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2 Das Auto im Schlossteich Chemnitz

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»Da bin ich.« Adina warf ihre Tasche schwungvoll auf den Tisch im Besprechungszimmer der Berliner Marketingagentur. Dann zog sie ihre Jacke aus und hängte sie über den Stuhl.

»Wir sind hocherfreut, dass du uns die Ehre gibst, wo du doch gerade von der Berliner Pflanze zum Erzgebirgsmädel werden willst. Herzlich willkommen«, begrüßte Markus seine Mitarbeiterin. Seit Corona im Land gewütet hatte, verzichtete Adina auf die freundschaftliche Umarmung und winkte Markus stattdessen zu. Sowohl Berlin als auch das Erzgebirge hatten lange Zeit einen vorderen Platz in der Infektionsstatistik eingenommen. Die Vorsicht war zum Alltag geworden.

Markus hatte seinen Laptop angestöpselt und eine Deutschlandkarte an die Wand geworfen. Sie zeigte den Stand der Arbeiten für das Tourismusportal, das die Agentur aufgebaut hatte. Adina sah weiße, rote, grüne oder gelbe Flächen und wurde ganz still. »Du, Markus, ich möchte dir Danke sagen. Die Entscheidung, mich weiter in Sachsen arbeiten zu lassen, ist dir sicher nicht leichtgefallen angesichts der vielen weißen Flecken. Ich bin froh, dass du mich nicht in die Pfalz oder die Eifel schickst.«

»Schau auf die gelben Flächen im Erzgebirge. Hier musst du sicher einiges überarbeiten und auf den neuesten Stand bringen. Und rundherum hast du ein breites Betätigungsfeld.«

»Ich war schon zu ein paar Recherchen unterwegs und muss nur noch den Computer füttern. Parallel dazu werde ich erste Informationen zu den neuen Orten sammeln. Du hast doch sicher gehört, dass Teile des Erzgebirges inzwischen zum grenzüberschreitenden UNESCO-Welterbe Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří erklärt wurden. Wir können also einiges für uns entdecken. So ganz richtig scheinen mir die Erzgebirger noch nicht aus den Puschen gekommen zu sein, aber vielleicht kann ich ein wenig nachhelfen. Wenn erst die Besucher strömen, wird sich manches bewegen.«

»Ich glaube, Corona hat sich da sogar positiv ausgewirkt. Der Trend zur Rückbesinnung auf Urlaub in Deutschland ist unübersehbar. Das sagen auch deine Mitstreiter, die in den alten Bundesländern unterwegs sind.« Markus tippte mit dem Mauszeiger auf Köln, wo sich Adinas direkter Konkurrent weniger erfolgreich als sie anstellte. Die gelben und weißen Flächen in der Stadt und ihrer Umgebung deuteten darauf hin.

»Warum hinkt er so hinterher?«, fragte Adina.

»Ich verstehe es auch nicht. Er hat deutlich bessere Bedingungen als du. In Köln ist vieles konzentriert und nicht so zertragen wie bei dir im Erzgebirge. 22 Orte Montanregion, dabei allein 17 in Sachsen. Das sagt doch alles. Vermutlich kann er nicht so gut mit Menschen wie du. Dir kommen deine journalistischen Erfahrungen zugute. Aber er stolpert nicht dauernd über Leichen.«

Adina schaute zu Markus. Sein Grinsen verriet ihr, dass er die Bemerkung nicht als Vorwurf betrachtete. Also lächelte sie ebenso. »Ich habe übrigens Oli mit nach Berlin gebracht. Ich wollte ihm den Berliner Winter zeigen, der so ganz anders ist als der im Erzgebirge. Hoffentlich vermisst er das Knirschen des Pappschnees unter den Füßen nicht zu sehr. Zurzeit ist es wieder arg in Annaberg. Dauerfrost und kein Ende in Sicht. Ohne Winterreifen und manchmal sogar Schneeketten geht da nichts. Oli ist gerade auf der Museumsinsel. Demnächst übernimmt er eine Schwangerschaftsvertretung in Dresden. Ich dachte, das passt ganz gut, denn hier wie da gab es spektakuläre Diebstähle in Museen. Deshalb habe ich ihn dorthin geschickt.«

»Ach ja, ich vergaß, dass er ein Kriminaler und stets den Kriminellen auf der Spur ist. Die Verbindung zwischen dir und ihm gefällt mir. Ich hoffe, du pfuschst ihm nicht zu sehr ins Handwerk und er passt ein bisschen auf dich auf.«

»Sagen wir mal so: Er ist nicht immer begeistert von den vielen Zufällen, mit denen ich ständig in Berührung komme. Wobei ich ja nicht wirklich an Zufälle glaube. Aber eine Erklärung habe ich halt auch nicht. Wenn du magst, können wir gemeinsam Mittagessen gehen. Ich könnte Mia fragen, ob sie Zeit hat. Oder wir treffen uns heute Abend«, schlug Adina vor.

»Lass uns erst alles besprechen. Um 14 Uhr habe ich einen Termin. Heute Abend wäre also besser. 19 Uhr. Wo soll ich reservieren?«

»Warte, ich schreibe Mia schnell eine Nachricht.« Kurz nachdem Adina auf Senden geklickt hatte, ertönte der Kuckucksruf, der eine Antwort signalisierte.

»Ok, alles klar. Mia hat zugesagt. Wie wäre es bei Feinberg’s in Schöneberg? Vom Nollendorfkiez aus kommen wir alle schnell nach Hause. Ich mag die Vielfalt der jüdisch-israelischen Küche. Und ich habe lange keinen richtigen Hummus gegessen. Wenn ich in Chemnitz bin, gehe ich immer ins Schalom. Leider bin ich nicht sehr oft dort, aber das kann sich ändern. Schließlich wird Chemnitz Europäische Kulturhauptstadt 2025. Das war für mich eine Überraschung. Immerhin gehörte Nürnberg zu den Bewerbern. Ich bin gespannt, was sich da im Schatten des Nischels entwickelt.«

Markus hakte ein. »Du tust den Chemnitzern unrecht, wenn du sie auf den Karl-Marx-Kopf reduzierst, obwohl der schon beeindruckend ist. Aber das muss ich dir wohl nicht sagen.«

Adina nickte. »Genau. Wobei ich glaube, die Chemnitzer tun sich manchmal selbst unrecht. Das haben die Diskussionen um diverse Kunstprojekte und um die Kulturhauptstadt-Bewerbung bewiesen. So ein bisschen Provinzmief schwingt da immer mit, obwohl die Stadt Potenzial hat. Die Bewerbung um den Kulturhauptstadt-Titel ist ein gutes Beispiel. Das war schon ausgefallen, was die Chemnitzer vorgelegt haben. Der Darm von Karl Marx. Das Größenverhältnis passte sogar irgendwie zum Nischel. Und woran schieden sich die Geister? Na?«

