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ZWEI

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KOMMISSAR HERMANN KAPPE hielt sich die Hand vor den Mund und fluchte. Der Kaffee war noch viel zu heiß, doch er musste dringend los, wenn er nicht zu spät zum Dienst antreten wollte. Weiß der Himmel, weshalb sie heute alle verschlafen hatten. Das war ihm in all seinen Dienstjahren als Kriminaler noch nie passiert.

«Möchtest du nicht vielleicht doch wieder näher ans Präsidium ziehen?», fragte Klara, die die Schulbrote für Gretchen und Hartmut bereitete.

Kappe sah sie erstaunt an. Für Klara hatte er diese Wohnung in der Britzer Hufeisensiedlung ausgesucht, weil sie sich immer nach einer Wohnung im Grünen gesehnt hatte, vor allem der Kinder wegen. Er hatte die Wahl schon bald nach dem Einzug im März 1927 verflucht, als ihm bewusst wurde, wie früh er immer aufstehen musste, um zur Arbeit zu gelangen. Doch niemals hätte er vorgeschlagen, in Richtung Alexanderplatz zu ziehen, weil ihm Klaras Zufriedenheit sehr am Herzen lag. Nicht zuletzt seiner eigenen Nerven wegen, denn sie konnte schon sehr penetrant nachbohren, wenn sie etwas wollte, seine liebe Klara.

Doch es blieb keine Zeit, sich weiter zu wundern – er musste wirklich los. Typisch, dass sie solche Fragen stellte, wenn er in Eile war!

«Manchmal wünsche ich mir das schon», sagte er vorsichtig, denn bei Klara konnte man nie wissen, ob sie ihn mit einer solchen Frage nur auf die Probe stellen wollte, um das Gesagte hinterher gegen ihn zu verwenden und dann tagelang die Beleidigte spielen zu können. Frauen eben. Er schnappte seine Aktentasche, drückte Klara einen flüchtigen Kuss auf den Mund und hetzte im Laufschritt aus der Tür.

Die volle Kaffeetasse und die ernst dreinblickende Klara blieben in der Küche zurück.

«Wir fahren nach Paris!» Sein Vater hatte nicht gefragt, ob er mitkommen wolle auf diese Reise, mit Geschäften, von denen er, der Siebenjährige, nichts verstand. Er hatte es ihm mitgeteilt, so wie man seiner Frau sagt, dass am Abend noch überraschend Gäste zum Essen kämen und sie doch einen Teller mehr aufdecken möge. Was blieb auch als Alternative? Tante Gerda, die mit ihrem räudigen Hund in einem abbruchreifen Haus wohnte? Das war schon für einen Nachmittag kaum zu ertragen, für zwei ganze Wochen jedoch völlig inakzeptabel, und das wusste sein Vater glücklicherweise auch. Trotz allem hatte der kleine Victor sich vor der Reise gefürchtet, die so viele neue, unbekannte Eindrücke bringen sollte. Paris – das waren fünf aneinandergereihte Buchstaben für ihn. Wohl hatte ihm der Vater vom Eiffelturm berichtet, doch er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Menschen imstande waren, einen solch hohen Turm zu bauen. Als er dann davorstand, wurde ihm klar, dass dieser stählerne Gigant schier unbeschreiblich war, und ihn wunderte nicht mehr, dass dies in seinen kleinen Kopf im fernen Berlin einfach nicht hatte hineinpassen wollen.

Paris. Die fünf Buchstaben hatten in jenen Tagen einen anderen Klang für ihn bekommen und waren seither der Inbegriff für all seine Sehnsüchte. Nicht nur der Turm, nein, auch der Arc de Triomphe, die Tuileriengärten, die Seine und die Champs - Élysées hatten ihn tief berührt. Doch am stärksten hielt der Eindruck der Künstler vom Montmartre vor.

Anfangs hatte sein Vater ihn nicht ohne Aufsicht lassen wollen, doch wollte er seinen Geschäften ordentlich nachgehen, so konnte er sich nicht fortwährend um den Siebenjährigen kümmern und ihm die ganze Stadt zeigen. Victor hatte sich schließlich erbettelt, alleine durch die Umgebung streifen zu dürfen, und sein Vater hatte ihm mit ernstem Blick seine Uhr umgelegt und ihn ermahnt, nur ja wieder in der Unterkunft zu sein, wenn der große Zeiger auf der Zwölf und der kleine auf der Sechs stünde.

