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Briefe an meinen Sohn.

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Mein lieber Sohn!

„Glaub mir, ich kann mir ungefähr vorstellen wie dir jetzt zumute ist!“

Diesen Satz musste ich mir vor vielen Jahren von deiner Oma anhören und damals dachte ich wütend, „was weiß die schon wie es mir geht. Die hat doch keine Ahnung.“ Und heute ringe ich um einen Satzanfang für einen Brief an dich und mir fällt nichts Besseres ein.

Deine Frau hat dich verlassen und dein Sohn sitzt nun mit einem fremden Mann am Frühstückstisch.

Ich weiß nicht einmal, ob du deine Gedanken genug beisammen halten kannst, um diesen Brief zu lesen. Hätte ich doch bloß gestern schon Worte gefunden. Wir hätten reden sollen, aber ich war sprachlos. Als du wieder fort warst, war ich erst mal total niedergeschlagen, fühlte mich unendlich müde, rat- und kraftlos. Und ich dachte, es steht mir zu. Ich dachte, ich bin 78 Jahre alt, uralt und verschlissen.

Aber heute Morgen saß ich hier an meinem Wohnzimmerfenster und dieser Ausblick, der seit zwei Jahren mein einziger Anblick ist, gibt mir plötzlich ungefragt eine andere Antwort. Ich hatte sie bloß vergessen!

Glaub mir, ich bin frisch und bei Verstand, als hätte ich die Entscheidung zum Leben ganz neu getroffen. Ich bin so aufgeregt, möchte so gerne mit dir sprechen und dir erzählen. Ich will nicht warten, bis du mich wieder besuchst. Was ich dir zu sagen habe, ist dringend!

All die Jahre reden wir bei Kaffee und Kuchen über das Wetter und andere freundliche Dinge. Anstatt ein echtes Gespräch zu finden über das, was uns wirklich bewegt. Verzeih mir! Jetzt möchte ich dich am liebsten nehmen und aufrütteln. Erst jetzt, wo du Hilfe brauchst!

Weißt du, stundenlang sitze ich in meinem Seniorenkomfortsessel und schaue hinaus. Auf der Straße herrscht unablässig Verkehr. Und im Viertelstundentakt hält die Stadtbahn an unserer Haltestelle. All das sehe ich durch das Laub der Kastanien, die vor meinen Butzenfenstern stehen. Einige Krähen hocken dort unbeirrt tagein, tagaus. Und heute Morgen dachte ich, jetzt ist Schluss. Ich habe keine Energie mehr, sie aufzuscheuchen. Die ganze Welt kam mir vergeblich und sinnlos vor.

Meine Pflegekraft will immer wieder aufs Neue überredet sein, für die ausreichende Menge Erbsen zu sorgen. - Ein schrulliger Greis, der wie ein kleiner Junge auf Vögel schießt ... Aber weißt du, Frau Mackenroths Entrüstung ist nur zu unser beider Kurzweil gespielt. In Wahrheit kann sie die Viecher auch nicht leiden. Ich weiß es, denn wann immer im angrenzenden Westfalenstadion Borussia Dortmund spielt, sich die Zeugen Jehova treffen oder sonst was in der Westfalenhalle los ist, platzt unser Parkplatz und sie muss unter den Bäumen parken. Dort dauert es nicht lang bis die Krähen ihren Fiat Punto einsauen.

Und heute Morgen fällt es mir plötzlich wieder ein! Es gibt noch einen zweiten, wichtigeren Grund, die Viecher aufzuscheuchen.

Würde ich mir nicht den Spaß machen, sie mit Erbsen zu beschießen,

gäben sie ihren Stammplatz nur zum tot runterfallen auf.

Welch eine Verschwendung von Lebenszeit angesichts ihrer Fähigkeit zum Fliegen!

