Читать книгу Der himmlische Weihnachtshund - Petra Schier - Страница 9
Оглавление4. Kapitel
Ein wenig außer Atem schloss Fiona Maier die Tür zu ihrer Praxis auf und schälte sich aus ihrem Mantel. Es war bitterkalt an diesem Morgen und den Weg zur einzigen Bäckerei, die so früh schon geöffnet war, hatte sie im Laufschritt zurückgelegt. Die Tüte mit den Brötchen und Croissants, die sie jeden Tag für sich und ihre Sprechstundenhilfe besorgte, legte sie auf dem Anmeldetresen ab. Dabei fiel ihr Blick auf die blinkende Anzeige ihres Anrufbeantworters. Das Display zeigte an, das der Anrufer gerade eben erst versucht haben musste, sie zu erreichen.
Stirnrunzelnd drückte sie auf die Wiedergabetaste. Hoffentlich nicht gleich ein Notfall so früh am Morgen! Doch wer auch immer versucht hatte, sie zu erreichen, er hatte einfach wieder aufgelegt. Die Handynummer kam ihr nicht bekannt vor, also dachte sie nicht weiter darüber nach. Erneut griff sie nach der Brötchentüte und trug sie nach hinten in die kleine Küche.
Während sie Kaffee aufsetzte, ging sie in Gedanken die Termine des Tages durch und machte sich eine imaginäre Notiz, endlich den Brief an die Firma Sahler Futtermittel abzuschicken. Sie wusste selbst nicht, warum sie noch immer zögerte. Mehr als ablehnen konnten sie ihr Anliegen ja nicht. Wenn sie ehrlich zu sich war – und das vermied sie in diesem speziellen Fall zumeist –, dann musste sie sich eingestehen, dass es außer ihrer Angst vor einer Absage noch einen anderen Grund gab, weshalb sie die Kontaktaufnahme immer wieder hinausschob. Es war derselbe Grund, der sie erst hatte zögern lassen, das Angebot anzunehmen, diese Praxis in der Stadt ihrer Kindheit zu führen. Es war kindisch, das sagte sie sich, sooft der Gedanke doch an die Oberfläche ihres Bewusstseins gespült wurde. Leider war das weder Trost noch Motivation für sie. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, und ganz gleich, wie sehr sie sich auch einredete, dass dazu keinerlei Grund bestand, ließ es sich doch nicht einfach ablegen.
Um sich von den wenig nützlichen Gedanken abzulenken, leerte sie die Brötchen und Hörnchen in einen kleinen Brotkorb und stellte ihn auf die Anrichte. Wenn Inge nachher kam, würde sie sich wie immer zuerst davon bedienen, bevor sie sich an die täglichen Arbeiten machte. Fiona wollte gerade eines der Vollkornbrötchen aufschneiden und mit Butter bestreichen, als sie hörte, wie die Eingangstür geöffnet wurde. Sie fluchte stumm, weil sie wieder einmal vergessen hatte, sie abzuschließen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es erst zwanzig vor acht war.
