laboratorium unter dem Donjon verschlossen hatte, hatte er sich nicht vorgestellt, dass die angedrohte Unterhaltung unter vier Augen diese gefährliche Richtung einschlagen könnte.

„Und es ist gewiss nicht ganz einfach gewesen?“, bohrte Richemont weiter.

Wieder seufzte Sévran leise und konterte Arzhurs nächsten Zug mit seinem schwarzen Läufer. Der Ritter schmunzelte und opferte einen Bauern: „ Es verlangt viel Mut die Nebelschleier zu heben und in das vergessene Reich einzutreten. Was findet ein Mann, dem es gelingt, durch den großen Steinring nach Bar’ch Hé Làn zu gehen?“

Anstelle einer Antwort oder eines Seufzers schüttelte Sévran nur energisch den Kopf und zischte wie eine verärgerte Schlange. Mit einer raschen Handbewegung zog er seine Dame über das Brett. Sie bedrohte beide Türme, die Richemonts weißen König beschützten.

Beschwichtigend hob der Ritter die Hand. Er schmunzelte: „Schon gut. Schon gut! Ich will es ja eigentlich gar nicht wissen... Doch sagt mir wenigstens: Wie alt bist Du?“

„Achtzehn“, murmelte Sévran verhältnismäßig friedfertig, während seine Augen weiterhin das Spiel betrachteten. Obwohl er annahm, das sein Vater sowohl Montforzh selbst, als auch Richemont auf die eine oder andere Weise über Brocéliande aufgeklärt hatte, war es ein Thema dass er selbst nie ansprach.

Es war eine Sache, was die Leute hinter vorgehaltener Hand munkelten. Es war eine andere Sache, offen und vor den Augen der Welt zuzugeben, dass die Weiße Bruderschaft der Drouiz die Jahrhunderte der gnadenlosen Verfolgung und Ausrottung der Anhänger der alten Religion durch die neue, christliche Kirche dank der umsichtigen Politik der Herzöge von Cornouailles fast unbeschadet überstanden hatte.

„Achtzehn. Kaum ein Mann. Da hast Du Dich aber mächtig beeilt, Ollamh! “erwiderte Richemont mit einem breiten Grinsen.

Sévran hob zum ersten Mal den Kopf. Dabei fielen die langen, schwarzen Haare, die zuvor wie ein Schleier vor seinem Gesicht gelegen hatten über seine Schultern zurück und gaben endlich den Blick auf ein schwarzes Augenpaar frei. Er nickte zur Antwort auf die Frage seines Lehrmeisters nur zögernd, doch dann fragte er leise, den Blick angespannt forschend auf Richemonts Gesicht gerichtet: „Warum interessiert Euch das eigentlich, Mesire?“

Arzhur machte gelassen seinen nächsten Zug. Schließlich richtete auch er sich auf und lehnte sich zurück. Seine Hände ruhten auf den geschnitzten Eberköpfen der Armstützen. Zwischen ihnen auf dem Tisch, neben dem Schachbrett, stand ein Leuchter. Das weiche Licht der Kerzen verwischte die hässlichen Narben auf seiner Stirn und die andere Narbe, die vom Ohransatz, wie eine tiefe Furche quer über die linke Wange lief. Obwohl der Krieg ihn schrecklich gezeichnet hatte, war es doch ein freundliches Gesicht. Um seine Augen lagen Lachfalten eingegraben und genauso um seinen Mund. Und die beiden tiefen Furchen direkt zwischen den Augenbrauen verrieten Tatkraft, die sich mit einem heißen Temperament paarte, dem laute Wutausbrüche genauso vertraut schienen‚ wie überschäumende Lebensfreude und gelegentlicher Übermut.

„Warum? Du bist immerhin der kleine Bruder meines Freundes und Waffengefährten Aorélian de Douarnenez. Möge seine edle Seele die Wonnen von Inis Gwenva genießen, bis die alten Götter ihm ein neues irdisches Dasein in unserer Welt bestimmen. Du warst der Schüler eines hochgelehrten Mannes, über den ich so Einiges gehört habe. Du bist der Erbe des treuesten Verbündeten meines Bruders Yann... und für einen Ollamh machst Du sogar einen ganz anständigen Knappen her, Sévran de Carnac!“

Während Sévran seinen neuen Lehrmeister zum ersten Mal, seit er in Rennes angekommen war in aller Ruhe studierte, wurde ihm plötzlich bewusst, dass er keinem Feind gegenüber saß, sondern einem Menschen, dem er wirklich vertrauen konnte. Er war vielleicht keiner von ihnen, doch Arzhur de Richemont wusste... Er wusste viel mehr, als er in der Öffentlichkeit durchscheinen lies!