Vielleicht sind uns die Krähen näher als wir denken. Du kannst mir glauben, in den letzten sieben Jahrzehnten bin ich auf vielerlei Art unter Beschuss geraten. Und eine der nicht heilen wollenden Wunden war es, von deiner Mutter verlassen und von dir getrennt worden zu sein. Es kann sein, dass Demütigungen nie ganz verwunden werden.

Glaub mir, ich kann mir vorstellen, was du durchmachst und wünschte, du könntest diese Pestzeit besser überstehen. Wenn ich bloß wüsste, wie ich dir helfen kann? Ich erzähle dir einfach von mir, vielleicht hilft das. Wo fange ich am besten an?

Wenn ich mir überlege wie wenig ich von mir gezeigt habe! Jetzt will ich den Mund aufmachen und hoffe, es ist nicht zu spät.

Bitte vergiss nie, Du bist nominiert, auf dieser Welt zu sein, kannst nicht einfach wie ein Politiker dein Amt hinschmeißen, sondern sollst dem, was dir begegnet auf eine dir ganz besondere Art entgegen treten.

Dein Lukas ist fünf Jahre alt und du vierzig. Wie das Leben von Wiederholungen zehrt! Wo ist bloß die Zeit geblieben? Als ich so alt war wie du, fühlte ich mich im Stillen schon eine Weile unbehaglich.

Ich weiß noch wie sich meine große Lebenswende schon beim Bleigießen am Silvesterabend ankündigte. Wir feierten den Jahreswechsel bei meinen Eltern und deine Großmutter hatte Phantasie und eine Menge Intuition, dass sie aus allen gegossenen Klumpen Erstaunliches heraus zu reden vermochte. Immer wieder verblüffte sie uns. Meinen Klumpen deutete sie als Schere – ausgerechnet! Ob man an so was glaubt oder nicht - als meine gewohnte (aber doch auch schon „verwohnte“!) Welt bald darauf wie ungeliebte Fotos zerschnitten wurde, fiel mir der Silvesterabend brühend heiß wieder ein.

Kann man jemandem, der verzweifelt ist besseres tun als nickend beipflichten? Ich denke: Ja! Mir hat etwas geholfen:

Das Andersdenken.

Ich will dich ermutigen, dich darauf einzulassen, die Dinge anders zu sehen. Das ist eine erste handgreifliche Möglichkeit etwas zu verändern und reine Übungssache.

Nehmen wir doch mal die Schere, von der ich gerade gesprochen habe. Aber nicht bloß als Begriff, sondern stellen wir sie uns richtig als Bild vor und nicht nur die, sondern mehrere Scheren, am besten gleich alle Krisen/ Scheren meiner letzten Jahre: da liegen sie alle wohlgeordnet auf dem Küchentisch meiner Erinnerungen. Wenn ich mir das Elend so angucke, könnten mir glatt die Tränen kommen: aber besser wir formieren die Scheren zu einer stolzen Garde von 8ten. Das machen wir so wie deine Mutter dir als Kind gezeigt hat aus der Ziffer „2“ stolze Schwäne zu malen, so denken wir uns die Scheren also zu 8ten.

Und dann? Erblindet an Verzweiflung und Sturheit übersieht man als Erwachsener leicht, was jedes Schulkind lange weiß: Man ändert die 8 - auf den Kopf gestellt - nicht ein bisschen. Du wirst deine Situation stundenlang zermürbend bedenken, ändern wirst du damit nichts.

Aber Achtung: Es gibt eine Mechanik, die der 8 beibringt, sich beiseite zu legen. Auf einem Blatt Papier sieht das so aus:

Was heraus kommt ist eine Endlosschleife.

Auf dem Papier haben wir sozusagen die mathematische Aussage unserer 8 schon mal völlig verändert.

