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I. Vorträge über das Matthäus-Evangelium

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Erster Vortrag: Über die Stelle:“Mit der Geburt Christi verhielt es sich so…” bis “fand es sich, dass sie vom Hl. Geist empfangen hatte.” Mt 1,18

Jedesmal, wenn nach Vollendung des Kreislaufes eines Jahres der Tag der Geburt des Herrn herannaht und der Glanz der Jungfrauengeburt die ganze Welt mit feurigem Glanze überstrahlt, enthalten wir uns aus Absicht, nicht aus Furcht, der Predigt. Welcher Geist möchte sich auch erkühnen, hervor zutreten bei der Geburt des göttlichen Königs selbst? Wenn die Strahlen der Sonne hervorbrechen, wird das Auge des Menschen geblendet, wenn aber Gottes Licht erstrahlt, wie sollte dann nicht erlöschen aller Geister Licht? Erst jetzt also, wo sich unsere Sinne wieder erholt haben von dem Glanze dieses neuen Lichtes, ist es an der Zeit, dass auch wir, die wir die Geburt des Herrn im Fleische geschaut haben, betrachten das Geheimnis seiner Gottheit selbst “Mit der Geburt Christi”, sagt der Evangelist, “verhielt es sich so.”1

Brüder! Wenn wir diese Worte verstehen wollen, dürfen wir sie als göttliche Worte nicht nach Menschenweise wägen; abzulegen ist menschliche Auffassung, wo alles göttlich ist, von dem die Rede ist. So ist die Geburt Christi nicht ein gewöhnliches Ereignis, sondern ein Zeichen2 ; nicht das Werk der Natur, sondern das Werk [göttlicher] Kraft; nicht geschehen nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge, sondern ein Beweis [göttlicher] Macht; sie ist ein Wunder des Himmels, nicht zu erfassen mit dem menschlichen Verstande. Was soll davon die Weisheit dieser Welt begreifen? Was soll hier forschen der Scharfsinn des Fleisches? “Mit der Geburt Christi”, heißt es, “verhielt es sich so.”

Nicht heißt es: “So ist sie geschehen”, sondern: “So war sie”; denn Christi Geburt war schon vor dem Vater, als er aus der Mutter geboren wurde. Was er3 war, war er immer; was4 geschah, wurde ihm gegeben; er war Gott, er wurde Mensch; aus dem Mutterschoß nahm er uns5 an, er, der uns gebildet hatte aus dem Kote.

“Als Maria, seine Mutter verlobt war”6 .

Es hätte genügt, zu sagen: “als Maria verlobt war”. Was aber heißt das: eine Mutter-Braut? Wenn sie Mutter, dann war sie nicht Braut; wenn sie Braut, dann war sie noch nicht Mutter! “Als Maria, seine Mutter, verlobt war.” Durch ihre Jungfräulichkeit ist sie Braut, durch ihre Leibesfrucht Mutter; Mutter, ohne einen Mann zu erkennen, und doch ihrer Empfängnis bewußt! Oder wie? War sie nicht schon vor der Empfängnis Mutter, sie, die nach der Geburt Jungfrau-Mutter blieb? Oder wann war sie denn einmal nicht Gebärerin, sie, die den Schöpfer aller Zeiten gebar, der Welt ihren König gab?7 Die jungfräuliche Natur ist immer Mutter, wie sie immer eine Stiefmutter ist, wenn sie verdorben ist. Das ist also die Auszeichnung der Jungfräulichkeit, dass sie durch Gott als Jungfrau wiedergebiert, was eine Jungfrau8 durch Gott geboren hat. Gott und jungfräuliche Unversehrtheit haben einen himmlischen Bund geschlossen, die Jungfräulichkeit mit Christo vereinigt, ist die vollkommenster Machtverbindung. Dass eine Jungfrau empfängt, ist ein Ehrengeschenk des Hl. Geistes, nicht Wirkung des Fleisches; dass eine Jungfrau gebiert, ist ein Geheimnis Gottes, nicht das Werk des ehelichen Umganges; dass Christus geboren wird, ist die Tat der Allmacht Gottes, nicht eines schwachen Menschen; die Fülle der göttlichen Herrlichkeit ist da, wo das Fleisch nichts von Unehre erkennen läßt.

“Als seine Mutter Maria mit Joseph verlobt war, fand es sich, ehe sie zusammenkamen, dass sie vom Hl. Geiste empfangen hatte.”9 Woher kommt es, dass einer Braut und nicht einer Freien das Geheimnis der himmlischen Unschuld übergeben wird? Woher kommt es, dass so durch die Eifersucht des Bräutigams die Braut selbst Gefahr läuft? Woher kommt es, dass eine so große Tugend als ein Verbrechen, sicheres Heil als Gefahr an gesehen wird? Woher kommt es, dass die Schamhaftigkeit unter Unschuldigen so sehr leiden muß, dass die Unschuld unterliegt, die Keuschheit erniedrigt, die Treue verletzt wird? Woher kommt es, dass eine Anklage erhoben wird, die Anschuldigung [den Beleidigten] quält, eine jede Entschuldigung unmöglich gemacht wird? Denn wer möchte wohl eine Braut entschuldigen, die eine Empfängnis anklagt? Oder was wird ein äußerer Verteidiger nützen, wenn die Tat selbst als ein innerer Zeuge redet? Brüder! Was staunen wir? Weder die Punkte noch die Buchstaben, weder die Silben noch die Worte, weder die Namen noch die Personendes Evangeliums entbehren des göttlichen Sinnbildes. Eine Braut wird gesucht, damit durch sie versinnbildet werde die Kirche als Braut Christi nach den Worten des Propheten Osee: “Ich werde dich mir verloben in Gerechtigkeit und Recht, in Gnade und Erbarmung; ich werde dich mir verloben in Treue”10 . Daher sagt auch Johannes: “Wer die Braut hat, ist Bräutigam”11 , und der hl. Paulus: “Ich verlobte euch einem Manne, Christo, als reine Jungfrau darzustellen”12 . Sie [die Kirche] ist in Wahrheit eine Braut, welche durch eine Jungfraugeburt wiedergebiert die neue Kindschaft Christi [durch die Taufe]. Joseph wird als Bräutigam genommen, damit er erfülle das Vorbild des Leidens Christi, das in jenem Joseph13 vorgebildet war.

Joseph zog sich den Haß [seiner Brüder] zu durch seine prophetischen Träume: Christus lud den Neid [der Juden] auf sich, durch seine prophetischen Gesichte; Joseph wurde in die Zisterne des Todes14 ge worfen, stieg aber lebendig aus ihr hervor: Christus wurde dem Grabe des Todes übergeben, ging aber lebendig aus dem Grabe hervor; Joseph wurde verkauft: Christus wurde nach Geldwert eingeschätzt; Joseph wurde nach Ägypten geführt: Christus wurde auch nach Ägypten verbannt; Joseph verteilte unter das hungernde Volk in reichlicher Fülle Brot: Christus sättigte durch das Brot des Himmels die Völker, die auf der ganzen Erde weilen. So ist es klar, warum dieser Joseph das Vorbild des himmlischen Bräutigams bedeutete, sein Bild an sich trug, ihn vorbedeutend wandelte Eine Maria wird seine Mutter genannt. Und heißt Maria nicht Mutter?15 “Die Sammlungen der Wasser”, heißt es, “nannte er Meere [maria]”16 . Hat dies17 nicht das Volk, das aus Ägypten auszog, in dem einen Mutterschoß empfangen, um es aus demselben wieder neugeboren hervor zubringen als ein himmlisches Geschlecht zu einer neuen Schöpfung nach den Worten des Apostels: “Unsere Väter waren alle unter der Wolke und gingen alle durch das Meer, und alle wurden auf Moses in der Wolke und in dem Meere getauft”?18 Und damit eine Maria immer dem Heile der Menschheit vorauseile, ist sie mit Recht im Liede dem Volke vorangegangen, das durch die Wogen des Meeres als Mutter ans Licht gebracht wurde: “Maria” heißt es, “die Schwester Aarons, nahm die Pauke in ihre Hand und sprach:”Laßt uns singen dem Herrn, denn glorreich ward er verherrlicht!"19 Dieser Name ist in Wahrheit ein prophetischer Name, den wiedergeborenen eine Rettung, das Kennzeichen der Jungfräulichkeit, der Schmuck der Keuschheit, der Ruhmestitel der Reinheit, das Weihegeschenk Gottes, die Kraft der Gastlichkeit20 , der Mittelpunkt der Heiligkeit. Mit Recht also ziemt dieser mütterlicher Name der Mutter Christi.

Wir haben nun gesagt, warum eine Braut Mutter, warum Joseph der Bräutigam war, warum Maria der Name einer Mutter zukomme, um zu zeigen, dass bei der Geburt Christi alles geheimnisvoll gewesen sei; jetzt wollen wir noch mit anderen Gründen erklären, warum eine Braut auserkoren wurde zur Geburt Christi. Isaias hatte vorhergesagt, dass eine Jungfrau gebären solle den Gott des Himmels, den König der Erde, den Herrn des Erdkreises, den Wiederhersteller der Welt, den Bezwinger des Todes, den Wiederbringer des Lebens, den Urheber der Unsterblichkeit. Wie betrübend dies für die Weltmenschen, wie erschreckend für die Könige, wie furchterregend für die Juden war, bezeugt die Geschichte der Geburt Christi selbst. Denn sobald die Juden durch die Worte der Weisen hörten, dass Christus geboren sei, sobald Herodes davon Kunde bekam, bemühten sich gleich die Juden, Christum zu verderben, Herodes ihn zu töten; während sie einen Thronfolger fürchte ten, versuchten sie den Erlöser aller zu verderben. Und schließlich, da sie ihn nicht finden konnten, verwüsteten sie seine Geburtsstätte, mischen die Milch mit Blut, töten in mörderischer Wut seine Geburtsgenossen; sie zerreißen die Genossen der Unschuld, da sie keine Schuldgenossen zu strafen fanden21 . Wenn sie nun dies tun, nachdem Christus geboren war, was hätte wohl diese wilde Rotte getan, wenn sie gehört hätte von der Empfängnis Christi? Das ist der Grund, warum ein Bräutigam genommen wurde, warum der Schein einer ehelichen Verbindung gewahrt wurde, damit das Wunder verheimlicht, das Zeichen verdeckt, die Geburt aus einer Jungfrau verhüllt würde, damit dem Verbrechen kein Raum gegeben würde, die Nachstellungen der Wütenden vereitelt würden. Wenn Christus, der zwar dem Tode geweiht war, schon im Mutterleibe getötet worden wäre, würde der Tod zu schnell hinweggenommen haben, was gekommen war, uns zu retten. Weil uns aber diese Stelle [der Hl. Schrift] noch viel Stoff geben kann zur Erklärung, so möge es uns für heute genügen, Brüder, das Geheimnis des Herrn nur vorverkostet zu haben.

Zweiter Vortrag: Über die Stelle: „Mit der Geburt Christi verhielt es sich also…“ bis:„denn er wird sein Volk erlösen von seinen Sünden.“ Mt 1,18-21

Heute, Brüder, werdet ihr hören, wie uns der hl. Evangelist das Geheimnis der Geburt Christi erzählt. „Mit der Geburt Christi“, heißt es, „verhielt es sich also. Als seine Mutter Maria mit Joseph verlobt war, fand es sich, ehe sie zusammenkamen, dass sie vom Hl. Geiste empfangen hatte. Joseph aber, ihr Mann, gedachte, da er gerecht war und sie nicht ins Gerede bringen wollte, sie heimlich zu entlassen“22 . Wie ist denn der gerecht, der glaubte, über die Schwangerschaft seiner Braut keine Untersuchung anstellen zu sollen, der nicht nachforschte nach der Ursache der eingetretenen Schande, der die Ehre des Ehebettes nicht rächt, sondern preisgibt?23 . „Er gedachte, sie heimlich zu entlassen.“ Ein solches Verhalten scheint mehr einem liebenden als einem gerechten Manne zu ziemen; doch so urteilt der Mensch, aber nicht Gott. Vor Gott gilt keine Liebe ohne Gerechtigkeit und keine Gerechtigkeit ohne Liebe; nach himmlischer Auffassung gibt es keine Rechtlichkeit ohne Güte und keine Güte ohne Rechtlichkeit. Sobald man diese Tugenden voneinander trennt, verfallen beide; Rechtlichkeit ohne Güte ist Rohheit und Gerechtigkeit ohne Liebe Grausamkeit.

Joseph war also in der Tat gerecht, weil er liebte, und er liebte, weil er gerecht war. Deshalb also war er frei von Grausamkeit, weil er die Liebe erwog; weil er die Angelegenheit in Ruhe überdachte, wahrte er sich sein Urteil; indem er die Strafe aufschob, entging er dem Verberechen; indem er dem Ankläger aus dem Wege ging, traf ihn auch nicht die Verurteilung. Gewiß klopfte ihm sein heiliges Herz, durch das unerhörte Ereignis gewaltig erregt; denn [vor ihm] stand seine Braut, schwanger und doch eine Jungfrau; sie stand da im Besitze ihres Leibessegens, doch ihrer Unschuld nicht beraubt; sie stand da, selbst in Sorgen wegen ihrer Empfängnis, aber ihrer Unversehrtheit gewiß; sie stand da vor ihm im Schmucke ihres Muttersegens, aber nicht entblößt der Ehre der Jungfräulichkeit. Was sollte der Bräutigam diesen Tatsachen gegenüber tun? Sollte er sie des Verbrechens anklagen? Aber er war doch selbst der Zeuge ihrer Unschuld! Sollte er sie für schuldig erklären? Aber er war doch selbst der Wächter ihrer Unschuld! Sollte er ihr Ehebruch vorwerfen? Aber er war doch selbst der Beschützer ihrer Jungfräulichkeit! Was sollte er also tun? Er gedenkt, sie zu entlassen, weil er sie einerseits nicht dem öffentlichen Gerede preisgeben, andererseits nicht das Geschehnis verheimlichen konnte. Er gedenkt, sie zu entlassen, und stellt das Ganze Gott anheim, weil er es einem Menschen nicht anvertrauen kann. Brüder! So laßt auch uns, so oft uns eine Sache beunruhigt, der Schein uns trügt, das Äußere der Angelegenheit uns das Innere nicht erkennen läßt, das Urteil vermeiden, die Straffe zurückhalten. das Verdammungsurteil nicht aussprechen, laßt uns das Gange Gott anheim geben, damit wir nicht, indem wir vielleicht leichtfertig über einen Unschuldigen die Strafe zu verhängen trachten, uns selbst ein Strafurteil sprechen, wie der Herr sagt: „Mit dem Gerichte, mit dem ihr richtet, werdet auch ihr gerichtet werden“24.