In den drei Monaten seit er die Sicherheit und die Geborgenheit von Brocéliande verlassen hatte, hatten Sévran ganz offensichtlich die neuen Eindrücke am herzoglichen Hof der Bretagne so zugesetzt, dass sein Blick für wichtige Dinge davon getrübt worden war.

Richemonts blaue Augen lächelten, während sie dem prüfenden Blick des Jüngeren über das Schachbrett hinweg standhielten: „Ist Dir diese Antwort für den Augenblick genug, Derwyddon?“

Sévran überlegte kurz seinen Zug. Dann nahm er Richemont den weißen Turm, der seinen König schützte: „Schach“, erwiderte der junge Mann laut und deutlich. Seine schwarzen Rabenaugen fixierten immer noch den ritterlichen Lehrmeister. Doch dieses Mal waren sie nicht undurchdringlich, sondern offen. Dann lehnte er sich ebenfalls zurück und verschränkte die feingliedrigen Hände im Schoß. Die Anspannung war aus seinem Gesicht gewichen und hatte einem seltenen Lächeln Platz gemacht. Richemont war zufrieden. Nach drei Monaten hatte er es endlich geschafft den Panzer aus Eis, Vorsicht und Misstrauen zu durchbrechen, der den jungen Mann ständig umgab, wie eine unsichtbare Mauer.

Die Historia Regum Britanniae lag vergessen auf einem Kissen in der Nische. Marguerite hatte die Knie unters Kinn gezogen und saß mäuschenstill auf ihrem Platz, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Natürlich gehörte es sich für eine junge Dame ihres Ranges nicht, die Gespräche anderer zu belauschen. Genauso wenig gehörte es sich, die Waffenübungen der Soldaten und Knappen heimlich zu beobachten. Trotzdem spitzte sie, sehr neugierig geworden, die Ohren und beobachtete aufmerksam ihren Onkel und den jungen Carnac.

Die beiden Männer hatten die Schachpartie inzwischen aufgegeben. Zuerst war sie zu tief in ihre Lektüre versunken gewesen, um zu bemerken, wie Arzhur und anschließend Sévran den kleinen Saal betreten hatten. Auch das leise Klicken der Figuren aus Ebenholz und Elfenbein, die über das Schachbrett geschoben wurden, hatte sie anfänglich einfach überhört. Doch dann waren die leisen Worte, die die beiden miteinander austauschten immer deutlicher und klarer durch den Nebel der farbenprächtigen Bilder der Historia an ihre Ohren gedrungen. Endlich hatte sie zu Lesen aufgegeben und das Manuskript auf die Seite gelegt.

„Was hat Dir der ehrenwerte Konnetabel von Cornouailles dann eigentlich beigebracht?“ In der Stimme ihres Onkels vermischten sich auf eine fast komische Art Erstaunen und Entsetzen miteinander. Sein Knappe hatte ihm im Verlauf der letzten Stunde ehrlich gestanden, dass er wirklich absolut keine Ahnung vom Waffenhandwerk hatte und sich auch gar nichts daraus machte.

Marguerite verkniff sich das Lachen, als sie die Antwort von Carnac auf Arzhurs Frage hörte.