Markus überlegte. »Keine Ahnung.«

»Na, an des Deutschen liebstem Spielzeug – am Auto im Schlossparkteich.«

»Jetzt, wo du es sagst. Was ist eigentlich aus dem Auto geworden? Weißt du das?«

Adina überlegte. »Es wurde aus dem Teich gefischt und eingelagert. Für bessere Tage, mit mehr Kunstverständnis und weniger Kulturbanausen. Kann also dauern.«

Markus wandte sich seinem Laptop zu. »Lass uns die Karte durchgehen. Ich erkläre dir meine Vorstellungen. Du kannst mich gern ergänzen. In zwei Wochen legst du mir ein erstes Konzept vor. Nur grob. Die Reihenfolge überlasse ich dir, da bist du vollkommen frei und kannst auch gern umswitchen, wenn es sich anders ergibt. Dann das Übliche: Recherche, Schreiben, Fotos machen, Blog vervollständigen. Und vergiss nicht, die Daten regelmäßig zu aktualisieren. Wir wollen uns doch von der großen Masse mit ihrer unsäglichen Informationsfülle und veralteten Daten abheben. Nimm dir ruhig zwischen den neuen Orten immer wieder Zeit für alles, was du schon beackerst hast. Wenn du dann bitte den unbefristeten Vertrag unterschreibst … Ich habe dich ein wenig höhergestuft.«

»Oh Markus, das ist klasse. Unbefristet ist noch besser als Verlängerung. Ich danke dir. Dann reicht es bei Feinberg’s heute Abend für ein zweites Glas Wein. Wo ich schon auf mein Israel-Volontariat verzichtet habe! Bevor dein Angebot kam, hatte ich mich bereits beworben. Ein Jahr ohne deutschen Winter! Aber wie so oft durchkreuzte das Leben all die schönen Pläne. Also, dann wenigstens israelisch in Berlin, mit sonnengereiftem Wein aus dem Galil. Weit gereist und schon deshalb nicht so billig.«

»Scherzkeks. Ich lade euch natürlich ein. Geht aufs Haus«, erwiderte Markus, ohne Adinas geöffneten Mund wahrzunehmen. Sie hatte heute ihren Stauntag und wunderte sich schon nicht mehr sehr über Markus’ Großzügigkeit.

Nach der Besprechung traf sich Adina mit Oli bei einem Kaffee. »Wir sind das Projekt komplett durchgegangen. Ich freu mich so auf die Recherchen.« Das Strahlen ihrer Augen unterstrich die Begeisterung, mit der sie sich am liebsten sofort in die Arbeit gestürzt hätte. Aber jetzt war sie erst einmal in Berlin, hatte einige Pflichtbesuche zu erledigen und wollte Oli ein paar Hauptstadt-Raffinessen zeigen.

»Du sagst gar nichts. Bist du schon Berlin-müde?«

»Das Revier hat angerufen. Ich soll eher nach Dresden kommen. Die Akten auf dem Schreibtisch türmen sich, und deine Kollegen vor Ort nerven.«

»Aber das ist doch kein Problem. Dann fahren wir am Freitag zurück und haben das Wochenende in Annaberg vor uns. Am Montag beginnen wir beide mit einer neuen Aufgabe. Ich werde kommende Woche in Chemnitz unterwegs sein. Du kannst dich in Dresden eingewöhnen. Ich komme bald nach.«

»Du bist toll, Adina. Ich dachte, du möchtest vielleicht länger hierbleiben. Bei deiner Familie und deinen Freunden.«

»Berlin läuft nicht weg. Du hast irgendwann frei, und wir können wieder herkommen. Wir haben morgen den ganzen Tag. Heute Abend treffen wir uns mit Mia und Markus im Feinberg’s. Markus hat uns eingeladen. Ich freue mich schon auf das Essen.«

»Feinberg’s? Ein jüdisches Restaurant, ja? Die stehen doch öfter in den Schlagzeilen wegen Bedrohung, Antisemitismus und so was.«

»Ja, aber hier in Berlin musst du nicht ermitteln, und der Abend soll ganz entspannt werden. Die Küche ist jüdisch-sephardisch, also mehr dem Morgenland zugewandt als im Schalom in Chemnitz. Das habe ich dann nächste Woche wieder.«

Am Donnerstag kümmerte sich Adina um ihre Berliner Wohnung, die schon eine Weile nicht mehr gelüftet war. Mia hatte zwar einen Schlüssel, war jedoch im Winter auch nicht so oft vor Ort. »Ich sollte meine privaten Sachen einlagern, was ich brauche, mit nach Annaberg nehmen und die Wohnung an einen Studenten oder Azubi vermieten, was meinst du?«, fragte sie Oli. »Keine schlechte Idee. Bezahlbare Wohnungen auf Zeit sind gefragt. Ich kenne einen Veranstaltungstechniker, der immer eine Woche hier zur Ausbildung ist und dringend eine Bleibe sucht. Er muss jedes Mal im Hotel schlafen, wenn er zur Berufsschule geht.«

»Na, das wäre doch etwas. Wenn du ihn sogar kennst! Sprich mit ihm. Ich packe noch ein paar Sachen ein, die wir morgen mitnehmen. Und meine Papiere und persönliche Dinge kann ich wegsperren.«

Für den Nachmittag waren Adina und Oli zu Adinas Eltern eingeladen.

Zurück in Annaberg nahm Adina die Freie Presse zur Hand. Der tägliche Blick in die regionale Tageszeitung gehörte zu den Ritualen am Beginn ihrer Arbeitstage. Durch die Zeitung war sie schon auf manche Attraktion aufmerksam geworden, die dann später gut recherchiert Eingang ins Tourismusportal gefunden hatte.

»Guck dir das an!« Ihre Stimme ließ Olis Alarmglocken schrillen.

»Was gibt es? Ich hätte mich beinahe geschnitten vor Schreck. Wenn ich fertig bin mit Rasieren, komme ich zu dir.«

Adina begann, den Artikel hastig zu überfliegen.

»In Chemnitz hat man einen Toten gefunden.«

»So etwas ist nicht ungewöhnlich. Was meinst du, wie oft die Feuerwehr zu Türnotöffnungen gerufen wird!«, erwiderte Oli.

