Читать книгу Delete - Petra Ivanov - Страница 10
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Christopher! Wie siehst du denn aus!» Mam lässt uns herein und eilt davon. «Bleib dort! Ich hole ein Frottiertuch.»
«Sie ist Deutsche?», flüstert Julie hinter mir.
Ich bin so an Mams Aussprache gewohnt, dass sie mir nicht mehr auffällt; als ich klein war, haben wir zu Hause hochdeutsch gesprochen. Das änderte sich, nachdem ich in die erste Klasse gekommen war. Plötzlich schämte ich mich. Ich wollte wie alle anderen sein. Deshalb sprach ich nur noch schweizerdeutsch, wenn Freunde mich besuchten. Mam gefiel das gar nicht. Da ich nicht so beliebt war, hatte Mam nicht allzu viel Gelegenheit, sich zu nerven.
Viel schlimmer waren die Besuchstage in der Schule. Die meisten Mütter sassen still im Hintergrund, nur Mam stellte der Lehrerin immer Fragen. Nicht über den Schulstoff. Sie wollte wissen, warum diese oder jene Methode angewendet wurde, sprach von Entwicklungspsychologie und Lernverhalten, bis ich am liebsten im Boden versunken wäre. Eine Zeit lang behauptete ich, sie wäre gar nicht meine richtige Mutter. Die meisten glaubten es mir. Mam hat lange, blonde Haare und helle Haut. Ich hingegen war schon als Kind dunkel. Da mein Vater nie an die Besuchstage kam, merkte niemand, dass ich ihm glich. Ich konnte mich problemlos als Waisenkind ausgeben.
Mam kommt zurück und beginnt, meine Haare trocken zu reiben. «Was ist mit deiner Nase passiert? Sie ist geschwollen! Hast du dich etwa geprügelt?» Sie klingt mehr überrascht als wütend.
Schlägereien meide ich in der Regel. Ich bin kein Masochist.
Mam sieht mein Kopfschütteln nicht, weil mich das Handtuch bedeckt. «Und wen hast du da mitgebracht? Willst du mir deine Begleitung nicht vorstellen?»
Julie kommt zaghaft einen Schritt näher und streckt die Hand aus. «Guten Tag, Frau Cavalli. Ich bin Julie Ramadani.»
Mam mustert sie von oben bis unten. Als sie bei Julies Stiefeletten ankommt, starrt sie auf die Wasserlache am Boden. «So könnt ihr nicht ins Wohnzimmer.» Sie presst die Lippen zusammen und deutet auf die Küche, die mit weissen Platten belegt ist.
Wir streifen unsere Schuhe ab und folgen ihr. Julie trippelt auf Zehenspitzen. Die Spur, die sie auf dem Boden hinterlässt, sieht aus, als stamme sie von einem Vogel. In einer Fensternische steht ein Glastisch mit vier weissen Lederstühlen. Ich will mich schon setzen, da stoppt mich Mam. Sie holt weitere Tücher und breitet sie auf den Stühlen aus. Julie traut sich trotzdem nicht, sich hinzusetzen.
«Warst du beim Arzt?», fragt Mam.
Ich verneine.
«Hör auf zu nuscheln! Ich verstehe kein Wort!»
«Nein», wiederhole ich und erzähle ihr vom Tramunfall.
«Ihr seid einfach abgehauen? Christopher! Wann wirst du endlich erwachsen? Was glaubst du, wie die Versicherung reagieren wird, wenn du die Arztrechnungen einschickst?»
Ich gucke wohl ziemlich komisch, denn sie seufzt laut. «Bei jedem Unfall muss der Verursacher eruiert werden. Sonst ist nicht geklärt, wessen Versicherung für den Schaden aufkommen muss. Halt still.»
Ich japse laut, als sie in meinem Gesicht herumdrückt.
«Gebrochen», sagt sie. Aus dem Gefrierfach holt sie einen Eisbeutel und drückt ihn mir auf die Nase.
Vor Schmerzen sehe ich Sterne. Dabei dachte ich immer, das sei nur eine Redensart.
«Viel machen kann man dagegen nicht», erklärt sie. «Ich kann das Nasenbein gleich hier richten, dafür brauchst du keinen Spezialisten. Bis der Knochen zusammenwächst, wird es aber einige Wochen dauern.»
Julie steht immer noch mitten in der Küche und schaut mit offenem Mund zu. Ihre Schminke ist verschmiert, doch sie merkt es nicht. Die schwarze Farbe unterhalb ihres linken Auges sieht dramatisch aus.