Sicherlich wird, wenn wir schweigen, Gott re den; der Engel wird Antwort geben, der auch dem Joseph also [mit seiner Mahnung] zuvorkam, die Unschuldige nicht zu verlassen, indem er sprach: „Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, dein Weib, zu dir zu nehmen; denn was in ihr erzeugt ward, ist vom Hl. Geiste. Sie aber wird Mutter eines Sohnes werden, und du sollst ihm den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk erlösen von seinen Sünden“25 . „Joseph, Sohn Davids.“ Ihr seht, Brüder, dass mit der Person auch das Geschlecht genannt wird; ihr seht, dass in dem einen [d. i. Joseph] die ganze Verwandtschaft aufgezählt wird; ihr seht, dass in Joseph der ganze Stammbaum Davids erwähnt wird. „Joseph, Sohn Davids.“ Geboren aus dem achtundzwanzigsten Stamme26 : wie kann er anders Sohn Davids heißen, als weil [durch ihn] das Geheimnis der Geburt eröffnet, die Treue der Verheißung erfüllt, die übernatürliche Empfängnis der himmlischen Geburt im Schoße der Jungfrau bereits angezeigt wird? „Joseph, Sohn Davids.“ Mit diesem Worte war an David die Verheißung Gottes, des Vaters, ergangen:„Der Herr schwor David Wahrheit, und er wird sie halten: von deines Leibes Frucht will ich [einen] setzen auf deinen Thron“27 . Als schon geschehen rühmt er in diesem Psalme: „Es sprach der Herr zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten“28 . „Von der Frucht deines Leibes“: ganz in Wahrheit eine Leibesfrucht, ganz recht aus dem Schoße einer Mutter; denn der göttliche Gast, der Bewohner des Himmels, stieg so herab in die Wohnung des Schoßes einer Mutter, ohne das Siegel des Leibes zu verletzen; so ging er aus der Wohnung des Schoßes hervor, ohne dass die jungfräuliche Pforte sich öffnete, so dass in Erfüllung ging, was gesungen wird im Hohen Liede:

„Ein verschlossener Garten bist du, meine Schwester, meine Braut; ein verschlossener Garten, eine versiegelte Quelle“29 . „Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht!“ Der Bräutigam wird ermahnt, wegen der Umstände der Braut nicht zu fürchten; denn ein wahrhaft liebendes Gemüt fürchtet mehr, wenn es mit [anderen] leidet. „Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht!“: wenn du sicher bist über ihre Unschuld, unterliege nicht ob der Unkenntnis dieses Geheimnisses! „Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht!“ Was du an ihr siehst, ist Tugend, kein Verbrechen; hier liegt kein menschlicher Fehltritt, sondern göttlicher Einfluß30 vor; hier ist Belohnung, keine Schuld; hier ist ein Geschenk des Himmels, nicht eine Schwächung des Körpers31 ; hier findet keine Bloßstellung einer Person statt, sondern hier waltet das Geheimnis des Richters32 ; hier ist der Sieg des Rechtes, nicht die Strafe der Verurteilung; hier hat nicht der Mensch veruntreut, sondern Gott einen Schatz hinterlegt, hier ist nicht die Ursache des Todes, sondern des Lebens. Und darum fürchte dich nicht, denn sie, die das Leben gebiert, verdient nicht den Tod33 . „Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, dein Weib, zu dir zu nehmen.“ Dass die Braut hier Weib genannt wird, geschieht nach dem Gesetze Gottes. Wie sie also Mutter ist, trotzdem ihre Jungfräulichkeit unversehrt bleibt, so wird sie Gattin genannt, trotzdem ihre Keuschheit unberührt ist. „Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria dein Weib zu dir zu nehmen; denn was in ihr erzeugt ward, ist vom Hl. Geiste.“

Nun mögen kommen und hören, die da fragen, wer der sei, den Maria geboren hat! „Was in ihr erzeugt ward, ist vom Hl. Geiste.“ Kommen mögen sie und hören, die mit griechischer Verwirrung die lateinische Klarheit zu umnebeln sich bemühten und sie schmähten als „Menschen und Christusgebärerin“, um ihr den Namen „Gottesgebärerin“ zu rauben.34 „Was in ihr erzeugt ward, ist vom Hl. Geiste.“ Was vom Hl. Geiste geboren ist, ist Geist35 , denn „Gott ist Geist“36 . Was forschest du also darnach, wer der ist, der vom Hl. Geiste erzeugt wurde, da er doch die als Gott selbst die Antwort gibt, dass er Gott sei? da doch Johannes dich anklagt, wenn er sagt: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Und das Wort, Gott, ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen“37 . Johannes sah seine Herrlichkeit, sah auch seine Verunglimpfung durch den Ungläubigen: „Was in ihr erzeugt ward, ist vom Hl. Geiste“. „Und wir haben seine Herrlichkeit gesehen.“ Wessen Herrlichkeit? Dessen, der erzeugt wurde vom Hl. Geiste, dessen, der als „Wort ist Fleisch geworden und unter uns gewohnt hat“. „Was in ihr erzeugt ward, ist vom Hl. Geiste.“ Die Jungfrau empfing, aber vom Hl. Geiste; die Jungfrau gebar, aber den, von dem Isaias vorausgesagt hat: „Siehe die Jungfrau wird in ihrem Schoße empfangen und einen Sohn gebären, und seinen Namen wird man nennen Emanuel, d. h. Gott mit uns“38 . Gott mit uns, mit jenen [Gemeint sind die Irrlehrer] der Mensch: „Verflucht sei, der seine Hoffnung setzt auf einen Menschen“39 . Hören sollen das, die da fragen, wer der sei, der von Maria geboren wurde. „Sie40 wird Mutter eines Sohnes werden“, sagt der Engel, „und du sollst ihm den Namen Jesus geben.“ Warum Jesus? Der Apostel sagt: „Auf dass im Namen Jesu sich die Knie aller beugen, die im Himmel, auf Erden und unter der Erde sind“41 . Und du, du listiger Untersucher, du fragst jetzt noch, wer Jesus sei: „Jede Zunge bekennt ja schon, dass der Herr Jesus ist in der Herrlichkeit Gottes des Vaters“42 , und du fragst noch, wer dieser Jesus sei?

„Sie wird Mutter eines Sohnes werden, und du sollst ihm den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk erlösen.“ Nicht [das Volk] eines anderen wird er erlösen. Wovon? „Von seinen Sünden.“ Wenn du den Christen nicht glaubst, dass er Gott sei, der die Sünden vergibt, so glaube es, du hartnäckigster Ungläubiger, den Juden, die sagen: „Du bist ein Mensch, und du machst dich selbst zu Gott“43 , und: „Wer kann Sünden vergeben als nur Gott allein?“44 . Jene erkannten ihn als Gott nicht an, weil sie nicht glaubten, dass er Sünden nachlasse; und du glaubst, dass er Sünden vergeben könne, zögerst aber, ihn als Gott zu bekennen? „Das Wort ist Fleisch geworden“, damit das Fleisch des Menschen erhoben werde zur Herrlichkeit Gottes, nicht damit Gott hinabgezogen werde zur Erniedrigung im Fleische, wie der Apostel sagt: „Wer sich mit dem Herrn verbindet, ist ein Geist mit ihm“45 , und wie soll Gott nicht einer [mit ihm] sein, wenn Gott sich mit dem Menschen verbindet? Menschliche Gesetze erklären nach Ablauf von dreißig Jahren alle Streitsachen für ungültig, und Christus steht schon fünfhundert Jahre46 lang wegen seiner Geburt auf der Anklagebank, ist wegen seiner Abstammung in einen Prozeß verwickelt, muß [heute noch] Untersuchungen über sich ergehen lassen wegen seines Standes! Irrlehrer! Laß ab, Gericht zu halten über deinen Richter, und bete im Himmel den als Gott an, den der Magier als Gott anbetete auf Erden47 .

Dritter Vortrag: Über die Stelle: “Als Jesus geboren war in Bethlehem Juda…” bis: “und kamen, ihn anzubeten.” Mt 2,1-2

Die kluge, vorbeugende Kunst des Arztes verwendet jedesmal gegen die tödlichen Krankheiten ein Gegengift in heilsamen Säften. Doch wenn es der Kranke gegen die [Vorschriften der] Wissenschaft, gegen die Anordnungen des Arztes, zu unrechter Zeit einzunehmen wagt, kann es für ihn Ursache einer Lebensgefahr werden, so es doch hätte gesund machen sollen. So ist es auch mit dem Worte Gottes: Für denjenigen, der ohne die Weisungen des Lehrers, ohne die Zucht des gläubigen Gemütes, ohne die Beachtung der Grundsätze des Glaubens48 als ein verwegener Zuhörer das Wort Gottes zu verstehen sich anmaßt, wird es ein Anlaß zum Verderben, wo es doch ist eine Quelle des Lebens. Darum müssen wir, Brüder, darnach trachten, dass uns nicht durch unkluges Auffassen dessen, was uns Gott zu unserem Heile aufzeichnen läßt, Schaden für unsere Seele entstehe. Glaubt ihr etwa, dass der Evangelist durch unsere heutige Lesung uns hätte belehren wollen, dass sternkundige Chaldäer49 , Magier, die den Sternen nacheilen, die des Himmels Weisungen erforschen im Dunkel der Nacht, die die Ursache des Werdens und Sterbens zuschreiben dem Laufe der Gestirne, die Glück und Unglück der Menschen festgesetzt glauben durch den Einfluß der Himmelslichter glaubt ihr etwa, dass der Evangelist uns hätte belehren wollen, dass sie die Geburt Christi, die der Welt noch verborgen war, entdeckt hätten durch die Führung des Sternes? Das sei ferne! So meint es die Welt, so glauben es die Heiden, so scheint es zwar der Text anzudeuten. Aber die Erzählung des Evangeliums verkündet nichts Menschliches, sondern Göttliches; nichts Alltägliches, sondern etwas Neues; nichts, was trügt durch Zauberkünste, sondern was wirklich ist durch Wahrheit;nichts, was die Augen blendet, sondern das Herz ergreift; nichts, was unsicher ist durch Zweifel, sondern was feststeht durch die Tatsache50 ; was von Gott kommt, nicht bewirkt ist vom Schicksal; was nicht mit Zahlen berechnet ist, sondern erworben ist durch Tugenden.

“Als Jesus”,heißt es, “geboren war in Bethlehem Juda, in den Tagen des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenlande nach Jerusalem und sagten: Wo ist der neugeborene König der Juden? Denn wir sahen seinen Stern im Morgenlande und kamen, ihn anzubeten.”51 In der Geburt Christi wird geboren der Ursprung der Welt, wird erzeugt der Urheber des Menschengeschlechtes52 , wird geboren der Schöpfer der Natur, um die Natur wiederherzustellen, um die Menschheit zu erneuern, um den Ursprung wiederzubeleben. Adam, der erste Mensch, der Vater des Menschengeschlechtes, der Ursprung der Zeugung, hat durch seine Sünde das Glück der Natur, die Freiheit des Geschlechtes, das Leben der Nachkommen so verdorben, dass die beklagenswerte Nachkommenschaft an sich trug das Übel der Natur, die Knechtschaft des Geschlechtes, den Tod des Samens. Darum stellte Christus durch seine Geburt die Natur wieder her, überwand durch seinen Tod den Tod, belebte das Leben wieder durch seine Auferstehung. Und er, der dem Menschen die Seele gegeben hatte vom Himmel her53 , verlieh auch von dorther dem Menschen die Kraft, im Fleische zu bestehen, damit nicht irdische Makel wieder den himmlischen Sinn herabstürze in den Fall des Fleisches, wie der Apostel sagt: “Der erste Mensch von Erde ist irdisch, der zweite Mensch vom Himmel ist himmlisch, wie der Irdische, so auch die Irdischen, und wie der Himmlische, so auch die Himmlischen”54 , und der Evangelist Johannes: “Jeder, der aus Gott geboren ist, sündigt nicht, sondern die Geburt aus Gott bewahrt ihn”55 . Deshalb also wird Christus geboren, damit er die im Schoße der Erde Darniederliegenden erhebe zur [Teilnahme an der] himmlischen Natur. “Als Jesus geboren war in Bethlehem Juda.”

Bethlehem, Brüder, heißt in der hebräischen Sprache “Haus des Brotes”. Mit diesen Worten wird hingewiesen auf das Haus Juda, wird genannt sein Geschlecht, damit die Treue der Verheißung, die Wahrheit der Weissagung in Erfüllung gehe, die Jakob gegeben hat: “Juda! Dich werden deine Brüder preisen, deine Hände werden liegen auf dem Rücken deiner Feinde, und beugen werden sich vor dir die Söhne deines Vaters56 , und bald darauf:”Es wird nicht fehlen der Fürst aus Juda noch der Herrscher aus seinen Lenden, bis der kommt, dem das Erbe gehört57 , und der sein wird die Erwartung der Völker“58 und David ruft deshalb aus:”Juda, mein König!“59 .”Als Jesus geboren war in Bethlehem Juda in den Tagen des Herodes." Woher kommt es, dass zur Zeit des ruchlosen Königs Gott zur Erde herniedersteigt, dass sich die Gottheit mit dem Fleische vermischt60 , dass der Himmel eine Verbindung eingeht mit einem irdischen Leibe? Woher kommt das? Kam er denn damals nicht als ein wahrer König, um den Tyrannen zu vertreiben, das Vaterland zu rächen, den Erdkreis wiederherzustellen, die Freiheit wieder zurückzugeben? Herodes hatte ja als ein Abtrünniger des jüdischen Volkes das Reich an sich gerissen, die Freiheit aufgehoben, das Heiligtum geschändet, die Ordnung verwirrt und vertilgt, was an Zucht und was an Gottesverehrung noch geblieben war. Ganz mit Recht also kommt dem Menschengeschlechte göttliche Macht zu Hilfe, da ihm menschlicher Schutz fehlte; Gott selbst steht ihm bei, da kein Mensch da war, der ihm helfen konnte. So wird Christus dereinst wiederkommen, um den Antichrist zu vernichten61 , den Erdkreis zu befreien, die Heimat des Paradieses zurückzugeben, der Welt ewige Freiheit zu verleihen, die Knechtschaft der Welt zu zerstören. “Siehe, da kamen Weisen aus dem Morgenlande.”

