Читать книгу Delete - Petra Ivanov - Страница 8

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10:42

Ich sitze auf dem Sofa und wiederhole die Geschichte. Julie hat die Hand vor den Mund geschlagen, Nic kaut auf ihrer Unterlippe. Leo kann nicht stillsitzen. Er geht ans Fenster, dann zum Sessel, dann wieder ans Fenster.

«Du musst zur Polizei!», stösst Nic aus.

«Wenn er das macht, kommt er wegen Dealen dran!», entgegnet Leo.

Nic wird laut. «Soll er deswegen das Leben seiner Schwester aufs Spiel setzen?» Sie schaut mich an. «Das hast du nun vom Kiffen! Ich hab dir immer gesagt, dass es bescheuert ist!»

«Der Russe tut ihr bestimmt nichts», widerspricht Leo. «Er will nur die Kohle. Sobald er sie hat, gibt er Lily zurück. Er ist ja nicht völlig durchgeknallt.»

«Und wo treiben wir so viel Geld auf?», will Nic wissen.

Julie schleicht aus dem Raum.

Mein Hirn hat sich ausgeklinkt, dafür nehme ich Sachen wahr, die mir vorher nie aufgefallen sind: den Geruch von Teppichputzmittel; das Brummen der Stehlampe neben mir. Wir hatten zu Hause eine ähnliche Lampe, als mein Vater noch bei uns wohnte. Das heisst, die Lampe sah anders aus, aber sie hat ähnlich gesurrt. Wenn die Luft zwischen meinen Eltern zu dick wurde, kroch ich hinters Sofa. Dort war die Lampe besonders laut. Ich stellte mir vor, sie wäre ein Raumschiff voller Aliens und ich der Einzige, der von der Landung wusste. Das Schicksal der Menschheit lag in meiner Hand. Zum Glück stimmte es nicht. Die Menschheit wäre längst ausgerottet. Ich kann nicht einmal auf Lily aufpassen.

Plötzlich ist Julie wieder da. Sie streckt mir etwas entgegen.

«Mehr habe ich leider nicht», flüstert sie.

Es sind 80 Franken.

Leo und Nic hören auf zu streiten. Leo flucht leise, kramt in seinen Hosentaschen und zieht einige Münzen hervor. Nic steuert 20 Franken bei.

«Hast du das Flugticket schon gekauft?», fragt Leo.

«Gestern», antwortet Nic.

«Blieb etwas übrig?»

Nic starrt auf ihre Füsse. «Damit habe ich die Prüfungsgebühren bezahlt.»

Deshalb ist Leo pleite. Dass er Nics Reise nach New York bezahlt hat, kommt mir so vor, als habe er absichtlich ein Eigengoal geschossen. Der BMW hätte ihn wenigstens über Nic hinweggetröstet.

«Jetzt fehlen nur noch 860 Franken», sagt Julie. «Überlegen wir lieber, wie wir das Geld zusammenbekommen.»

So ruhig habe ich Julie noch nie erlebt. Kein Quietschen, kein Hüpfen, nichts. Sie steht einfach da und schaut uns an.

Langsam nickt Nic. «Chris, hat der Russe gesagt, wann er das nächste Mal anruft?»

Ich schüttle den Kopf.

«Hört alle mal zu. Wir teilen uns auf: Ich fahre nach Erlenbach. Meine alten Freunde leihen mir bestimmt was. Leo, du setzt dich an deinen PC und findest alles heraus, was es über den Russen zu wissen gibt.» Sie schaut mich an. «Weisst du, wo er wohnt?»

Wieder schüttle ich den Kopf. «Kenne seine Schule.»

«Das nützt uns nichts, heute ist Samstag. Wie hast du ihn kontaktiert, als du ihn angepumpt hast?»

«Über einen Kollegen.»

«Gib Leo die Nummer.» Sie schaut Leo an. «Wenn du fertig bist, rufst du diesen Kollegen an und tust so, als bräuchtest du Geld.»

Ich verstehe nicht, wozu das gut sein soll. Als ich Nic frage, erklärt sie, dass wir auf zwei Schienen gleichzeitig fahren müssten: Geld auftreiben und Lily suchen. Der Kollege werde uns zum Russen führen. Und der Russe zu Lily.

«Und ich?», fragt Julie.

«Du bleibst bei Chris, falls der Russe wieder anruft. Ihr könnt versuchen, die anderen Köche zu erreichen. Vielleicht hat jemand doch frei.»