»Das glaubst du nicht!«

»Na los, sag schon!« Olis Neugier war geweckt, obwohl er in Boxershorts und weißem Feinripphemd gerade keine klassische Beamtenfigur abgab. Der Rest Rasierschaum am Kinn störte ihn nicht, als er ins Wohnzimmer lief. Auf dem Titelblatt war ein riesiges Foto von einem Auto mit geöffnetem Kofferraum. »Das ist doch …«

Adina ließ ihn nicht ausreden. »Genau das ist es. Das Auto der Kunstaktion in Chemnitz, über das wochenlang heiß diskutiert wurde.«

Adina drückte Oli die Zeitung in die Hand und begab sich zum Computer. »Das muss ich mir genauer anschauen«, sagte sie und begann mit der virtuellen Suche nach Informationen.

Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, hatte Oli die Zeitungen der letzten Tage gelesen. »Ein Mann, Mitte 40, offenbar schon tot, als er mit dem Auto in Berührung kam.«

»Das habe ich genau so im Internet gefunden. Kein natürlicher Tod. Und das auf dem Weg zur Kulturhauptstadt und in einem Auto, das als umstrittenes Kunstwerk in der Bewerbungszeit für Schlagzeilen sorgte.«

»Stand im Internet etwas zur Todesursache, ich meine, außer Spekulationen?«

»Deine Kollegen scheinen sich bedeckt zu halten. Ich habe nicht herausbekommen, ob die Leiche mit im Wasser war oder erst später in den Kofferraum befördert wurde. Das Übliche: Ermittlungen nicht gefährden und so. Aber kommende Woche bin ich in Chemnitz. Da kann ich ein bisschen herumhorchen.«

»Adina, du weißt doch: Dein Part ist das Tourismusportal, unsere Arbeit sind die Verbrechen. Wie oft soll ich dir das noch erklären? Bring dich bloß nicht wieder in Gefahr!«

»Keine Sorge, Oli. Ich bin schon groß und kann ganz gut auf mich aufpassen. Ob der Künstler etwas damit zu tun hat?«

»Er lebt im Ausland und ist wohl zurzeit mit einem Projekt in Schweden beschäftigt. Irgendetwas mit Schnee. Ich weiß nur, was in der Medieninformation der Polizeidirektion und in der Zeitung steht.«

»Du bist doch am Montag im Revier. Vielleicht haben deine Kollegen mehr erfahren. Jetzt lass uns fix einkaufen und etwas kochen. Worauf hast du Appetit?«

»Buttermilchgetzen oder etwas anderes Regionales. Aber einkaufen, nee, null Bock. Komm, lass uns essen gehen. Ich lade dich ein. Oben im Restaurant Zum Türmer oder am Markt im Neinerlaa? Ich mag beides.«

»Das Neinerlaa ist nicht so weit.« Oli musste lachen. Die erzgebirgische Aussprache des traditionellen Weihnachtsgerichtes, nach dem das Restaurant im Rathaus benannt war, beherrschte Adina noch immer nicht. Diesen A-Laut brachten nur Sachsen richtig heraus. Berliner hatten da keine Chance. Dafür reichten nicht einmal Adinas Chemnitzer Wurzeln.

»Du willst wegen des Schnees nicht so weit laufen, stimmt’s? Mir ist erst in Berlin aufgefallen, was ich dir mit der sibirischen Kälte hier zumute.«

»Naja, ich habe schon ein wenig Angst vor dem Alleinsein, wenn du in Dresden bist. So ganz ohne Wärmflasche am Nordpol!«

»Soll ich dir fix noch eine besorgen? Vorn in der Apotheke? Was möchtest du? Ein Krokodil, einen Yogi-Bär, eine Ente?«

»Ich hatte mehr an etwas Zweibeiniges gedacht.«

»Fremde Männer kommen mir nicht ins Haus, meine liebe Adina! Im rechten Schrankteil unten sind Kuscheldecken, die Heizung kann man höher drehen. Und hol dir einfach einen Schlafanzug. Die Negligés sehen zwar schön aus, aber sie wärmen nicht. Und wenn ich eh nicht da bin, musst du auch nicht schön aussehen!«

Adina verdrehte die Augen. »Männer-Egoismus? Ich brauche das für mich persönlich! Aber du hast recht. Vielleicht finde ich einen Schlafanzug, der meinen Ansprüchen genügt und erzgebirgskonform ist. Ich werde es zumindest versuchen.«

Obwohl beide neugierig auf ihre neuen Aufgaben waren, durchzog Olis Wohnung am Wochenende eher ein Hauch von Trägheit. Nach und nach wurde klar, dass ihre sehr junge Beziehung einer ersten Belastungsprobe entgegenging. Adina wusch Wäsche. Oli begann, seine Reisetasche zu packen.

»Wo wirst du in Dresden wohnen?«

»Die Polizei hat ein paar kleine Apartments in der Neustadt. Ich werde eines davon beziehen. Ich denke, es ist Platz für dich, wenn du in der Nähe zu tun hast. Zumindest, wenn du allein unterwegs bis. Mit Mia oder einer anderen Begleitung im Gefolge wird es schwierig. Und am Wochenende bin ich wieder da. Wir schaukeln das schon. Es ist ja nicht für immer.«

Den Montag verbrachte Adina am Computer. Sie plante drei Tage in Chemnitz. Am Freitag stand die Aufarbeitung der gewonnenen Erkenntnisse am Computer an. Dann würde sie sehen, ob sie mehr Zeit brauchte. Sie schrieb eine E-Mail an die Jüdische Gemeinde, um ein Treffen zu vereinbaren. Bei ihrem ersten Besuch im Jahr zuvor war dafür keine Zeit gewesen. Inzwischen rannte ihr die Zeit davon, denn lange würde es nicht mehr dauern, und sie fände keine Bekannten ihrer Urgroßmutter mehr.

Dann erklärte sie dem Team vom Kulturhauptstadtbüro, was sie nach Chemnitz trieb, und fragte nach einem Treffen für ein Gespräch. Der Termin am Dienstagnachmittag war perfekt. Vorher wollte sie in die Kunstsammlungen gehen.

Die Antwort von der Jüdischen Gemeinde traf schnell ein. »Sicher erinnern wir uns an Sie und den merkwürdigen Mann mit seinem Verfolgungswahn. Sie können sich am Mittwochvormittag mit Frau Rosenkranz treffen. Sie kannte Ihre Urgroßmutter und kann Ihnen etwas von ihr erzählen. Außerdem habe ich unseren Historiker angefragt. Er forscht seit vielen Jahren zu den Spuren jüdischer Geschichte in Chemnitz und hat die Ergebnisse für ein Buch zusammengetragen. Wir suchen zurzeit nach Sponsoren, um es drucken zu lassen.« Auch der Besuch des Jüdischen Friedhofes wurde bestätigt. Im Abspann der Mail fand Adina die Kontaktdaten und die Adresse der Frau, die sie bei sich zu Hause zum Gespräch erwartete. Sie verfasste eine Bestätigung und schickte sie mit einem Klick nach Chemnitz. Für den Abend hatte sie sich im Schalom einen Platz reservieren lassen. »Wir freuen uns«, hatte Uwe vom Team kurz und bündig geantwortet.