Vom Lande der aufgehenden Sonne kommen Weise zu dem aufgehenden Lichte62 , damit er selbst die Ankommenden aufnehme, denen er zu kommen befohlen hatte. Denn wann würde der Weise Gott suchen, wenn es ihm Gott nicht befehlen würde? Denn wann hätte wohl der Sterndeuter den König des Himmels gefunden, wenn Gott es ihm nicht offenbart hätte? Denn wann hätte wohl der Chaldäer den einen Gott ohne Gottes Hilfe angebetet auf Erden, wo er am Himmel so vielen Göttern diente, als er Gestirne erblickte? Ein größeres Zeichen vom Himmel aber sind die Weisen als die Sterne; denn der Weise kennt den König der Juden, den Urheber des Gesetzes, der Jude kennt ihn nicht! Der Chaldäer bringt ihm Gaben, der Jude verweigert sie ihm, Jerusalem wendet sich ab und flieht, Syrien folgt [dem Stern] und betet an! “Siehe, da kamen Weise aus dem Morgenlande und sagten: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir sahen seinen Stern.” Und was heißt das denn, dass er von ihnen gesehen wurde? Ganz recht hat der Apostel, wenn er sagt: “Da er [der Apostel redet von Christus] reich war, wurde er doch arm”63 . Obgleich er reich war in seiner Gottheit, wurde er doch arm in unserem Fleische und begnügte sich mit einem einzigen Stern, er, der das Weltall gemacht. hält und trägt. “Wir sahen seinen Stern.” Nun sieht mit einem Male der Weise den, der den Stern hält, aber nicht gehalten wird von dem Stern; der nicht bestimmt wird durch den Lauf des Sterns, sondern selbst den Lauf des Sterns bestimmt; der den Lauf des Sterns am, Himmel so leitet, so sein Kommen und Gehen regelt, so seinen Weg ihm vorschreibt, dass dieser dem Magier als Diener erscheint und ihm gesandt als Wegweiser. Denn der Stern wandert mit dem wandernden Weisen64 ; als der Weise sich lagerte, stand auch der Stern stille: als der Weise sich zur Ruhe legte, hielt der Stern die Wache. So nun sieht der Weise, dass dem Stern auferlegt ist der Zwang des Gehorsams in gleicher Weise, wie ihnen auferlegt ist die Reise. Und darum hält er den Stern nicht für einen Gott, sondern erkennt ihn als seinen Diener an, da er ihn so mannigfach seinen Diensten unterworfen sah.

“Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir sahen seinen Stern und kamen, ihn anzubeten.” Dadurch, dass sie sagten: Wo ist der neugeborene König der Juden? klingen ihre Worte nicht wie eine Frage, sondern wie Hohn65 . Wenn sie, die doch genaue Kunde hatten, diejenigen fragten, die nichts wußten. so tun sie das nicht, weil sie nichts wüßten, sondern sie beschuldigen jene der Nachlässigkeit, sie schelten sie als träge, sie verraten ihre Schlechtigkeit, sie geißeln ihre Hartnäckigkeit, sie klagen sie an, dass sie als Knechte nicht dem Herrn entgegengekommen seien. Denn was sollten sie bei Menschen suchen, wo sie doch von Gott das erfahren hatten, was sie suchten? Was sollte ihnen in dieser Sache die Erklärung durch einen Menschen nützen, wo ihnen doch des Himmels Gestirne diesen Dienst geleistet hatten? Was sollte ihnen die Leuchte des Tempels, wo ihnen doch leuchtete das Wundergestirn des Himmels? “Wo ist der neugeborene König der Juden?” Damit wollten sie sagen: Warum liegt der König der Juden in einer Krippe, und warum ruht er nicht im Tempel? Warum strahlt er nicht in Purpur, sondern liegt hart in den rauhen Windeln? Warum ist er verborgen in der Höhle, und warum liegt er nicht öffentlich im Heiligtum? Die Tiere haben den in ihre Krippe aufgenommen, den ihr in euer Haus aufzunehmen verschmäht habt. Denn es steht geschrieben: “Der Ochs kennt seinen Eigentümer, und der Esel seinen Herrn; du aber, Israel, hast deinen Herrn nicht gesucht!”66 . “Wir sahen seinen Stern.”

Nicht freiwillig erschien der Stern, sondern auf Befehl, nicht auf einen Wink des Himmels,67 , sondern auf Geheiß Gottes; nicht nach dem regelmäßigen Lauf der Gestirne, sondern als ein neues Wunderzeichen; nicht [glänzt er] durch die Reinheit des Himmels68 , sondern durch die Kraft des Geborenen; nicht künstlich berechnet, sondern von Gott gesandt; nicht durch die Wissenschaft der Astrologen, sondern wegen des Vorherwissens des Schöpfers, nicht nach arithmetischen Berechnungen, sondern nach göttlichen Bestimmung; durch übernatürliche Sorge, nicht durch des Chaldäers Wißbegier; nicht durch Zauberkunst, sondern nach jüdischer Prophezeiung. Sobald aber der Weise sah, dass menschliche Beobachtungen vergeblich seien, dass seine Künste ihn verlassen hätten, dass eitel seien die Bemühungen menschlicher Wissenschaft, dass die Anstrengungen aller Schulen69 zunichte geworden seien, dass die Schätze der Philosophie selbst ganz erschöpft seien, dass die Nächte des Heidentums gewichen, die Nebel der Tagesmeinungen verschwunden, dass selbst die Schattenbilder der Dämonen verscheucht seien, dass selbst der Stern nicht wie ein Komet mit wirrem Schweife, nicht verbergen könne das, was er verkünden sollte, und selbst sein Licht verhülle, sprach er also zu sich selbst: “Es ist recht, dass ich dich mit neuem Glanze, mit hellem Feuer und mit untrüglichem Lichte nach Judäa hin einen sehe, und dass du mir dort die Geburt des Königs zeigst, die wider das Gesetz dieser Welt, wider die Ordnung des Fleisches, wider die menschliche Natur geschene ist.” Und so legte er den Irrtum ab, folgt [dem Stern], eilt ihm nach, kommt zu ihm und findet ihn, freut sich, fällt nieder und betet an70 . Denn nicht durch den Stern, nicht durch seine Kunst, sondern durch Gott hat er zu seiner Freude gefunden den Gott in dem Fleische eines Menschen. So ist, Brüder, durch die heutige Lesung der Trug der Zauberer nicht bestätigt, sondern aufgelöst worden. Doch möge dies für heute genügen, damit das, was noch folgt, unter dem Beistande Gottes noch klarer werde.

Vierter Vortrag: Über die Stelle: „Als der König Herodes dies hörte, erschrak er…“ bis: „und opferten ihm, Geschenke, Gold, Weihrauch und Myrrhe.“ Mt 2,3-11

Oft haben wir [uns] gefragt, warum Christus so in die Welt gekommen sei, dass er die Enge des Mutterleibes [als Wohnung] nahm, dass er die Unbilden einer Geburt erduldete, dass er die Bande der Windeln ertrug, dass er sich eine armselige Wiege gefallen ließ, dass er durch seine Tränen die Nahrung einer Mutter sich erflehte, dass er die Stufen des Alters und seine Nöten ganz durchmachen wollte. Aber wie hätte er denn [anders] kommen sollen, er, der Gnade bringen, die Furcht verscheuchen und Liebe sich erwerben wollte? Die Natur belehrt uns alle, was ein Kinde vermag, was ein Lind verdient. Was ist doch ein Kind? Gibt es wohl eine Rohheit, die das Kind nicht besiegt? eine Wildheit, die ein Kind nicht besänftigt? eine Grausamkeit, die ein Kind nicht bezwingt? eine Härte, die ein Kind nicht erweicht? eine Rauheit, die ein Kind nicht mildert? Welche Liebe ist wohl, die ein Kind nicht verlangt? Welche Güte, die ein Kind nicht erzwingt? Welcher Dank, den ein Kind nicht auferlegt? Welche Liebe, die ein Kind nicht erlangt? Dass es so ist, wissen die Väter, fühlen die Mütter, erfahren alle; denn das menschliche Herz gibt davon Zeugnis. Darum wollte der [als Kind] geboren werden, der mehr geliebt als gefürchtet werden will. Und doch, hört, was dieses sanfte und gute und liebe Kind erfährt durch die Bosheit der Menschen! „Als der König Herodes“, heißt es,„dies hörte, erschrak er und ganz Jerusalem mit ihm. Und er versammelte alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes und fragte sie, wo Christus geboren werden sollte.“71

Wenn Jerusalem, wenn der König, wenn die Schriftgelehrten, wenn die Hohenpriester bestürzt werden schon durch das Kind Christus was würden sie wohl tun, wenn Christus als ein erwachsener Mann plötzlich gekommen wäre, wenn er im Glanze seines Reichtums und seiner Macht, mit gefährlichen und fremden Völkerscharen gekommen wäre? Auf Zeit und Alter und Armut und Eltern nahmen diese Menschen keine Rücksicht, sondern sobald sie hören, dass er geboren sei, bereiten sie dem kaum Geborenen den Tod, dem Unschuldigen Nachstellungen, dem Guten frevelhafte Anschläge. Gegen einen Wehrlosen zücken sie das Schwert, bieten ganze Kriegerscharen auf gegen einen, dem wimmernden Kinde drohen sie mit Mord, der Mutter mit Strafe. Und damit Gewalt sich mische mit Blut, kündigt die Grausamkeit den Kleinen in der Wiege an herzlosen Krieg, durchbohrt mit Pfeilen der Mütter Brüste, stößt die Schilde gegen den Schoß der Mutter, nur um dieses göttliche Kind, noch ehe es die Welt betreten hat, in das Grab hinabzustoßen. Mag auch der König Herodes aus Liebe zu seiner Herrschaft, aus Furcht vor einem Thronfolger, gezwungen gewesen sein, solches zu tun, warum denn aber Jerusalem? Warum, die Hohenpriester? Warum die Schriftgelehrten? Weil der Gottlose nicht die Geburt eines Gottes will, der Sklave nicht die eines Herrn, der Schuldige nicht die eines Richters, der Rebell nicht die eines Herrschers, der Treulose nicht die eines Untersuchers! Jerusalem hatte sich befleckt durch mannigfache Missetat; die Priester hatten das Heiligtum geschändet und, indem sie Handel trieben mit Sünden, die Macht der Verzeihung und der Liebe, die ihnen gegeben war, benützt zu schimpflichem Gewinn. Die Schriftgelehrten hatten die Lehre des Himmels, die heil bringende Wissenschaft, den Lehrstuhl des Lebens umgewandelt in grausame Denkart, zur Schlinge des Unglaubens, zum Geschwätz des Todes. Darum wollen sie nicht, dass Christus geboren werden sollte; darum, fürchten sie sein Leben, weil sie erkannt hatten, dass sie dann bald der Schande preis gegeben, dem Schimpf überliefert, aus dem Tempel vertrieben, des Priestertums entkleidet, der Einnahmen aus den Opfern beraubt werden müßten. Denn nachdem sie einmal von ihrer Leidenschaft entflammt, von ihrem Hochmut ergriffen, von ihren Lastern verwundet, von ihrer Eitelkeit berauscht, durch ihre Schwelgerei entkräftet waren, konnten sie nicht mehr auf Vergebung hoffen, weil sie an ihre Besserung nicht mehr glauben konnten.

Wenn ein guter Verwalter durch unausgesetzte Arbeit reiche Früchte zusammengeschafft hat, wünscht er, dass sein Herr komme, seinen Gewinn zu betrachten; ja er sehnt sich darnach zu seiner eigenen Freude. Wenn der fleißige Arbeiter das Werk der unternommenen Aufgabe vollendet hat, wünscht er, dass der Hausvater komme, damit er seinen Lohn empfange. Der treuergebene Soldat ersehnt nach dem Kampfe, nach dem Siege die Gegenwart seines Königs, damit er ihm lohne die Mühen und Wunden mit dem Lohne des Lorbeers. So wünscht auch der, welcher mit besiegter Kraft die Kämpfe dieser Welt zu Boden geschlagen hat, dass auch Christus komme zu seinem Siege; derjenige aber, der durch die Lockungen der Welt überwunden wegen der Strafe bangt, keine Verzeihung erhofft, wünscht nicht, dass er komme. Brüder! Laßt uns [darum] das Gute tun, das Böse meiden; laßt uns die Laster fliehen, den Tugenden folgen; laßt uns losreißen von der Gegenwart und nur die Zukunft bedenken; laßt uns streben nach unserem Reich, laßt uns trachten nach unserem Siege, laßt uns verlangen nach der Herrlichkeit, mit ganzer Seele eilen zur Krone! Doch nun wollen wir in unserer Rede wieder zurückkehren zu dem, was noch folgt.

„Dann“, heißt es, „berief Herodes heimlich die Weisen, fragte sie genau nach der Zeit des Sterns, der ihnen erschienen war, schickte sie nach Bethlehem und sprach: Gehet und forschet fleißig nach dem Kinde, und wenn ihr es gefunden habt, berichtet es mir, damit auch ich komme und es anbete.“72 Heimlich beruft er die Weisen, weil ein trügerischer Sinn, ein heuchlerisches Gewissen die Öffentlichkeit scheut. Heimlich beruft er die Weisen, weil der Dieb die Nächte liebt, weil der Räuber seine Nachstellungen im verborgenen bereitet. „Genau fragte er nach der Zeit des Sterns.“ Doch, wenn er auch fürchtet für sein Reich, das Zeichen des Himmels fürchtet er nicht, den Urheber der Zeit fürchtet er nicht. Was er schrickst du, Herodes? Bangst du vielleicht wegen eines Thronfolgers?73 Dem die Gestirne dienen, der wird nicht durch ein irdisches Reich eingeschlossen. „Gehet und forschet fleißig nach dem Kinde, und wenn ihr es gefunden habt, berichtet es auch mir!“ Herodes! du irrst: Der Magier hat den Befehl erhalten, anzubeten, nicht anzuklagen74 ; er ist gekommen, um Zeugnis abzulegen, nicht um zu verraten; ihm ward es verliehen, zu sehen, dir ist es nicht gegeben, zu finden. „Gehet und forschet.“

Als hätte es nicht genügt, dass die Weisen einmal fragten! Als die voll Liebe fragten, erhielten sie eine lieblose Antwort; die Nachricht von dem Heile wurde jenen, die sie mit bösem Herzen aufnahmen, zum Falle. Der boshafte Sklave vernimmt, dass sein Herr geboren worden sei, aber legt dem Herrn schon in die Wiege Fallstricke statt der Ehrenbezeugungen; er bereitet ihm den Tod, um der Knechtschaft zu entgehen! Doch weil Gott weder aufhören noch das Heil untergehen noch das Leben getötet werden kann, bleibt der Herr in seiner Ehre, der Sklave in seiner Schande; und zur Strafe wird hiabgezogen derjenige, der es verschmähte, zum Dienste zu kommen; und dem Tode wird überliefert, der nicht kommen wollte zur Gnade. „Gehet und forschet fleißig nach dem Kinde, und wenn ihr es gefunden habt, berichtet es mir!“ Mit Recht heißt es: renuntiate mihi!75 ; denn immer widersagt der dem Teufel, der zu Christus zu kommen sich beeilt; wenn der, der Christ werden will, von dem Priester [die Worte] hört:„Widersagst du dem Teufel?“ so antwortet er: „Ich widersage.“ Ganz mit Recht also sagt Herodes, dass die Weisen ihm widersagen sollten; denn er wußte, dass er des Teufels Platz einnehme, des Satans Rolle spiele. „Damit auch ich komme und anbete.“ Er will lügen, kann es aber nicht; hinkommen wird er, damit er sich winde unter der Folter, unterworfen werde der Strafe, überantwortet werde der Qual, er, der vorgab, anbeten zu wollen, um ihn zu töten. Die Weisen aber gelangten, nachdem sie den Wolken der jüdischen Treulosigkeit entronnen sind und unter dem heiteren Himmel76 des christlichen Glaubens den Stern, den sie früher gesehen hatten, wieder leuchten sahen, unter seinem Voranleuchten und seiner Führung hin zu der hochheiligen Geburtsstätte des Herrn.