Nachdem dies am ersten Tag wunderbar geklappt hatte, war der Vater beruhigt. Offensichtlich kam der kleine Victor trotz der Sprachbarriere alleine zurecht, nachdem er ihm eingeschärft hatte, sich beim Gehen stets umzublicken und sich markante Häuser oder andere Orte für den Rückweg zu merken.

So konnte der kleine Victor den lieben langen Tag den Malern am Place du Tertre auf die Finger schauen, wie sie mit kräftigen Pinselstrichen ihre Gemälde bearbeiteten oder einfach neben ihren Werken saßen, die an die Bäume auf dem Bürgersteig gelehnt waren. Den einen oder anderen Namen schnappte er auf, mit dem er nichts anzufangen wusste, doch er hatte Zeit, also prägte er sich die Namen gut ein. Heute wusste er, welche Berühmtheiten oft dort gesessen und zwei Straßen weiter in einem Künstleratelier gewohnt hatten. Pablo Picasso und Georges Braque waren nur zwei von ihnen.

Ach, könnte er doch die Zeit zurückdrehen! Damals war er zum ersten Mal seit dem Tode seiner Mutter wieder glücklich gewesen.

Noch heute klangen ihm die Sprache und die Melodie der Stadt in den Ohren. Paris war voller Musik gewesen, wenn man nur darauf hörte. Doch es gab eines, das ihn traurig stimmte: Er würde die Künstler von damals dort sicher nicht mehr antreffen. Doch wer wusste schon, welcher der Künstler und Bohemiens des heutigen Paris der nächste Picasso werden könnte? Und er, Victor Reimer, könnte mit ihm reden, von ihm lernen!

Wenn er nur endlich genügend Geld beisammen hätte, um sich die Reise und den Aufenthalt dort leisten zu können! Zurück wollte er nicht mehr. Berlin war ebenfalls eine aufregende Stadt, das war unbestritten, doch es besaß nicht den Zauber, den er suchte.

«Die schaffen das doch sowieso wieder nicht!» Kappe nippte am Bureaukaffee und wünschte nicht zum ersten Mal, dass Gertrud Steiner, die Sekretärin, endlich lernen würde, den Kaffee weniger stark zu brühen. Er hatte seinen mit Wasser verdünnt, weil sein Löffel sonst senkrecht darin stehengeblieben wäre. Das hatte jedoch den Geschmack nicht gerade verbessert.

«Hast du ’ne Ahnung! Diesmal musset einfach klappen, da jibs keene Ausreden mehr! Viermal war unsre Hertha Vizemeister – diesmal tragen se den Pokal nach Hause, so wahr ick Gustav Galgenberg heiße!»

Von Grienerick nickte bekräftigend dazu. «Die sind sooo dicht dran!» Er deutete mit Daumen und Zeigefinger eine Lücke an, in die gerade drei Formulare gepasst hätten.

Kappe war erstaunt über die plötzliche Fußballbegeisterung im Präsidium. Galgenberg war zwar schon in früheren Jahren hin und wieder bei einem Herthaspiel gewesen, aber so fanatisch wie in diesem Jahr hatte er ihn und von Grienerick noch nicht erlebt. Die Begeisterung schien beinahe sämtliche männlichen Kollegen angesteckt zu haben, doch Kappe war das Ganze nicht geheuer.

Seine eigenen Fußballerfahrungen lagen lange zurück, und die Erinnerung daran war von Schmerz und Demütigung geprägt. Mehr als einmal hatte er mit der Nase im Dreck gelegen, und blaue Flecke am Schienbein waren an der Tagesordnung gewesen. Irgendwann hatte er das Spielen lieber den anderen überlassen. Sein Sohn Hartmut traf sich hin und wieder mit den Kindern aus der Nachbarschaft zum Fußball, doch Kappe war froh, dass der Kleine nicht auf die Idee kam, in einem Verein spielen zu wollen.

