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Gefährliche Beobachtung

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Afra hob sichernd ihre Nase in den Wind, ihr typisch hellbrauner Drahthaar-Bart glänzte im Lichtstrahl der aufgehenden Sonne, der an einer dicken Buche vorbei den Weg zum dampfenden Waldboden gefunden hatte. Sie setzte sich auf die Hinterläufe und knurrte warnend: „Pass auf, da kommt wer!“

Ehe Alex reagieren konnte, quietschten Bremsen hart neben seiner fast fertigen Hütte. Eine feindlichaggressive Stimme herrschte ihn aus geöffnetem Fenster an: „Spinnst du? Bude bauen? Hier im Einstand der Hirsche und Wildschweine? Hoffentlich packt dich eine Bache! Frischlinge, verstehste? Also verschwinde, aber dalli! Inschallah!“

Theo Grossek war als Jagdaufseher vom Holzfabrikanten Heins angestellt und hatte für Ruhe und Ordnung in dessen Revier zu sorgen.

Er stutzte überrascht, als er die dunklen Augen des Jungen sah und den schwarz-gelockten Wuschelkopf.

Ein Stich traf sein Inneres.

Verflixt, wer ist das denn? So früh am Morgen und so fies drauf? Ich muss unbedingt Oma fragen, wer dieser unheimliche Typ mit diesen stechend-schwarzen Augen ist, dachte Alex angewidert, und dieses blöde Gelaber, als ob ich hier im Einstand des Hochwildes wäre. Bin ein Städter, denkt er wohl. Empört wollte er ihm den ausgestreckten Mittelfinger zeigen, als ihn durchdringend-fragende Blicke trafen. Afras Nackenhaare standen senkrecht vor Anspannung.

„Außerdem treiben sich hier Russen rum, Wilderer, die machen jeden kalt bei Störung. Russen kennen nichts!“ zischte Grossek kaum verständlich mit milderem Unterton. Er ließ den Motor aufheulen. Die Kupplung flog. Die Räder gruben sich in den Waldboden, schleuderten die weich-morastige Erde hinter sich.

Der bullige, verdreckte Geländewagen wühlte sich wie eine Raupe durch die tiefen, regenwassergefüllten Treckerspuren, die einen der wenigen Waldwege markierten.

„Blöder Angeber!“, rief Alex hinterher, er hatte gerade rechtzeitig zur Seite springen können und beschloss, diesem Widerling künftig aus dem Weg zu gehen.

Die Ferien fangen ja gut an, stellte er nachdenklich fest. Er streichelte versonnen das schwarze, mit silberweißen Haaren durchwirkte Fell seiner Afra. Sie gähnte dazu. Ihr Stummelschwänzchen bewegte sich aufgeregt in der Erwartung, dass Spannendes passieren würde. „Afra, jetzt bauen wir erst recht eine richtige Waldhütte, auf der anderen Seite vom Kanal, klaro?! Die wird keiner finden!“

Gesagt, getan. Dieser sommerwarme Vormittag des zweiten Sommerferientages trieb ihn an, besonders sein Trotz gegen den Schwarzäugigen. Mit freiem Oberkörper, Mückenstiche ignorierend, hastete Alex barfuß vorbei an hochgewachsenen, knorrigen Kiefern, regentropfennasse Farne streifend. Etwa acht Meter breit schlängelte sich die Ise direkt hinter dem Kanal durch fette Wiesen.

Er trat aus dem Hochwald. Direkt vor ihm der schnurgerade Elbe-Seitenkanal. Er zog den Knoten des Seils auf, stieg in sein kleines, am Ufer liegendes Ruderboot. Afra kannte das schon und sprang freudig hinterher. Mit kurzen Paddelschlägen erreichten sie das andere Ufer. Er band das Boot an einen der Pflöcke, die er einen Tag zuvor in die Böschung auf beiden Seiten des Kanals eingeschlagen hatte. Sie bummelten durch das feuchte, warme Gras der Ise-Auen am Waldrand entlang. Alex fuhr erschrocken zusammen, als direkt neben ihm zwei Hasen aufsprangen und das Weite suchten. Afra setzte zur Hetzjagd an, aber das scharfe „Bleib’!“, stoppte ihren Jagdtrieb. Schmollend, mit eingezogenem Stummelschwanz, ihr Herrchen keines Blickes würdigend, gähnte sie. Ein „Du bist brav, gut gemacht, toll, Afra!“, versöhnte sie mit ihrem Herrchen.