„Und sie öffneten ihre Schätze und opferten ihm Geschenke: Gold, Weih rauch und Myrrhe.“77 . Gold dem Könige, Weihrauch dem Gotte, Myrrhe dem sterblichen Menschen; dem Herrn opferten sie dies zur Verehrung und allen denen, die später glauben werden, als die größten Schätze der Erkenntnis. So kehren sie in ihre Heimat wieder zurück auf dem Wege der Unschuld, sie, die die [Schleich]wege des betrügerischen Herodes zerstört hatten.

Fünfter Vortrag: Über die Stelle: “Es erschien ein Engel des Herrn dem Joseph im Traume…”bis: “denn Herodes wird das Kind suchen.” Mt 2,13

Wenn die Empfängnis einer Jungfrau, die Geburt aus einer Jungfrau unsere Predigt nicht erklären, der Sinn nicht fassen, der menschliche Verstand nicht begreifen kann, wer wagt dann zu sagen: Gott sei einem Menschen gleich geflohen? “Es erschien”, heißt es, “ein Engel des Herrn dem Joseph im Traume und sprach:”Nimm das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten!“78 . Wenn wir sagten, dass die Geburt Christi ein Werk der Liebe sei, was werden wir sagen, wenn wir lesen, dass er die Flucht ergriffen habe? Ungefähr so, wie wir sagten, dass er geboren wurde, um die Natur wiederherzustellen, können wir jetzt sagen, dass er geflohen sei, um die Flüchtlinge wieder zurückzurufen. Und in der Tat! Wenn er, um das irrende Schäflein zurückzuführen, selbst über die Gebirge dahinirrt79 , wie soll er nicht selbst die Flucht ergreifen, um die fliehenden Völker wieder zurückzuführen?”Nimm das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten!". Aber warum wird dieser himmlische Ratschluß so behandelt, dass der Sinn des Menschen verwirrt, der Geist betäubt wird, dass der Verstand beschwert, das Ohr stumpf wird, dass die Glaubenskraft wankt, die Hoffnung erzittert, ja selbst die Geneigtheit zu glauben untergraben wird?.

“Nimm das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten!” Ein Mensch verfolgt, und Gott flieht; die Erde rast, und der Himmel zittert; der Staub wirbelt auf, vor Furcht beben die Engel. Ja selbst der Vater ist in Furcht, wo der Sohn flieht! “Nimm das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten!” David floh, als Saul ihn verfolgte, nach Judäa, zog sich in ein benachbartes Land zurück80 ; dem Elias genügte das Haus einer einzigen Witwe zum Versteck81 . Und da Christus die Flucht ergreift, ist keine Stätte da, keine Provinz, ihn nimmt kein schützendes Vaterland auf. Als er auswandern mußte, genügten nicht die benachbarten Völker, nicht die angrenzenden Länder, sondern Ägypten. Das an Gewohnheiten, Sprache und Sitten barbarische Ägypten bereitet ihm in der Verbannung einen traurigen Aufenthaltsort. “Nimm das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten!” Wenn die Zuflucht der Welt entflieht, der Helfer aller sich verbirgt, wenn die alles stärkende Kraft erzittert, wenn der Schirmherr des Weltalls sich nicht zu schützen vermag, warum wird dann eines Menschen Flucht getadelt, warum die Furcht angeklagt, warum die Angst beschuldigt? Warum wird dem Petrus zum Verbrechen angerechnet, dass er leugnete?82 Dem Johannes, dass er zaghaft floh?83 . Den Jüngern allesamt, dass sie den Herrn verlassen haben vor Furcht?84 . Und wenn auch, Brüder, dies geschehen mußte warum wird es denn noch erzählt? warum in den Büchern berichtet? warum der Nachwelt überliefert? warum wird es zum Gegenstand täglicher Lesung gemacht? warum vor den Augen der Heiden offenbart? Sollte dadurch etwa jede Zunge. jeder Ort, jedes Alter, jede Zeit, sollte etwa die ganze Welt Kunde erhalten von dieser göttlichen Furcht? Denn gleich wie die Lektüre von Heldentaten das Gemüt anfeuert zur Begeisterung, so drückt die Schilderung schwacher Handlungen das Gemüt darnieder. Was will also der Evangelist, dass er dies aufzeichnete zum ewigen Gedächtnisse?

Es ist das Kennzeichen eines seinem Könige treuergebenen Soldaten, dessen Flucht zu verschweigen, aber seine Standhaftigkeit zu rühmen; seine Heildentaten zu verkünden, seine Befürchtungen zu verheimlichen; seine Tapferkeit bekanntzumachen, seine Schwächen zuzudecken, seine Niederlagen zu vertuschen, aber seine Siege zu preisen. Nur so dürfte er imstande sein, den Mut der Feinde zu brechen, und den Mut der Freunde anzufachen. Wenn also der Evangelist solches erzählt, scheint er eher das Gekläffe der Irrlehrer erhoben und den Gläubigen ein Verteidigungsmittel genommen zu haben. “Nimm”, heißt es, “das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten!” Zu fliehen, nicht abzureisen wird ihm befohlen. Zwang ist ihm auferlegt, nicht freier Willensentschluß; der Engel kündet ihnen eine geheime Verbannung an, nicht freien Verkehr, damit die Reise, an und für sich schon beschwerlich, auch noch beschwerlicher würde durch die Furcht! Es ist nunmehr Zeit, den Grund für eine solche Erzählung zu untersuchen. “Nimm das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten!” Wenn der Soldat im Kriege flieht, so tut er es aus List, nicht aus Furcht; wenn Gott vor dem Menschen flieht, so ist das ein Geheimnis, nicht Furcht, wenn der Mächtige zurückweicht vor dem Schwachen, so fürchtet er nicht den, der ihn verfolgt, sondern sucht ihn auf einen freien Platz zu locken. Denn wer einen öffentlichen Sieg über den Feind davonzutragen wünscht, will ihn auch in der Öffentlichkeit besiegen. Keiner wird es ertragen, einen heimlichen Zweikampf einzugehen, der seinen Triumph der Nachwelt verkündigen will. Ein Sieg im geheimen, eine Heldentat im verborgenen dient der Nachwelt nicht zum Vorbild. Darum geschah es auch, dass Christus floh, um der Zeit, nicht aber dem Herodes auszuweichen. Er, der gekommen war, den Sieg über den Feind davonzutragen, floh nicht vor dem Tode. Er, der gekommen war, die Winkelzüge der Bosheit des Teufels aufzudecken, erschrak nicht über die Nachstellungen der Menschen.

Auch fürchtete er sich damals nicht, als er als Kind seiner Menschheit nach die Furcht noch nicht kannte, als Gott aber über alle Furcht erhaben war. Brüder! Wäre Christus mit der ganzen Schar der unmündigen Kinder damals getötet worden, so wäre der Tod für ihn ein Verhängnis, nicht eine freie Willenstat gewesen; es wäre nicht Kraft, sondern Schwäche gewesen; Zwang, nicht Macht; es wäre zwar die Krone für seine Unschuld, nicht aber der Ruhm seiner Allmacht gewesen. Und vollends: was wäre geworden aus dem göttlichen Ausspruch: “Du sollst das Lamm nicht kochen in der Milch seiner Mutter”?85 . “Denn Herodes”, heißt es weiter, “will das Kind suchen.”86 Herodes suchte, vielmehr der Teufel suchte das Kind durch Herodes, sobald er sah, dass die Weisen, die er als Meister in ihren Zauberkünsten ansah87 , ihm entgangen seien. Wenn Christus noch in den Windeln eines Kindes, noch als Säugling an der Brust seiner Mutter, wenn er zu einer Zeit, wo er weder zu reden fähig noch einer Handlung mächtig, ja nicht einmal Fuß zu bewegen imstande war, die Fahnenträger des Teufels, die Weisen, in seine getreuesten Heerführer umzuwandeln vermochte, dann sah der Teufel wohl voraus, was Christus in reiferem Alter zu wirken imstande sein würde. Und darum regte er die Juden auf, stachelte den Herodes an, um dadurch dem schon als Kind für ihn so gefährlichen Christus zuvorzukommen, ihm im voraus die späteren Auszeichnungen seiner Wundertaten abzuschneiden, ihm als ein schlauer Betrüger die Fahne des Kreuzes, das für ihn das Zeichen des Todes, für uns das Zeichen des herrlichsten Sieges war, zu entreißen. Es fühlte der Teufel, er merkte, dass Christus durch seine Lehren und Wundertaten bald das Leben wiederherstellen und den ganzen Erdkreis für sich gewinnen würde, nachdem er schon in der Wiege die Häupter der weltlichen Gewalt88 an sich gezogen hatte, nach den Worten der Weissagung: “Ehe der Knabe weiß, seinen Vater und seine Mutter zu nennen, wird er die Macht von Damaskus und die Beute von Samaria an sich reißen”89 , was die Juden selbst beweisen, indem sie sagten: “Ihr seht, dass wir nichts ausrichten; siehe, alle Welt läuft ihm nach!”90 .

Christus hatte sowohl durch das Gesetz als durch die Propheten verheißen, dass er ankommen werde im Fleische, dass er aufsteigen werde durch die Stufen des Alters, dass er verkündigen werde die Herrlichkeit des himmlischen Reiches, dass er predigen werde die Lehre des Glaubens, durch die bloße Kraft seines Wortes die bösen Geister austreiben, den Blinden das Gesicht, den Lahmen den Gebrauch der Füße, den Stummen die Sprache, den Tauben das Gehör, den Sündern Nachlassung ihrer Sünden, den Toten das Leben wiedergeben werde91 Darum also, weil er dies alles erst im Mannesalter in Erfüllung bringen wollte, schob er in der Kindheit den Tod hinaus, nicht aber floh er vor ihm! Endlich weist der Evangelist darauf hin, dass die Flucht nicht aus Furcht vor der Gefahr, sondern wegen des Geheimnisses einer Weissagung geschehen sei; denn nachdem er gesagt hat: “Nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten”, fügte er alsbald hinzu:“damit erfüllt werde, was Gott durch den Propheten gesprochenm hat: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn berufen”92 . Christus also floh, damit feststände die Wahrheit des Gesetzes, die Glaubwürdigkeit der Verheißung, das Zeugnis des Psalmisten, wie der Herr selbst sagt: “Es war nötig, dass dies alles in Erfüllung ging, was im Gesetz des Moses, bei den Propheten und in den Psalmen von mir geschrieben steht”93 . Christus floh für uns, nicht für sich; Christus floh, um die Geheimnisse für geeignete Zeit aufzubewahren; Christus floh, um den späteren Wundertaten Kraft zu verleihen, indem er einerseits den Abtrünnigen den Stoff zur Ausrede nehmen, andererseits denen, die an ihn glauben wollen, die Glaubenszuversicht mehren wollte. Denn in der Zeit der Verfolgung ist es besser zu fliehen als zu verleugnen. Denn siehe: Petrus, der nicht fliehen wollte, verleugnete den Herrn94 ; Johannes entfloh, um ihn nicht zu verleugnen95 .