Oli war noch einmal im Annaberger Revier gewesen. Er kehrte am frühen Nachmittag zurück, um die restlichen Sachen einzupacken. Am Dienstag wollte er früh zeitig nach Dresden aufbrechen.

»Und?«, fragte Adina nach dem Begrüßungskuss.

»Lass mich erst einmal ankommen. Es gibt ein Amtshilfeersuchen.«

»Amts-hil-fe-er-su-ch-en.« Adina zog die Silben des Wortes weit auseinander. »Wer denkt sich solche Wörter aus?«

»Willst du etwas über den Toten in Chemnitz wissen oder dich mit mir über Fachbegriffe streiten? Das heißt eben so. Wir können nicht einfach ins Ausland fahren und dort ermitteln. Außerdem darf ich dir das gar nicht erzählen.«

»Och, Oli, nun sei nicht gleich so gereizt. Das war doch nur ein Scherz.«

»Du hast recht. Normalerweise hebt mich das nicht an. Aber ich bin nun doch aufgeregt und sehr gespannt, was mich in Dresden erwartet.«

»Es wird nicht schlimmer werden als hier. Und du wirst genau wie hier arbeiten. Oder was befürchtest du?«

»Ich war seit dem Studium nie lange von Annaberg weg, nur im Urlaub. Und dabei nach zwei Wochen zurück in meiner Wohnung.«

»Oli, du hast diese Woche effektiv dreieinhalb Tage. Bis Dresden sind es keine 100 Kilometer. Und am Freitag sehen wir uns wieder.«

»Stimmt. Übrigens glauben die Ermittler nicht, dass der Künstler etwas mit der Autoleiche zu tun hat. Und ich auch nicht.«

Adina war froh, dass Oli den Faden wieder aufgenommen hatte. »Weiß man denn schon, wer der Tote ist? Das Geschlecht steht wohl fest.«

»Ja, es ist ein Mann. Und vermutlich … Nein, Adina, das ist Spekulation und das darf ich dir nun wirklich nicht …«

»Oli, ich kann schweigen. Glaub mir.«

»Es könnte etwas mit der Kulturhauptstadt zu tun haben. Oder mit Geld. Oder mit beidem. Er war Berater oder so etwas. Du fährst doch morgen nach Chemnitz. Vielleicht erfährst du dort mehr. Halt mich auf dem Laufenden. Und bitte: keine Alleingänge!«

Oli war bereits aus dem Haus gegangen, als Adina erwachte. Sie beschloss, in Chemnitz zu frühstücken. Es dauerte nicht lange, und sie begab sich zum Auto. Je mehr sie sich Chemnitz näherte, desto mehr schwand der Winter. Die Straßen waren komplett frei. Ihr erster Weg führte sie in die Kunstsammlungen, die sie bereits von ihrem Erzgebirgsprojekt her kannte. Hier war sie in den Medienrummel geraten, nachdem sie der Polizei entscheidende Hinweise gegeben hatte und dadurch der Diebstahl eines Bildes aufgeklärt werden konnte. Inzwischen war die Direktorin von damals in den Ruhestand gegangen. Der neue Generaldirektor stand mit der Bewerbung für die Kulturhauptstadt und dem 100-jährigen Jubiläum der Kunstsammlungen gleich vor einer richtigen Herausforderung.

Für ein komplettes Frühstück war es ein wenig spät. Deshalb lief Adina zur Gastromeile in der Inneren Klosterstraße und suchte sich ein Café mit einem kleinen Speiseangebot. Von hier aus war es nicht so weit zum Kulturhauptstadtbüro.

»Adina Pfefferkorn? Sie hatten einen Termin mit unserem Chef. Leider müssen Sie mit mir vorliebnehmen. Er musste kurzfristig weg. Die Geschichte mit dem Auto, Sie wissen schon. Ich bin seine Vertretung«, stellte sich die Blondine am Tresen vor. »Schauen Sie, das hat er für Sie vorbereitet.«

Adina nahm eine Mappe mit Papieren entgegen. »Wie war Ihr Name?«, fragte sie die Mitarbeiterin. »Frau Kemnitzer. Wie Chemnitz, nur mit K und er am Ende. Das kann man sich leicht merken. Nehmen Sie doch Platz und schauen Sie alles in Ruhe durch. Wenn Sie Fragen haben, sprechen Sie mich an. Für Details würde ich vorschlagen, dass Sie einen neuen Termin vereinbaren, wenn der Trubel hier nachgelassen hat.«

»Das wäre dann 2026, schätze ich. So viel Zeit habe ich nicht«, erwiderte Adina. Die Blondine prustete los.

»Ich meine den Trubel mit dem Mord.«

Oha, dachte sich Adina. Endlich hat jemand das böse M-Wort ausgesprochen. »Ja, ich glaube, das ist das Beste. Wenn Sie nichts dagegen haben, nehme ich die Mappe mit nach Hause. Ich melde mich dann telefonisch oder per Mail.« Adina packte die Sachen in ihre Tasche, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Natürlich. Wir hoffen, die Sache ist bald aufgeklärt. Mit dem Skoda haben wir einiges vor.«

»Ach ja?«

»Klar, er war so ein toller Aufreger. Und bewährte Waffen nutzt man bekanntlich weiter. Sie sind eine Frau, da muss ich nichts erklären!«

»Stimmt! Hatte das nicht Brigitte Reimann in ihrem Kultroman Franziska Linkerhand über den Minirock gesagt? ›Bewährte Waffen verschrottet man nicht.‹ Ein Lieblingsspruch meiner Mutter. Dann tschüss bis zu besseren Tagen«, verabschiedete sich Adina. Die freie Zeit nutzte sie für einen Spaziergang durch den Wasserwerkspark, der direkt an der Strecke nach Annaberg liegt. Angesichts der Temperaturen reichte ihr eine kleine Runde. Dann fuhr sie die B95 zurück in ihre Annaberger Bleibe.

Am Abend schickte Oli eine Sprachnachricht.