Scheitern wir im Leben nicht immer wieder an Situationen, die sich zu wiederholen scheinen? Als würden wir dauernd auf einer Strecke fahren, die uns an altbekannten Schwachstellen vorbeiführt. Das sind Endlosschleifen, die einen mürbe werden lassen können. Könnte aber auch sein, dass die der einzig plausible Grund sind, warum wir alt werden, anstatt wie Eintagsfliegen von der Decke zu fallen: Um es beim nächsten Mal anders, besser zu machen! Man muss die Bahn dieser Endlosschleife durchbrechen, anders ist ihr nicht beizukommen.

Auf dem Papier ganz einfach. Im Kopf ist das verflucht schwierig. Doch es geht: Man kann lernen, anders zu denken.

Mein Junge, du bist doch Kunstschmied und gehörst du zu denen, die schwungvolle Geländer zu schmieden verstehen?! Bitte konzentriere dich auf deine Stärken. Andere ändern, kannst du nicht! Aber ich wünschte zu sehen, wie du die Ärmel hochkrempelst und das tust, was dir eigen ist.

Mein Jahr der großen Krise fing für unsere ganze Familie entsetzlich an. Erinnere mich, wie ich dich fest in meinem Armen gehalten habe auf dem Weg zum frischen Grab deines Onkels. Farbenfrohe Blumenkränze auf einem lehmigen Erdhügel, darauf ein Holzkreuz gerammt. Unzählige Male las ich die Aneinanderreihung der schwarz geschwungenen Buchstaben, die tatsächlich ausgerechnet seinen Namen formten. ANDREAS HENKEL. Unfassbar.

Dass mich die Begegnung mit dem Tod so treffen könnte, hatte ich nicht für möglich gehalten. Ich war fassungslos und hilflos. Das hörte gar nicht mehr auf.

Ich machte mir Vorwürfe, den eigenen Bruder in den letzten Jahren aus den Augen verloren zu haben. Immer wieder fielen mir Episoden aus der Vergangenheit ein. Mitten in der Nacht, aber auch am Tage war ich ausgeliefert.

Die Gegenwart und der Schreck der Trauer konnten mich beim Abstellen einer Kaffeetasse zerfleischen. Ein anderes Mal genügte ein Blick in deine Augen und mit einem Schlag waren die Gefühle meiner Kindheit bloßgelegt: Ich taumelte in der Zeit. Manchmal glaubte ich die Hand meines kleinen Bruders in der Meinen noch mal zu spüren. Die Zeit spielte verrückt.

Als Andreas geboren wurde, war ich sechs Jahre und wollte unbedingt stark sein. Stolz und vernünftig an der Seite meines Vaters stehen. Es gibt ein Foto in einem unserem Familienalbum, da ist diese Vergangenheit treffend eingefangen. Du kennst es. Mein Vater sitzt da und hält meinen neugeborenen Bruder auf dem Arm. Ich kerzengerade daneben, die Hand auf dem Knie meines Vaters. Ganz ernst und für die Ewigkeit fest gehalten. Ich könnte den Kopf schütteln, viel zu lange und zu früh habe ich viel zu viel schwer genommen.

Du weißt, ich habe meine Kindheit in der Nähe von Münster verbracht. Wir wohnten direkt am Steinbruch. Bei uns gab es nicht einfach Nachbarskinder, die gegenüber wohnten. Der Schulbus brachte mich und später auch meinen Bruder nach Havixbeck, das war es auch schon mit der weiten Welt. Ich verbrachte in meiner frühesten Kindheit viel Zeit in der Werkstatt meines Vaters, deines Großvaters, obwohl er mich dazu nie aufforderte. Er beschwerte sich allerdings auch nicht über meine Anwesenheit. Ich habe zu wenig über ihn erfahren. Wie wenig ich Dir anvertraut habe und wie ähnlich ich ihm geworden bin….

Dein Großvater ließ mich bei der Arbeit über seine breiten Schultern zusehen. Und ich sah ehrfürchtig zu. Wenn er mir ab und zu kleine Handlangerdienste zukommen ließ, war ich eifrig dabei und immer um höchste Sorgfalt bemüht. Alles was er tat erschien mir gut und zutiefst richtig.