Keine vierhundert Meter weiter tauchte auf elf Uhr die Silhouette der Ise-Brücke im Morgendunst auf, verträumt, fast geheimnisvoll.

Afra, die Deutsch-Drahthaar-Hündin, bereits im rüstigen Oma-Alter von elf Hunde-Jahren, also umgerechnet siebenundsiebzig Menschen-Jahren, sprang sofort ins abkühlende Nass und schlabberte gierig das weiche Wasser der Ise: Ein Flüsschen mit klarem, erfrischenden Wasser, von Wasserpflanzen durchzogen. Flache Stellen mit feinsandigem Boden ermunterten dazu, perlmuttglänzende Miesmuscheln zu sammeln.

Stand man regungslos im Wasser, direkt neben der Uferkante, konnte man Flusskrebse fangen! Ein abenteuerhaftes Paradies.

„Dieses Mal finde ich einen geeigneten Platz hinter der alten Ise-Brücke“, wandte sich Alex an Afra, „rechts vor der Brücke der tiefe Kolk, weiter hinten der Hochwald. Wir können alles überblicken, aber uns sieht keiner!“

Vorsichtig tastete er über die uralten Bohlen der Brücke, er hasste Splitter im Fuß. Afra zog sich, am Ufer festkrallend, aus dem Wasser, schüttelte sich, und beide setzten lautlos ihren Weg durch das kniehohe Gräsermeer der Ise-Auen fort.

Nach etwa zweihundert Metern standen sie vor einer Wand aus Schmerzen verheißenden Brennnesseln und Brombeerranken mit widerlich harten, sich festkrallenden Dornen. „Hier müssen wir durch, Afra“, flüsterte Alex, „auch, wenn’s wehtut!“

Mitleidig blickte Afra ihr Herrchen an und drückte, sich aufplusternd, einen Pfad durch die Nesselwand. Alex ignorierte nicht vermeidbare Verbrennungen und knickte vorstehende Brombeerranken ab.

Dann standen sie inmitten einer drei Meter hohen Fichtenschonung, durchzogen von niedrigen Königsfarnen und Blaubeerbüschen. „Hier bauen wir unsere Hütte, hier traut sich keiner hin! Wir fangen gleich damit an. Komm’ Afra, wir holen Hammer, Säge und Strohbänder von Zuhause.“

Im Junkernholz angekommen, schilderte Alex seiner Oma die Begegnung mit dem schwarzäugigen Fremden. „Der Typ hat mich gleich angesaugt und mir befohlen, zu verschwinden. Dann hat er mich seltsam fixiert und arabische Wörter gemurmelt, die ich nicht verstanden habe!“

Oma Sarah erschrak, weil genau das nun eingetroffen war, was sie über die Jahre hin hatte verhindern wollen. Sie sammelte sich und antwortete gefasst: „Das könnte der Jagdaufseher Grossek sein, den der Holzfabrikant Heins angestellt hat. Der soll unberechenbar und unfreundlich sein. Geh’ ihm lieber aus dem Weg!“

Alex brauchte einen Tag, bis seine Waldhütte fertig war:

Zwischen hoch gewachsenen Fichten, etwa vier Meter auseinander stehend, hatte er als Außenwand zwei Meter hohe, junge Fichtenstämmchen in die Erde gerammt, sie mit Weidenzweigen umflochten und die Hohlstellen mit Lehm und Moos zugestopft. Als Dach dienten aus Omas Schuppen alte, bemooste Welltafeln, auf eine Dachkonstruktion aus Fichtenstämmen gehievt und mit Strohbändern befestigt.