»Ich bin ziemlich fertig, früh die Fahrt, dann arbeiten und Wohnung einrichten. Aber meine Bude ist wunderschön, in Dresden-Neustadt, gleich an der Kunsthof-Passage. Das wird dir gefallen, Adina. Lass uns morgen telefonieren. Ich gehe duschen und ins Bett.«

»Ich war fleißig, obwohl nicht alles wie erwartet lief. Der Chef vom Kulturhauptstadtbüro konnte mich nicht empfangen. Er war wegen einer Mordsache unterwegs, sagte seine Mitarbeiterin. Mehr konnte ich nicht erfahren. Bis morgen, Schatz«, sprach Adina ins Handy.

Als der Handywecker Adina mit sanftem Israel-Jazz weckte, klingelte auch ihr Handy. »Guten Morgen, Schatz«, flötete ein gut gelaunter Oli durch die Leitung.

»Ich bin gerade am Aufwachen«, hauchte Adina zurück.

»Ist es warm im Bett, so ohne mich?«, fragte Oli.

»Es könnte wärmer sein. Ich hoffe, bei dir auch«, erwiderte Adina.

»Ich bin schon vor einer Weile aufgestanden, also ganz kalt. Ich muss gleich los und wollte dir nur einen guten Morgen wünschen«, verriet Oli.

»Ich bin schon fast aufgestanden und auf dem Weg nach Chemnitz. Heute treffe ich mich mit der Frau, die meine Urgroßmutter kannte. Und abends bin ich im Schalom«, sagte Adina.

»Ich will dich gar nicht aufhalten. Eine gute Fahrt wünsche ich dir. Vielleicht können wir heute Abend telefonieren.«

Adina nahm eine Dusche, putzte ihre Zähne und zog mehrere Lagen übereinander an, um sowohl für innen als auch außen gerüstet zu sein. Nach einem kleinen Kaffee startete sie. Der Verkehr war mäßig. Als sie Klaffenbach passierte, fiel ihr ein, dass sie lange nicht am Wasserschloss war. Sie dachte noch nach, wie sie einen Besuch in ihren Terminplan einbauen könnte, als der Blitzer in Harthau ping machte. Na prima, das geht gut los, sagte sie laut vor sich hin. Bis zum Ziel waren es noch etwa 15 Minuten auf der Bundesstraße und ein kurzes Stück Nebenstraße.

»Hübsch haben Sie es hier. Und so eine schöne Aussicht auf den Kaßberg. Wie muss das erst sein, wenn alles grünt und blüht oder der Herbst seine Farben ausschüttet«, sagte Adina nach der Begrüßung zu Frau Rosenkranz. Der Tisch war für vier Personen gedeckt. »Das ist meine Tochter Leah. Frau Kievernagel von der Jüdischen Gemeinde wird gleich kommen. Nehmen Sie doch inzwischen Platz. Kaffee oder Tee?«

Adina entschied sich für Tee. Einen Kaffee hatte sie schon in Annaberg getrunken, bevor sie losgefahren war. Die Tochter übernahm das Eingießen.

Frau Rosenkranz wärmte ihre Hände an der Tasse, obwohl der Raum gut geheizt war. Dann begann sie zu erzählen: »Ihre Urgroßmutter Adina war eine bemerkenswerte Frau. Was wissen Sie von ihr?«

»Nicht viel. Als sie starb, war ich erst vier. Meine Großmutter hat immer davon gesprochen, dass sie ihre Mutter Adina nach Berlin holen wollte. Aber es ist offenbar nicht so leicht, einen alten Baum zu verpflanzen. Sie war wohl zwei, drei Mal bei uns in Westberlin, aber sie mochte den Großstadttrubel nicht. Dabei ist Chemnitz nicht unbedingt ein Dorf. Und jetzt, wo es Kulturhauptstadt werden soll …«

»Das mit der Kulturhauptstadt ist eine feine Sache. Nur leider hat sie schon ein erstes Opfer gefordert. Haben Sie von dem Toten im Schlossteich-Auto gehört?«

»Ich habe es in der Freien Presse gelesen. Wissen Sie mehr darüber?« Adina nahm die Fährte auf, obwohl ihr Besuch ein ganz anderes Ziel verfolgte.

»Na ja, etwas Genaues weiß ich nicht. Nur dass der Mann etwas mit der Chemnitzer Bewerbung zu tun hatte. Und dass es da gewisse Neider gibt, zum Beispiel in Mittelfranken, kann man aus diversen Zeitungsbeiträgen herauslesen.«

Adina dachte nach. Ihr war bekannt, dass Ostdeutsche mehr zwischen den Zeilen lasen als in den Zeilen. Vor allem herauslasen. »Sie meinen, da wollte jemand die Entscheidung für Chemnitz verhindern und den Titel nach Nürnberg holen?«

»Ganz so vielleicht nicht. Dafür wurde er zu spät umgebracht. Aber irgendwer hat ihm den Erfolg nicht gegönnt und war vielleicht sauer, weil es in Nürnberg nicht geklappt hat.« Es klingelte. Die Tochter von Frau Rosenkranz stand auf und betätigte den Türöffner.

»Frau Kievernagel. Ich habe gehört, Sie kennen sich bereits«, sagte sie zu Adina. »Ja, wir hatten schon miteinander zu tun, nur hatte ich damals nicht viel Zeit für meine privaten Forschungen.«

»Bevor ich es vergesse: Unser Historiker erwartet Sie um 13 Uhr am Friedhof. Ich werde Sie begleiten. Widerspruch zwecklos«, sagte Frau Kievernagel im Anschluss an die Begrüßung.

Nachdem Frau Rosenkranz die letzte Tasse mit duftendem Tee grusinischer Art, wie sie betonte, gefüllt hatte, begann sie über Adinas Urgroßmutter zu sprechen.

»Adina Pfefferkorn hatte nach dem Ersten Weltkrieg ein Lehrerseminar besucht. Sie sprach fließend Englisch. Eine Karriere blieb ihr jedoch verwehrt, und genauso ihrem Mann, einem Arzt. Der war katholischer Christ, durfte aber trotzdem nicht mehr praktizieren. In seiner Akte stand, dass er eine Frau mosaischen Glaubens hatte. Es half nichts, dass sich die beiden pro forma scheiden ließen. Damals lebten sie in Niederschlesien, nicht weit entfernt von Waldenburg, das heute Walbrzych heißt.«

Adina versuchte, ihr Herzklopfen zu unterdrücken.