Dein Onkel Andreas, mein kleiner Bruder, änderte meine Welt. Er war von Anfang an anders. Alles drehte sich um ihn. Erst weil er ein hilfloses Wesen war, dann weil ihn, sobald er laufen konnte, alles zum Anfassen reizte.

Die unantastbaren Maschinen mit ihren gefährlichen Klingen taugten plötzlich zum wilden Krachmachen. Bis zur Erschöpfung ausgenutzt, landeten sie anschließend, ohne geringsten Schaden genommen zu haben, zurück im staubigen Regal, der alltäglichen Arbeit ausgeliefert. Ich beobachtete wie Vater alles duldete.

Und meinem Bruder war nichts heilig. Das galt sogar für Vaters Steine. Im Schatten unseres Hauses türmte sich die Landschaft eines geordneten Steinfriedhofes. Ausrangierte Grabsteine warteten hier neben noch unbearbeiteten Felsbrocken - nach Beschaffenheit sortiert - auf ihre Entwertung. Für mich lastete in dieser Stille der Anspruch des Ernstes, auch des bedrohlichen Todes. Der Vergänglichkeit.

Darüber setzte sich Andreas von einem zum nächsten Stein hüpfend unbefangen hinweg. Nun beobachteten wir gemeinsam meinen Vater dabei wie er kategorische Schläge mit Hammer und Meißel ansetzte. Ich fürchtete meines Vaters Handwerk mit dem er jeden Stein bloßzulegen verstand, um ihm seinen Willen aufzuzwingen.

Aber Andreas wurde es einfach langweilig. Auf der Suche nach Abenteuern legte er im nahen Steinbruch einen Klumpen frei, mit dem er unser beider Phantasie entfachte und uns auf die Spur faszinierender Erdgeschichten brachte. Ich verbündete mich mit ihm. Immer wissend, ihm nie das Wasser reichen zu können. Bestimmt war ich neidisch, aber glaub mir, ich liebte ihn sehr.

Gemeinsam kratzten und schürften wir, um in Vollmondnächten grandiosen Juwelen ihren mystischen Zauber zu entlocken. Wir fieberten dem Stein der Weisen entgegen oder hofften eben doch Gold zu entdecken. Vermuteten größte Kostbarkeiten in verborgenen Tiefen unserer Jagdgründe. Seine Unbekümmertheit riss mich mit.

Und es war mehr als ein Kinderspiel. Wir entdeckten die Schönheit der Mineralien. Immer werden Steine etwas Besonderes für mich bleiben.

Ich bewunderte Andreas um seine Phantasie und wusste, dass ich seinen Erfindergeist nie zu übertreffen vermochte. Eines Tages setze er die Idee in die Welt, tief ins Herz der Felsen vordringen zu wollen. Was für eine ungeheuerliche Idee! Während ich mich noch mit Gedanken um geeignetes Werkzeug aufhielt, hatte er die Lösung schon in seinen Hosentaschen.

Wie organisiert ein Sechsjähriger Sprengstoff? Würde Vater das nicht sofort auffallen? Kein Problem für Andreas.

Es sollte uns Schürfwunden und unserer Küche das Fenster kosten. Der Erdrutsch hatte glücklicherweise vor dem Dickicht der Grabsteine Halt gemacht Aber das Geröll schob eine gewaltige Staubwolke vor sich her und drückte sich durch alle Ritzen unseres Hauses.

Was für ein sagenhafter Tag war das! Der ansonsten polierte Mahagonischrank mit all seinen kleinen Fächern und Schublädchen bewahrte am längsten seine feine Staubschicht.

Wir schwiegen über unseren heimlichen Triumph, ein solch halsbrecherisches Abenteuer in Gang gesetzt zu haben.

