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3. Kapitel: Das offene Geheimnis

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Ich glaube, was Ulf an Hannover am meisten befremdete, war der Umstand, einen Teppich in der Wohnung zu haben. Auch Dörmann, der eines späten Abends vor Ulfs Tür stand, zeigte sich sehr beeindruckt. „Dunnerwetter“, entfuhr es ihm, als er des weichen Bodenbelages ansichtig wurde, „wat büste füührnehm worrn.“

„Vierter Stock“, beeilte Ulf sich zu versichern, „da kommt die Leine nicht hin.“

Er nahm dem vom Treppensteigen noch etwas erschöpften Geistlichen Mantel und Badetasche ab und lehnte dann den erdigen Spaten an die Garderobe, den der Besucher mitgebracht hatte. Mit Spaten und Badetasche unter dem Arm war er im Zug sicher Anlass zu zahlreichen Spekulationen gewesen. Ulf sah über das Gartengerät erstmal hinweg und schenkte den frischaufgebrühten Früchtetee ein.

Dörmann hatte seinen Besuch auf einer Postkarte angekündigt und nachgefragt, ob Ulf nicht für eine Nacht einem heimatlosen Seelsorger Quartier gewähren könne. Er habe eine Leiche im Keller, die er nun ausgraben müsse. Ulf hatte nicht abgesagt.

Irgendwie war ihm diese Karte merkwürdig erschienen. Er hatte noch nie eine Postkarte erhalten, auf deren Rand kein freundlicher Gruß an Frau Niemeyer vermerkt war. Stattdessen fand sich auf dieser, neben der Briefmarke rasch hingekritzelt, ein freundlicher Gruß von Frau Niemeyer. Irgendwie logisch, aber ungewohnt und fast so befremdlich wie ein Teppich in der Wohnung, fand Ulf.

Wahrscheinlich muss ich das erklären. Es war nämlich so, dass die Posthalterin von Starnsum mit dem Briefgeheimnis nicht allzu kleinlich umging. Sie betrachtete es im Prinzip als einen Akt der Höflichkeit, wenn sie Urlaubsgrüße und dergleichen zur Kenntnis nahm und dem Empfänger auch manchmal ihre Meinung darüber kundtat. Postkarten an Ulf hatten bisher immer mindestens zwei Adressaten gehabt, nämlich ihn und Frau Niemeyer. Von jetzt ab würde seine Post aus Starnsum also zwei Absender haben. Verkehrte Welt. Jedenfalls war der Pastor richtig und pünktlich angekommen.

„Wie geht's daheim?“, fragte Ulf.

„Gut“, sagte Dörmann und griff nach dem Gebäck. Ulf hatte zarte, weiche Zitronenkekse besorgt. Der Inbegriff des Luxus. „Die sind nicht schlecht“, meinte der Pastor. Er konnte sehr tüchtig zulangen. „Das Wasser steht noch immer ziemlich hoch, aber Hoffmeister meint, er kann in zwei Wochen seinen Stall wieder zumauern. Jettchens Lehrerin war etwas zickig. Naja. Deine Eltern lassen dich grüßen.“

„Danke.“

Während Dörmann seinen Tee trank, hatte Ulf das Sofa zurechtgemacht und schlug nun mit der Handkante einen Knick ins Kissen; es sah nicht besonders gut aus.

„Was macht Johanna?“

„Aaaach“, stöhnte Dörmann theatralisch. „Das Balg frisst mir noch die Haare vom Kopf. Du hast ja keine Ahnung, was so ein Baby alles braucht. Wiege, Laufstall, Kinderwagen, Strampelhöschen und der ganze Kram. Und dann die teure Babynahrung. Die essen ja nicht, was ein zivilisierter Christenmensch so isst. Ist wirklich kein Wunder, dass sich die Leute das zweimal überlegen, bevor sie sowas in die Welt setzen.“

Ulf grinste. Dass Dörmann das Balg ins Herz geschlossen hatte, war nicht zu überhören. „Und jetzt müssen Sie Ihre Leiche aus dem Keller holen“, vermutete er.

„Hab' ich Leiche geschrieben?“

„Ja.“

„Ach, das ist nur so eine Redensart.“ Dörmann gähnte ausgiebig, und schaute auf die Uhr. „Reichlich spät schon, oder?“

Es war eigentlich nicht sehr viel später als gestern um diese Zeit, aber Ulf gab Dörmann recht; es war Zeit, ins Bett zu gehen. Und das taten sie.

Als Ulf das Licht löschte, drangen vom Sofa schon tiefe und gleichmäßige Atemzüge zu ihm herüber. Es war Zeit einzuschlafen.

„Du, Ulf?“, kam es da leise vom Sofa her. „Wusstest du eigentlich, dass Mädchen in der Mitte und Jungs am Bäuchlein nass werden?“

„Hm.“ Ulf wusste das aus dem Fernsehen. „Aber es ist ein süßes Baby“, flüsterte er zurück.

„Ein sehr süßes“, schloss Dörmann und drehte sich auf die andere Seite.


*


Ulf schlief sehr schnell ein und träumte etwas Spannendes, aber was es war, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er nach einigen Stunden durch irgendetwas geweckt wurde.


*


Er sah gerade noch, wie Dörmann auf Zehenspitzen zur Tür hinaus schlich. Ulf war sofort wieder hellwach. Hose und Jacke fand er auf Anhieb, nur die Schuhe musste er suchen, bis ihm einfiel, dass er sie nun auf dem Flur aufbewahrte. Denn vor einigen Tagen hatte sich Andrea ausgeschüttet vor Lachen, als sie sie auf Ulfs Nachttisch stehen sah. Das war ihm irgendwie peinlich gewesen, auch wenn Falk rücksichtsvoll dazu geschwiegen hatte; seitdem standen sie auf dem Flur. Ulf sprang in seine Turnschuhe und stürzte aus der Wohnung, hinter Dörmann her.