»Hallo? Ist jemand da?« Hörte sie eine angenehm dunkle Männerstimme rufen. Dann etwas leiser: »Schon gut, schon gut, du brauchst keine Angst zu haben, Kleine. Dir passiert schon nichts. Julia hat gesagt, dass die Frau Doktor eine ganz Nette ist.«
Fionas Mundwinkel zuckten belustigt. Rasch legte sie Brötchen und Messer beiseite, klopfte sich die Krümel von den Händen und eilte nach vorne. »Guten Morgen. Entschuldigen Sie bitte, aber eigentlich hat die Sprechstunde noch nicht be…« Sie stockte, als sie sah, wer der frühe Besucher war. Wenn sie ihm auch seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr gegenübergestanden hatte, erkannte sie ihn dennoch auf den ersten Blick. Nicht zuletzt, weil er durch diverse Werbespots, Plakate sowie öffentliche Auftritte von sich Reden gemacht hatte. Ihr Herz machte einen unangenehmen Satz und holperte danach unregelmäßig. Sie schluckte und riss sich zusammen. »Hallo, Michael.« Da ihre Stimme ein wenig kratzig klang, räusperte sie sich und konzentrierte sich dann auf den kleinen Hund, den er im Arm hielt. »Wen hast du denn da mitgebracht?«
»Entschuldigen Sie, kennen wir uns?« Irritiert musterte er sie von Kopf bis Fuß. Offenbar hatte er sich nicht die Mühe gemacht, das Namensschild neben ihrer Tür zu lesen. Er schien angestrengt zu versuchen, ihr Gesicht einzuordnen. Sie konnte den Moment geradezu spüren, in dem die Erkenntnis ihn durchfuhr. »Fiona?« Ungläubig starrte er sie an. »Bist du es wirklich?«
»Live und in Farbe«, bestätigte sie spröder als beabsichtigt und strich sich mit der linken Hand ihr kinnlanges brünettes Haar hinters Ohr. Dann fiel ihr Blick erneut auf das inzwischen zappelnde Bündel auf seinem Arm. »Liebe Zeit, lass sie doch runter. Sie kann doch selbst laufen. Oder ist sie verletzt?«
Sichtlich verdutzt über ihren kühlen Ton ließ er den jungen Labrador tatsächlich zu Boden. »Nein, sie ist nicht verletzt. Zumindest hoffe ich das. Ich habe sie eben gefunden – in einer Mülltonne.«
»Was?« Entsetzt ging Fiona in die Hocke. Sofort tapste die kleine Hündin auf sie zu, beschnupperte sie und leckte ihr über die ausgestreckte Hand. »In was für einer Mülltonne? Wo? Das muss ich sofort melden!«
»Oben auf der Rosenstraße hundertdreißig«, antwortete Michael. Sein Blick wanderte noch immer verwundert über ihr Gesicht. »Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass jemand von dort den Hund ausgesetzt hat. Das ist ein Altenheim.«
»Schon möglich, aber trotzdem muss ich … Hey!« Lachend wehrte Fiona die Hündin ab, die versuchte, an ihr hochzuklettern. Schnell richtete sie sich wieder auf. »Es ist gut, dass du sie hergebracht hast. Ich kümmere mich um sie und werde sie dann später vom Tierheim abholen lassen.«
Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, als der kleine Hund jämmerlich zu wimmern und zu jaulen begann und wie der Blitz unter einen der Stühle im Wartebereich floh.
»Nanu?« Verblüfft hob sie die Brauen. »Was sollte das denn?«
Michael zuckte die Schultern. »Als ich das Wort Tierheim vorhin zu ihr gesagt habe, ist sie auch fast ausgeflippt. Beinahe so, als verstünde sie, was damit gemeint ist. Das scheint ihr nicht zu gefallen.«
Skeptisch sah Fiona ihn an. Dabei fielen ihr der feuchte Fleck und die schmutzigen Pfotenabdrücke auf seinem Sweatshirt auf, und sie musste an sich halten, um das Grinsen zu unterdrücken, das sich ihr auf die Lippen stehlen wollte.
Er folgte ihrem Blick und räusperte sich verlegen. »Wie gesagt, sie steckte in dem Container.«
»Und sie hat dich angepieselt.«
Vor Freude, Leute, nur vor Freude, endlich aus dem stinkenden Loch herauszukommen! Tut mir leid, so was passiert mir sonst nicht. Vielleicht sollte ich unter dem Stuhl vorkommen und mich noch mal entschuldigen. Seht ihr, hier bin ich. Und ich bin auch ganz brav und stubenrein. Na ja, fast. Und hier riecht es irgendwie gut nach Brötchen. Gibt es was zu fressen? Ich habe solch einen Hunger!