«Wir können ja eine Wette abschließen.» Von Grienerick riss Kappe aus seinen Gedanken. «Ich setze darauf, dass Hertha den Meistertitel gewinnt.»

«Ick ooch! Wat is mit dir, Kappe?»

«Wer wetten will, hat Lust zu betrügen», zitierte dieser einen Spruch seiner Mutter.

«Wie? Meinste, wir bestechen den Schiedsrichter, damit du deine fuffzich Pfennje verlierst?» Galgenberg lachte dröhnend. «Det wär ja noch schöner! Aba wat nützt ’ne Wette, wenn keener dajejenhält?»

«Na gut.» Kappe kapitulierte.

Galgenberg kramte eifrig in seiner Schreibtischschublade, bis er eine Streichholzschachtel zutage gefördert hatte. «Jeder legt hier fuffzich Pfennje rein. Jewinnt Kappe, kricht er die janze Penunze, wird Hertha doch Meister, teilen Grienerick und icke. Allet klar?»

«Vielleicht machen ja noch ein paar andere Kollegen mit. Dann lohnt es sich. Und wir könnten ja auch darauf setzen, auf welchen Platz die Hertha kommt, wenn sie nicht Meister wird.»

«Ach, das wird doch zu kompliziert», sagte Kappe.

«Was höre ich von Komplikationen, meine Herren?» Unvermittelt stand Brettschieß in der Tür. «Ich hoffe doch, dass alles seinen gewohnten Gang geht!»

Kappe verdrehte innerlich die Augen. Der Brettschieß hatte ihm gerade noch gefehlt. Sein Vorgesetzter war in Kappes Augen ein Störfaktor, und er wusste, dass er mit seiner Meinung nicht alleine dastand. Außerdem sympathisierte Brettschieß mit der zehn Jahre zuvor gegründeten NSDAP, und das war ihm wirklich ein Dorn im Auge. Von so jemandem ließ er sich nur ungern etwas sagen.

«Wir reden grade über ’ne neue Beobachtungstaktik», sagte Galgenberg und grinste, was Dr. Brettschieß jedoch nicht sehen konnte, weil dessen Aufmerksamkeit Kappe galt.

«Alles muss so einfach und effektiv wie möglich laufen. Komplizierte Vorgehensweisen beeinträchtigen das Ermittlungsergebnis. Merken Sie sich das stets, mein lieber Kappe!», dozierte Brettschieß.

Kappe fragte sich, wieso er sich diesen Sermon anhören musste. Immerzu redete Dr. Brettschieß geschwollen daher und sagte damit leider rein gar nichts. Heiße Luft aus einer Dampfmaschine war aussagekräftiger. Leute, die keinen Durchblick hatten, sich stattdessen aber gerne wichtig machten, waren Kappe zuwider.

Nachdem sein Vorgesetzter noch einen prüfenden Blick auf Kappes Schreibtisch geworfen hatte – Kappe fragte sich, was er dort zu finden hoffte –, ging er grußlos wieder hinaus.

«Welche Laus ist dem denn über die Leber gelaufen?»

Von Grienerick äffte ihn nach: «Alles muss so einfach und effektiv wie möglich laufen.» Dabei stand er stocksteif und schnitt die dümmste aller Grimassen, die er in seinem Repertoire hatte – und das waren so einige, wie Kappe wusste.

«Grienerick, meist steht der Veräppelte hinter einem, wenn man so wat macht. Hat dich das die Erfahrung nich jelehrt?» Galgenberg lachte, als von Grienerick sich erschrocken umdrehte. Doch da war niemand.

«Sollten wir uns nicht lieber unseren Akten zuwenden?», fragte Kappe in die Runde, bevor die beiden wieder mit ihren Fußballgesprächen anfangen konnten.

«Ick wusste ja schon immer, dass du ’n Spielverderber bist, Kappe, aber die fuffzich Pfennje zahlste trotzdem.» Galgenberg hielt ihm die Streichholzschachtel hin.

Kappe zog seufzend seine Geldbörse hervor. «Ihr macht mich arm!»

«Wieso, wenn Hertha verliert, biste doch reich!» Galgenberg gluckste.