Im hinteren Teil der Hütte hatte Alex eine Art von Geheimversteck: Ein quadratisches Loch im Erdboden, einen Meter lang, einen Meter breit, etwa achtzig Zentimeter tief, überdeckt von einem mit Moos und Laub getarnten Brett. Er wollte das Loch tiefer machen, dann wäre er auf Grundwasser gestoßen. Zwei klappbare Anglerstühle und Ersatzpfeile passten hinein sowie drei Dosen Frühstücksfleisch und Pumpernickel, von Oma abgestaubt.

Zum Abschluss der Bauarbeiten machte Alex ein Selfie von sich, seiner Hütte und Afra und simste es seiner Freundin Kati. Er musste an die Neujahrsnacht denken, ihre Küsse, ihre Sehnsucht und die total heißen SMS, die sie sich nach ihrem ersten Date voller Leidenschaft gesimst hatten.

Er legte sich unter eine Buche, blinzelte gegen die Abendsonne und fühlte in sich eine pulsierende Kraft. Ein ziehendes, eigenartiges, lustbetontes Gefühl durchströmte seinen Körper. Er schloss die Augen und er sah sie, atmete ihren Duft, spürte ihre Küsse. Und wieder überkam es ihn. Aber anders als die vielen Male zuvor. Dieses Mal war es nicht nur das total abgefahrene, geile Gefühl der Erregung, sondern mischte sich mit einem Gefühl der Sehnsucht und Hingabe …

Sarah von Trendel freute sich jedes Mal darauf, wenn ihr Enkel Alexander von Trendel in den Ferien ins Junkernholz kam. „Wer weiß, wie lange ihn der Wald mit seinen Geheimnissen interessieren wird“, wandte sie sich wehmütig dem Foto ihres Mannes zu, „jetzt, er ist gerade fünfzehn, jetzt fasziniert ihn diese natürliche Welt. Was wird aus ihm, wenn er die reale Welt mit ihrem Neid, ihren Intrigen, ihrer Verlogenheit wirklich kennenlernt? Schade, dass du ihn nicht mehr erleben kannst, wirklich schade!“, lächelte sie liebevoll und nahm sich vor, Alex das ovale, verwitterte Holzschild für seine neue Waldhütte zu schenken, in das ihr Mann vor Jahrzehnten die Erkenntnis eingebrannt hatte:

„Der Wald hat viele Augen – und nicht alle meinen es gut!“

Sie aßen zu Abend. Alex angelte zwei Scheiben von Omas selbst gebackenem Krustenbrot aus dem Tontopf. Ein riesiges Stück der herzhaften Braunschweiger Knoblauch-Streichmettwurst presste er zwischen zwei Scheiben und aß mit sichtbarem Vergnügen. Er warf einen Blick in das Gifhorner Tageblatt und stupste seine Oma aufgeregt an. „Oma, hast du das gelesen? Das ist ja furchtbar!“

„Was meinst du?“

„Sie schreiben, dass seit einer Woche wieder Mädchen vermisst werden, drei junge Mädchen! Paddlerinnen auf der Ise! Sie sind spurlos verschwunden. Die Bevölkerung wird aufgefordert, Verdächtiges zu melden!“

„Furchtbare Angst haben alle, seit Monaten“, seufzte Frau von Trendel und starrte mit flackerndem Blick ins Leere.

„Mädchenhandel, Oma! Vielleicht sind sie auch nach Syrien abgehauen, wie einige Amerikanerinnen, um im ‚Heiligen Krieg’ für Allah zu sterben, weiß man, was in ihren Köpfen rumspukt?“

Sie streichelte ihrem Enkel schwer atmend über das mit harzigen Tannennadeln und Sägespänen zerzauste schwarze Haar. Irgendetwas schnürte Sarah von Trendel die Kehle zu. Eine dunkle Ahnung raubte ihr fast den Atem.