»Sieh dir das an. Sie bettelt um deine Aufmerksamkeit.« Fiona blickte halb entzückt, halb gereizt auf die Hündin hinab. »Aber das scheint ja symptomatisch zu sein. Sie ist schließlich weiblich.«
»Wie bitte?« Irritiert blickte Michael sie an. »Was soll das denn heißen?«
»Ach, komm schon!« Fiona funkelte ihn an, und diesmal siegte der Ärger. »Tu nicht so, als wüsstest du nicht, dass dir die Frauen zu Füßen liegen. Man kann es oft genug in den Klatschblättern lesen. Der Erbe des Sahler-Imperiums und sein Harem.«
Michaels Miene verfinsterte sich. »Also, Imperium ist wohl ein wenig übertrieben, findest du nicht? Und einen Harem besitze ich auch nicht.«
»Nein, zumindest bisher hast du die Damen nicht gleichzeitig bespaßt, sondern nacheinander verschlissen«, gab sie widerwillig zu. »Aber«, fuhr sie fort, bevor er etwas erwidern konnte, »das geht mich nichts an und interessiert mich auch nicht. Wichtig ist, dass wir etwas für die Kleine hier tun. Komm mal her, Süße.« Sie hob nun ihrerseits den Welpen hoch und trug ihn ohne ein weiteres Wort hinüber in eines der Behandlungszimmer. Dort setzte sie das Tier auf den Untersuchungstisch und ließ diesen langsam hochfahren, bis er sich für sie auf Arbeitshöhe befand. Michael war ihr gefolgt. Sie winkte ihn näher. »Halt sie mal fest, damit sie nicht runterfällt, während ich sie untersuche.«
Routiniert tastete Fiona die kleine Labradordame ab, schaute ihr in die Ohren und in die Schnauze, maß die Temperatur. Zufrieden tätschelte sie ihr danach den Kopf. »Du scheinst ja ganz gesund zu sein. Aber du hast natürlich weder Halsband noch Hundemarke und erst recht keinen Impfpass. Sicherheitshalber werde ich also wohl alle nötigen Impfungen durchführen und einen Pass für dich anlegen. Gechipt bist du auch nicht, aber das hätte mich auch gewundert. Ich verstehe einfach nicht, wie man ein lebendiges Wesen einfach in eine Mülltonne stecken kann.«
Während sie sprach, bereitete sie die Impfdosis vor.
O nein, das ist nicht euer Ernst, oder? Nicht stechen, bitte! Hey, du, Michael, bitte rette mich vor der gemeinen Spritze! Ich tue auch alles für dich. Komm schon, das ist nicht lustig! Bitte nicht! Aua!
»Ach herrje, ein kleiner Angsthase«, sagte Fiona und konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, als sie sah, wie sich die Labradorhündin beim Anblick der Spritze heftig an Michael drängte und ihren Kopf in seiner Armbeuge versteckte. Als sie die Spritze setzte, fiepte die Kleine leise. »Schon vorbei, Süße. Siehst du. Schau mal, ich habe ein Leckerchen für dich.« Fiona griff in die Schale mit den selbstgebackenen Hundekeksen und hielt der Hündin einen vor die Nase. Er verschwand mit einem Happs in der Schnauze. »Du hast wohl Hunger, was? Möchtest du noch einen?« Sie bot der Kleinen noch einen weiteren Keks an, der ebenso rasch verschlungen war.
Hey, die sind lecker. Bitte mehr davon! Mein Magen knurrt schon. Und Durst habe ich auch. Hallo, nicht weggehen! Da in der Schale sind noch ganz viele Leckerchen, das sehe ich genau. Lass mal noch welche rüberwachsen!