«Kindsköpfe!», dachte Kappe, musste dabei aber schmunzeln. Er ging hinüber zum Aktenschrank und starrte auf die Ordner und Aktenzeichen. Mit einem Mal hatte er vergessen, was er eigentlich heraussuchen wollte, stattdessen ging sein Blick durch die Ordnerrücken hindurch, und er befand sich wieder mit Klara am Frühstückstisch. Wieso nur wollte ihm Klaras Vorschlag so gar nicht aus dem Kopf gehen? Er hätte froh sein müssen, dass sie sich mit dem Gedanken trug, seinen Arbeitsweg wieder zu verkürzen. Dann könnte er endlich wieder länger schlafen und wäre auch bei überraschenden Einsätzen schneller zur Stelle. Er könnte sich wahrlich darüber freuen – wenn der Vorschlag nur nicht so vollkommen untypisch für Klara gewesen wäre. Ihr Blick, ihr bemüht beiläufiger Tonfall – all das beunruhigte ihn. Sonst nörgelte sie lautstark und in einem fort, wenn ihr etwas missfiel. Da war etwas im Busch, und Kappe nahm sich fest vor herauszufinden, was das sein könnte. Gleich heute Abend wollte er sie fragen.

Er suchte nicht sehr häufig die Gesellschaft von Menschen – meist erschreckten sie ihn nur oder gingen ihm mit ihrer Dummheit auf die Nerven. Doch an jenem Tag zwang ihn ein unerklärlicher Drang nach Gesellschaft aus dem Haus. Normalerweise ging er nicht in Kneipen, schon gar nicht tagsüber. Er mied solche Orte – nicht nur wegen der Leute, sondern weil er sich mehrfach überlegte, ob er das Geld, das er für seinen Traum aufsparte, wirklich für ein Bier in zweifelhafter Gesellschaft ausgeben wollte. Doch heute war so ein Tag. Einer, an dem man an einem Scheideweg steht und nichts davon ahnt.

Er schlenderte durch die Straßen, bis er zur Oranienstraße kam, einer der besten Einkaufsstraßen Berlins, in der sich auch das Wirtshaus «Max und Moritz» befand. Dort verkehrte er gelegentlich, obwohl es mehreren Hundert Menschen Platz bot und somit eigentlich dem schüchternen Naturell Victors völlig widersprach. Doch das Gründerzeitmobiliar inmitten von Glasmosaiken, Stuck- und Schmiedearbeiten strahlte eine gewisse Gemütlichkeit aus, und er verband angenehme Erinnerungen mit dem Etablissement. Außerdem gab es ihm ein gutes Gefühl, dass der von ihm geschätzte Heinrich Zille Stammgast im «Max und Moritz» gewesen war, bevor er im Jahr zuvor verstorben war.

Am schönsten fand er jedoch die Wandreliefs, deren Szenen von Max und Moritz zum Betrachten einluden. Das Wirtshaus verdankte seinen Namen tatsächlich den beiden Lausbuben von Wilhelm Busch, der jedoch nie selbst dort gewesen war, wie der Wirt berichtet hatte. Doch Busch hatte nichts dagegen gehabt, dass das Gasthaus diesen Namen trug, vorausgesetzt, es wurde jeden Donnerstag Erbsensuppe an die ärmere Bevölkerung ausgegeben.

Während der Inflation, als sich alle Menschen nur lebensnotwendige Dinge leisten konnten, war Victor ebenfalls donnerstags hierhergekommen, wenn der Hunger gar zu groß wurde. Denn natürlich gab in dieser Zeit niemand Geld für Kunst aus.

Eines Tages war Victor dem äußerst gesprächigen Wirt Felix Fournier ausgeliefert gewesen. Es war noch nicht viel los, und Fournier hatte Langeweile beim Gläserputzen.

«Dieses Wirtshaus war die beste Idee, die ich je hatte!» Die Gläser quietschten, als er das Geschirrtuch hineindrückte und drehte, bis die Feuchtigkeit gewichen war. «Der gute Heinrich Zille hat hier drin sogar seine Bilder verkauft.»