„Gud’wal? Außer ordentlich zu Pferde zu sitzen? Eigentlich gar nichts, Mesire. Ich hab es immer so eingerichtet, dass mein Meister Aodrén mich auslösen kam, bevor Gud’wal überhaupt etwas Vernünftiges mit mir anstellen konnte. Und wenn das nicht klappte, dann habe ich mich solange dumm gestellt, bis der Sire de Morlaix es von alleine mit mir aufgab und mich zu meinen Studien zurückschickte.“

Richemont schüttelte den Kopf: „Und Dein Vater hat das so einfach durchgehen lassen? Ein durchtriebenes Kind, dass den Konnetabel von Cornouailles zum Narren hält... den Gud’wal Le Floa’ch de Morlaix, der durch seinen Mut und seine Tapferkeit in Owain Glendowers Kampf gegen Lancaster eine lebende Legende wurde und zu dem unzählige junge Edelknappen mit Ehrfurcht und Neid aufblicken, wie zu einem alten keltischen Kriegsgott!“

Sévran zuckte nur mit den Schultern. Es hatte Gud’wal nie sonderlich betrübt, ausgerechnet von ihm zum Narren gehalten zu werden. Er hatte für seine Abneigung gegen jede Form der Gewalt großes Verständnis gehabt. Und außerdem hatte der alte Kriegsmann sich ja immer mit den Reitkünsten seines Schülers und seinen Fertigkeiten im Bogenschießen angeben können….

Marguerite musste im Stillen ihrem Onkel Recht geben. Umso mehr sie in ihrem Versteck hörte, umso stärker war auch sie davon überzeugt, dass der „Rabe“ wirklich ein ganz durchtriebener Strolch war... Vor allem war er einer, der sich ständig vor den Augen der Welt versteckte, umso besser sein eigenes, undurchsichtiges Spiel spielen zu können. Alles was sie bis jetzt heimlich erfahren hatte, machte den jüngsten Sohn des Herzogs von Cornouailles nur noch interessanter, als er es zuvor schon gewesen war.

Sévran hob die Hände in einer entwaffnenden, fast entschuldigenden Geste: „ Meinen Vater hat es damals von allen natürlich am wenigsten gestört. Es war ja nicht mein Weg und er hatte zwei gesunde, ältere Söhne, die eine wahre Zierde für die Ritterschaft waren... Aorélian führte bereits seine eigene Kriegsfahne, die wohl bekannt war und Glaoda ritt mit Lannion als Knappe. Außerdem; das jüngste Kind einer Familie hat immer Narrenfreiheit!“ er schwieg einen Augenblick und dachte mit leiser Wehmut an zuhause zurück.

Es hatte seinen Vater, den Herzog Ambrosius nie gestört das er vor Waffen, Gewalt und rauen Spielen Abscheu empfand. Gud’wal selbst war mit ihm immer sehr nachsichtig gewesen, denn einer seiner eigenen Söhne –Yannick - hatte gleichfalls den alten Weg gewählt und als Kind genau dieselbe Abscheu vor Waffen und Gewalt an den Tag gelegt. Der Konnetabel von Cornouailles und die Waffenmeister auf Concarneau hatte ihm eigentlich nur dass beigebracht, was er selbst hatte erlernen wollen: Reiten, Bogenschießen, Fährten lesen, Falken abrichten... „Mein Vater hat mich nie gezwungen, gegen meinen Willen irgendeine Waffe anzufassen. Nur Aorélian hat damals so lange auf ihn und Mutter eingeredet, bis Ambrosius, Gud’wal endlich bat, mir wenigstens das Allernotwendigste beizubringen, um mich meiner Haut zu wehren. Falls es eines Tages unbedingt nötig sein sollte und ich vielleicht nicht in der Lage wäre...“, er schluckte kurz und schloss für einen Moment die Augen, bevor er weitersprach, „ andere Mittel einzusetzen, um mir Respekt zu verschaffen.“

Marguerite horchte in ihrem Versteck auf. Onkel Arzhur hatte zuvor schon über den Zauberwald von Brocéliande gesprochen und er hatte Sévran „Ollamh“ genannt und dann ein uraltes Wort verwendet, das man eigentlich nur noch in den traditionellen Balladen hören konnte, die die Spielleute vortrugen: Derwyddon - Eingeweihter.

Richemont nickte. Er hatte sich so etwas Ähnliches schon gedacht. An diesem Morgen, als Girons Hand versucht hatte, sein Schwert zu ergreifen, um für den schändlichen Sturz und die lächerliche Niederlage Rache zu üben, hatten Sévrans Augen wieder diesen sonderbaren, gefährlichen Glanz angenommen. Er hatte es schon ein paar Mal gesehen: Jedes Mal war die Person auf die dieser Blick gerichtet worden war –genau so, wie Patrice -kampflos vor Sévran zurückgewichen. Wie ein ängstlicher Hund mit eingezogenem Schwanz. „Für einen weißen Bruder wären die Mittel, über die Du verfügst um Dich zu wehren gewiss allemal ausreichend, Sévran“, antwortete der Ritter verständnisvoll.