»Sie ist bestimmt ausgehungert«, stellte Fiona fest und hob den Welpen vom Tisch herunter. »Ich habe hinten im Lagerraum etwas Hundefutter für alle Fälle. Normalerweise brauche ich ja nur das medizinische und Diätfutter, das einige meiner Patienten bekommen, aber zur Sicherheit habe ich immer auch normales Futter da. Man weiß nie, in welchem Zustand die Tiere hier eintreffen. Ich habe da schon Sachen erlebt …« Sie brach ab und eilte hinüber in ihre kleine Vorratskammer. Solange sie in Bewegung blieb und sich beschäftigte, musste sie sich nicht mit der Verwirrung auseinandersetzen, die Michaels Anwesenheit in ihr auslöste. Genau vor dieser Situation hatte sie sich gefürchtet, deshalb hatte sie den Brief an seine Firma noch immer in ihrer Schreibtischschublade liegen. Sie wusste einfach nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Zwanzig Jahre waren eine lange Zeit. Eigentlich müsste sie sich freuen, ihren guten Freund aus Kindertagen wiederzusehen. Wenn – ja, wenn da nicht dieses furchtbar schlechte Gewissen wäre. Außerdem sah er – trotz seines momentan nicht ganz salonfähigen Aufzugs – genauso aus wie in den Zeitschriften, in denen sie über die Jahre hinweg seine Eskapaden verfolgt hatte. Nein, er sah sogar noch besser aus mit seinen rabenschwarzen Haaren, die ihm in Wellen bis zum Kragen reichten, und den strahlend blauen Augen. Die Schatten um sein Kinn verrieten, dass er sich heute noch nicht rasiert hatte. Vermutlich hatte er das erst nach seiner Joggingrunde vorgehabt.
Energisch lenkte Fiona ihre Gedanken wieder auf das Hundefutter. Sie griff nach einem der Beutel und trug ihn hinüber in die Teeküche. Der kleine Hund folgte ihr freudig wedelnd. Michael war im Gang stehengeblieben und beobachtete jede ihrer Bewegungen schweigend.
Sie füllte eine kleine Blechschale mit dem Futter und eine weitere mit Wasser und stellte beides vor der Hündin auf den Boden. Die Kleine stürzte sich darauf, als sei sie kurz vor dem Verhungern.
»Sahler-Welpenfutter?« Er lächelte leicht.
Sie zuckte zusammen und drehte sich zu ihm um. »Ja, natürlich. Euer Tierfutter ist das Beste, das es derzeit am Markt gibt. Ich empfehle es jedem Tierhalter, der in meine Praxis kommt. Es ist nicht ganz billig, aber was die Inhaltsstoffe angeht, kann es kein anderes Futter mit eurem aufnehmen.« Sie errötete leicht. »Aber das weißt du selbst. Ist schließlich deine Firma.«
»Ich freue mich, dass du als Tierärztin unsere Produkte weiterempfiehlst«, sagte er; sein Lächeln vertiefte sich. »Du hast deinen Traum also wahrgemacht.«
»Traum?« Verblüfft sah sie zu ihm auf. Er war einen Schritt auf sie zugekommen und stand nun so dicht vor ihr, dass sie die winzigen grauen Einsprengsel in seiner Iris erkennen konnte.
»Ja, du wolltest doch schon damals immer unbedingt Tierärztin werden. Ich finde es toll, dass du daran festgehalten hast.« Er machte eine ausholende Bewegung mit der rechten Hand. »Sieh dir das an. Eine große Praxis. Und bestimmt unzählige zufriedene Patienten.«
Sie schluckte und wich einen Schritt zurück, tat so, als müsse sie sich unbedingt die Hände waschen. »Die Arbeit macht mir viel Freude«, antwortete sie nach einem Augenblick. »Und du hast die Firma inzwischen von deinem Vater übernommen?«
»Noch nicht ganz.« Er ging zur Anrichte und lehnte sich lässig dagegen. »Mein alter Herr wird sich ganz sicher noch eine Weile nicht zur Ruhe setzen. Aber das ist auch gut so. Ohne seine langjährige Erfahrung wäre ich aufgeschmissen. Aber er hat mir inzwischen große Bereiche der Leitung übertragen.«
»Das ist schön.« Sie heftete ihren Blick auf den Hund, der noch immer gierig das Futter kaute. »Du musst nicht hierbleiben, Michael. Ich kümmere mich schon um die Kleine. Gleich rufe ich erst mal im Tierheim an. Dort wird man sicher einen Platz für sie haben. Und so einen hübschen jungen Hund können sie bestimmt ganz rasch vermitteln.«
Ich höre wohl nicht recht! Ich will nicht ins Tierheim! Die Elfen haben mich gerade erst da rausgeholt! O bitte, kann ich nicht hier bleiben? Oder noch besser bei Michael. Er riecht so gut und ist groß und stark, und ich mag ihn einfach! Außerdem habe ich vom Weihnachtsmann einen Auftrag erhalten, und der ist Ehrensache.