Der Pastor war noch nicht allzu weit gekommen. Ulf konnte die massige Gestalt mit dem geschulterten Spaten im Licht der Straßenlaternen gut erkennen. Langsam folgte er ihm.

Dörmann marschierte in Richtung Bahnhof. Eben klang eine Kirchenglocke einsam über die nächtliche Stadt. Ulf schaute auf die Uhr. Fünf Minuten nach drei. Die Straßen lagen wie ausgestorben da. Längst war das Nachtleben Hannovers erloschen, auch Polizisten waren keine mehr unterwegs, nur noch Dörmann schritt einsam und zielstrebig durch die Nacht. Ulf folgte ihm. Eine zweite Kirchenglocke löste die erste ab. Dörmann achtete nicht darauf.

Unter dem Bahnhof lief die Passerelle entlang, tagsüber eine vielbesuchte Einkaufspassage, nachts nur ein sehr leerer, halbdunkler Tunnel. Dörmann wanderte hindurch, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Es ist möglich, dass er etwas geflucht hat, als er die nachts stillgelegte Rolltreppe hinuntersteigen musste, das hörte Ulf nicht, er selbst war jedenfalls nicht gerade begeistert davon.

Erst am Kröpke begab sich Dörmann wieder in die Oberwelt. Ulf brauchte eine Weile, bis auch er sich die Treppe hinaufgequält hatte. Auch dieser Platz war leer. Keine Kühe. Schade.

Dörmann saß verschnaufend auf einer Bank und sah Ulf gelassen entgegen. „So spät noch auf den Beinen?“

Ulf nickte. „Sie auch.“

Der Pastor kramte zwei Zitronenkekse aus seiner Jackentasche hervor, gab Ulf einen davon ab und biss in den anderen hinein.

„Du könntest mir eigentlich tragen helfen“, sagte er und drückte Ulf den Spaten in die Hand. „Hast du Angst vor Friedhöfen?“

Ulf antwortete nicht. Ein „Nein“ hätte protzig geklungen, und ein „Ja“ wäre eine glatte Lüge gewesen. Außerdem wusste Dörmann recht gut, dass in Zeiten des Hochwassers der Weg über den Friedhof für Ulf die einzige Möglichkeit war, trockenen Fußes nach Hause zu kommen. Ulf war in seinen Leben sicher häufiger über den Friedhof als über die Starnsummer Hauptstraße gewandert, zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Sie gingen lange Zeit schweigend nebeneinander her.

„Die sind eh schon längst im Himmel“, sagte Dörmann schließlich, als sie den kleinen alten Friedhof vor sich liegen sahen. „Glaube ich jedenfalls.“

Hier wuchsen sehr schöne alte Eichen und mächtige Kastanienbäume, die Grabsteine dazwischen waren verwittert und ihre Inschriften auch bei Tageslicht kaum noch zu entziffern. Hier war schon seit einer halben Ewigkeit niemand mehr begraben worden.

Der Schatten der Bäume schirmte die Beleuchtung der breiten Brühlstraße ab, und es war fast vollkommen dunkel auf dem Friedhof. Nur durch die Krone einer Kastanie blitzte ein wenig Mondlicht, sehr schmales gesicheltes Mondlicht.

„Hübsch, nicht?“, fragte Dörmann.

Das fand Ulf auch. Er beschloss, sich den Platz zu merken.

Der Pastor steuerte auf ein etwas größeres Monument im Hintergrund zu, das ein wenig besser erhalten war und der Aufschrift zufolge den besten Eltern der Welt gesetzt worden war. Ulf folgte mit dem Spaten.

„Ist so lange her“, meinte Dörmann entschuldigend und lehnte sich an den Stein. Er stützte den Kopf in die Hand und dachte nach. Dann richtete er sich auf und machte entschlossen drei mittelgroße Schritte in Richtung Westen. „Hier muss es sein“, sagte er.

Ulf und Dörmann gruben abwechselnd. Der Boden war weich und ließ sich gut heben. Es war Ulf, der nach einer Weile mit dem Spaten auf etwas Hartes stieß.

„Ich hab's“, rief er.

„Sch! Nicht so laut!“", zischte Dörmann. Er sprang in die Grube und buddelte mit bloßen Händen weiter.

Es dauerte nicht lange, bis er die große Metallcassette freigelegt hatte. Er schloss sie auf und überprüfte rasch den Inhalt. Es fehlte nichts. Die 20.000,- DM lagen noch genauso da wie damals, als er sie vergraben hatte.

„Ich hatte eigentlich nicht vor, sie jemals auszugeben“, murmelte Dörmann gedankenverloren, während Ulf das Loch wieder zuschaufelte.

„Is' doch für'n guten Zweck“, meinte Ulf.

„Ist das nicht vielleicht ein bisschen viel für ein Baby?“

Es machte Dörmann doch ein wenig unsicher, so viel Geld in der Hand zu halten.

„Sie wollen doch nicht an Johanna sparen!“

Ulf schulterte den Spaten, und Dörmann klemmte sich die Geldcassette unter den Arm. Langsam schlenderten sie davon.

„Sie wird bald ein eigenes Motorrad brauchen“, sagte Dörmann. „Und eine Studentenwohnung. Und einen Bausparvertrag ...“

Ulf sagte nichts mehr. Er war rechtschaffen müde. Es war Zeit, schlafen zu gehen.

Ulf

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