Dein Großvater machte weniger Worte als befürchtet. Bestimmt, weil er froh war, dass alles noch einmal gut gegangen war. Außerdem fühlte er sich über die Sicherheitsvorkehrungen seines Handwerkzeugs anfechtbar geworden und hegte uns gegenüber fortan noch größeres Misstrauen.

Dein Großvater. Du wirst dich kaum mehr an ihn erinnern können. Er war ein kraftvoller Mann. An seinen Armen traten von oben bis unten dicke blaue Adern hervor. Seine Hände waren prall und riesig, innen voller Schwielen. Von frühester Jugend an hatte er körperlich schwer gearbeitet. Ein Felsbrocken war ihm noch während seiner Lehrjahre auf den Fuß gestürzt und hatte die Fußknöchel seines rechten Beines zersplittert. Das war eine der wenigen Geschichten, die er über sich erzählte und tatsächlich schüchterte sie uns ein.

Trotzdem, wir wagten uns doch immer wieder ins Felsenmeer. Vater hatte trotz dieses Unfalls augenscheinlich an Beweglichkeit kaum eingebüßt. Schmerzen begannen ihn erst Jahre später zu plagen. Als er noch jung war, zwang ihm jedoch dieses Handicap eine ganz eigene Gangart auf. Man konnte nicht übersehen, was für ein ausgewogen standhafter Mann er war. Sein Körpergewicht verlagerte er stets mit Bedacht Schritt für Schritt von einem Fuß auf den anderen Fuß. Und er war groß und breit, seine Körperkraft vermochte er auf einen ganz bestimmten Punkt auszurichten. Sein Blick war Zeugnis dieser Fähigkeit. Wenn er so vor uns stand und uns und die Beschaffenheit unserer Steinschätze umfassend erläuterte, schwiegen wir betroffen. Denn er beraubte unseren Steinen ungewollt ihre Magie. Kann mich nicht erinnern, meinen Vater je schwach oder krank gesehen zu haben. Immer war er so stark, dass ich mich meiner kindlichen Ängste schämte.

Warum ich Dir das erzähle? Was das mit Deinem Kummer zu tun hat? Vertraue mir bitte. Es gehört dazu, denn ich bin ein Teil deiner Geschichte und bereue, dass du meine innerste Sicht der Dinge erst heute erfährst.

Nur wenige Stunden nach der Beerdigung deines Onkels standen Großvater und ich im stillen Einverständnis vom Küchentisch auf, auf dem meine Mutter leise weinend den Kopf gestützt hielt.

Als Kinder hatten wir manches Mal an jenem Tisch gesessen und zugeschaut, wie Mutter mit flinken Handbewegungen ihr wildes Haar in einer Spange bändigte, im Vorbeilaufen nach Tasche und Jacke griff, uns einen Handkuss zuwarf und hinauseilte. Und wir warteten immer gespannt auf ihre Rückkehr. Denn sie hatte sich schließlich nichts Geringeres zum Beruf gemacht, als kleinen Menschen auf die Welt zu helfen. Und immer gab es etwas Großartiges, Besonderes zu erzählen.

Waren deine Großeltern nicht ein herrliches Paar? Sie brachte Menschen auf die Welt und er sorgte dafür, dass sie ordentlich unter die Erde kamen. Erst im Alter habe ich solche Zusammenhänge zu sehen gelernt. Früher habe ich beide nicht verstanden.

Damals blieb meine Mutter im tiefsten Kummer am Tisch zurück. Ihr eigener Sohn war ihr entglitten. Schlimmeres als ein Kind zu verlieren, gibt es wohl nicht. (Du hast dein Kind nicht verloren! Du kannst Deinem Kind eine der Königslektionen des Lebens zeigen: wie man Kummer und Sorgen begegnet und gerade dort Mut, Kraft und Lebensfreude schöpft!)