»Sieh dir das an.« Michael blickte verblüfft auf die Hündin hinab, die bei dem Wort Tierheim sofort zu fressen aufgehört hatte. Mit einem Satz war sie bei ihm und klemmte sich zitternd und fiepend zwischen seine Beine und die Anrichte. »Als hätte sie jedes Wort verstanden.« Er ging in die Hocke und strich der Kleinen sanft übers Fell. »Du willst wohl nicht ins Tierheim, wie?«
Sogleich drückte sie ihren Kopf gegen seinen Arm und fiepte erneut. Dann hob sie den Kopf und sah ihn mit steinerweichendem Hundeblick an.
Fiona konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Sie scheint sich in dich verliebt zu haben.«
»In mich?« Seine Frage klang derart aufrichtig überrascht, dass Fiona laut lachen musste.
»Ich sage nicht, dass sie damit guten Geschmack beweist.«
»Ach nein?«
»Nein, denn wenn man deine bisherigen Geschichten mit dem weiblichen Geschlecht bedenkt, sollte man ihr unbedingt nahelegen, schnell das Weite zu suchen. Andererseits ist sie ja ein Hund, und die suchen sich die Menschen, die sie mögen, wohl nach anderen Kriterien aus als wir Zweibeiner. Du kannst aber wirklich jetzt gehen. Kosten entstehen dir keine. In einem solchen Fall übernimmt das …« Sie brach ab, da er unvermittelt ihre Hand genommen und sie zu sich herangezogen hatte.
Einen Moment lang sahen sie einander schweigend an, dann lächelte er wieder. »Fiona, ich freue mich, dass wir uns nach der langen Zeit wiedergefunden haben.«
»Wiedergefunden?« Ihre Stimme klang gefährlich kratzig. »Das würde implizieren, dass wir einander gesucht haben.« Sie schluckte unbehaglich. »Was nicht der Fall ist.«
»Vielleicht nicht«, gab er nach einem Moment zu. »Meinetwegen nenn es auch Zufall. Aber wir waren einmal beste Freunde, oder etwa nicht?«
»Ja, natürlich. Das waren wir«, gab sie zu.
»Siehst du, und für mich hat sich daran seither nichts geändert. Auch wenn wir jetzt erwachsen sind und nicht mehr auf Bäume klettern oder im Seerosenteich nach Froschlaich suchen.«
Um ihre Mundwinkel zuckte es wieder. Er hatte sie schon immer zum Lachen bringen können.
Seine Augen funkelten amüsiert. »Ich wusste es, der Froschlaich hatte es dir angetan, nicht wahr?« Mit einem Lachen legte er seine Arme um sie und zog sie fest an sich. »Komm her, nach so langer Zeit ist eine Umarmung mehr als angebracht!«
Sie sträubte sich ein wenig, erwiderte die Umarmung dann aber doch. Dabei wurde sie sich bewusst, dass er kaum noch etwas mit dem kleinen Jungen gemein hatte, mit dem sie in der Grundschule einen Tisch geteilt hatte. Sein Brustkorb fühlte sich hart an, als wäre er ein Ausdauersportler. Sein herber männlicher Geruch stieg ihr in die Nase – und noch etwas. Sie trat einen Schritt zurück. »Du müffelst nach Mülltonne.«
Noch immer lagen seine Arme auf den ihren, so als wolle er den Kontakt noch nicht unterbrechen. Dann ließ er sie aber doch los und grinste schief. »Entschuldige, daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Ich schätze, es ist besser, wenn ich nach Hause gehe und mich umziehe. Du kümmerst dich also um …« Er blickte zum Napf, doch die kleine Hündin war verschwunden. »Oh oh.«
»Was ist?« Fiona blickte sich suchend um. »Wo ist sie denn hin?« Ein Klappern ließ sie alarmiert den Kopf heben. »O je, sie ist im Behandlungszimmer!« So schnell sie konnte, rannte Fiona in den Untersuchungsraum. Als sie die Bescherung sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. Dann lachte sie herzlich.