Bevor ich etwas sagen kann, nimmt Mam den Eisbeutel weg und beugt sich über mich. Auf einmal jagt ein Stromstoss durch meinen Körper. Der Schmerz ist so heftig, dass ich wie gelähmt im Stuhl hänge. Diesmal sehe ich keine Sterne. Es wird schwarz um mich herum. In meinem Kopf pocht es, als spiele drin eine Heavy-Metal-Band.
Mam klebt mir ein dickes Pflaster auf die Nase. Ich frage nicht, warum. Ich will die Augen schliessen, habe aber Angst, dass mir das Augenwasser überlaufen könnte.
Mam starrt gedankenversunken auf meine Nase. Mir fallen die tiefen Falten neben ihrem Mund auf.
«Du bist deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten», sagt sie leise.
Kein Wunder, denke ich. Er hat sich die Nase schon drei Mal gebrochen. Allerdings nie bei einem Tramunfall, sondern zwei Mal beim Kickboxen und ein Mal bei einem Polizeieinsatz. Vielleicht muss ich mir eine coole Geschichte ausdenken, falls mich jemand auf das Pflaster anspricht. Ich könnte zum Beispiel erzählen, dass ich mich verletzt hätte, als ich meine Schwester befreite. Das wäre nicht einmal gelogen.
«Ich habe ihn in der Notaufnahme kennengelernt», sagt Mam.
«Wen?», murmle ich.
«Deinen Vater. Ich habe ihm das Nasenbein gerichtet, genau wie dir. Er war nur wenige Jahre älter, als du es jetzt bist.»
Mich erstaunt, dass er sie danach überhaupt wieder sehen wollte.
Julie zieht die Augenbrauen in die Höhe und zeigt auf ihr Handgelenk. Es dauert einen Moment, bis ich kapiere, was sie mir zu sagen versucht. Die Zeit läuft uns davon.
«Mam», beginne ich.
«Wie geht es ihm?», fragt sie.
«Wem?»
«Deinem Vater.»
«Gut. Hör mal, ich habe eine …»
«Gut? Was heisst das? Ist er noch mit dieser Tussi zusammen? Fällt sie immer noch auf seinen Charme herein? Oder hat sie endlich gemerkt, dass nichts dahintersteckt?»
«Kannst du mir Geld leihen?»
«Wie bitte?»
«Ich brauche Geld.»
Mam fährt herum. «Bist du schwanger?», fährt sie Julie an.
Julie weicht zurück, bis sie die Küchenzeile im Rücken hat. Die Farbe ihrer Wangen passt zur pinkfarbenen Haarsträhne, die sie sich in den Mund schiebt. Sie versucht, den Kopf zu schütteln, doch es sieht eher so aus, als sei er gar nicht richtig festgemacht.
«Ich wusste, dass dein Vater nicht auf dich aufpassen würde!», wettert Mam. «Er ist noch genauso verantwortungslos wie früher! Von Erziehung versteht er absolut nichts! Kümmert er sich überhaupt um dich? Weiss er, was du treibst?»
Ich kratze mich, damit mir die Haare ins Gesicht fallen. Unauffällig schiebe ich mit einer Hand die Kopfhörer über die Ohren.
«Die fänsterläde bliibed zue», meint Phenomden. «S isch halt niemerd dihei.»
Yeah. Der Rhythmus fliesst durch meinen Köper. Meine Nase pocht im selben Takt. Ich stelle mir eine Menschenmasse vor, die an mir vorbeizieht. Sie bewegt sich wie ein Fluss, gleichmässig und kraftvoll. Alle Blicke sind geradeaus gerichtet. Niemand beachtet mich. Ich gehöre nicht dazu, sondern stehe abseits. Eine angenehme Wärme breitet sich in meinem Körper aus. Manchmal muss ich mich einfach ausklinken. Meistens in den dümmsten Momenten. Aber wenn ich es nicht tue, funktioniere ich gar nicht mehr.
«Nimm diese verdammten Kopfhörer ab, wenn ich mit dir rede!», erklingt Mams schrille Stimme.
Ich zucke zusammen. Julie steht jetzt neben mir. Ihre Lippen bewegen sich, doch ich verstehe nicht, was sie sagt. Ohne Musik fühlt sich die Welt wie eine raue Wolldecke an.
«Mein Sohn soll es mir selber beichten, wenn er etwas ausgefressen hat!», meint Mam.
«Ich brauche nur etwas Geld», wiederhole ich. «Niemand ist schwanger.»
«Wofür?»
«Einfach so.»
Mam verschränkt die Arme.
Ich weiss nicht, was ich ihr erzählen soll. Julie gibt mir Zeichen, die ich nicht verstehe. Als ich weiterhin schweige, ergreift sie das Wort.