Noch in den Hosen des Beerdigungsanzuges krempelten Großvater und ich die Ärmel unserer weißen Hemden hoch und gingen an die Arbeit. Vater hatte unserem Steinbruch einen riesigen Quader abgerungen, roh und scharfkantig. Ein Rätsel wie er bewerkstelligt hatte, diesen gewaltigen Felsbrocken in die Werkstatt zu schaffen. In den ersten Tagen kam ich direkt nach Laborschluss, um mit Hammer und Meißel meine Trauer abzuarbeiten.

Weder mein Vater noch ich hatten zu Beginn die endgültige Form des Grabsteins bestimmt. Du musst dir dessen Ausmaß so vorstellen, dass unsere Arbeit anfangs darin bestand, ihn auf ein geduldetes Format herunter zu schlagen.

Und dann war es aber so, als ob uns seine Beschaffenheit seine Form diktierte. Je mehr wir ihn freilegten, desto deutlicher wurde die zarte Zeichnung seiner Segmentierung, und wir verloren uns in der schweigsamen Arbeit, die weichen Wellen seines Wesens behutsam zu schälen.

Ich kam bei dieser stummen Arbeit mir selbst nahe. Stellte mir Fragen, die ich sonst als töricht abgetan hätte. An vielen Tagen der folgenden Wochen kam ich mit schmerzenden Blasen an den Händen nach Hause, und das Hemd klebte mir schweißnass am Körper.

Ist das nicht verrückt? Ein zweites Mal veränderte mein Bruder für mich die Welt. Das erste Mal mit seiner Geburt, dann mit seinem frühen Tod. Die lästige Frage nach einem Sinn ließ sich nicht abschütten, ich war voller Zweifel.

Ich habe nicht die richtigen Worte für ein offenes Gespräch mit deiner Mutter gefunden. Den Mund aufzumachen, das scheint ja schon immer ein Problem für mich gewesen zu sein. Versteckte Fragen wollte sie aber nicht hören. Mein Unbehagen blieb mir im Halse stecken. Es war schlimmer als ich irgendjemandem hätte verraten können. So blieben wir beide stumm. Aus Angst und Scham unterschlug ich, wie sehr mich ein diffuser Sog erfasst hatte.

Ich spürte, dass an der Art und Weise wie unser Leben verging, dringend ein Meißel hätte angesetzt werden sollen. Aber ich wusste nicht wo, noch wie.

Wenn ich morgens aufstand, konnte ich mich bald nicht mal mehr aufrichten. Unerträgliche Rückenschmerzen, zwangen mich dann zum Arzt.

Meine Schwäche war mir so verhasst. An den Arzttermin kann ich mich noch gut erinnern. Wie ein unterwürfiger Bittsteller kam ich mir vor. Ewig musste ich warten. Mehr Zeit als mir lieb war hatte ich, um meine Umgebung zu betrachten. Und so wie ich die Welt zu dieser Zeit sah, so sah auch das Wartezimmer aus. Ich argwöhnte bei den anderen Patienten geheuchelte Symptome. Unablässig wurde die angestrengte Stille durch lästiges Flüstern beim Herüberreichen zerfledderter Illustrierten, von Hustenanfällen und Naseputzen unterbrochen. Ich fühlte mich fehl am Platz. Es kam mir alles vor wie ein lästiges Trauerspiel. Alle saßen hier um Krankheit zu zeigen.