»Wie kam sie nach Chemnitz?«

»Sie hatte hier Freunde, die ihr halfen, nachdem sie mit den Kindern allein war und die Ostgebiete geräumt wurden. Sie wissen sicher, dass ihr Mann frühzeitig starb und sie allein durchkommen musste. Da sie fließend Englisch sprach, konnte sie als Übersetzerin arbeiten, allerdings wurde Englisch vorerst im Osten nicht so sehr gebraucht. Da war man mit Russisch besser dran. Im hohen Alter gab sie Kurse an der Volkshochschule und Privatunterricht für Studenten. Bestimmt begeisterte sie ihre Tochter für Sprachen, also Ihre Großmutter Flora. Die wurde Dolmetscherin.«

»An sie kann ich mich gut erinnern. Sie wohnte damals bei uns in der Nähe, in Westberlin. Mein Großvater war schon tot. Lebt eigentlich noch jemand von ihren Freunden hier?«

»Es wurde etwas von einem Gönner oder Liebhaber gemunkelt, aber keiner von uns hat je erfahren, wer er war. Wir wissen nicht, ob er hier lebte oder nur ab und an zu Besuch kam. Ich glaube, er ist kurz vor Adina gestorben. Sie hatte mit einem Mal keinen Lebensmut mehr. Die Tochter war in Berlin, der älteste Sohn ging gleich nach dem Krieg in einen Kibbuz in Palästina. Der jüngere war ständig für seine Firma im Ausland unterwegs. Die Enkel hat sie auch nicht so oft gehabt wie andere, deren Kinder zu DDR-Zeiten in Karl-Marx-Stadt zu Hause waren. Ich hatte aber nicht den Eindruck, dass sie einsam war.«

Adina überlegte kurz. Als Frau Rosenkranz weiter schwieg, sagte sie: »Vielleicht sind die unerfüllten Lieben die dauerhaftesten.« Dann blickte sie aus dem Fenster bis zur Kaßberg-Auffahrt ihren Gedanken hinterher.

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas«, riss Frau Rosenkranz Adina aus ihren Gedanken. Sie stand auf und ging durch den Flur in ein leer wirkendes Zimmer. »Das Bild hat sie für mich gemalt. Wussten Sie, dass sie künstlerisch begabt war? Bild und Text stammen von ihr.«

Adina las ein Gedicht, in schnurgeraden Lettern auf den Zeichenkarton gemalt, inmitten sich kunstvoll rankender Verzierungen.

»Das klingt sehr nach unerfüllter Liebe«, stellte Adina fest, nachdem sie die drei Strophen halblaut rezitiert hatte.

»Ich möchte Ihnen das Bild schenken. Ich würde mich sehr freuen, wenn es einen guten Platz bei Ihnen findet.«

Adina schaute Frau Rosenkranz überrascht an. »Aber das kann ich doch nicht annehmen.«

»Natürlich können Sie das. Meine Tage hier sind gezählt. Ich ziehe in eine Seniorenresidenz und habe nicht mehr so viel Platz. Und was meinen Sie, was meine Kinder mit dem ganzen Zeug hier machen! Da ist es mir viel lieber, wenn wenigstens einige Stücke in gute Hände kommen.«

Adina umarmte die Frau, ohne nur einen Moment zu zögern. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.« Ein Tränchen kullerte über Adinas Gesicht.

Frau Kievernagel schaute auf die Uhr, dann zu Adina. »Bei dem Wetter …«, begann sie. »Ja, ich weiß, wir müssen. In der Kälte ist es noch unanständiger als sonst, jemanden warten zu lassen. Soll ich Sie in meinem Auto mitnehmen? Ich könnte Sie anschließend zurückbringen«, bot Adina an.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich wohne hier in der Nähe«, antwortete Frau Kievernagel.

Der Historiker stieg aus dem Auto, als Adina mit Frau Kievernagel am Friedhof parkte. Er hatte für Adina einen Umschlag mit Fotos ihrer Urgroßmutter mitgebracht. »Das ist alles, was ich im Moment gefunden habe. Bei mir stehen noch einige Kartons zur Auswertung. Wenn Sie mir Ihre Kontaktdaten dalassen …«

Adina hatte bereits nach ihrem Visitenkartenetui gegriffen und ein Kärtchen herausgenommen.

»Ich würde mich sehr freuen. Aber erst einmal herzlichen Dank für Ihre Mühe. Ich weiß gar nicht, wie ich das wiedergutmachen kann. Ich wurde heute so reich beschenkt.«

»Keine Ursache. Ich beschäftige mich ohnehin mit dem Thema. Und forschen ist eher eine einsame Arbeit. Es ist eine große Freude für mich, wenn ich jemandem eine Freude machen kann. Im Alter kommt man darauf, dass an dem Spruch Geben ist seliger denn nehmen tatsächlich etwas dran ist.«

Der Historiker hielt Adina einen kleinen Vortrag über die Geschichte der Juden in Chemnitz, während sie über den Jüdischen Friedhof schlenderten. Nicht alle Wege waren schneefrei, sodass sich der Rundgang auf die Hauptwege konzentrierte. Adina erfuhr etwas über die Stadt im Allgemeinen und das Leben ihrer Urgroßmutter im Besonderen. »Sie bieten viele Vorträge und Rundgänge an?«, fragte Adina.

»Ja, seit ich im Ruhestand bin, habe ich das Programm erweitert«, sagte der Historiker.

»Das ist gut, ich werde den Kontakt in mein Tourismusportal aufnehmen und zu den Terminen verlinken. Sind Sie damit einverstanden?«

»Aber natürlich. Vorträge ohne Besucher sind grässlich. Da kann man immer Unterstützung gebrauchen. Und kostenlose sowieso.«

Adina freute sich, dass sie dem Mann eine winzige Gegenleistung für seine Hilfe bieten konnte. Sie verabschiedete sich von ihm und fuhr mit Frau Kievernagel zum Kaßberg. Dann gab sie die Heinrich-Zille-Straße ins Navi ein. Einen Parkplatz fand sie gleich um die Ecke bei der hübschen Buchhandlung am Brühl.

Das Schalom war gut gefüllt. »Herzlich willkommen! Wir haben dir einen der besten Plätze reserviert. Und sicher bist du da auch, gleich neben unseren Chemnitzer Beamten«, begrüßte der Wirt Adina, nachdem diese das Restaurant betreten hatte.

»Hallo, Uwe, ich freue mich schon seit gestern, als ich den ersten Tag in Chemnitz unterwegs war.« Der Mann mit der dunkelroten Schürze und der Kippa auf dem Kopf führte sie zum Platz.

»Das ist Adina Pfefferkorn. Sie hat euch damals den Verrückten geliefert, der überall Beutekunstjäger gewittert hat. Die Sache in den Kunstsammlungen«, stellte der Wirt Adina den Männern vom Nachbartisch vor. Sie wusste für einen Moment nicht, wie sie sich verhalten sollte. »Wir kennen uns«, rief ein hagerer Mittdreißiger von der hinteren Stirnseite. »Ich habe damals die Anzeige aufgenommen. Kriminalhauptkommissar Müller, Sie erinnern sich sicherlich.« Damit war das Eis gebrochen, obwohl Adina den Mann nicht wiedererkannt hätte. Die Beamten boten ihr einen freien Platz an ihrer Tafel an. »Ich werde erst etwas essen, dann können wir an Ihrem Tisch schwatzen, wenn Sie nichts dagegen haben«, antwortete sie und setzte sich auf ihren reservierten Platz.