«Frau Cavalli, ich möchte mich nicht einmischen, aber …»
«Ich hab gesagt, das reicht!» Mam schiebt sich zwischen uns. «Christopher, ich will von dir wissen, was los ist!»
Ich brabble etwas von Schulden und miesen Typen, dass es nie wieder vorkommen und ich mich bessern würde. Dazwischen streue ich viele Entschuldigungen ein. Ich verspreche sogar, mit dem Rauchen aufzuhören, obwohl das gar nichts damit zu tun hat.
Mam reagiert nicht.
«Bitte, Mam!»
Lange schweigt sie. Als sie Luft holt, zittert sie leicht. «Ich dachte, wir hätten das alles hinter uns. Warum, Christopher? Warum setzt du alles aufs Spiel? Was ist es diesmal? Wieder Einbrüche? Oder hast du dir etwas Neues einfallen lassen?» Sie schluckt. «Ich habe geglaubt, dass du aus deinen Fehlern gelernt hast. Offensichtlich habe ich mich getäuscht. Aber genug ist genug. Diesmal musst du selber schauen, wie du deinen Kopf aus der Schlinge ziehst. Mein Leben lang habe ich alles für dich getan. Statt dich zu bedanken, machst du mir nur Kummer. Habe ich das verdient?»
Das ist eine Fangfrage. Wenn ich Ja sage, geht sie in die Luft. Wenn ich Nein sage, gebe ich ihr einen Grund, weiter über mich herzuziehen. Also halte ich den Mund. Ich fixiere einen Punkt am Boden und starre so lange darauf, bis ich ihre Stimme nicht mehr höre.
Hätte mein Handy nicht geklingelt, wäre ich noch ewig so dagesessen. Als ich den vertrauten Klingelton höre, beginnt mein Herz zu hämmern. Was soll ich dem Russen sagen? Soll ich lügen und ein Treffen vereinbaren? Was, wenn er Lily irgendwo versteckt und zuerst die Kohle sehen will?
«Chris!», zischt Julie.
Ich fische das Handy aus meiner Hosentasche. Dabei verfangen sich meine Finger im Kabel des Kopfhörers, sodass sowohl Handy als auch Kopfhörer zu Boden fallen. Als ich mich bücke, schiesst mir das Blut in den Kopf und löst eine neue Schmerzwelle aus.
«Chris?», erklingt eine Mädchenstimme. «Ich bin’s, Nic. Ich bin immer noch in Erlenbach. Meine S-Bahn fährt in fünf Minuten. Ich habe etwas Geld aufgetrieben, aber nicht viel, sorry. Ladina ist weg. Sie hätte uns bestimmt mehr gegeben.»
Trotz der schlechten Nachricht fällt mir auf, dass Nic von «uns» spricht. Ich hatte nie viele Freunde. Ausser Leo eigentlich keinen einzigen. Kollegen, ja. Aber das ist nicht das Gleiche. Dass das heisseste Mädchen der Stadt zu mir hält, wenn ich in Schwierigkeiten stecke, macht mir Mut.
«Wie läuft’s bei euch?», fragt Nic.
«Geht so.»
«Treffen wir uns am Bahnhof? Ich könnte um 12.30 Uhr dort sein. Dann schauen wir weiter.»
«Okay.»
«Leo chattet gerade mit Kollegen des Russen. Er wird die Adresse rauskriegen», sagt sie.
«Kein Russe verrät einem Shipi etwas», widerspreche ich.
«Leo hat ein Pseudonym.»
Davon hat er mir nie etwas erzählt. Da Leo wie ich auf Bewährung ist und total Panik hat, nach Kosovo ausgeschafft zu werden, lässt er sich in nichts reinziehen. Er hat früher mal mit dem Taxi seines Vaters eine Spritztour gemacht, und das hat ihm eine Anzeige eingebracht. Dasselbe wiederholte er mit einem Motorboot, aber nur, weil jemand eine Freundin von ihm übel zugerichtet hatte und über den See abgehauen ist.
Nachdem ich auf «Aus» gedrückt habe, stehe ich auf und gebe Julie ein Zeichen.
«Wo gehst du hin?», fragt Mam.
Ich deute zur Tür.
«Christopher!»
«Muss los.»
Sie redet auf mich ein von wegen Verantwortung und solchem Scheiss. Ich hab keinen Bock, ihr zuzuhören. Nicht, nachdem sie mich einfach hängengelassen hat. Julie verabschiedet sich höflich, in dieser Beziehung ist sie wie Leo. Das ist eine Gewohnheit. Genauso, wie ich in der Küche immer meinen Arbeitsplatz putze, bevor ich Feierabend mache. Das hat man mir im ersten Lehrjahr eingetrichtert.