Ich glaube, ich war selbstgerecht und maßlos unzufrieden. So vermochte ich nichts anderes wahrzunehmen als eine unerträgliche Wartezimmeratmosphäre, geschmückt mit lächerlich ausgedorrten Pflanzen, deren nackten Hälse sich aus zu kleinen Übertöpfen reckten. Durch ungeschlossene Türen der Praxisräume hallten Gesprächsfetzen wider. Ungeachtet dessen führten die Assistentinnen ungeniert Telefongespräche mit Patienten. „Mit Meiers Urinprobe war alles in Ordnung.“ Die am anderen Ende ahnten sicher nicht die unverschämte Indiskretion. Nie - so schwor ich mir - würde ich denen mehr als eine knappe Terminvereinbarung verraten. Dass ich mich noch heute an Details erinnern kann. Da hingen so grässliche Kunstdrucke an der Wand. Aber um den Blicken der anderen auszuweichen, vergrub ich meine verärgerte Aufmerksamkeit darin. Vielleicht war mein Arzt ja Freizeitsegler. Vielleicht war es auch nicht mehr als ein Zufall, dass die Bilder verwahrloste Küstenlandschaften zeigten: Skandalöses Motiv des einen Bildes war eine menschenlose Segelregatta aus der Ferne einer Schlechtwetterfront. Die Segel waren wie Stachel, die auf den drohend grauen Himmel einstachen. Bei dem anderen konnte ich mir - obwohl ich mehr als genügend Zeit hatte - nicht klar über das Thema werden. Ich zweifelte, dass ein Künstler ein derartig beklemmendes Bild tatsächlich hatte malen wollen, geschweige denn einen Käufer hatte finden können. Sollte das wirklich die Darstellung eines verjährten Schiffbruchs sein? Nicht beiseite geräumte Ertrunkene lagen rund um ein gestrandetes Wrack. Bei einer Hand voll vereinzelten Strandsparziergängern erzeugte das keinerlei Gefühlsregung, die trotteten teilnahmslos vor sich hin. Der Himmel dieses Bildes formierte sich zu hässlichen Wolken. Die sahen aus wie Abgaswolken, die aus jenen Schiffsmasten wie aus Industrieschloten aufstiegen. Trotzdem fesselte mich dieses grauenvolle Bild. Vielleicht weil es meiner inneren Welt so ähnelte.

Betäubt von der Betrachtung der trostlosen Motive gelang es mir auch mit Mühe nicht mehr, dem unerhört monotonen Tonfall des Arztes verstehend zu folgen. Ich saß ihm endlich gegenüber und fühlte mich betäubt, unfähig Beschwerden zu formulieren.

Auch wegen meiner Unfähigkeit zur Konzentration hörte ich gerade so eben noch heraus, dass er mich zu einem Spezialisten weiterempfahl. Das war mir recht, hätte er hier schon eine Diagnose eröffnet, hätte ich ihm sowieso nicht glauben können.

So kam es, dass ein Spezialist mir seinerseits einen Termin zur Computertomographie verordnete. Entnervt und unfähig zum Widerspruch und wohl doch noch auf irgendeinen Weg der Besserung hoffend, ließ ich all das über mich ergehen.

„Immer, wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her…“ ein beliebter Kinderreim deiner Großmutter. Vielleicht gar nicht so dumm. In den Sekunden, da mir die Kühle des metallenen medizinischen Geräts bedrohlich nahe zu Leibe rückte, passierte etwas Unerwartetes. Ich fand mich plötzlich eingepfercht in einer bedrohlich, kalten Röhre wieder. Überflüssig die Anweisung, mich möglichst nicht zu bewegen. Ich lag erstarrt. Wie in einem Sarg aufgebahrt, schoss es mir durch den Kopf. Und beinahe hätte ich mich für die nächsten Minuten in diesem Selbstmitleid geaalt.

Es ereignete sich jedoch etwas völlig anderes. Ich kam wieder zur Besinnung. In der bedrohlichen Enge des Raumes schreckte ich zusammen, denn mir fiel plötzlich wieder unsere Höhle ein. Unglaublich, dass ich die Höhle vergessen hatte!

Ich weiß nicht, ob du das nachvollziehen kannst, aber ich jubilierte in einem aussichtlosen Spiel doch noch eine Trumpfkarte gezogen und unerwartet plötzlich noch eine reale Zuflucht erinnern zu können. Dass ich daran nicht eher gedacht hatte!