»Das ist schon mein zweites jüdisches Restaurant innerhalb einer Woche. Vor ein paar Tagen war ich im Feinberg’s in Berlin«, erzählte Adina, als Uwe ihr die Speisekarte reichte.

»Und?«

»Anders als hier, mehr sephardisch, Sabich, Shak­shuka, Kebab, Kibbeh, also alles, was man aus der orientalischen Küche kennt. Es gibt aber viele Sachen, die ihr hier habt. Natürlich Zackenbarsch in scharfer marokkanischer Soße, also Chraime, Hummus, Falafel und all die Mezze-Vorspeisen. Ich glaube, gefilte Fisch, Borschtsch, Kneidlach oder Tscholent und solche osteuropäischen Sachen haben sie nicht auf der Karte. Super lecker ist es aber hier wie dort.«

»Danke. Na, dann nimm doch heute etwas Aschkenasisches. Blinzes, Latkes, Hühnchen …«

»Erst bringst du mir ein Simcha. Ich muss heute zurück, da ist nichts mit viel Alkohol. Ein kleines Bier geht aber. Ich bin mehr als eine Stunde da. Und wenn du mit dem Bier kommst, weiß ich, was ich esse.«

Der Kellner brachte das Bier. Adina gab ihre Bestellung auf. »Hummus muss sein. Dann würde ich gern die jiddische Hühnersuppe probieren. Damit dürfte die Sättigungsgrundlage geschaffen sein. Lattkes mit Gemüse könnten gerade noch reinpassen.«

»Klar, du schaffst das. Es dauert ein wenig.«

Adina nahm einen Schluck Bier, wischte sich den Schaum von den Lippen und wandte sich den Beamten zu. »Ganz schön was los in Chemnitz. Der Rummel um die Kulturhauptstadtbewerbung, die ganzen dämlichen Störmanöver und jetzt ein Toter.«

»Das hat sich bis in die Hauptstadt herumgesprochen?«, fragte der Mann, den sie bereits kannte.

»Klar, Herr Müller. Wir Berliner Pflanzen sind immer gut informiert, und Journalisten sowieso. Aber ich wohne zurzeit im Erzgebirge. Ich war nur ein paar Tage in Berlin, mit meinem Auftraggeber sprechen, meine Eltern besuchen, nach meiner Wohnung sehen. Die Gegend hier ist mir so ans Herz gewachsen. Da zieht es mich immer schnell zurück.« Das ironische »vor allem im Winter« verkniff sie sich.

Kriminalhauptkommissar Müller setzte zum Sprechen an. Sein Tischnachbar kam ihm zuvor. »Ich bin der Harald. Und der Herr Müller, der heißt Steffen.«

»Ich bin Adina. Sorry, mein Essen.« Die Antwort fiel knapp aus, denn Adina wollte sich dem eben servierten Hummus widmen. Sie brach das Brot ab, tauchte es in den Kichererbsen-Sesampastenbrei und murmelte »himmlisch« vor sich hin. Die weiteren Gänge kamen auf den Punkt. Adina orderte ein Wasser und wechselte nach dem Essen zum Nachbartisch. Als sie saß, schaute sie demonstrativ auf ihre Uhr. »20 Minuten, dann muss ich weg. Haben Sie die Sache mit dem Auto schon aufgeklärt?«

»Nein, wir tappen im Dunkeln. Es gibt ein paar vielversprechende Spuren, aber keinen Durchbruch«, antwortete Kriminalhauptkommissar Müller. Adina überlegte kurz. Sie wusste, dass die Beamten alle Gesprächstricks kannten, und wollte nicht ganz so plump erscheinen. Doch die Flirtversuche von diesem Müller, die hatten Potenzial.

»Stimmt es, dass der Mann umgebracht und ins Auto gelegt wurde?«, begann sie.

»Ich würde dem nicht widersprechen«, antwortete der Kommissar und blickte Adina an.

»Und dass die Sache mit der Kulturhauptstadt zusammenhängt?«

»Wie kommen Sie darauf?«, hakte der Kommissar nach.

Die Salamitaktik schien zu funktionieren. Adina versuchte, ihn weiter anzufüttern. »Ich habe mich gestern und heute mit einigen Chemnitzern getroffen. Die sprachen davon. Einige vermuten einen Zusammenhang mit anderen Bewerbern für den Titel. Und schon bevor ich herkam, habe ich mir angeschaut, was in diversen Medien veröffentlicht wurde. Ich meine, vor allem in den sozialen Medien, die nur dem Namen nach sozial sind. Meldungen, Kommentare, Bilder …« Adina trank den letzten Schluck aus ihrem Glas. »Ich muss nach Annaberg. Man sieht sich vielleicht an der einen oder anderen Stelle. Oder irgendwann wieder im Schalom.« Als sie sich verabschiedete, bemerkte sie ein enttäuschtes Gesicht.

Während der Rückfahrt telefonierte Adina über die Freisprechanlage mit Oli. Er kam kaum zu Wort, so viel hatte Adina zu berichten. »Und stell dir vor, die Chemnitzer Beamten vermuten auch, dass der Tote mit der Kulturhauptstadt zu tun hat«, erzählte sie ihm.

»Ich bin bei der Übergabe. Medienbetreuung ist etwas anderes als Dienst an vorderster Front. Nimm dir für das Wochenende nicht zu viel vor. Ich glaube, ich will einfach relaxen«, erfuhr sie von Oli.

Adina war gerade in Olis Annaberger Wohnung angekommen, als ihr Handy vibrierte. »Hier ist Kriminalhauptkommissar Müller. Könnten Sie morgen ins Präsidium kommen und Ihren Laptop mitbringen? Wir würden uns gern die Bilder mit Ihren Beobachtungen vor Ort anschauen.« Das ging ja schnell, dachte Adina und hatte Mühe, ernst zu bleiben. Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit Oli, der ebensfalls ein forsches Tempo an den Tag gelegt hatte. »Klar, ich bin morgen ohnehin in Chemnitz. Ich denke, so ab halb zehn.«

»Ja, das passt. Melden Sie sich beim Einlassdienst – so wie damals bei der Aussage zum Beutekunstjäger. Ich hole Sie ab.«

»Ok, bis morgen.« Adina verabschiedete sich und ließ ein heißes Bad ein. So aufgewühlt, wie sie war, konnte sie ohnehin schlecht einschlafen. Immerhin schien sie auf Männer zu wirken. Vor allem auf Single-Beamte. Deshalb war sie jetzt hier in dieser sibirischen Kälte. Und hier wollte sie auch bleiben, obwohl sie gerade wieder einmal ihren Marktwert getestet hatte. Oder ihr der Test aufgezwungen worden war. In der Nacht träumte Adina von zwei Kriminalkommissaren, die Russisch Roulette spielten. Sie wachte auf, als der Schuss gefallen war – ohne zu wissen, wie das Duell ausging. Das flaue Gefühl im Magen begleitete sie während der Fahrt nach Chemnitz. Lange vor dem Ortseingang Harthau ging sie vom Gas und schaute auf den Tacho.