Endlich schaltet sich mein Hirn wieder ein. Ich schlage vor, zu Mam zu fahren. Vielleicht leiht sie mir das Geld. Nic findet die Idee gut. Sie will, dass Julie mit mir geht. Ich glaube, sie traut mir nicht allzu viel zu.

«Alles klar?», schliesst sie. «Dann nichts wie los.»

Es regnet immer noch. Lily mag Wasser. Manchmal setzt sich mein Vater mit ihr in die Badewanne, dann drischt sie mit den Händen auf die Wasseroberfläche ein, so dass alles nass wird. Wenn es ihr in die Augen spritzt, blinzelt sie erstaunt, als hätte sie nichts damit zu tun.

Julie klappt ihren pinkfarbenen Schirm zu und stellt sich zuvorderst hin, als das Tram kommt. Sie hat die ganze Zeit über kein Wort gesagt. Wir sind schon durch die halbe Stadt gefahren, als sie sich zu mir dreht. «Lebt Lily eigentlich bei euch?», will sie wissen. «Ich meine, bei deinem Vater und dir?»

«Nö.»

«Bei ihrer Mutter?»

An Regina habe ich bis jetzt gar nicht gedacht. Wenn sie erfährt, was passiert ist, flippt sie aus. Sie mag es sowieso nicht, dass Lily bei uns übernachtet, sie will sie immer in ihrer Nähe haben. Mein Vater hat ihr gesagt, sie solle sich entscheiden, ob sie nun Freiraum oder die totale Kontrolle wolle. Seither kommt Lily jeden Freitagabend zu uns und bleibt den Samstag über. An den anderen Tagen ist mein Vater bei Regina.

Eigentlich ist sie ganz in Ordnung. Sie nörgelt nicht andauernd, wie das viele Erwachsene tun, sondern lächelt meistens. Mich findet sie zwar nicht so toll. Wenn sie Lily hält, wird sie weich. Ihr Mund öffnet sich leicht, und die Haut unter ihren Sommersprossen nimmt die Farbe von Erdbeerglacé an. Kaum erblickt sie mich, leuchten die Sommersprossen wieder stärker. Sie presst die Lippen zusammen, bis sie fast verschwinden.

Regina ist Staatsanwältin. Das heisst, sie steht auf der Seite meines Vaters. Staatsanwälte und Bullen arbeiten zusammen. Wenn sie herausfindet, was heute geschehen ist, wird sie bestimmt dafür sorgen, dass ich hinter Gitter komme. Bei Lily hört ihre Freundlichkeit auf. Ich bin jetzt volljährig, da läuft also nichts mehr mit Jugendstrafrecht. Als ich damals auf Einbruchstour ging, fiel die Bestrafung ziemlich locker aus. Ich musste mit einem Sozialarbeiter quatschen, ein Jugendanwalt hat mir einen Arbeitseinsatz aufgebrummt, und schon war ich wieder draussen. Allerdings nur auf Bewährung. Diesmal komme ich nicht so leicht davon.

Ich versuche, nicht daran zu denken, was passiert, wenn ich Lily zu spät zurückbekomme. Aber je mehr ich die Vorstellung verdränge, desto konkreter wird sie. Es ist wie bei einem Pickel: Je mehr man daran herumdrückt, desto grösser wird er.

«Geht Nic echt nach New York?», frage ich Julie.

Ihr Kinn klappt nach unten. Ich weiss nicht, warum meine Frage sie überrascht. Sie nickt und erzählt mir von der DVD, die Nic eingeschickt hat. Für das Auswahlverfahren musste sie ihren Lebenslauf vortanzen, was immer das heissen soll. Da hat sie zu «Etno Engjujt» Ballett getanzt. Das ist ein albanischer Rapper, den Leo mag. Offenbar fand das die Jury cool, nun darf sich Nicole live vorstellen.

«Für Leo ist es ziemlich hart», seufzt Julie. «Aber echte Liebe übersteht auch eine Trennung.»

Über echte Liebe weiss ich nichts, dafür über New York. Mam und ich sind mal zum Christmas Shopping dort gewesen. Ich glaube nicht, dass Nic freiwillig zurückkommen wird. Aber das sage ich Julie nicht.

Sie holt Luft, um etwas zu sagen. Bevor sie loslegen kann, erklingt ein schrilles Läuten.

Es kracht, ich werde nach vorne geschleudert, pralle mit dem Gesicht gegen eine Stange. Julie kreischt auf, hinter uns wettert ein Mann gegen die verdammten Ausländer, die durch die Stadt rasen. Im hinteren Teil des Wagens ist eine Frau gestürzt. Orangen rollen unter den Sitzen durch.