Interessiert sah Victor auf, denn die Tanzveranstaltungen, von denen Fournier vorher berichtet hatte, waren nicht seine Kragenweite, und auch die Erzählungen vom Kabarett «Die Wespen», das oben im Max-und-Moritz-Saal des Obergeschosses aufgetreten war, hatte Victor zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder hinausgelassen.

«Ach?», sagte er, begierig, mehr darüber zu erfahren, doch er war kein Freund vieler Worte.

«Pinselheinrich hat einige Motive am Mariannenplatz gemalt. Die haben hier reißenden Absatz gefunden.»

Victor konnte sich das gut vorstellen. Denn obwohl seine eigene Kunst in eine vollkommen andere Richtung ging, faszinierte ihn die Art, wie Zille seine Milieustudien betrieben hatte. Die Figuren wirkten so lebendig, und selbst den Schurken musste man eine gewisse Sympathie entgegenbringen, so wie Zille sie darstellte.

Victor nahm all seinen Mut zusammen. «Könnten Sie sich vorstellen, auch meine Bilder einmal hier auszustellen?»

Der Wirt spreizte Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und stützte sein Doppelkinn darauf. «Dazu müsste ich erst einige Bilder von Ihnen sehen, junger Mann. Und wenn ich ehrlich bin … Normalerweise müssen die Künstler schon einen gewissen Ruf haben, bevor ich meine Wände mit ihren Gemälden schmücke.»

«Wie soll man sich denn einen Ruf erwerben, wenn alle mit demselben Argument eine Ausstellung ablehnen?» Victor senkte den Blick, und so sah er auch nicht das wohlwollende Lächeln von Felix Fournier.

«Manchmal muss man einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, junger Freund.»

Doch Victor hatte der Mut bereits wieder verlassen, und so hatte er dem Wirt nie eines seiner Gemälde vorgelegt. Trotz allem zog es ihn immer wieder einmal hierher.

So auch heute.

Als er die Tür öffnete, drang Stimmengewirr zu ihm hinaus. Beinahe hätte er wieder kehrtgemacht, doch er sah ein, dass er sich nicht ewig verstecken konnte. Ein Künstler brauchte Inspiration, und diese würde versiegen, wenn er nicht hin und wieder seine kreativen Quellen auffüllte und etwas erlebte.

Unruhig um sich blickend, schlängelte er sich zwischen den schwitzenden, lachenden Männern zum Tresen durch und bestellte eine Molle. In der hintersten Ecke hatte er ein kleines Tischchen ausgemacht, an dem sich noch niemand niedergelassen hatte. Er ging dorthin, den Kopf gesenkt, den Blick fest auf den Tisch gerichtet, um nur niemanden an einem der anderen Tische ansehen zu müssen.

Was war er nur für ein Künstler, der sich weigerte, die Atmosphäre jederzeit in sich aufzunehmen! Hier lagen Motive vor ihm, er müsste sie nur ansehen! Victor war sich dessen sehr wohl bewusst, doch erst mit der Wand im Rücken, im Schutze der kleinen Ecke, hinter dem Tisch verschanzt, wagte er, aufzublicken und die Szenerie auf sich wirken zu lassen.

Geschäftsmänner sah er keine. In dieser Gegend verkehrte das einfache Volk – die Hautevolee würde man im «Max und Moritz» vergeblich suchen. Trotz des literarischen Bezugs im Namen des Lokals kreisten die meisten Gespräche der Gäste nicht um Literatur, sondern um ihre Arbeit und um das weibliche Geschlecht, das von jeher ein beliebtes Thema in jenen Etablissements zu sein schien.

Ein sehr beleibter Kerl, vielleicht Mitte vierzig, geriet am Nebentisch in Streit mit einem hageren Jungen, den er offenbar vergeblich dazu überreden wollte, eine der Prostituierten aufzusuchen, die in der Nähe ihren Geschäften nachgingen. Der Junge lehnte die käufliche Liebe samt und sonders ab, was ihm den stillen Beifall Victors eintrug. Dieser konnte gar nicht anders, zückte das Skizzenbuch, das er stets in der Jackentasche bei sich trug, und zeichnete die Streithähne mit flinken Strichen.