Punkt 9.30 Uhr öffnete Adina die Tür zum Polizeipräsidium. Es dauerte nicht lange, und Kriminalhauptkommissar Müller holte sie am Eingang ab. »Jetzt bin ich aber gespannt«, sagte er nach einer kurzen Begrüßung.

Adina fuhr ihren Laptop hoch und klickte auf den ersten Link. »Schauen Sie, ich meine diesen Mann hier. Der taucht auf vielen Bildern auf, die mit der Kunst im nicht geschützten Raum in Verbindung stehen. Sogar, als das Auto aus dem Schlossteich gefischt wurde.«

Adina schaute zu den Beamten und folgte einem weiteren Link. »Sehen Sie, hier.« Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass der Mann, der sich ihr als Harald vorgestellt hatte, seinem Kollegen zunickte. Dann verließ er den Raum und kam kurze Zeit später mit einem weiteren Zivilbeamten zurück.

»Guck mal, Armin, ist das dein Kumpel?« Der mit Armin angesprochene Beamte trat näher an Adinas Laptop heran. »Klar, der war auch dabei, als der Skoda wegen mutwilliger Zerstörung abgefischt wurde. Nach der Reparatur wurde das Auto ja wieder versenkt. Jedes Mal versuchten ein paar Deppen, die Aktion mit sinnlosen Anzeigen zu stören. Ich kenne den.«

»Du kennst ihn?«, hakte Müller nach.

»Das ist doch dieser geschasste Schauspieler aus Nürnberg. Er hatte zwei, drei Engagements am Chemnitzer Theater. Warst du mit in der Premiere von diesem DDR-Stück, wo der sich so blamiert hat? DDR können halt nur Ossis«, sagte Armin. »Kannst du bitte ermitteln, wie der hieß und was aus ihm geworden ist?«, bat Steffen Müller.

»Den Namen habe ich. Schaut mal hier.« Adina hatte einen weiteren Link angeklickt.

»Ja klar, das ist er. Einmal gesehen, alles geschehen, äh, nie vergessen. Bin gleich wieder da«, verabschiedete sich Armin.

»Trinken wir noch eine Tasse Kaffee zusammen?«, fragte Kriminalhauptkommissar Müller, während Adina den Laptop herunterfuhr.

»Klar, ich musste heute zeitig aus dem Haus, da war nicht viel mit Frühstück«, gestand Adina.

»Ich lade Sie gern zum Frühstück ein. Es ist nichts Opulentes.Wir haben belegte Brötchen, Joghurt, Salat. Wenn Sie kein Veganer sind …« Er lächelte sie verführerisch an.

»Nein, in meinem Job wäre das ziemlich schwierig. So ausgeprägt ist das Angebot in Deutschland nicht, vor allem nicht im ländlichen Raum. Zwei halbe Brötchen und ein Joghurt wären schick. Und ein Milchkaffee. Dankeschön.«

»Das geht uns ähnlich. Wir sind nicht immer im Präsidium und brauchen manchmal zwischendurch etwas zu beißen. Ich bin gleich wieder da.« Während der Kommissar das Tablett mit Kaffee, Brötchen und Joghurt zum Tisch brachte und alles arrangierte, flog die Tür zum Besprechungszimmer auf.

»Das glaubst du nicht. Der hat den Nürnberger Bewerbungsprozess für die Kulturhauptstadt geleitet und verhindert, dass unser teurer Toter dort zum Zuge kam. Dieser wurde daraufhin in Chemnitz aktiv und trug maßgeblich zum Erfolg bei. Wenn das kein Motiv ist, fress’ ich einen Besen.«

»Vergiss den Stiel nicht. Und nun? Amtshilfeersuchen nach Mittelfranken?«

»Haben Sie Amtshilfeersuchen gesagt? Ich glaube, das Wort verfolgt mich.« Adina prustete los. Kriminalhauptkommissar Müller schaute sie verdutzt an.

»Mein Freund ist Kriminalhauptkommissar, genau wie Sie. Nur in Annaberg. Aber gerade hat er eine Schwangerschaftsvertretung in Dresden übernommen. Der wirft auch immer mit solchen komischen Begriffen um sich.«

»Annaberg, Dresden … Lars-Oliver? Kein Wunder, dass Sie so fit in Sachen Ermittlung sind.«

»Ja, Oli, Sie kennen sich? Und bitte, ich bin Journalistin, wir wissen, wie so etwas geht. Bei uns heißt es eben nur Recherche und nicht Ermittlung.«

»Wir haben zusammen studiert und telefonieren ab und an miteinander. Er erzählte mir von seiner Freundin, die ständig über Mord und Totschlag, Raub und andere Straftaten stolpert.«

»Bei genau so einer Sache haben wir uns kennengelernt. Am Waldgeisterweg. Aber das war bei Weitem nicht mein erster Toter hier in Sachsen.«

»Die verrückten Pilz-Opas. Ich erinnere mich. Das kursierte damals durch alle Gazetten.«

Armin, der sich unbemerkt aus dem Zimmer geschlichen hatte, kam zurück. »Erledigt. Die Nürnberger fühlen dem erfolglosen Mimen auf den Zahn. Ich glaube, unser Wochenende ist gerettet.«

»Dann darf ich mich jetzt verabschieden. Ich möchte mich ein bisschen in Chemnitz umschauen und mein Portal auf den neuesten Stand bringen. Es wäre nett, wenn Sie mich über den Ausgang der Ermittlungen auf dem Laufenden hielten. Journalisten sind halt immer furchtbar neugierig. Und die -innen noch mehr.«

Und nun hat sich das mit dem Flirten auch erledigt, dachte Adina, der Steffens Annäherungsversuche nicht entgangen waren.

»Klar, ich habe Ihre Daten. Oder ich rufe Oli an. Aber erst, wenn der Fall geklärt ist.«

Mörderisches aus Sachsen

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