Alex merkte nichts von ihrer Verfassung.

Am 10. Juli 2014 trieb es Alex nach dem Abendbrot hinaus zu seiner geheimen Hütte am Waldrand: Süchtig danach, in die Geheimniswelt des Waldes einzudringen. Süchtig nach unkalkulierbaren Abenteuern. Süchtig nach wilden Raubtieren. Süchtig nach dem Geruch der Harze von Kiefern und Fichten. Süchtig danach, nackt unter jungen Birken zu liegen, die sich im sommerabendlichtwarmen Wind wiegen. Süchtig danach, von ihrem Mund und ihren Augen und ihrem Lächeln zu träumen und alles zu bekommen …

Klar will ich das, alles zu seiner Zeit, beruhigte er seine Sinne betörenden Gedanken, sein ständig übermächtiges ES, das immer nur die direkte Befriedigung seiner Bedürfnisse forderte. Außerdem will ich nicht, bevor sie auch nicht will, klar, ermahnte er seine wieder erwachende Lust und schickte sich an, in die geheimnisvolle Tiefe und Schönheit des Hochwaldes einzutauchen.

Natürlich durfte Afra mitkommen. Sie sprang erwartungsfroh um Alex herum, stupste ihn, sich zu beeilen.

Barfuß, in kurzer Hose, mit Tarnweste und Fernglas, Hundeleine um die Schulter, Smartphone und Puma-Messer am Gürtel, Schild von Opa unterm Arm, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, zogen beide los.

Alex und Afra, die jede Fährte interessiert beschnüffelte, eilten den fichtennadelübersäten und bemoosten Waldweg entlang, sprangen über tiefe Furchen, die von den Treckern der Waldarbeiter in den Waldboden gewühlt worden waren, Afra immer neben Alex. Alex klatschte ab und zu eine der blutsaugenden Mücken an seinen bloßen Oberschenkeln tot und blickte sich, wie ein Fuchs auf der Jagd, sichernd um, ob der eklige Kerl zu sehen sei.

„Dieser Typ konnte mir nicht in die Augen sehen, der hat irgendetwas Gefährliches an sich“, erklärte er Afra, die ihn mit schräggestelltem Kopf und total wachen, hellbraunen Augen fixierte. Ihre intensivwedelnde Rute signalisierte absolutes Verständnis.

Sie paddelten ohne große Mühe über den Kanal und eilten zur Ise-Brücke. Alex atmete auf, als kein Pickup von Grossek an der Reviergrenze stand, an der er ihn oftmals gesehen hatte, unter einer Trauerweide, direkt vor der Brücke. Stattdessen parkte genau an dieser Stelle ein roter Polo.

Er merkte sich das Kennzeichen >GF-LW 1982<.

Afra tapste neben Alex über die Brücke, hob ihre Nase witternd in den Wind, der vom gegenüberliegenden Waldrand über die Wiese strich. „Irgendetwas beunruhigt sie sehr“, stutzte Alex und blickte durchs Fernglas. Nichts! „Komm’, ganz leise!“, raunte er ihr zu, „mal sehen, was da los ist.“ Sein Puls schlug schneller. Sie folgten gespannt der von Treckern niedergewalzten Spur durch das hohe Wiesengras. Links von ihnen tauchte die Abendsonne hinter die hohen Buchen und Eichen. Rechts stieg die Ahnung eines Nebelschleiers aus der Ise. Es war bereits kurz nach 22.00 Uhr.

Unvermittelt stoppte Afra, hielt Ohren und Nase in den Wind, blickte zu Alex. Alex bremste den Atem, um besser hören zu können. Zwanzig Meter vor ihnen linker Hand lag versteckt am Waldrand Alex’ Hütte. Rechts dieser Hütte, jetzt direkt vor ihnen, teilte sich der Wald. Ein bemooster Waldweg wurde sichtbar. Alex hob das Fernglas und entdeckte etwa hundert Meter entfernt ein schwarzes Auto. „Sieht aus wie ein Pickup“, flüsterte er und legte Opas Schild ins Gras.