Sechster Vortrag: Über die Stelle: “In jenen Tagen trat Johannes der Täufer auf…” bis: “seine Nahrung aber waren Heuschrecken und Waldhonig.” Mt 3,1-4

Eben recht ist der hl. Johannes zur Fastenzeit als ein Lehrer der Buße zu uns gekommen, ein Lehrer in Wort und Tat, ein wahrer Lehrer. Denn was er im Worte lehrte, zeigte er durch sein Beispiel. Das Lehramt gründet sich auf das Wissen, des Lehramtes Wirksamkeit aber auf das Leben: wer selbst übt, was er lehrt, macht seine Zuhörerfolgsam. Durch Taten lehren ist die einzige Norm des Unterrichtes; nur in Worten unterrichten ist [bloßes] Wissen, [unterrichten] durch die Tat aber Tugend! Wahres Wissen ist nur dann vorhanden, wenn es gepaart ist mit Tugend; das ist nicht menschliche, sondern göttliche Weisheit, wie der Evangelist beweist, wenn er sagt: “Was Jesus von Anfang an tat und lehrte”96 . Wenn der Lehrer tut, was er lehrt, so belehrt er zugleich durch sein Wort und erzielt durch sein Beispiel. “In jenen Tagen”, heißt es, “trat Johannes der Täufer auf, predigte in der Wüste von Judäa und sprach:”Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe!"97

“Tut Buße!” Warum nicht vielmehr: “Freuet euch!”? Ihr sollt euch doch vielmehr freuen, wenn auf Menschliches Göttliches, auf Irdisches Himmlisches, auf Zeitliches Ewiges, auf Schlechtes Gutes, auf Ungewisses gewisses, auf Leiden Glückseligkeit, auf Vergänglichkeit Bleibendes folgt! “Tut Buße!” Buße tun soll, ja sicher Buße tun soll, wer Menschliches dem Göttlichen vorzieht, wer der Welt dienen und nicht die Herrschaft über die Welt mit dem Herrn der Welt besitzen sollte. Buße tun soll, wer leer mit dem Teufel zugrunde gehen als mit Christus herrschen wollte98 . Buße tun soll, wer, der Freiheit der Tugend entfliehend, ein Sklave der Laster sein wollte. Buße tun doll, und ganz Buße tun soll, wer immer, anstatt das Leben zu gewinnen, seine Hände nach dem Tode ausstreckte. “Denn das Himmelreich ist nahe!” Das Himmelreich ist der Lohn der Gerechten, das Gericht der Sünder, die Strafe der Gottlosen. Selig darum Johannes, der durch Buße dem Gerichte zuvorkommen wollte; er wollte nicht, dass das Gericht, sondern der Lohn den Sündern zuteil würde, und dass die Gottlosen eingehen möchten in das Reich und nicht in die Pein. Und damals schon kündigte Johannes an, dass das Himmelreich nahe sei, als die Welt, noch im Kindesalter stehend, erwartete die Vermehrung ihres Lebensalters. Und wie nahe ist nun das Reich Gottes, wo, wie wir wissen, die Welt bereits erschöpft ist im höchsten Greisenalter, ihrer Kraft beraubt ist, wo ihre Glieder erschlafft und ihre Sinne geschwunden sind, wo sie in Schmerzen dahinsiecht, der Heilung wider strebt, dem Leben abstirbt, noch in Krankheit lebt, ihre Ermattung selbst bekundet, ihr Ende selbst bezeugt! Wir sind verstockter als die Juden, weil wir der dahinschwindenden Welt nachlaufen, die zukünftige Zeit vergessen; weil wir nach der Gegenwart haschen und uns, obschon wir mitten im Gerichte stehen, dennoch nicht fürchten; weil wir nicht entgegeneilen dem bereits herannahenden Herrn, lieber den Tod als die Auferstehung der Toten erwarten; weil wir lieber dienen wollen als herrschen und so unseren Herrn selbst an der vollen Herrschaft hindern. Wo bleibt denn das Wort: “Wenn ihr betet, so sprecht: Zukomme uns dein Reich!”?99

Einer größeren Buße also bedürfen wir noch; denn nach der Größe der Wunde muß das Heilmittel bemessen werden. Brüder! Laßt uns Buße tun, schnelle Buße! Denn bereits ist uns die Spanne unseres Lebens beschnitten, die Stunde selbst schon beschlossen, das nahe Gericht beraubt uns der Möglichkeit, Genugtuung zu leisten. Es eile die Buße, damit die Strafe uns nicht zuvorkomme! Wenn der Herr noch nicht gekommen ist, wenn er noch wartet und zögert,100 , weil er nicht unseren Tod, sondern unsere Rückkehr ersehnt, wie er selbst in so großer Liebe zu uns immer gesprochen hat: “Ich will nicht den Tod des Sünders, sondern dass der Gottlose umkehre auf seinem Wege und lebe!”101 . In Bußfertigkeit also, Brüder, laßt uns zurückkehren; fürchten wir nicht, die Zeit sei kurz; denn der Schöpfer der Zeit kennt keine Einschränkung durch die Zeit. Das beweist jener Schächer im Evangelium, der am Kreuze in der Stunde des Todes sich Gnade erbeutete, das Leben erlang te, das Paradies sich öffnete, den Eintritt ins Reich gewann102 . So laßt uns denn, Brüder, die wir bisher aus freiem Antrieb das Verdienst nicht gesucht haben, doch jetzt notgedrungen nach Tugend streben; laßt uns, damit wir nicht gerichtet werden, selbst unsere Richter sein; laßt uns, damit wir das Strafurteil von uns abwenden, uns selbst Buße auf erlegen! Das höchste Glück ist es freilich, sich stets der Unschuld zu erfreu en, allezeit unbefleckt zu bewahren der Seele und des Leibes Heiligkeit, nie zu empfinden die unreine Berührungen der Welt, nie zu tragen das Bewußtsein der Schuld, nie zu kennen die Wunden der Sünde, immer zu besitzen die Anmut der Tugenden, stets zu leben unter der Hoffnung auf die Belohnungen des Himmels. Aber wenn einmal unser Herz getroffen ist von dem Pfeil der Sünde; wenn das Fleisch aufwallt durch das Verbrechen; wenn durch den Geifer der Laster der gebrechliche Mensch verdorben ist: dann soll zu Hilfe kommen jenes Heilmittel der Buße, das lege man auf das [glühende] Eisen der Reue; dann bringe man herbei die Glut des [Seelen]schmerzes; dann wende man an das Heilmittel der Seufzer; dann kühle der Eifer die Glut des aufwallenden Gewissens; dann soll man abwaschen mit den Tränen den Eiter der Schuld; dann sollen Bußgürtel reinigen die Unreinheit des Leibes! Wer, wie er es sollte, die Gesundheit [der Seele] nicht bewahrt hat, der wende an, der gebrauche die bittere Arznei der Buße!

Wem sein Leben teuer ist, dem ist kein Mittel zu hart; der Arzt darf ihm nicht unwillkommen sein, wenn dieser ihn auch mit Schmerzen zum Heile zurückführt. Wer die ihm anvertraute Unschuld bewahrt hat, braucht nicht den Zins der Buße zu zahlen. Dies beweist der Herr selbst mit den Worten: “Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken”103 . Und wer diese Kranken sind, erklärt er, indem er hinzufügt: “Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder”104 . Johannes ruft uns zurück durch seine Buße, Christus beruft und durch seine Gnade. Deshalb schreitet Johannes nach Kleidung, Lebenshaltung und Wohnrot ganz in der Gestalt der Buße einher: “Johannes der Täufer”, heißt es,“trat auf, predigte in der Wüste von Judäa und sprach: Tut Buße!” Durch die Wüsten von Judäa hin ließ Johannes den Ruf der Buße erschallen; denn diese105 hatten alle Vorschriften des Gesetzes, die Bemühungen der Propheten, die Fruchtbarkeit der Väter, die Früchte Gottes selbst durch ihre völlige Unfruchtbarkeit vernichtet. Deshalb werden sie mit Recht zur Buße gerufen, diese Wüsten, die nicht so fast von Menschen, sondern von jeder Zucht verödet waren. Doch die Stimme ruft, und keiner ist, der sie hört! “Johannes aber trug ein Kleid von Kamelhaaren.”106 Er hätte auch ein Kleid von Ziegenhaaren tragen können; denn er hatte kein Bußkleid verdient. Doch ertrug er die Haare jenes sehr gekrümmten Tieres107 , das kein gerades Glied, keine Anmut, keine Zierlichkeit besitzt, das die Natur bestimmt hat zu harter Arbeit, verurteilt hat zu den schwersten Lasten, ausgeliefert hat der schlimmsten Dienstbarkeit. Gerade mit solcher Kleidung geziemte es sich für den Lehrer der Buße sich zu bekleiden, damit alle, die von dem geraden Wege der Zucht sich abgewandt und sich durch die verschiedenen Sündenarten ganz verunstaltet hatten, der schweren Last der Buße sich unterzögen, die großen Beschwerden der Genugtuung auf sich nähmen, die mühsamen Seufzer der Reue ertrügen, bis sie, wie eine Nadel geschmeidig und zurecht gemacht, hindurchgehen könnten durch die enge Öffnung der Buße in das weite Reich der Gnade, damit so in Erfüllung ginge, was der Herr gesagt hat: “dass ein Kamel durch ein Nadelöhr zu gehen vermöge”108 .

“Seine Nahrung aber waren Heuschrecken und Waldhonig.”109 . Die Heuschrecke, so oft zur Züchtigung der Sünder gebraucht, sinnbildet treffend die Nahrung der Buße, indem sie, von der Stätte der Sünde hinüberspringend, zur Stätte der Buße, sich emporzuschwingen vermag auf den Flügeln der Gnade zum Himmel! Dies meinte auch der Prophet, wenn er sagte: “Wie ein Schatten, der sich neigt, werde ich hinweggerafft und werde ich verscheucht wie eine Heuschrecke. Meine Knie werden kraftlos vor Fasten, und mein Fleisch zehrt ab um der Erbarmung willen”110 Hörst du, wie er von der Sünde verscheucht ist zur Buße gleich einer Heuschrecke, und wie er beugte seine Knie, um der Buße Lasten auf sich zu nehmen? Dazu nahm er als Nahrung Honig, damit die Bitterkeit der Buße gemildert werde durch die Süßigkeit der Erbarmung!

Siebter Vortrag: Über die Stelle: “Dann wurde Jesus vom Geiste in die Wüste geführt…” bis: “das aus dem Munde Gottes kommt.” Mt 4,-14

Was menschliche Wißbegier, was der Alten Forschergeist, was der Welt Weisheit suchend und lange suchend nicht finden konnte, das läßt uns die göttliche Offenbarung111 so leicht wissen und nicht wissen. Woher das Übel? Woher die Schuld? Woher die Macht der Laster? Woher die Flut der Verbrechen? Woher der Kampf des Fleisches? Woher der Kampf der Seele? Woher des Lebens große Not? Woher des Todes so grauenvoller Schiffbruch? Alles dies wüßte der Mensch nicht, wenn die Offenbarung Gottes112 es uns nicht gezeigt hätte als Werk des Teufels113 . Satan ist des Übels Urheber, die Quelle der Bosheit, der Feind der Welt, des glücklichen Menschen nimmermüder Hasser; er ist es, der die Schlinge legt, den Fall bereitet, die Grube gräbt, den Untergang verursacht, die Fleischeslust erregt, die Geister gegeneinander aufreizt; er ist es, der die Gedanken eingibt, die Zornesausbrüche auslöst, die Tugend ausliefert dem Haß, die Liebe preisgibt dem Laster; er ist es, der den Irrtum sät114 , Zwietracht nährt, den Frieden zerstört, die Liebe verjagt, die Einheit zerreißt; er ist es, der immer nur Böses, nie Gutes sinnt; er ist es, der Gotteswerk verletzt und Menschenwerk versucht. Ja, bis an Christus selbst wagt er sich heran, der verwegene Versucher, wie es heißt: “Und als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, darnach hungerte ihn. Und der Versucher trat herzu und sprach zu ihn: Wenn du Gottes Sohn bist, sprich, dass diese Steine Brot werden!”115 Die dies vernehmen, sollen aufhören, gegen Gott zu eifern; sie sollen nicht die Natur beschuldigen, den Schöpfer nicht schmähen, das Fleisch nicht anklagen, über den Geist sich nicht beschweren, den Zeiten keine Schuld zuweisen, nichts den Sternen zur Last legen,116 . Sie sollen davon ablassen, die unschuldige Natur zu schmähen; sie sollen gestehen, dass das Böse hinzugekommen ist, nichts Geschaffenes ist117 ; sie sollen Gott als den Schöpfer des Guten, den Teufel aber als den Erfinder des Bösen anerkennen, und so sollen sie dem Teufel des Böse, Gott aber das Gute zuschreiben. Sie sollen das Böse meiden, das Gute tun; sie sollen in ihren guten Werken Gott zum Helfer haben, der das Können gibt zu dem, was er befiehlt, und selbst das tut, was er befiehlt118 .

Denn wie der Teufel uns treibt zum Bösen, so führt uns Gott zum Guten. Niemand soll also den Lastern folgen, als seien sie ihm anerschaffen; niemand soll der Natur zuschreiben, was eine Tat des Lasters ist, sondern er soll mit Christus die Waffen des Fastens ergreifen und so die anstürmenden Laster vertreiben, das Heer der Verbrechen zu Boden werfen und unter der Fahne Christi den Sieg erringen über den Urheber des Bösen. Ist nämlich der Teufel besiegt, dann werden die Laster keine Gewalt mehr haben; denn wenn der Herrscher getötet ist, lösen sich die Heere des Herrschers auf in wilder Flucht. Vernimm, was der Apostel sagt:“Wir haben nicht zu kämpfen wider Fleisch und Blut, sondern wider die Geister der Bosheit in den Himmelshöhen”119 . “Dann”, heißt es, “wurde Jesus vom Geiste in die Wüste geführt.”120 . Nicht vom Teufel; es sollte sein der Lauf eines Gottes, nicht das Gehen eines Menschen; es sollte sein das Werk des allwissenden Gottes, nicht der menschlichen Unwissenheit; es sollte sein ein Erweis der Kraft Gottes, nicht aber der Macht des Feindes. Der Teufel sucht immer die Anfänge des Guten zu verhindern; er untergräbt schon die ersten Versuche der Tugend; das Werk der Heiligkeit sucht er schon gleich beim Entstehen zu ver tilgen. Er weiß ja, dass er es nicht mehr unterwühlen kann, wenn es einmal festgeggründet ist. Wohl wußte dies Christus, und doch gestattete er dem Teufel, ihn zu versuchen, damit der Feind durch seine eigene Schlinge gefesselt und gefangen würde, eben dadurch, wodurch er glaubt, fangen zu können, und damit er, so von Christus besiegt, auch den Christen nicht mehr nahen könnte. “Und als er”, heißt es, vierzig Tage und vierzig Nächste gefastet hatte"121 . Ihr seht, Brüder, warum wir vierzig Tage lang fasten. Es ist nicht menschliche Erfindung, es ist eine von Gott selbst gegebene Einrichtung, es ist ein Geheimnis, nicht bloß Willkür; es entsteht nicht nach irdi cher Sitte, sondern entspringt dem himmlischen Ratschluß. Die vierzigtägige Fastenzeit, die vierfache Zehnzahl deutet ja die vollkommene Glau benslehre an;122 ; denn in der Vierzahl liegt die Vollkommenheit123 Was aber die Vierzahl und die Zehnzahl an Geheimnissen im Himmel und auf der Erde in sich bergen, können wir jetzt nicht weiter auseinandersetzen. Darum laßt uns124 das Fasten, die wir schon begonnen haben, weiter fortsetzen.