Geschlagene zwei Wochen hatten dein Onkel und ich unsere Neugier nach unserer Explosion im Zaum gehalten, aber dann endlich nutzten wir die Gelegenheit, das Ergebnis unserer Sprengung zu begutachten. Und wir hatten sagenhaftes Glück!

Die Explosion hatte einen Spalt aufgebrochen und eine Sehne freigegeben. Nur auf allen Vieren kriechend, ließ sie sich entdecken. Vielleicht ein Weg zu einem jahrtausendelang verschlossenem Luftvakuum oder dem Platzhalter einer vorsintflutlichen Eiszunge.

So eng wie die Höhle war, bot sie nur jeweils einem von uns genügend Raum, und so erlebten wir sie voneinander getrennt. Sie hatte eine Form, die einem Schneckenhaus ähnelte. Für Andreas kleinen Körper war der Einlass ein Kinderspiel.

Ich tüftelte um eine Technik, mich möglichst tief ins Felseninnere zu drängen. Dabei musste ich mich auf den Rücken legen, meine Arme eng am Körper vorbei ganz weit hineinstrecken, meine Hände Halt finden lassen, um mich dann Kraft meiner Finger in den gekrümmten Anstieg hochziehen. Dort angelangt presste ich, soweit es ging, die Beine an mich heran. Den Körper gleich einer Raupe zusammenziehend, stemmte mich der Widerstand meiner Fußballen wieder weit ausdehnend in die Krümmung hoch.

Bald hatte ich Übung, geschickt in diesen Kanal einzudringen.

Wir hatten damals den Zugang zu einem ungeheuren Geheimnis gefunden! Zum einen die Geborgenheit im Schoße eines Urgesteins, zum anderen kitzelten wir die Todesgefahr heraus, denn wir schoben uns zwischen das Gesetz der Natur, lieferten unsere Körper an etwas aus, das uns zu zermalmen die Macht hatte. Hier war der Phantasie keine Grenze gesetzt. Wir vertrauten dem Fels unsere geheimsten Wünsche an, schworen heilige Schwüre oder reisten in seiner Raumkapsel zum Mond und zurück.

Im schwärzesten Stockfinster walteten magische Energien der Ewigkeit.

Die Lösung aller Fragen war im Paradies meiner Kinderheimat zu denken. Wie hatte ich das vergessen können! Ich musste dorthin zurück!

In der Nacht blieb ich schlaflos, gleich am nächsten Tag wollte ich dorthin. Viele Gedanken pochten durch meine Schläfen. Ich schlich zum Schlafzimmerfenster unseres damaligen Hauses und weiß noch genau, es war eine klare Vollmondnacht. Mit weißem Mondlicht schlich ein Labyrinth aus Licht und Schatten entlang unserer Fassade. Ich lehnte mich in dieser Nacht hinaus, um das Baugerüst an unserer Hauswand zu betrachten.

Dieses verfluchte Haus. Der Neubau hatte uns nichts als Ärger gebracht. Jetzt zog sich auch noch ein dicker Riss schamlos durch seine Fassade. Vom Dachgiebel hinunter bis in den Keller. Ich dachte über den Ärger mit unserem schmierigen Bauherrn nach, der bei der Frage nach der Ursache mit den Schultern zuckte. Ich dachte über die Scheiß Vollkommenheit unseres Gartens nach. Und fragte mich, wer von uns all die messingfarbenen Türknäufe, sorgfältigen Gardinenarrangements und passenden Teppichläufer angeschafft hatte. Fragte mich, wo die Zeit geblieben war, da kein Teller zum anderen passte, und wir stattdessen mehr gelacht hatten.

Da stand sie plötzlich hinter mir. „Ich muss mit Dir reden“, hörte ich deine Mutter endlich sagen.

So war das damals lieber Max! Bitte nimm dir Zeit und lass uns reden! Ich möchte dir beistehen!

Liebe Grüße

Dein Vater

Endlich andere Gedanken denken

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