Julie folgt mir mit gesenktem Kopf. Draussen zieht sie ihre Kapuze hoch, obwohl ihre Haare schon nass sind.
«Hey», sage ich.
Sie schaut mich traurig an.
Ich räuspere mich. «Danke.»
«Wofür?»
«Alles.»
«Ich war keine grosse Hilfe.»
Auf dem Weg zum Bus überlege ich, was Nic wohl mit «nicht viel» Geld meint. Immerhin ist sie an der Goldküste aufgewachsen. Plötzlich kommt mir ihr Vater in den Sinn. Er sitzt wegen Betrugs im Knast. Wenn jemand weiss, wie man rasch Geld auftreiben kann, dann er.
Nic wartet schon. Sie verlagert ihr Gewicht ungeduldig von einem Fuss auf den anderen. In ihren hautengen Jeans sieht sie aus, als würde sie tanzen. Julie stürzt sich sofort auf sie und erzählt vom Tramunfall. Es aus ihrem Mund zu hören, klingt viel schlimmer, als es in Wirklichkeit gewesen ist. Zum Glück erwähnt sie nicht, wie ich gejault habe, als Mam mein Nasenbein gerichtet hat.
«Nic», unterbreche ich Julies Redeschwall. «Wie viel hast du zusammenbekommen?»
Sie zieht einige Noten hervor. «180 Franken.»
«Danke.»
Sie zuckt mit den Schultern. «Es fehlen immer noch 680.»
«Was ist mit deinem Dad?»
«Mark? Was soll mit ihm sein?»
«Er kennt sich mit Geld aus.»
Nic lacht ungläubig. «Du willst wissen, ob er mir irgendwelche Tricks verraten hat?»
Julies Augen werden rund.
Nic schüttelt den Kopf. «Vergiss es.»
«Kannst du ihn nicht wenigstens fragen?»
«Glaub mir, auch wenn er etwas wüsste, mir würde er es zuletzt sagen. Ausserdem kann ich ihn nicht anrufen.»
Das hätte ich mir denken können. Dort, wo er eingesperrt ist, sitzen nur Typen, die ziemlichen Mist gebaut haben. Die dürfen nicht einfach telefonieren, wenn ihnen danach ist. Von Leo weiss ich, dass Nic ihren Vater regelmässig besucht. Nach der Einbruchstour verbrachte ich eine Nacht im Polizeigefängnis. Als Häftling, nicht als Besucher. Ich habe kein Auge zugetan. Freiwillig würde ich nie hingehen.
Eine Frau mit Kinderwagen flüchtet unters Dach, um vor dem Regen Schutz zu suchen. Sie bleibt neben uns stehen und geht in die Knie. Mit einer Hand hebt sie das Regenverdeck an, mit der anderen zieht sie die Jacke ihres Kindes gerade. Die ganze Zeit plätschert ihre Stimme wie ein Bach. So redet der Russe bestimmt nicht mit Lily. Plötzlich ist mir zum Weinen zumute.
«Lu ist draussen», sagt Nic langsam, den Blick auf den Kinderwagen gerichtet.
«Wer ist Lu?», fragt Julie.
«Ein Freund von Mark. Sie haben immer zusammen Tischtennis gespielt. Vor einer Woche ist er entlassen worden.» Sie schiebt sich eine Haarsträhne hinters Ohr. «Mark will später mit ihm ins Hotelgeschäft einsteigen. Sie haben einen Businessplan aufgestellt.»
Ich weiss zwar nicht, was ein Businessplan genau beinhaltet, aber es klingt nach Geld. «Hast du seine Adresse?»
«Er hat mir ein Paket von Mark geschickt. Dort stand der Absender drauf. Mit dem Tram wäre ich in zwanzig Minuten dort.»
«Glaubst du, er würde dir Geld leihen?», fragt Julie hoffnungsvoll.
«Lu ist der beste Freund, den mein Vater je hatte. Mark sagt, alle anderen seien nur an seinem Vermögen interessiert gewesen.»
Dass man im Knast Freunde findet, habe ich noch nie gehört. Aber wenn das so ist, hilft uns dieser Lu vielleicht. Ausserdem versteht er sicher, dass die Dinge manchmal anders kommen, als man plant. Ich will mit Nic gehen, aber sie hält mich zurück.
«Es bringt nichts, wenn du mitkommst. Versuch lieber, deine Kollegen zu erreichen.»