Ich stehe auf, um zu sehen, was los ist. Mich durchzuckt ein heftiger Schmerz. Als ich nach Luft schnappe, tut es noch mehr weh. Julie hängt sich an meinen Arm und redet auf mich ein. Die anderen Passagiere drängen sich ans Fenster. Auf der Strasse steht ein grauer Toyota quer über der Fahrbahn. Die Kühlerhaube hat sich in die Seite des Trams gebohrt. Am Steuer sitzt ein grauhaariger Mann, der auf mich ziemlich schweizerisch wirkt. Er trägt eine wollene Jacke, darunter ein braunes Hemd, das sich an der Schulter langsam rot färbt.

Durch den Aufprall hat sich meine Musik eingeschaltet. Ich stülpe mir den Kopfhörer über die Ohren. Julie bewegt meinen Arm auf und ab, als wäre ich eine Wasserpumpe. Jedesmal jagt mir der Schmerz durch den Kopf. Sie deutet auf die Tür. Stolpernd folge ich ihr. Als sie auf den Knopf drückt, passiert nichts. Ihre Lippen bewegen sich schnell. Jemand hat auf Fast Forward gedrückt.

Julie ist nicht die Einzige, die raus will. Aber die Türen bleiben verschlossen. Trotz Musik nehme ich Polizeisirenen wahr. Auf einmal wird mir eiskalt: Was, wenn mein Vater aufgeboten wird? In Panik werfe ich mich auf den Boden, damit man mich von aussen nicht sehen kann. Überall bewegen sich Füsse.

Von meinem Versteck hinter dem Sofa hatte ich als Kind ein ähnliches Blickfeld. Füsse sagen genauso viel wie Worte. Damals waren es vor allem Mams Füsse gewesen, die sich bewegten. Sie steckten in Absatzschuhen und führten einen seltsamen Tanz auf, als wäre der Boden unter ihnen heiss. Ich konnte Mams Wut spüren, ohne sie zu sehen. Die Füsse meines Vaters hingegen waren ganz ruhig. Nicht einmal seine Zehen wackelten. Zu Hause läuft er meist barfuss herum. Mam hat sich immer darüber geärgert.

Auch jetzt stehen einige Füsse ganz still, während andere von einem Punkt zum nächsten hüpfen. Julies bewegen sich am schnellsten. Sie geht neben mir in die Knie und schiebt mir die Kopfhörer von den Ohren.

«Chris! Mein Gott! Du bist verletzt! Hier, nimm das Taschentuch! Ist dir schwindlig? Hast du Kopfschmerzen? Wo tut’s dir sonst noch weh? Kannst du aufstehen? Kannst du überhaupt reden?»

Wie auch, wenn sie dauernd Fragen stellt?

«Chris? Sag etwas!»

«Easy», murmle ich.

Erleichtert seufzt sie auf. «Ich dachte, du bist in Ohnmacht gefallen! Wegen des Bluts. Kannst du aufstehen?»

Blut? Erst jetzt merke ich, dass mir etwas Warmes in den Mund rinnt. Ich fahre mit dem Handrücken darüber. Es ist tatsächlich Blut. In dem Moment beginnt der Lautsprecher zu knistern, und eine Stimme erklärt, dass wir einen Unfall hatten. Das habe sogar ich gemerkt, und ich bin bekanntlich nicht der Schnellste. Der Tramfahrer bittet alle Passagiere, sitzen zu bleiben, bis die Polizei die Aussagen aufgenommen habe. Kaum ist er verstummt, öffnen sich die Türen.

Auf allen Vieren krieche ich zum hintersten Ausgang. Mein Gesicht schmerzt höllisch, und ich frage mich, ob etwas gebrochen sei.

«Wo gehst du hin?», ruft Julie. «Chris! Der Tramfahrer hat gesagt …»

«Julie, halt die Klappe!»

Als ich ihren geschockten Ausdruck sehe, tut es mir leid. Aber wenigstens ist sie jetzt still. Draussen presse ich mich gegen die Längsseite des Trams. Stadteinwärts leitet ein Polizist den Verkehr um. Schräg gegenüber befindet sich ein Quartierladen, vor dem sich Menschen versammelt haben und gaffen. Ich spurte geduckt über die Strasse und höre, wie Julie mir folgt. Niemand beachtet uns. Wir mischen uns unter die Leute. Da alle nach vorne drängeln, werden wir nach hinten gedrückt. Ich löse mich aus der Menge und schleiche zu einem Weg, der zwischen den Häuserblocks durchführt. Julie ziehe ich mit, sie leistet keinen Widerstand. Wir sind schon in der nächsten Querstrasse, als sie plötzlich stehen bleibt.