„Natürlich, Mesire“ erwiderte Carnac selbstbewusst, „es gibt Dinge, die um vieles schrecklicher sind, als die Gewalt Eurer Kriegswaffen. Wer sich erdreistet einen Drouiz anzugreifen, der muss die entsprechenden Konsequenzen akzeptieren.“

Marguerite schlug die Hand vor den Mund. Beinahe hätte sie vor Überraschung einen Laut über die Lippen kommen lassen, der sie verraten hätte. Wenn Onkel Arzhur sie entdeckte, würde er sie gnadenlos aus dem kleinen Saal vertreiben. Nicht etwa das sein Tadel ihr Angst machte, aber sie würde den Rest der spannenden Geschichte verpassen und vielleicht nie erfahren, was sich hinter den undurchdringlichen, schwarzen Augen des Raben wirklich verbarg.

„Wenn Du heute nicht als Erbe von Ambrosius de Cornouailles vor mir sitzen würdest, dann würde ich Dir ehrlich sagen dürfen, dass ich eine Begegnung im Streit mit Dir eher vermeiden würde, Ollamh... ich würde Dir sogar sagen können, dass Du den Knappen von Colinet de Lignières auf ausgesprochen wirksame Art und Weise kampfunfähig gemacht hast. Es gehören sehr viel Mut und Geschicklichkeit dazu, einem wütenden Streitross in die Zügel zu greifen und es mit bloßen Händen in den Dreck zu schmeißen... Sag, hättest Du ihn wirklich verflucht, wenn er sein Schwert gezogen hätte?“

Sévran verzog den schmalen Mund zu einem leisen Lächeln: „Natürlich, Mesire. Er hatte keinen Grund mehr mich anzugreifen. Er hatte verloren, ich hatte gewonnen. Zwischen Giron und mir ist keine Feindschaft. Wir stehen beide auf der gleichen Seite...“

Marguerite schüttelte den Kopf: Die Drouiz; es gab sie also doch noch und alles, was hinter vorgehaltener Hand über den Zauberwald von Brocéliande und die Weiße Bruderschaft gemunkelt wurde, stimmte. Es war kein Altweibergeschwätz, um sich die Zeit in der Spinnstube zu vertreiben. Ihrem Onkel gegenüber saß ein leibhaftiger Drouiz, ein sehr junger zwar, aber immerhin einer bei dem Arzhur felsenfest davon überzeugt war, dass er jemanden wirklich verfluchen konnte, wenn er es wollte. Wohliges Schaudern lief Marguerite bei diesem unchristlichen Gedanken über den Rücken. Als sie ein Kind gewesen war, hatte sie oft zu Füssen ihrer Amme vor dem Feuer gesessen, während diese ihr die Legende vom Drouiz Gwenc’hlan erzählte, wie er gefangen und gefesselt noch aus dem finsteren Verlies in dem der böse sächsischer Prinz ihn sterben lässt, den Prinzen verfluchte und verzauberte. Am Ende fressen –wie in Gwenc’hlans düsterer Prophezeiung- die Raben den Kopf des Prinzen auf, während der Fuchs sein Herz verschlingt und eine schleimige Kröte ihm die Seele aussaugt. Schließlich entführt der Ankoù ihn in die schreckliche Welt der Monster von Anwn – in den Abgrund, aus dem es kein Entrinnen gibt und Gwenc’hlan hat die Bretagne gerächt.

„Du hast Giron heute tief in seiner Ehre verletzt“, erklärte Richemont seinem Knappen ernst.

„Warum? Es war doch nur ein Übungskampf. Er hatte sein Pferd, eine Waffe und ein Schild; ich nur meine bloßen Hände“, Sévran schien sich absolut keiner Schuld bewusst. Er war felsenfest davon überzeugt, so gehandelt zu haben, wie es sich in einem ehrlichen Zweikampf ziemte.