Inzwischen hatte der Dicke den Tisch verlassen, abgewinkt, den Jungen einfach sitzenlassen und war schwankend durch das Lokal auf die Straße gegangen. Der Junge saß nun unschlüssig da, blickte in die Runde und erwischte mit seinem Blick auch irgendwann den skizzierenden Victor.

«Was machst ’n da?» Er stand auf und beugte sich über den Tisch.

Victor, dem es unangenehm war, dass die skizzierte Person ihn bei seiner Arbeit ertappt hatte, legte rasch die Hand über seinen Block.

«Komm, ich lache auch nicht! Zeig mal!» Er nahm Victors Hand vom Block, blickte staunend auf die beiden Streithähne im Bleistiftstrich und pfiff anerkennend durch die Zähne. «Den Dicken haste hervorragend getroffen! Und das dürre Männchen soll wohl ich sein?»

Victor nickte zögernd und hoffte, dieser Mensch würde sich rasch entfernen, als der auch schon an seinem Tisch Platz genommen hatte.

Er streckte eine Hand aus. «Alfons Lauterbach mein Name. Ich mach auch Kunst!»

Oh, wie sehr Victor diese Menschen hasste, die glaubten, auch für die Kunst geboren zu sein, nur weil sie einen Stift in der Hand halten konnten! Für ihn war das ebenso, als würde er behaupten, er würde demnächst ein Buch schreiben, nur weil er in der Schule das Alphabet gelernt hatte und wie man Buchstaben aneinanderreiht. Er würde sich so etwas nie anmaßen – weshalb belästigten ihn die Menschen dann mit Gesprächen über ihre stümperhafte Krakelei?

Als hätte Alfons Lauterbach seine Gedanken gelesen, sagte er: «Nein, das ist wirklich wahr, ich bin Künstler, ich male. Ich möchte behaupten, dass ich mir auch schon einen Namen gemacht habe, auch wenn die Zeiten gerade schwierig sind. Wenn du willst, zeig ich dir meine Wirkungsstätte mal.»

Victor konnte sich nicht erinnern, seinem Gegenüber das Du angeboten zu haben, aber so was passierte eben, wenn man sich in ein Gasthaus begab, anstatt sich in die Arbeit zu vertiefen. Er verfluchte seine Entscheidung, bis sein Gegenüber einen Zettel aus der Tasche zog und auseinanderfaltete.

«Kleine Fingerübung von vorhin.» Er schob den Zettel zu Victor hinüber, und dieser hielt für einen Moment den Atem an. Alfons Lauterbach hatte mit wenigen genialen Strichen die Sacre Cœur skizziert.

«Waren Sie schon am Montmartre?», wollte Victor wissen, bereute jedoch sofort seine Frage.

«Sag doch Alfons! Unter Künstlern müssen wir doch nicht so förmlich sein.» Er lächelte. Der Steg zwischen seinen Nasenlöchern war wesentlich tiefer angesetzt als die Nasenflügel, was ihm ein leicht katzenhaftes Aussehen verlieh. «Aber um auf deine Frage zu antworten: Nein. Ich kenne Paris nur von Photos. Aber mir gefällt die Basilika, und deswegen zeichne ich sie immer mal wieder. Das erste Mal war ein Photo die Vorlage. Und wenn ich einmal etwas gesehen habe, das mich berührt hat, dann kann ich es jederzeit aus dem Gedächtnis malen.»

Victor mochte es noch immer nicht, dass Alfons Lauterbach ihn behandelte, als wären sie schon ewig befreundet. Er wirkte sympathisch, abgesehen von seiner Angeberei mit dem photographischen Gedächtnis, doch es widersprach einfach Victors grundsätzlicher Skepsis anderen Menschen gegenüber, sich so rasch auf eine vertraute Ebene zu begeben. Distanz war wichtig für ihn, es war etwas, an dem er sich festhalten konnte, ein fester Rahmen, den er seinem Leben gab. Traue niemandem, dann bist du sicher! Zu oft war er enttäuscht worden. Sogar seine eigene Mutter war einfach gestorben, anstatt für ihn da zu sein. Worauf sollte man sich dann im Leben noch verlassen können?