“Und als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte.” Mensch! Gott fastet nach dir, hungert nach dir; er fastet ja nur für dich, er hungert nur für dich; denn da er keiner Speise bedarf, kann er nicht hungern. Um deinetwillen also fastet der Herr, um deinetwillen hungert er. “Und als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, darnach hungerte ihn.”125 . Das ist nicht ein Zeichen der Schwäche, sondern ein Beweis der Kraft. Denn wenn es heißt: “darnach hungerte ihn”, so ist erwiesen, dass er vierzig Tage und vierzig Nächte nicht gehungert hatte. Den Hunger fühlen und ihn stillen, ist ein Zeichen der menschlichen Schwäche; aber ein Zeichen göttlicher Kraft ist es, keinen Hunger zu empfinden. Christus wird also nicht geschwächt durch das Fasten; er hungert nicht aus Hunger; sondern es hungert Christus, damit der Teufel Anlaß fände zur Versuchung; an den Fastenden wagte er ja nicht heranzutreten; denn den, der so fastete, erkennt er als Gott, nicht als Menschen; dann erst erkennt er den Menschen, den sterblichen Menschen, dann erst glaubt er ihn versuchen zu können, als er, der schlaue Spion, ihn hungern sah. “Und der Versucher trat herzu und sprach.”126 . Er trat herzu mit der List des Versuchers, nicht mit der Liebe des Dieners. Er trat zurück mit größerer Schande, als er, der Unverschämte herzugetreten war.127 . Doch laßt uns hören, was er dem Hungrigen anbot. “Sprich, dass diese Steine Brot werden!” Er bietet Steine dem Hungrigen. Das ist die Liebenswürdigkeit des bösen Feindes immer. So nährt nur der Urheber des Todes, so nur der Neid des Lebens. “Sprich, dass diese Steine Brot werden!” Satan! Es läßt dich deine Klugheit im Stich. Er, der Steine in Brot verwandeln kann, er kann auch den Hunger wandeln in Sättigung. Was soll ihm dein Rat nützen, dem seine eigene Kraft genügt?

“Sprich, dass diese Steine Brot werden!” Satan! Du hast dich verraten, aber deinen Herrn nicht gespeist128 . “Sprich, dass diese Steine Brot werden!” Du Elender! Du willst schlecht sein, kannst es aber nicht; du sehnst dich nach einer Versuchung, aber verstehst es nicht; du hättest dem Hungrigen zarte Speise reichen sollen, aber nicht hartes Brot; du hättest den Hunger durch süße Speise lindern sollen, aber nicht durch so rauhe Speise: du hättest den Hunger nicht durch abschreckende, sondern durch schmackhafte Speise stillen sollen! Mit solchen Lockmitteln könntest du nicht einmal des Menschen Sohn gefangennehmen, geschweige denn den Gottessohn. Merke, du Versucher! Vor dem Auge Christi müssen deine Teufelskünste dir zuschanden werden. “Sprich, dass diese Steine Brot werden!” Aus den Steinen kann der Brot machen, der Wein in Wasser verwandelt hat129 . Aber Wunder werden nur gewirkt für den Glauben, nicht für den Betrug. Wunderzeichen sind zu gewähren dem Gläubigen, aber nicht dem Versucher. Und sie sollen gewirkt werden zum Heile des Bittenden, nicht aber zur Schmach des Wirkenden. Satan! Was sollen also die Wunderzeichen dem. dem ja nichts zum Heile ist, dem ja alles nur zur Strafe dient, dem ja auch Wunderzeichen nur zum Falle sind? Doch vernimm die Antwort, damit du auch dich selbst kennen lernst und dem Schöpfer dich unterwirfst. “Nicht vom Brot allein lebt der Mensch, sondern von jedem Worte, das aus dem Munde Gottes kommt.”130 . Vernimm, dass das “Wort des Vaters” hungert nach den Worten unseres Heiles, nicht nach Brot, und dass er nur besorgt ist, dass der Mensch immer lebe vom himmlischen Brote und nicht vom irdischen, und er immer so für Gott lebe, dass er seine eigene Schwachheit vergesse; denn das ist das wahre Leben, das keinen Angstschweiß kennt, keine Schmerzen leidet und kein Ende findet.

Achter Vortrag: Über die Stelle: “Wenn du Gottes Sohn bist…” bis: “stürze dich hinab.” Mt 4,3-6

Weil wir die Frühlingsfasten, die Zeit der Geisteskämpfe herangekommen sehen, wollen wir, wie Streiter Christi, ablegen die leibliche und geistige Trägheit und hineilen auf den Kampfplatz der Tugend, damit wir die Glieder, die in winterlicher Ruhe erschlafft sind, wieder stählen mit himmlischen Waffenübungen. Ein Jahr haben wir dem Leibe gewidmet; [ein paar] Tage wollen wir nun der Seele gönnen; eine lange Zeit haben wir uns selbst geschenkt, einen kurzen Augenblick wollen wir dem Schöpfer opfern: ein wenig nur laßt uns Gott leben, die wir ja sonst ganz der Welt gelebt haben. Häusliche Sorgen wollen wir beiseite legen, bleiben wollen wir im Heerlager der Kirche. Wachen wollen wir im Heere Christi und nicht suchen den Schlaf auf weichem Pfühle; den Helden wollen wir uns anschließen und uns losreißen von sanften Umarmungen; ein Verlangen nach sieghaftem Triumph soll uns erfüllen, die Liebkosung der Kleinen soll uns nicht davon abhalten; in unseren Ohren töne die Stimme Gottes, der Lärm des Familienleben soll unser Ohr nicht verwirren; kärgliche Speise laßt uns nehmen von dem himmlischen Markte, die Fülle des irdischen Luxus soll uns nicht locken; das Maß der Nüchternheit wollen wir wahren beim Becher, nicht Trunkenheit soll verzehren unsere Kraft! Was wir sonst noch erübrigen von unserem Lebensunterhalt, soll mit uns genießen der dürftige Mitstreiter; nichts sollen wir vergeuden in verderblicher Verschwendung, im heißen Kampfe wirst du zum Helfer haben den hungernden Genossen, mit dem du dein Brot teilst. So gestärkt, Brüder, so belehrt, sollen wir den Kampf ansagen der Sünde, sollen wir den Kampf führen gegen die Verbrechen, Krieg ankündigen den Lastern, erfüllt von Siegesgewißheit. Denn wider die himmlischen Waffen vermögen nichts die irischen Feinde, gegen den himmlischen König können nicht bestehen, die feindlichen Mächte der Welt. Gegen uns vermag feindliches Verderben nicht anzustürmen, wenn wir in Glaubensbereitschaft festgegründet; auch der Teufel wird durch seine Listen nicht überrumpeln die Vorsichtigen, die Wachsamen, die Nüchternen, ja er wird uns, die wir so gerüstet sind, nicht wagen in offenem Kampfe anzugreifen, nicht versuchen, uns mit List zu nahen. Unser Geist möge bleiben im himmlischen Lichte und so aufdecken und umgehen die trügerischen und geheimen Nachstellungen des Teufels! Denn der Teufel ist ja seiner Natur nach böse, er wird aber noch boshafter, wenn er gereizt wird. Höre ja, wie der Apostel sagt: “Der Teufel geht einher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge”131 .

Wenn wir also fasten, hungert der Teufel, der sich immer sättigt an unserer Schuld. Er ist es, der unser Essen führt zur Völlerei, der uns den Becher füllt zur Trunkenheit, damit er den Geist verwirre132 , das Fleisch beflecke, damit er den Leib, die Wohnung des Geistes, das Gefäß der Seele, die Mauer des Geistes, die Pflanzstätte der Tugenden, den Tempel Gottes umwandle zum Kampfplatz der Verbrechen, zum Schauplatz der Laster, zum Theater des Genusses. Er ist es, der sich sättigt, der Lust empfindet, der sich erfüllt mit unserem Mahle, wenn uns die Schwelgerei entnervt, die Begierde uns aufstachelt, der Luxus uns hinreißt, der Ehrgeiz uns treibt, der Zorn uns drängt, die Wut uns erfüllt, der Neid uns entzündet, die Lust uns entflammt, die Sorgen uns bekümmern, Streitigkeiten uns quälen, Gewinnsucht uns gefangen nimmt, der Wucher uns fesselt, Schuldscheine uns knebeln, Geldsäcke uns drücken, Goldgier uns zugrunde richtet. Wenn die Tugend erstirbt, lebt das Laster auf, die Lust ergießt sich in uns, die Ehrenhaftigkeit geht verloren; die Barmherzigkeit schwindet, die Habsucht nimmt überhand, Verwirrung herrscht, die Ordnung unterliegt, die Zucht liegt am Boden. Dies alles streitet gegen den Streiter Christi; es sind die Kohorten des Satans, des Satans Legionen; sie sind es, die die Welt mit Gräbern erfüllten, die Völker zu Boden warfen, die Nationen verwüsteten, den ganzen Erdkereis in Sklavenketten legten. Sie sind es, denen aus sich kein Sterblicher entgegentreten kann; und deshalb kam, sie zu besiegen, Gott selbst; des Himmels König stieg selbst herab; deshalb kam er als einzigartiger Sieger herab [vom Himmel] und stellte als Schutzwehr auf das vierzigtägige Fasten, damit er durch des Fastens vierfache Zehnzahl die gesamte Vierheit der Welt umschirme mit einer unüberwindlichen Mauer. Wir wissen, Brüder, dass das Fasten ist die Mauer des Geistes, die Fahne des Glaubens, die Standarte der Keuschheit, das Siegeszeichen der Heiligkeit. Dem Adam hätte das Fasten erhalten das Paradies, aber die Unenthaltsamkeit vertrieb ihn133 ; das Fasten bewahrte den Noe in der Arche, während die Unenthaltsamkeit die Welt ertrinken machte134 . Durch das Fasten löschte Lot den Brand Sodomas, er, der später verzehrt wurde durch das Blutschänderische Feuer, weil er trunken war135 . Das Fasten ließ des Moses Antlitz leuchten von göttlicher Glut, während das Eßund Trinkgelage das Volk Israel warf in die Finsternis des götzendienerischen Irrtums136 . Das Fasten trug den Elias zum Himmel empor137 , während die Trunkenheit den ruchlosen Achab zur Hölle hinabwarf. Das Fasten machte den Johannes zum größten unter den vom Weibe Geborenen138 , während Unmäßigkeit den König Herodes machte zum Mörder auf Weiber Befehl139 ,

Das vierzigtägige Fasten, Brüder, hat die uralten Listen des Satans uns verraten und kundgemacht; denn der Teufel, der Christus, so lange er Nahrung zu sich nahm, verachtet hatte, ihn, so lange er trank, nur als einen Menschen angesehen hatte, vermutet ihn ihm den Gott, als er ihn fasten sah und bekennt ihn als Gottessohn: “Wenn du Gottes Sohn bist”, heißt es,“sprich, dass diese Steine Brot werden”140 . Wenn er so sprach, will er uns den Menschen zeigen, nicht den Gott; er will nicht Speise ihm reichen, sondern das Fasten ihm nehmen. “Wenn du Gottes Sohn bist, sprich, dass diese Steine Brot werden!” Denn am Ende des Fastens verlangt nach Brot nicht göttliche Kraft, sondern menschliche Schwäche; Gott aber ermattet gewiß nicht so durch Hunger, dass er sich nicht mit Nahrung versorgen könnte, was doch in seiner Macht liegt. In dem, was folgt, verrät uns der Teufel selbst seine Versuche: “Wenn du Gottes Sohn bist, so stürze dich hinab!”141 . Gewiß will er hier den Menschen wieder versuchen, indem er ihm nicht einen Flug in die Höhe, sondern einen Sturz in die Tiefe anrät; denn für den Menschen ist der Aufstieg immer schwierig, zum Sturz aber ist er so leicht geneigt. “Wenn du Gottes Sohn bist, so stürze dich hinab!” Du irrst, Satan; du verstehst das Versuchen nicht; Gott kann ja nicht fallen.

“Alsdann zeigte er ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm:Dies alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.”142 . O, was wagt doch der Teufel! Zu Gott sprach er: Bete mich an!" Aber nicht lange darnach sollte er den als Gott erkennen durch seine Wunderwerke, und als Richter für seine Schuld, den er [eben noch] durch seine Versprechungen bittend drängte; denn in Christi Namen, in der Kraft seines heiligen Fastens fing der Teufel an zu fliehen aus den Leibern, die er in Besitz genommen hatte, und zitternd dem die Ehre zu geben, dem er in seinem Hochmute so schlau Schmach zugefügt hatte. Durch das Fasten überwand [Christus den Teufel], um dadurch uns die Kraft zum Siege und den Weg zum Siege zu sichern. “Dieses Geschlecht”, heißt es, “wird nicht anders ausgetrieben als durch Fasten und Gebet.”143 Laßt uns also fasten, Brüder, wenn wir Christo nacheifern wollen, wenn wir überwinden wollen die trügerischen Verführungskünste des Teufels!

Neunter Vortrag: Über die Stelle: “Wenn du Gottes Sohn bist…” bis: “du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten.” Mt 4,3-10

Seht, die Zeit ist da, wo der Krieger hinauseilt auf das Kampffeld, wo zum göttlichen Fasten hineilt der gläubige Christ. Die Zeit ist nun da, wo die Ruhe des Fleisches, die Trägheit des Geistes, die Sorge für den Leib und alle Schlaffheit des häuslichen Lebens zu beseitigen ist. Die Zeit ist nun da, wo in der Übung himmlischer Waffen der Seele und des Körpers Kräfte gestählt werden sollen. Die Zeit ist nun da, wo unter Christi Führung, unter dem Beistand der Engel unsere Stärke im Kampf erprobt werden soll. Nun ist die Zeit da, wo im Kampfe liegt die Unenthaltsamkeit mit dem Fasten, die Enthaltsamkeit mit der Völlerei, die Keuschheit mit der Schwelgerei, die Treue mit der Untreue, die Frömmigkeit mit der Gottlosigkeit, die Geduld mit der Raserei, die Gier mit der Freigebig keit, die Barmherzigkeit mit der Habsucht, die Demut mit dem Stolz, die Heiligkeit mit der Schuld, [ein Kampf, in dem] Christus verleiht den Siegespreis. Wenn also einer unter den Augen Gottes, beim Schall der himmlischen Posaune selbst, unter dem helfenden Beistand der Engel, es unterläßt, den Kampfplatz der Tugend zu betreten, mag er auch noch so verstrickt sein in den Lüsten des weichen Pfühls, entnervt sein durch weichliche Hände, vollständig entmannt sein durch eheliche Liebkosungen so verliert er auch den Preis des Kampfes, den Ruhm der Tugend, die Palme des Sieges, den Lorbeerkranz der Gerechtigkeit; denn mit der Schande des Fahnenflüchtigen wird er gebrandmarkt für alle Zeit. Brüder! Heute hat Christus, unser König, seine Kampfgenossen ermahnt von dem Lehrstuhl des Evangeliums aus, den Feinden den Kampf angesagt, den Kämpfenden Belohnung verheißen; er hat uns kundgetan die Ursachen des Kampfes, und offen gezeigt die Ränke der Feinde und ihre Pläne, aber auch mit sieghaftem Beweis uns gelehrt, wo und wann und wie wir den Kampf aufnehmen müssen. Und obwohl er allein den Sieg erringen konnte, bot er dennoch unseretwegen und um unserer Furcht willen die ganze Streitmacht des Himmels zu unserer Hilfe auf. Wenn also einer darauf nicht hören und dieses große und wichtige Gesetz unseres Königs anzuerkennen verschmähen wollte, dann urteilt selbst, ob er sich nicht selbst beraubt der geheimnisvollen Hilfsmittel in unserem Kampfe, ob er sich nicht selbst völlig ausschließt von der Waffenbrüderschaft des Himmels.