Arzhur seufzte: „ Sévran, genau aus diesem Grund war Giron ja so gekränkt. Alle haben mitangesehen, was geschehen ist. Er wurde von klein auf gemäß seinem Stand und Rang erzogen. Aber Du hast ihn besiegt, indem Du gekämpft hast, wie ein Gemeiner, obwohl Du der Sohn des Herzogs von Cornouailles bist, und damit im Rang deutlich über ihm stehst. Du wirst einmal Herzog sein, während Patrice lediglich die Seigneurie seines Vaters zusteht. Kein Ritter schlägt sich mit einem Mann, der nicht von ebenbürtigem Rang ist und er schlägt sich immer mit den Waffen eines Ritters. Ansonsten beschmutzt er seinen Namen und seine Ehre. Und seinen guten Namen zu beschmutzen ist schlimmer, als zu sterben. Das ist der wichtigste Teil des ritterlichen Ehrenkodex. Soweit ich weiß hat auch die Weiße Bruderschaft einen Ehrenkodex?“

Der jüngere Mann nickte: „Wissen, wagen, schweigen.“

„So einfach? Natürlich, ich hätte es mir denken können. Fällt es Dir schwer, gemäß Eurem Kodex zu leben?“

Sévran schüttelte den Kopf: „Überhaupt nicht, Mesire. Der Kodex ist richtig und weise.“

Richemont schmunzelte: „War da nicht auch noch etwas anderes? Nimm Dir die Macht dort, wo Du sie findest?“

Marguerite lauschte gespannt. Der Rabe konnte also wirklich zaubern. Und ganz offensichtlich nahm Onkel Arzhur ihn ernst. Sie fand den Gedanken an einen richtigen Drouiz am Hof ihres Vaters unwahrscheinlich romantisch. Genauso, wie einst am Hof von König Arthus in Camelot… auch wenn die Historia, die sie gerade las den Merlin - oder Marzhin, wie ihn die einfachen Leute der Bretagne lieber nannten- als einen alten Mann mit wallendem schlohweißem Haar, einem langen weißen Bart und einem mit Sternen bestickten blauen Gewand beschrieb.

Sie schmunzelte, bei dem Gedanken an Sévran in einer solch auffälligen Verkleidung. Sie nahm sich vor, aus der Bibliothek ihres Vaters gleich morgen das andere Manuskript zu holen, das dort direkt neben der Historia gestanden hatte. Es trug sogar den Titel „Vita Merlini“ – „Das Leben des Merlin“ und stammte aus der Feder des gleichen Chronisten, Godefroi de Monmouth. Sie musste einfach alles über diese geheimnisvolle Weiße Bruderschaft und den Zauberwald von Brocéliande erfahren.

Sévran legte den Kopf schief. Er überlegte, was er Richemont antworten konnte oder sollte. Offensichtlich hatte entweder sein Vater ganz bewusst gewisse Dinge preisgegeben, bevor Tintegnac ihn aus dem Heiligen Wald nach Rennes gebracht hatte, oder Richemont verfügte über andere Quellen. In der Nähe von Brocéliande stand ein stolzes Manoir, das seinem ritterlichen Lehrmeister gehörte. Richemont zog es all seinen anderen Besitzungen vor und er spendete auch den Mönchen von Saint Gaël reichlich. Fulques, der Abt des Benediktinerklosters am See von Paimpont hatte immer voller Hochachtung und Zuneigung vom jüngsten Bruder des bretonischen Herzogs gesprochen... er nannte ihn gar seinen Freund. Und Arzhur de Richemont war Aorélians und Glaodas bester Freund gewesen.

Er schloss kurz die Augen und dachte nach.

Nimm die Macht dort, wo Du sie findest! Es war...: „Nimm die Macht dort, wo Du sie findest? Es ist nicht ganz so einfach und geradlinig, wie Ihr es umschreibt, Mesire de Richemont. Das Credo ist vielleicht eher: Tue was Du willst, solange Du damit niemandem bleibenden Schaden zufügst!“

„Also keine schwarze Magie, keine geheimnisvollen und schrecklichen Rituale, keine blutigen Menschenopfer, wie manche munkeln...?“