Plötzlich Stimmen, weit entfernt. Alex befahl: „Afra, leise, sei ruhig!“ Sie schlichen tief gebückt durch die hohen Gräser, schlugen einen kleinen Bogen, um nicht direkt am Waldweg aus der Wiese treten zu müssen. Sie steuerten den parallel zum Waldweg führenden Graben an, mit knöchelhohem Wasser und Moos an den Wänden. Lautlos legte Alex einen Pfeil auf die Bogensehne und überprüfte mit der rechten Hand den Sitz seines Messers. Das um seinen Hals baumelnde Fernglas klemmte er unter seine rechte Achsel, damit es ihn beim Anschleichen nicht behindern konnte.

Er glitt lautlos die Graben-Böschung hinunter in das lauwarme, modrig-riechende Wasser und gab Afra den Befehl: „Down! Bleib!“ Afra gehorchte aufs Wort. Sie legte sich ab, ihr Rücken samt Stummelschwänzchen ragte aus dem Wasser. Sie rührte sich nicht. „Wenn’s drauf ankommt, hörst du aufs Wort, cool“, flüsterte Alex lobend, „bleib’ liegen, bin gleich wieder zurück!“ Sie protestierte zwar leise mit einem heftigen, lautlosen Gähnen, blieb jedoch liegen, die Ohren nach hinten gedreht.

Alex schlich tief gebückt den Graben entlang, siebzig, achtzig Meter. Plötzlich hörte er: „Lena, Prosecco, herrlich kühl, du willst auch?“

Alex kroch geräuschlos die Grabenböschung empor, drückte das Gras auf der Grabenkante mit dem Fernglas flach und erschrak: Er erblickte einen riesengroßen, splitternackten, behaarten Hintern, keine zehn Meter rechts vor ihm neben dem ihm bekannten schwarzen Pickup. Er sah, wie der Kerl in ein halbvolles Sektglas mehrere Tropfen aus einem kleinen Fläschchen träufelte und beschwörend säuselte: „Davon gehen deine Kopfschmerzen weg, inschallah!“ Sein Lachen klang zynisch, aufgesetzt. Alex sah, wie sich links neben dem Pickup Frauenarme aus den Gräsern erhoben und sich dem Mann fordernd entgegenstreckten. „Trinkst du nicht mit?“, fragte eine hohe Stimme. „Jetzt nicht“, brummte er, flößte ihr das Gemisch in ihren bereitwillig geöffneten Mund und schleuderte das Glas mit einer grässlichen Lache in die Dickung. Er legte sich lustvoll grinsend zwischen die ausgestreckten Arme. Die Heideröschen, Schachtelhalme und Farne verschlangen ihn. Nur der Hintern hob und senkte sich im Sekundentakt.

Alex verharrte einige Minuten regungslos, sein Herz pochte, mit dem Herzschlag auch das Fernglas vor seinen Augen. Er hatte keine Lust auf diesen Hintern. Dann: Ein helles, unterdrücktes Quieken, ein brummiges Stöhnen, ein hechelndes Keuchen, ein zufriedenes Lachen …

Ich müsste verschwinden. Es gehört sich ja nicht zu spannen, aber das komische Lachen, die Tropfen, da stimmt was nicht, grübelte er und erschrak. Ein vorlauter Eichelhäher flog zeternd und kreischend dicht über seinen Kopf hinweg. Wenn dieser Arsch die Sprache der Tiere versteht, wird er jetzt gewarnt sein, fürchtete Alex und wollte gerade zurückrobben, als der lange Kerl plötzlich aufstand und prustend rief: „Ich muss mal für kleine Männer, musst warten, Lena!“

Alex stockte der Atem, weil er hörte, wie der Typ in seine Richtung kam, immer näher, immer näher. Alex presste sich an die Böschung, tastete nach seinem Messer. Pfeil und Bogen lagen zu weit entfernt. Die Dämmerung und der Dunst der blauen Stunde könnten mir helfen, folgerte er. Sein Herz pochte rasend schnell und laut. Plötzlich sah er ihn über sich, mehr seine Silhouette. Direkt vor ihm am Grabenrand stand er, breitbeinig, total nackt, pfiff ein Lied, das Alex nicht kannte und blickte in den Abendhimmel. Der Strahl schoss knapp an seinem Fuß vorbei und klatschte ins Wasser.