Ihr aber, Brüder, die ihr in diesen vierzigtägigen Fasten genau nach dem Fasten des Herrn kämpfen wollt, wie wir eben gesagt haben, gegen die Heerscharen des Lasters, gegen die Kampfesreihen der Verbrechen, gegen die häßlichen Gestalten der Leidenschaften, gegen alle überall verbreiteten und unzähligen Legionen der geistigen Dämonen in der Luft:erweist euch siegreich im Hinblick auf die Versuchungen selbst, die dem Fasten des Herrn folgten. Denn erst als der Herr sich dem vierzigtägigen Fasten durch den unerschütterlichen Erweis seiner Kraft unterzogen hatte, trat ihm sogleich der Satan entgegen, um ihn mit List zu bekämpfen; denn dem Fastenden konnte er mit seiner Kraft nicht entgegentreten. Ebenso nämlich, wie der Teufel herrscht über die, die ergeben sind der Völlerei und der Trunksucht, so fürchtet er, die da beten; ebenso flieht er zurück vor denen, die fasten, wie der Herr sagt: “Dies Geschlecht wird nicht anders ausgetrieben als durch Fasten und Gebet”144 . Doch laßt uns hören, mit welchem Betrug der Teufel es wagt, den Herrn zu versuchen. “Wenn du Gottes Sohn bist, sprich, dass diese Steine Brot werden!”145 . Habt ihr gehört, was der böse Feind selbst über das Fasten denkt und urteilt, wenn er sagt: “Wenn du Gottes Sohn bist!? Ihr seht: er hält ihn nicht für einen Menschen, sondern für Gott, weil er ihn frei sieht von der Knechtschaft des Fleisches. Er erkannte, ja es erkannte der Teufel, dass das Fasten allen Tugenden den Rang abläuft. Er sah, dass Johannes die Lockungen des Stadtlebens vertauschte mit dem Aufenthalt in der unwirtlichen Wüste, dass er die Verweichlichung des Fleisches überwand durch das rauhe Gewand, dass er alle Genüsse der Welt bezwang durch die Nahrung des einfachen Landlebens, und dass er, was nur ein Zeichen göttlicher Kraft ist, so den Menschen die Verzeihung der Sünden erwirkte.146 Aber trotzdem hat er nie zu ihm gesagt:”Wenn du Gottes Sohn bist“. Aber als er den Herrn so lange ununterbrochen fasten sah, rief er aus:”Wenn du Gottes Sohn bist".

Der Teufel täuscht sich, wenn er so gegen den Herrn die gottlosen Anschläge seiner Schlauheit schleudert: “Wenn du Gottes Sohn bist, sprich, dass diese Steine Brot werden!” Warum sucht er denn, als Christus fastete, einen Beweis für seine göttliche Kraft nur dadurch, dass er von ihm Brot verlangte? Und warum wünscht er, der den Sohn Gottes erkennt durch den Be weis des ununterbrochenen Fastens, warum wünscht er einen Beweis dadurch, dass er ihm Brot für seinen Leib anbot: “Wenn du Gottes Sohn bist, sprich, dass diese Steine Brot werden”? Warum sagt er nicht: “Wenn du Gottes Sohn bist, sprich, dass Menschen oder Engel oder sonst etwas werde”, sondern: “Sprich, dass diese Steine Brot werden”? Er fordert den Beweis aus dem Brote, weil er den Beweis aus dem Fasten scheute. Er fordert den Beweis aus dem Brote, damit er dem erschreckenden Beweis aus dem Fasten entgegentreten könne. “Brot” flüstert der Versucher ihm zu, um die Tugend zu er schüttern und die feste Absicht des Fastenden zu verletzen. Doch laßt uns sehen, welche Antwort das Brot gibt, “das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist”147 . “Nicht vom Brote allein lebt der Mensch, sondern von jedem Worte, das aus dem Munde Gottes kommt.”148 Wie wahr lebt doch “Gottes Wort” vom Worte Gottes; wie wahr bedarf doch dieses Brot nicht des Brotes! Wie wahrhaft göttlich verwandelt er die Steine in Menschen, der aus den Steinen Söhne Abrahams erweckt zum Erweis seiner Herrlichkeit!149 . Und weil der unverschämte böse Feind mit einem Male nicht zum Siege kommen konnte,“stellte er”, nur um den Triumph des Siegers noch zu vermehren, “den Herrn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm:”Wenn du Gottes Sohn bist, stürze dich hinab!"150

Wie bezeichnend: „stürze dich hinab“! Wie passender hätte er gesagt:”Wenn du Gottes Sohn bist, steige zum Himmel hinauf!" Denn der Mensch stürzt doch allezeit in die Tiefe, Gott aber steigt auf zur Höhe151 . “Wenn du Gottes Sohn bist, stürze dich hinab!”

So rät er, so gibt er ein den Seinigen, so erhebt er sie, um sie dann von der Höhe in einen noch schrecklicheren Abgrund zu stürzen. “Wenn du Gottes Sohn bist, stürze dich hinab!” Sein eigener Rat verrät ihn als den Teufel, weil er sagt: Stürze dich hinab!" Er verlangt einen Fall, er befiehlt das Hinabstürzen mit solchem Rat erwirbt er sich in Afrika Märtyrer, indem er ihnen leise zuruft: “Wenn du Märtyrer sein willst, stürze dich hinab”, um sie so von der Höhe zum Tode zu führen, sie aber nicht von der Niedrigkeit zur hohen Krone empor zuführen152 . Aber wie sich der Teufel durch seinen Rat als solchen verriet, so offenbart sich der Herr als Gott durch seine Antwort, indem er spricht: “Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen!”153 . Er will, dass er als Herr, als Gott erkannt werde durch seine Antwort; denn nicht nur von der Zinne des Tempels hat er sich zur Erde herabgelassen, sondern von dem Himmel hat er sich erniedrigt bis zur Unterwelt, nicht um ein Bild des Falles zu sein, sondern die Auferstehung für die Toten. Merket wohl, Brüder; ob wohl der grimmige Feind, wenn auch mehrfach besiegt, vom Menschen ablassen könne, er, der sogar hört und sieht den Herrn und Gott und dennoch nicht davon absteht, ihn zu versuchen. “Er nahm ihn auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und sprach zu ihm:”Dieses alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest“154 Dies sprach der, in dessen Macht nicht das Geben, sondern nur das Täuschen lag, der das Versprechen nicht halten, sondern durch sein Versprechen den Besitz nur schmälern konnte.”Dies alles will ich dir geben."

Er bietet Gott an, was Gott gehört, dem Schöpfer, was schon dem Schöpfer gehört, versprach er wieder; er will den zur Anbetung bringen, der allein angebetet werden darf, und verblendet durch seine Verführungskünste, offenbart er schon vor dem Urteilsspruch dem Richter, wie er die Einfältigen täuschen wollte. Ihm gibt der Herr nicht so sehr nach dem Zeugnis des Gesetzes, als mit dem Befehl seiner Gottheit zur Antwort: “Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten!”155 . Du sollst anbeten den Herrn, jenen Gott, dem sich alle Knie beugen, nicht nur der Himmlischen und Irdischen, sondern auch derer, die in der Unterwelt sind156 . Du sollst also in der Unterwelt knirschend und heulend anbeten, den du als tollkühner Verräter eben noch einludest zu deiner Anbetung. So oft und in so [glänzender] Weise vom Herrn zurückgewiesen, bedrängt der Teufel auch uns Knechte mit seinem ganzen Grimme in ähnlicher Weise; und wie Christus seine Soldaten, so redet und feuert jener seine Diener also an; so spricht also der Teufel: Die Zeit bedrängt uns jetzt durch die Beobachtung der Fastenzeit; durch Schlemmerei, Völlerei, Trunksucht und Ausschweifung können wir die Menschen jetzt nicht versuchen; schmiedet Ränke, sät Zwietracht, erreget Haß, schürt Zorn, gebet Lügen ein, erzwingt Meineide, flüstert Gotteslästerungen zu, breitet eitle Redereien aus, erreget Habsucht, lockt mit schimpflichem Gewinn, damit, was der Bauch jetzt nicht zur Schlemmerei aufwendet, wenigstens der Geldsack verschließe und verwahre zur Strafe! Vor allem hütet euch, dass keine Barmherzigkeit, kein Almosen, keine Wohltätigkeit unsere frühere Arbeit verderbe, die gegenwärtige uns raube und die zukünftige uns unmöglich mache! Wir aber, Brüder, die wir die Mahnungen unseres Königs erkennen und vernehmen, wozu uns der Teufel durch seine [Diener] antreibt, wollen unser Fasten ohne Streit, ohne Lärm, ohne Trug, ohne Heuchelei, ganz in Wohltun, Liebe und Güte vollführen, damit Christus, unser Herr, der das blutige Opfer der Tiere verschmähend das Opfer einer betrübten Geistes und zerknirschten Herzens verlangt157 , in der Ruhe des Friedens das Opfer unseres Fastens in Huld und Gnade aufnehmen. Amen.

Zehnter Vortrag: Über die Stelle: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn…“ bis: „so geh zwei mit ihm“ Mt 5,38-41

Über die Größe der himmlischen Philosophie und die Kraft des Kriegsdienstes des Christen belehrt uns heute der Herr, indem er spricht: „Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so biete ihm auch die linke dar!“158 . Dies sieht als schwer nur an, wer die Größe des Lohnes der Geduld nicht kennt. Kann denn vielleicht einer durch seine Wunden den Siegeskranz erringen, der nicht einmal durch den Schlag der Hand die Krone erwerben will? Kann denn einer durch seinen Tod sich Ruhm erwerben, dem um Gottes Ehre willen menschliche Unbill schwer erscheint? Mensch, wirst du nicht durch solche Gebote an deiner Kindheit Lehrjahre erinnert? Schläge mit der Hand sind die Strafen für Kinder, nicht für Männer. Darum wird auch mit leichten Geboten der junge Christ159 angefeuert, damit dann die so aus der vollen Kraft des Evangeliums lebende Jugend übergehe zu den schweren Geboten; damit sie durch Anstrengungen, Mühen und selbst den Tod freudig zu erlangen strebe, was sie wegen der Kindheit durch geringfügige Leiden nicht erringen konnte. Damit aber auch bewiesen werde, dass seine Gebote nicht hart sind, wollen wir die Reihenfolge der Gebote selbst darlegen. „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn160 . Ich aber sage euch: wehret euch nicht gegen den Böswilligen, sondern wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so biete ihm auch die linke dar. Will jemand mit dir vor Gericht gehen und dir den Rock nehmen, so laß ihm auch den Mantel. Nötigt dich jemand, eine Meile weit zu gehen, so gehe zwei mit ihm.“161 .

„Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist.“ Welchen Alten? Natürlich den Juden, die zu „Alten“ mehr machte die Bosheit als die Zahl der Jahre, die von der Wut der Rachgier so besessen waren, dass sie für das Auge das Haupt, für den Zahn die Seele forderten. Darum mußte ein Gesetz sie zügeln bei der rächenden Vergeltung, damit sie, die schuldige Verzeihung nicht kannten, wenigstens Maß hielten bei der Rache und nur so viel Vergeltung forderten, als die Gewalt des Rasenden ihnen Schaden zugefügt hatte.162 . Doch dies wurde zu den Alten gesagt; wir aber wollen hören, was uns, die wir durch die Gnade erneuert sind, die göttliche Güte befiehlt. „Ich aber sage euch.“ Wem? Den Christen. „Wehret euch nicht gegen den Böswilligen!“ Mit diesen Worten will er, dass wir nicht Fehler mit Fehlern vergelten, sondern durch Tugenden überwinden, dass wir den Zorn auslöschen, wenn er erste noch im Funken glimmt; denn wenn er kommt zu hellloderndem Wutbrand, läßt er sich ohne Blutvergießen nicht mehr stillen. Sanftmut besiegt den Zorn163 , Gelassenheit die Raserei; die Bosheit wird durch die Güte besiegt, die Grausamkeit164 wird niedergeworfen durch die Liebe, die Ungeduld wird bestraft durch die Geduld, die Streitsucht überwunden durch die Liebkosung, den Stolz wirft die Demut zu Boden. Wer also, Brüder, Fehler besiegen will, muß die Waffen der Liebe, nicht des Zornes führen. Obwohl nun aber der Weise einsehen kann, warum schon die Jugendzeit des Christen165 durch Unbill getrübt wird weil aber dennoch einige nicht einsehen, dass dies ein Zeichen der Kraft ist, dass es der Gipfel der Güte, die höchste Stufe der Liebe, das Werk göttlicher Lehrweisheit und nicht des Menschen Werk ist, dem Böswilligen nicht zu widerstehen, sondern das Böse im Guten zu überwinden166 , dem Schlagenden die Möglichkeit wieder zu schlagen nicht zu verweigern, dem, der den Rock nimmt, auch den Mantel zu lassen, und dem, der die Beute raubt, auch noch freigebig sich zu zeigen, dem, der uns nötigt, eine Meile zu gehen, auch noch zwei Meilen zu folgen, damit so der Wille den Zwang überwinde, die Liebe die Lieblosigkeit besiege, und damit dies sei die Tugend der Geduld, was die Gewalt des Zwingenden uns auferlege, weil dies alles schon beweist, wie der Soldat Christi durch Unbilden gekräftigt werde, so wollen wir dennoch, damit es uns klarer werde, tiefer schürfend erforschen, warum dies Gebot an uns ergangen ist.