»Was ist denn?« Michael tauchte hinter ihr auf und prallte gegen sie.
»Sie ist auf den Stuhl gesprungen und hat die Schüssel mit den Hundekeksen vom Tisch gefegt.« Fiona gluckste und hob die Schüssel rasch auf. »Böser Hund!«, schimpfte sie, aber sie wusste selbst, dass es mehr als halbherzig klang. Die Labradorhündin hatte die Kekse bis auf einen alle verputzt. Den letzten hielt sie in der Schnauze und tapste damit zu Michael. Mit einem Winseln legte sie ihm den angesabberten Keks zu Füßen.
»Na, wenn das mal kein Liebesbeweis ist.« Fiona schüttelte belustigt den Kopf. In diesem Moment hörte sie die Eingangstür. »Da kommt Inge, meine Sprechstundenhilfe.«
Augenblicke später stand eine adrette Mittvierzigerin in der Tür des Behandlungsraumes. Ihr blondes Haar war zu einer schicken Kurzhaarfrisur geschnitten, und ihre Wangen glühten rot. »Guten Morgen, Fiona. Ich wusste nicht, dass wir schon … Oh, Herr Sahler! Das ist ja …« Ihr Blick fiel auf den Hund. »Ach, wie süß. Ist das Ihrer?«
»Nein«, antwortete Michael rasch. Dann räusperte er sich. »Das heißt …«
Überrascht blickte Fiona ihn an.
Er hob die Schultern.
Ihre Augen wurden groß. »Willst du sie etwa behalten? Kennst du dich mit Hunden überhaupt aus?«
»Keine Spur.« Wieder ging er in die Hocke. Die Hündin drückte sich vertrauensvoll an ihn, leckte ihm übers Gesicht und versuchte dann, an ihm hochzuklettern. »Sie mag mich.«
»Das ist unübersehbar«, stimmte Inge entzückt zu. »Aber wem gehört sie denn, wenn nicht Ihnen?«
»Sie wurde ausgesetzt«, erklärte er. »Ich habe sie vorhin beim Joggen in einer Mülltonne vor dem Altenheim gefunden.«
»So eine Frechheit. Ein so liebes Tierchen!« Inge war die Empörung deutlich anzusehen. »Solche Menschen sollte man am besten …« Sie ließ den Satz unvollendet, aber es war nur zu klar, was sie meinte.
Fiona zögert. »Ich muss den Vorfall auf jeden Fall melden. Und dann müssen wir herausfinden, ob die Kleine jemandem gehört. Mit einer Bildanzeige in der Zeitung und vielleicht auch Plakaten. Kann ja sein, dass sie gestohlen wurde oder einfach nur abgehauen ist.«
»Und wie kommt sie dann in einen Müllcontainer?«, fragte Michael skeptisch.
Fiona hob die Schultern. »Ich sage ja nur, dass wir alle Eventualitäten berücksichtigen müssen. Gesund ist sie ja, und gepflegt sieht sie auch aus.«
»Wie alt ist sie?«, wollte er wissen.
»Etwa vier, höchstens fünf Monate, schätze ich.«
»Ich könnte sie für den Übergang zu mir nach Hause mitnehmen«, schlug er vor. »Ins Tierheim will sie ja offenbar nicht, wenn ich ihr Gebaren richtig deute.«
»Aber du musst arbeiten und hast sicher keine Zeit für einen jungen Hund«, wandte Fiona ein.
Er schüttelte den Kopf. »Lass das mal meine Sorge sein. Da findet sich schon eine Lösung.«