Der Ammoniakgeruch des Urins drang in Alex’ Nase. Er traute sich kaum zu atmen. Der Mann trat einen Schritt zurück. Alex hörte, wie er sich wieder entfernte und die Frau ihn mit schläfrigen, liebevoll-flüsternden Worten empfing.

Das Ganze gefiel Alex nicht, wahrscheinlich, weil er nicht mehr genug erkennen und verstehen konnte und weil er Angst hatte, entdeckt zu werden. Er schlich durch das knöcheltiefe Grabenwasser zurück. Als Afra ihn zurückkommen sah, sprang sie auf, riss gähnend ihren Fang auf, ihre Augen blitzten, ihr ganzes Hinterteil samt Schwänzchen wackelte aufgeregt. „Hast du fein gemacht, Afra“, flüsterte Alex ihr ins Ohr und drückte sie fest an sich.

Alex hatte das sonderbare Verhalten dieses fremdartigen Mannes im Kopf und wunderte sich, dass überhaupt eine Frau Interesse an einem solchen Kotzbrocken finden würde.

„Afra, lass’ uns hier verschwinden. Komm, ab nach Hause.“

Sie hörten das aggressive Aufheulen des Pickup. Als sie über die Ise-Brücke hasteten, sahen sie den Polo unter der Trauerweide stehen. „Der Kerl hat die Frau bestimmt zu sich nach Hause genommen“, erklärte er Afra, „Lena heißt sie, das habe ich gehört. Die muss blind sein oder es nötig haben!“

Zuhause angekommen, erzählte er seiner Oma von seiner Begegnung mit diesem dunkelhaarigen Fremden und seiner Beobachtung mit der jungen Frau.

„Oma. Der hat ihr womöglich k.o.-Tropfen in den Sekt getan“, mutmaßte er, „ich weiß es zwar nicht genau, aber, da ist was faul, oberfaul!“

Sarah von Trendel erblasste, reagierte, ihre Sorge überspielend: „So, wie du den Kerl beschreibst, ist das wirklich der Jagdaufseher Theo Grossek. Der jagt jedem einen Schrecken ein, weil er Jogger oder Sammler als Eindringlinge in sein Revier betrachtet. Und das war bestimmt seine Freundin, mit der er sich amüsiert hat“, hüstelte sie verlegen und dachte erschrocken an die Tropfen, die sie Grossek des Öfteren zusammengebraut hatte. Sie war erleichtert, als sie bemerkte, dass Alex’ Augen vor Müdigkeit fast zufielen und Afra unmissverständlich klarmachte, dass ein leerer Fressnapf eine absolute Zumutung sei, besonders nach diesem nächtlichen Abenteuer.

Als sie sich über das Trockenfutter hermachte, kaum kauend, einfach hinunterschlingend, nahm er sich vor, am nächsten Tag seinem Freund Marc und seiner Liebsten Kati von dieser Beobachtung zu berichten.

Ich hätte auch Lust, mit Kati im Gras zu liegen, dachte er und stellte sich vor, wie sie ihn überall küssen würde.

Er lächelte und schloss die Augen. Er sah sie vor sich, spürte ihre Hände, träumte, dass sie … und schlief ein. Neben ihn legte sich Afra auf die Bettdecke, leckte einmal, wie aus Versehen, über Herrchens Nasenspitze und schloss die Augen.

Alex war der Letzte, der Lena gesehen und gehört hatte.

Er konnte nicht ahnen, dass er seine Neugier mit dem Leben bezahlt hätte, wäre er erwischt worden.

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