Brüder, nachdem sich das Siechtum der Sünden, die Ruchlosigkeit der Laster, der Wahnsinn der Gottentfremdung über den menschlichen Geist ergossen hatten, ausgelöscht hatten alles, was ihm an [echter] Weisheit, [gutem] Sinn und [vernünftigem] Überlegen gegeben war, ließen sie die Heiden, die über die ganze Erde zerstreut waren, in wahnsinnig verblendeter Wut vor Gott fliehen, die Dämonen suchen, die Geschöpfe verehren, den Schöpfer schmähen, nach den Lastern verlangen, die Tugenden verabscheuen; der Mordlust wurden sie preisgegeben; sie stürzten sich in Wunden, lebendig weihten sie sich dem [geistigen] Tode. Nicht anders konnten daher die Menschen gerettet werden, als dass sie ausgerüstet und gewappnet wurden mit der ganzen Liebe und Geduld des himmlischen Arztes. So sollten sie, die am Wahnsinn litten, Unbilden ertragen, Schmähungen erdulden, Schläge aushalten, ihren Leib zerfleischen lassen bis sie nüchtern und aufrichtigen Sinnes zur geistigen Gesundheit zurückkehrten. Und so sollten sie lernen167 , ganz Gott zu suchen, vor den Dämonen zu fliehen, ihr Siechtum einzusehen, nach der Gesundheit Verlangen zu tragen, die Laster zu verwerfen, nach der Tugend zu streben, den Wunden, dem Blutvergießen, dem Selbstmord zu entsagen, vor ihnen zu fliehen und sie zu verabscheuen, und dafür das Leben zu erhalten. Und wenn einer noch tiefer erkennen will, was wir gesagt haben, wollen wir über die Handlungsweise der Ärzte zu euch reden. Geschieht es nicht, dass, oft wie der Brand der Ruhr in dem Menschen sich entzündet und das herrschende Fieber den Kranken zum Wahnsinn bringt, die Sinne sich verwirren, der Geist schwindet, Wildheit eintritt, menschliches Tun [geradezu] verschwindet und um nicht viele Worte zu machen die Raserei einzig lebt, wo der [dem] Mensch stirbt? Darum knirscht er mit den Zähnen, zerfleischt die Anverwandten, zerfleischt die besten Freunde; er schlägt um sich mit den Fäusten und beißt die ihn Pflegenden. Dann wappnet sich der Arzt zum Lobe der Tugend, zur Ehre der Kunst, zur Mehrung seines Rufes mit Geduld: er ergreift die Geduld, verachtet die Beleidigungen, hält diese Bisse aus, erträgt diese Mühen und leidet selbst nicht geringe Pein, um den Kranken von seiner Pein zu befreien. Er salbt ihn mit Öl, er pflegt ihn sorgfältig, gibt ihm Arznei ein, da er weiß, dass der Kranke ihm gern durch seine Dienste ehrenden Lohn wiedergeben wird, wenn er durch ihn die Gesundheit erlangt hat.

Und so frage ich euch: Gibt es wohl einen größeren Wahnsinn, einen schrecklicheren Wutausbruch, eine gleich große Raserei, als die Wange eines heiligen Menschen zu schlagen, das Antlitz eines sanftmütigen Bruders zu zerfleischen? als die Lieblichkeit eines geduldigen Antlitzes mit trübem Geifer zu besudeln, als den Menschen zu berauben des einzigen Kleides, das er trägt?168 als eines geringfügigen Gewinnes wegen Gott, dem Menschen, der Natur alles zu entziehen und nichts mehr der Scham zu lassen? den Menschen, der mit seiner Beschäftigung genug hat, eine Meile mitzugehen zu zwingen und die Qual eines andern zum eigenen Troste zu mißbrauchen? Brüder! Wenn wir erkannt haben, dass nur in schlimmster Verblendung Menschen solches tun, so wollen wir Christo gehorchen und die Bisse, Schläge, Quälereien solcher Menschen ertragen mit der ganzen Kraft der Liebe, damit wir unsere Brüder befreien von ihrer Pein und wir selbst erlangen den ewigen Lohn der Geduld. Der Knecht scheue sich nicht, dies von seinen Mitknechten zu ertragen, was der Herr von seinen Knechten anzunehmen nicht verschmäht hat: den Faustschlägen hat er sein Antlitz nicht entzogen169 ; dem, der ihm den Rock nahm, gab er auch seinen Mantel; dem, der ihn zum Frondienst [des Kreuztragens] zwang, folgte er freudig und gern zum Tode. Wenn also. Brüder, der Herr es für würdig hielt, zu leiden, wie sollte es unwürdig sein, dass der Knecht leide? Wir irren, Brüder, ja wir irren: wer nicht tut, was der Herr befiehlt, erhofft vergebens, was der Herr versprochen hat.

Elfter Vortrag: Über die Stelle: „Habt acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen übt…“ bis: „was deine rechte tut.“ Mt 6,1-3

Gott nimmt sich unser an, Gott sorgt für uns in dieser Welt, damit uns nichts verloren gehe für die Ewigkeit. Dies geht aus dem Anfang unserer Lesung selbst hervor. „Habt acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen übt, um von ihnen gesehen zu werden; sonst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater, der im Himmel ist.“170 . Wie aber kann das, was von Menschen geschieht, den Menschen unbekannt bleiben? Mag auch die innere Absicht einer offenkundigen Gerechtigkeit verborgen bleiben: was aber bedeutet das Geheimbleiben einer öffentlichen Tat? Wer die Strahlen der Sonne verdunkeln kann, wird auch den Glanz der Gerechtigkeit verbergen können [Gemeint ust Gott]. Die Gerechtigkeit aber,171 das Licht der Welt, wird nicht verhüllt durch die geheime Absicht. Die Gerechtigkeit erleuchtet alle durch ihr Beispiel, sobald sie durch die Tat ans Licht gekommen ist. Und warum will der Herr, dass sie nicht vor den Menschen geschehe, wo doch durch sie die menschlichen Verhältnisse allein bestehen können? Wo bleibt denn die Mahnung: „So leuchte euer Licht vor den Menschen, dass sie eure guten Taten sehen und euren Vater preisen, der im Himmel ist!“172 . Warum will er, dass die Gerechtigkeit verborgen bleibe, wo er will, dass die Taten so leuchten sollen? Brüder! Diese himmlische Vorschrift will nur die Aufgeblasenheit fernhalten, den äußeren Prunk173 beseitigen, die Eitelkeit wegnehmen, alle Ruhmsucht bannen. So will er, dass die Gerechtigkeit verborgen bleibe. Die Gerechtigkeit, die aus sich für sich überreich fließt zur Ehre, sucht nicht den Schauplatz des Volkes, das Lob des Pöbels, Gunst vor den Menschen, Ehre vor der Welt; aus Gott geboren, schaut sie zum Himmel; vor den Augen Gottes wandelt sie; mit übernatürlicher Kraft verbunden, erwartet sie ihre Ehrung nur von Gott allein. Denn das ist die Gerechtigkeit, die aus Gott geboren ist; jene Gerechtigkeit aber, die Heuchelei ist, ist nicht [wahre Gerechtigkeit]: sie täuscht die Augen, trügt den Blick, verhöhnt die, die sie sehen, verführt die, die sie hören, bezaubert die Menge, reißt die Massen hin, erkauft sich Ruhm und erwirbt sich Beifall; die geschieht vor der Welt, nicht vor Gott; sie erhascht sich irdischen Lohn, sucht ihren Lohn nicht im Jenseits; sie blendet die Augen, sie ist selbst blind und nicht sehend, will aber gesehen werden174 . Dieser Blindheit wegen beginnt Christus in seinem Gebot also: „Habt acht!“d. h. trachtet nicht darnach, beachtet zu werden. „Dass ihr eure Gerechtigkeit nicht übt vor den Menschen.“ Warum? „Um von ihnen gesehen zu werden.“ Und wenn sie wirklich gesehen werden? Was dann? „Sonst werdet ihr keinen Lohn haben bei eurem Vater, der im Himmel ist!“

Brüder! Hier richtet der Herr nicht, sondern er enthüllt nur, er macht offenbar den Betrug der Gedanken; er legt klar die geheimen Gedanken des Geistes: kündigt denen, die ihre Gerechtigkeit in ungerechter Weise üben, das Maß der gerechten Vergeltung an. Die Gerechtigkeit, die sich vor den Augen der Menschen breit macht, kann keinen Lohn des göttlichen Vaters erwarten: sie wollte gesehen werden und ward auch gesehen; sie wollte den Menschen gefallen und gefiel ihnen auch; sie hat den Lohn, den sie wollte; den Lohn, den sie nicht haben wollte, wird sie auch nicht besitzen. Warum wir dies vorausgeschickt haben, wird aus dem folgenden klar werden. „Wenn du Almosen gibst, so posaune es nicht vor dir her, wie die Heuchler tun!“175 . Ganz mit recht wird hier das Wort tuba, Posaune gebraucht. Denn ein solches Almosen ist das Almosen nicht eines friedlichen Bürgers, sondern eines kriegerischen Feindes176 ; es ist nicht wegen der Barmherzigkeit, sondern wegen des äußeren Lärms geschehen; es ist ein Kind des Aufruhrs, nicht aber ein Diener der Liebe; es ist ein marktschreierischer Artikel, nicht ein Wechsel der Liebe177 . Wer das Almosen ausschreit, entehrt es. „Du aber“, heißt es,„wenn du Almosen gibst, posaune es nicht vor dir aus, wie die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Straßen, um von den Menschen gesehen zu werden. Wahrlich, sage ich euch: sie haben ihren Lohn schon empfangen!“178 Ihr hört, wie er das Almosen, das vor versammelter Volksmenge, auf den Straßen und auf den Plätzen gegeben wird, nennt; es wird nicht gespendet zur Erleichterung [der Not] der Armen, sondern zur Schau gestellt für die Gunst der Menschen, da diese Menschen so beweisen, dass sie die Barmherzigkeit [selbstsüchtig] verkaufen, aber nicht [freigebig] anbieten. Brüder! Fliehen, ja fliehen müssen wir die Heuchelei, die den Ruhm gefangen hält, die Verschämtheit des Armen nicht verdeckt, sondern nur noch mehr belastet; aus dem Seufzer des Armen sucht sie die Pracht ihrer eigenen Ehre; ihr eigenes Lob bereichert sie aus dem Schmerze des Armen; das Elend des Bettlers nimmt sie sich zum Lob ihrer eigenen Prahlerei.

Aber es könnte jemand einwenden: Also soll vor versammelter Menge, auf den Straßen und auf den Plätzen die Barmherzigkeit nicht geübt werden? Soll da keine Lebensnahrung dem Armen geboten werden? Mit nichten! Überall und zu jeder Zeit soll die Barmherzigkeit geübt werden, Lebensnahrung gereicht werden, die Blöße bedeckt werden; aber nur so, wie der Meister der Barmherzigkeit179 es gelehrt hat, damit die Barmherzigkeit nicht der Erde, sondern dem Himmel bekannt sei, nicht den Menschen, sondern Gott geweiht sei. Auf den Straßen und auf den Plätzen hat gewiß die Liebe ihren stillen Wirkungskreis180 ; ja gerade sie, die Straßen und die Plätze sind es181 , da ja auch der Heuchler im geheimen nichts Geheimes tut. Brüder! Der Herr beschuldigt hier durch seine Mahnung nicht den Ort, sondern die innere Gesinnung; den Geist, nicht das Werk; die Absicht, nicht den Geber; er tadelt den, der gibt seines eigenen Ruhmes wegen, nicht des Hungers des Armen wegen182 ; er richtet nicht den Ort oder die Zeit, wo du wirkst, wann du wirkst, sondern die Art und Weise, wie du wirkst; denn Gott bemißt die Tat nach der inneren Gesinnung, nicht nach der äußeren Handlungsweise; nach der Absicht, nicht nach dem Ort der Taten bewertet er sie. Er will, dass die Barmherzigkeit vor ihm selbst geschehe183 , er, der allein der Vergelter und Zeuge der Barmherzigkeit ist und gesagt hat: „Ich war hungrig und ihr gabt mir zu essen“184 . Er will, dass man in dem Armen ihm die Gabe schenkt; und er, der will, dass man ihm gebe, will darum auch, dass er der Schuldner dafür sei, und eil er der Schuldner für die Gabe sein will, will er auch, dass den Gebern nichts verloren gehe. Gott verlangt nur wenig und gibt sehr viel zurück. Wenn du, Mensch, also Gott in den Armen auf Wucher leihest185 , suche nicht nach menschlichen Zeugen; der Glaube braucht keinen Richter186 . Bedenken über den Glauben187 des Empfängers trägt der, der nichts geben will ohne Mittler; wer Geliehenes offen ausposaunt, brandmarkt den Schuldner mit Beschämung.

Wenn du, Mensch, also Gott geben willst, gib im geheimen, damit das, was du gegeben hast, dir eine Ehre, keine Beschämung sei188 . Darum kommt zu dir dein Vergelter im Armen, damit du nicht zweifelst, dass er dir wiedergeben werde, was du gegeben hast, der dir doch auch umsonst zum Besitze gegeben hat, was du [einem andern] geben konntest. Wie sehr aber in dem Armen die Verschämtheit zu achten ist, sagt klar der, der deine Freigebigkeit im verborgenen geschehen wissen will, indem er spricht: „Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut!“189 . Siehst du, wie wenig er einen andern zum Mitwisser haben will, da er sogar will, dass ein Teil deines Leibes nicht wisse, was du tust? „Deine linke Hand soll nicht wissen, was deine rechte tut.“ Wie uns zur Rechten die Tugenden stehen, so stehen uns zur Linken die Laster190 . Wie also es ein Werk der Rechten sein muß, was ein verschwiegener Gebet tut, so ist es das Werk der Heuchelei, was ein geschwätziger Geber verrichtet. Heuchelei, Trug, Verstellung, List, Lüge, Stolz, Aufgeblasenheit, Prahlerei bedrohen und bedrängen uns von der Linken her. Was aber immer von uns mit Liebe und Güte und Barmherzigkeit geschieht, das soll die Linke nicht kennen. Die linke Hand ist es, die uns immer den Kampf des Geistes ansagt und sich abmüht, dass die Tugenden nicht zur Tat gelangen. Gegen die Herzensliebe streitet die Herzlosigkeit; gegen den Sieg des Almosens die Begierde. Es wütet die Habsucht, damit die Barmherzigkeit nicht ihren Segen spende; damit Unschuld und Reinheit und Einfalt und Heiligkeit nicht zum Siege komme, streitet die Heuchelei, die Christus von uns durch diese Mahnung verbannt wissen will: „Wenn du Almosen gibst, soll deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut.“ Brüder! Laßt uns fliehen in dieser Welt, was von der linken Seite kommt, wenn wir wünschen, in der jenseitigen Welt zur Rechten zu stehen und zu hören: „Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmt in Besitz das Reich, das euch bereitet ist vom Anbeginn der Welt!“191 . Mensch! Gib auf Erden dem Armen, wenn du willst, dass es dir bleibe im Himmel. Mensch! Kämpfe hier mit dem Armen, wenn du dort herrschen willst mit dem Herrn selbst, der hochgepriesen ist in alle Ewigkeit. Amen.

Zwölfter Vortrag: Über die Stelle: „Vater unser, der du bist im Himmel…“ bis: „sondern erlöse uns von dem Übel.“ Mt 6,9-13

Ausgewählte Predigten

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