„Ammenmärchen und die Schriften von Gaius Julius Cäsar, Mesire“, antwortete Sévran völlig ruhig und selbstbewusst, „dem vermaledeiten De Bellum Gallicum, Herrn Tacitus und Plinius dem Älteren verdankt Ihr diese abstrusen Schilderungen von nächtlicher Dämonenbeschwörungen und Massenopfern an den Kultplätzen. Diese ganzen blutrünstigen Übertreibungen –einst von Cäsar erfunden, um sich den römischen Senat für die Unterwerfung Galliens gewogen zu stimmen und Gold für den Sold der Legionäre aus der Staatskasse zu erhalten– spuken bis heute noch in Aller Köpfen... und sie haben den Dienern des neuen Gottes aus Outremer vom ersten Augenblick an immer eine ausgezeichnete Entschuldigung in die Hände gelegt, wenn es ihnen wieder einmal danach war uns Drouiz zu verfolgen und umzubringen, nur weil die Menschen in den keltischen Gebieten nie bereit waren, zu vergessen, dass die Natur alles ist und das alles eine Seele hat und dementsprechend behandelt werden muss. In einer Welt, in der man Macht mit der Gewalt von Waffen gleichsetzt, sind eben diejenigen, die ihre Macht auf das Große Wissen gründen keine gern gesehenen Gäste mehr. Die Wahrheit ist der Schatten der Götter und der Schatten des Einen, der das Licht ist.“

Marguerite beobachtete, wie ihr Onkel sich über das verwaiste Schachbrett beugte und Sévran die Hand auf die Schulter legte. Seine klaren, blauen Augen waren plötzlich ganz ernst geworden. Sie streckte den Kopf vor, um besser sehen und hören zu können, was Arzhur dem jungen Mann auf diese erstaunliche Philosophie nun antworten würde.

„Sévran, wir leben leider in einer sehr dunklen Zeit. Das Licht, die Wahrheit und das Große Wissen interessieren niemanden mehr, wenn er über eine Handvoll Bewaffneter verfügt. Jeder nimmt sich einfach mit Gewalt, was er begehrt und gibt keinen Deut darauf, ob ihm ein christlicher Priester für seine Sünden ewige Verdammnis und das Höllenfeuer verspricht oder ob ein Drouiz ihm einen Fluch hinterherschickt. Für die meisten zählt nur noch das Hier und Jetzt: Die Beute die man macht. Der Reichtum den man anhäuft. Der Feind den man besiegt. Auch Männer des Friedens, wie Dein Vater und mein Bruder ziehen es vor, Sorge dafür zu tragen, dass alle anderen vor der Macht ihrer Waffen Respekt haben. Weder Ambrosius, noch Yann würden auch nur einen Augenblick zögern, mit dem Schwert in der Hand Cornouailles oder die Bretagne zu verteidigen. Dein Bruder Aorélian und ich, wir sind damals gemeinsam hinauf in den Norden geritten, weil es der einzige Weg war Penn-Ar-Bed und Breizh vor Henry Lancaster und seinen Söldnern zu beschützen. Das ist der Grund, warum Du heute hier mit mir an einem Tisch sitzt. Die Entscheidung ist Deinem Vater sehr schwer gefallen... Er hat sie trotzdem getroffen. Wenn Du das Opfer Deiner beiden Brüder ehren willst, dann musst Du, so schwer es Dir heute fällt, nun auch Dein Opfer bringen: Glaub nur nicht, den Knappen von Colinet de Lignières mit bloßen Händen in den Dreck zu schmeißen und der Fluch, der Dir auf den Lippen lag hätten weniger Schaden angerichtet, als ihn mit einer Waffe in der Hand aus dem Sattel zu heben und ihm dann Dein Schwert an die Kehle zu legen.“

„Ich wusste es aber nicht besser, Mesire und ich war es wirklich leid, mir dauernd anhören zu müssen, ich wäre nur zu feige oder zu dumm, um mich vernünftig zu schlagen. Also wollte ich diese ungehobelten Lästerzungen eben irgendwie zum Schweigen bringen.“

„Tut es Dir leid, jetzt wo Du weißt, wie die Dinge stehen?“

Sévran schüttelte energisch den Kopf und griff nach einem seiner schwarzen Bauern. Er drehte ihn zwischen den langen, schmalgliedrigen Fingern hin und her, während seine Augen sich tief in die Augen seines ritterlichen Lehrmeisters bohrten. Der Bauer war die einzige Figur auf dem Schachbrett, die sich in eine Dame verwandeln konnte, wenn sie den langen Weg über die schwarzen und weißen Felder, bis zur anderen Seite des Brettes überstand.