Plötzlich habe ich einen Geistesblitz. «Ich könnte schauen, wer im Hotel Dienst hat. Zwei Küchenhilfen sind ziemlich gut drauf. Vielleicht leihen sie mir was.»
«Super», meint sie.
Wir beschliessen, dass Julie mit Nic geht. Ich kreuze im Hotel besser alleine auf. Es ist ein 5-Stern-Hotel, die lassen nicht jeden herein. Es hat mich erstaunt, dass ich dort eine Lehrstelle gefunden habe, mit meiner Vergangenheit. Mir ist heute noch nicht klar, warum. Nach der Schule habe ich zuerst eine Malerlehre begonnen, weil ich gerne zeichne. Ich wusste zwar, dass Wände streichen nicht das Gleiche ist, aber die Kunstschule konnte ich vergessen. Dafür muss man zuerst ins Gymnasium. Keine Ahnung, warum. Für Mam war immer klar, dass ich die Matura machen würde. Sie hat sich nur nie überlegt, dass man dafür ziemlich schlau sein muss, so wie Julie. Als mein Lehrer sagte, dass ich mit meinen Vornoten keine Chance hätte, die Aufnahmeprüfung zu bestehen, engagierte Mam einen Privatlehrer. Stundenlang musste ich mit ihm pauken. Zum Glück sah der Typ bald ein, dass es aussichtslos war. Mich interessieren Gleichungen oder die Kriege der Römer einfach nicht. Ich will auch keine Bücher lesen, in denen sich die Sätze über ganze Seiten erstrecken. Wenn ich am Schluss ankomme, habe ich den Anfang längst vergessen.
Ich fand eine Lehrstelle als Maler und dachte, ich hätte das grosse Los gezogen. Aber ich war nach der Arbeit jeweils so fertig, dass ich morgens regelmässig zu spät kam. Gemalt habe ich nicht viel. Ich musste hauptsächlich Farbkübel schleppen und Böden abdecken. Nach zwei Monaten gab ich auf. Ich erinnere mich noch genau an den Tag. Auf dem Weg zur Arbeit hörte ich die «Gorillaz». «I’m happy, I’m feeling glad», sangen sie entspannt, während ich vor Frust kaum die Füsse heben konnte. Ich drehte mir einen Joint, und schon nach einigen Zügen fühlte ich mich wie in Watte gepackt. Klar ist es Scheisse, sich mit Drogen zuzudröhnen. Ich bin nicht stolz darauf, dass ich keinen anderen Ausweg sah. Als die «Gorillaz» von der Zukunft zu schwärmen begannen, sah ich das Leben plötzlich mit anderen Augen. «I’m useless, but not for long, a future is coming on.» An der Stelle, wo es hiess: «Finally someone let me out of my cage», blieb ich stehen. Ich wollte auch aus meinem Käfig heraus. Mam bekam fast einen Herzinfarkt, als mein Chef anrief und sagte, ich sei nicht zur Arbeit erschienen.
Die nächsten Monate wurde es zu Hause recht ungemütlich. Ich hing immer öfters mit einem Kollegen ab, den ich von früher kannte. Als wir es satt hatten, uns nichts leisten zu können, kam Timon auf die Idee mit den Einbrüchen. Zuerst fand ich es toll, so viel Bares zu haben. Doch Timon ging immer grössere Risiken ein. Ausserdem kümmerte es ihn nicht, wenn andere auf der Strecke blieben. Als er eine Katze in den Kühlschrank sperrte, wollte ich aussteigen. Da drohte er, mich fertigzumachen. Kurz darauf wurden wir erwischt. Timon steckten sie in ein Erziehungsheim. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört. Er ist einfach verschwunden, wie das Badewasser, wenn man den Stöpsel zieht. Lily ist jedesmal völlig überrascht. Aber ich weiss, dass das Wasser irgendwo wieder rauskommt. Timon wird wieder auftauchen.
Ich bin schon fast beim Hotel, als Leo anruft. «Hey, Indianer, good news! Ich hab die Adresse!»
«Echt?»
«Seid ihr noch am Bahnhof?»
«Bin auf dem Weg ins Hotel.» Ich erzähle ihm, dass wir nur noch 680 Franken brauchen.
«Wo sind Julie und Nic?»
«Im Zweier.»
«Warum? Wo fahren sie hin?»
«Nic kennt einen Typen, der entlassen wurde und Kohle hat.»
Am anderen Ende ist es still.
Ich will schon fragen, ob Leo noch dran ist, als er losschreit: «Du hast die Mädchen zu einem Ex-Knasti geschickt? Alleine? Spinnst du?»