«Was hast du vor? Wo gehen wir hin?»

«Es sind nur noch zwei Stationen bis zur Endhaltestelle», erkläre ich. «Dort nehmen wir den Bus.»

Sie schnieft und blickt zurück. In der Ferne hören wir Sirenen. Es hört nicht auf zu regnen, Julies braunes Haar ist vor Nässe dunkel. Ihr Schirm liegt im Tram. Ich frage mich, ob der Russe weiss, wie das Regenverdeck des Kinderwagens funktioniert.

Wir sind schon fast an der Endhaltestelle angelangt, als mein Handy läutet.

Es ist nur Leo. «Hey!», begrüsst er mich. «Ich habe mich bei der Kontaktperson gemeldet. Aber ich kann den Russen erst heute Abend treffen.»

«Das ist zu spät!»

«Entweder ist er nicht flüssig, oder er ist mit Lily beschäftigt. Ich habe trotzdem abgemacht. 21 Uhr am Hauptbahnhof.»

«Bis dann ist mein Vater längst zurück!»

«Das ist nur Plan B. Ich verfolge eine heisse Spur im Netz. Gib mir noch ein bisschen Zeit. Ich finde die Adresse heraus, versprochen! Wie läuft’s bei euch? Hat sich Nic gemeldet? Bist du schon bei deiner Mutter?»

Ich erzähle ihm, was geschehen ist. Er flucht leise. Ich stelle mir vor, wie er hin- und hergeht, das Handy am Ohr, den Ellenbogen abgewinkelt.

«Halt durch, Indianer, wir schaffen das!», macht er mir Mut.

Ich nicke und löse damit eine neue Schmerzwelle aus. Ich muss das Blut wegwaschen, so kann ich unmöglich in den Bus.

Zwischen den Häuserblocks sehe ich einen Spielplatz. Ich steure darauf zu, weil es dort oft Brunnen gibt.

Julie hat wieder begonnen, auf ihren Fingernägeln herumzukauen. «Meinst du, der Fahrer ist tot?», flüstert sie.

Einen Moment lang begreife ich nicht, welchen Fahrer sie meint. Erst dann sehe ich den alten Mann im Auto wieder vor mir.

Neben dem Sandkasten steht tatsächlich ein Brunnen, aber er ist abgestellt. Der Ablauf ist mit Blättern vollgestopft, Regenwasser hat sich am Boden gesammelt. Ich mache mein Taschentuch nass und tupfe mir die Nase ab. Mir wird sofort schwindlig.

«Lass mich», sagt Julie. Sie kramt ein frisches Taschentuch hervor und taucht es ins Wasser.

Ich muss fast vor ihr auf die Knie gehen, damit ich auf gleicher Höhe bin wie sie. Sorgfältig wischt sie mir das Blut aus dem Gesicht.

Es fühlt sich an, als würde sie mir mit einem Hochdruckreiniger die Nase säubern. «Deine Nase ist geschwollen», stellt sie fest. «Du musst zum Arzt!»

«Später», nuschle ich.

Ich mache mich auf einen Proteststurm gefasst, doch er bleibt aus.

Stattdessen nimmt Julie meine Hand. Normalerweise hat sie kaum einen Blick für mich übrig. Sie taucht ein neues Taschentuch ins Wasser und wischt mir das Blut vom Handrücken weg.

Dass ich glaubte, sie wolle meine Hand halten, ist mir peinlich. Rasch schiebe ich mir die Kopfhörer über die Ohren.

Julie wirft die Papiertaschentücher weg und marschiert Richtung Strasse. Mir kommt es vor, als seien meine Schuhsohlen mit Blei gefüllt. Nur meine Nase fühlt sich lebendig an.

Der Bus wartet schon. Der Fahrer steht auf der Strasse und raucht, also brauchen wir uns nicht zu beeilen. Trotzdem steigen wir sofort ein. Julie lässt sich auf einem Fensterplatz nieder, ich setze mich hinter sie. Der Regen rinnt die Scheibe hinunter. Mein Blick bleibt an einem Tropfen hängen, der sich nicht entscheiden kann, wohin er will. Ganz langsam bahnt er sich einen Weg nach unten, doch bevor er die Fensterdichtung erreicht, löst er sich auf. Das möchte ich auch können. Mich einfach auflösen und von der Erdoberfläche verschwinden.

Als der Chauffeur den Motor startet, streift mein Blick die Uhr an der Haltestelle.

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