Ehrlichkeit und Standfestigkeit. Stolz und Arroganz. Richemont legte seine kräftige, braungebrannte Hand freundschaftlich über die zierlichere Hand des jüngeren Mannes. Ein wacher Geist, eine schnelle Auffassungsgabe und –die Geste mit dem Bauern zeigte es deutlich-ein ausgeprägter Sinn für Intrigen, Winkelzüge und Plänkeleien. Sévran belog ihn nicht. Er schwieg sich nur aus, wenn er nicht preisgeben wollte. Er wusste viel... viel zu viel für einen so jungen Menschen und alles war noch weitgehend unkontrolliert und nicht auf irgendein höheres Ziel gerichtet. Alles drehte sich noch darum, seinen eigenen Wissensdurst weiter zu befriedigen. Er sprach mit dem Brustton der Überzeugung von der Wahrheit, die der Schatten seiner alten Götter war, doch wenn man sich die Mühe machte, ein bisschen tiefer in Sévrans schwarze Augen zu blicken, dann sah man leicht, dass die Macht des Wissens sein wahres Ziel war... Da war auch noch diese absurde, altertümliche Auffassung von Ehre, das Versprechen, das er seinem Vater einst gegeben hatte, der Schwur, den er als Drouiz vor wenigen Wochen erst der weißen Bruderschaft von Brocéliande geleistet hatte.... Ein sonderbares Geschöpf!

„Wollt Ihr mich lehren, was ich wissen muss um irgendwann einmal Cornouailles und unser Volk zu verteidigen?“ Sévran zog leicht seine Hand unter der Hand von Richemont hervor und stellte den schwarzen Bauern zurück auf seinen Platz auf dem Schachbrett.

Richemont nickte. Natürlich würde er es versuchen. Er musste es versuchen und er musste Erfolg dabei haben, denn dieser junge Mann, der vor ihm saß und nach außen hin den Anschein von Fügsamkeit und Gehorsam gab, schrie irgendwo tief in seinem Inneren aus Gründen die Arzhur zu dieser Stunde noch fremd waren laut Rebellion und Aufbegehren. Wenn es ihm nicht gelingen würde, den Erben von Cornouailles in dieser kritischen Zeit beständig an seine wahren Loyalitäten zu erinnern, dann war Sévran durchaus in der Lage, eines Tages nur um seiner eigenen Macht Willen, der Versuchung der Dunkelheit zu erliegen.

Ambrosius’ Sohn war gefährlich. Sévran selbst wusste es noch nicht, doch Arzhur de Richemont hatte in seinem Leben schon zu viele gefährliche Männer gesehen, um einen Wolf im Schafspelz nicht zu erkennen: “ Natürlich werde ich das tun“, sagte der Ritter mit fester Stimme, “das bin ich Deinem Vater schuldig und Aorélian ...und Glaoda...und natürlich auch Deinem alten Meister, Aodrén...“

Marguerite bemerkte aus ihrem Versteck in der Nische verwundert, wie offensichtlich erleichtert Carnac über das Versprechen ihres Onkels war. Wortlos erhob er sich. Stumm verbeugte er sich vor Arzhur de Richemont. Dann verschwand er, wie ein dunkler Schatten, aus dem kleinen Saal. Ihr Onkel selbst blieb noch eine Weile nachdenklich über das Schachbrett gebeugt sitzen, bevor er endlich auch den Weg zur Halle und zum gemeinsamen Abendmahl einschlug.

Marguerite wartete bis ihr Onkel endlich verschwunden war, bevor sie aus ihrer Nische hervorkroch und sich die zerdrückten Gewänder glatt strich. Bevor sie Sévran und Arzhur folgte, trug sie erst die Historia hinauf in ihr Gemach. Sie wollte um nichts in der Welt, dass der eine oder der andere den Verdacht schöpften, bei ihrem Gespräch unter vier Augen belauscht worden zu sein.

Der Fluch von Azincourt Buch 3

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