Trotz allem beschloss Victor, sich auf das Duzen einzulassen. Sich weiterhin stur zu stellen wäre ihm grob unhöflich vorgekommen. Außerdem schien dieser Alfons kein so übler Kerl zu sein. Wie hätte er das auch sein sollen, wo er doch Sacre Cœur mochte, auch wenn er die Basilika nur aus der Ferne kannte? Wer Victors Leidenschaft teilte, hatte sich einen kleinen Vertrauensvorschuss verdient, auch wenn es Victor schwerfiel. Außerdem war sein Interesse erwacht.

«Zeichnen S … Zeichnest du nur, oder benutzt du auch andere Materialien?»

«Ich male auch in Öl und Aquarell. Kleine Bilder, große Bilder, Häuser, Porträts – alles, was du willst. Und selber?»

Victor biss sich auf die Zunge, damit er kein Wort über das Acryl verriet. «Im Grunde dasselbe. Bilder, Auftragsarbeiten, um den Lebensunterhalt zu finanzieren. Und wahre Kunst, um geistig zu überleben.»

«Warst du schon mal im Romanischen Café? Da sitzen viele von uns.»

Victor hatte sich bisher aus genau diesem Grund von dort ferngehalten, doch das wollte er seinem Tischkumpan nicht auf die Nase binden. «Ich gehe nicht viel aus», sagte er vage.

«Solltest du aber! Das ist ungemein belebend für die kreative Energie. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Manchmal bin ich so ausgelaugt, dass mir kein einziger Pinselstrich mehr von der Hand gehen will. Keine Ideen, nur Stroh im Kopf. Dann muss ich mal lockerlassen und Blödsinn machen.» Alfons nahm sich einen Bierdeckel und legte ihn so auf den Tisch, dass er zur Hälfte über die Kante hinausragte. Als Victor sich noch fragte, was das sollte, hatte Alfons schon mit den Fingern von unten gegen den Bierdeckel geschnippt. Der Deckel vollführte eine Drehung, so schnell, dass man mit den Augen kaum folgen konnte, und Alfons hielt ihn in der Hand.

«Kennst du das noch nicht?» Alfons hatte Victors irritierten Blick gesehen. «Schau, es ist ganz einfach: Hinlegen, schnippen, fangen.» Er wiederholte das Kunststück einige Male. «Probier es doch auch mal!»

«Ich bin nicht so geschickt bei so was. Lass mal.»

Die Wahrheit war, dass Victor unglaubliche Angst davor hatte, sich vor allen Leuten zu blamieren. Sicher hätte er den Bierdeckel durch das halbe Lokal geschnippt. Er wusste nicht, wie er damit hätte umgehen sollen. Er begab sich normalerweise nur in Situationen, auf die er gut vorbereitet war, und Bierdeckelschnippen gehörte nicht zu den Dingen, mit denen er heute gerechnet hatte.

Alfons grinste.

Victor konnte sich lebhaft vorstellen, was sein Gegenüber wohl denken mochte, aber das war ihm egal.

«Solche Tricks lernt man eben, wenn man unter Menschen geht, die alle darauf aus sind, ihren Kopf wieder freizubekommen.» Und dann begann er, von den Treffen im Romanischen Café zu erzählen, von der Inspiration, die ihm der Austausch mit den Kollegen bescherte, und davon, wie schön das Leben als Künstler sei. Kein Wort von beschwerlichen Stunden, die Victor nur zu gut kannte, kein Wort von Zweifel und tiefer Traurigkeit. Alfons schien auf der Sonnenseite geboren zu sein. Er strahlte so viel Freude aus, dass Victor irgendwann dachte, etwas von dieser Energie könnte auf ihn abstrahlen, wenn er sich nur oft genug in Alfons’ Nähe aufhielt. Er hätte es nicht über sich gebracht zu fragen, doch Alfons nahm ihm diese Entscheidung ab.

«Ich habe heute noch etwas vor, aber ich würde mich freuen, wenn wir uns wiedertreffen. Willst du dir meine Bilder mal ansehen?»

Victor versicherte eifrig, aber nicht zu eifrig, dass er sich freuen würde.

Sie verabredeten sich für die nächste Woche.

An diesem Tag ging Victor Reimer ungewohnt frohgemut nach Hause.

Kunstmord

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