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Der Witwenflüsterer

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Berlin City Blues


Acht Geschichten


Philipp Beck



















Schweißperlen tropften ihm von der Stirn. Trotz Klimaanlage herrschte in dem Raum eine unerträgliche Hitze. Er streckte den Arm aus. Hielt das Lineal kerzengerade. Fixierte das Ziel wie ein spanischer Stierkämpfer. Es war nur fünfzig Zentimeter entfernt. Nur fünfzig Zentimeter! Und schien doch so fern. Er baute Spannung auf. »Konzentration! Konzentration ist das halbe Leben!«, sagte er zu sich. Dann stieß er zu.

Die unterste Schreibtischschublade sprang mit einem Klicken auf. Sein Schatz schimmerte golden. Gierig griff er nach ihm, löste die pinkfarbene Schleife und - auf seinem Gesicht spiegelte sich blankes Entsetzen. Die Schachtel war fast leer. Unmöglich, jemand musste ihn bestohlen haben! Anders war der plötzliche Schwund nicht zu erklären. Aber er wusste nur zu gut, dass dieser abwegige Gedanken von seinem schlechten Gewissen erschaffen wurde. Natürlich war er für den Mundraub in der Schublade selbst verantwortlich.

Bernd Menzel entnahm die letzte Praline. Genussvoll schob er es in den Mund und schloss die Augen. Die Nougatfüllung zerging langsam auf der Zunge. Ein Wohlgefühl durchströmte seinen Körper und entfachte einen rauschartigen Zustand, der für einen kurzen wertvollen Moment alles andere vergessen ließ. Bernd empfand nichts als Glück. So, genau so stellte er sich das Paradies vor.

Das Telefon klingelte. Der Ton verriet einen internen Anruf.

»Herr Menzel?«

»Mhhm?«

»Ihr Termin bei Frau Spieß findet in einer halben Stunde statt. Sie müssen jetzt los, sonst schaffen Sie es nicht mehr rechtzeitig nach Potsdam.«

»Mhm, oh, ja, vielen Dank für die Erinnerung. Ich mach mich gleich los. Könnten Sie mir bitte noch die Produktinfo zum Fortunes-Fonds ausdrucken? Danke!«

Auf dem Weg zur Tiefgarage der WKP-Bank überflog er das Blatt. Seine Hoffnung, die Funktionsweise des Fonds endlich zu verstehen, verflüchtigte sich mit jeder neuen Zeile. Warum hatte das System ausgerechnet diesen Anlagevorschlag und nicht den bewährten Rendite Doppelplus gewählt? Nun musste er improvisieren und darauf hoffen, dass er den kritischen Fragen ihrer wichtigsten Kundin standhalten würde.

Er öffnete die Tür seines grauen Volvos und ließ den massigen Körper auf den Fahrersitz fallen. Die betagten Stoßdämpfer antworteten mit einem müden Quietschen und bestimmten den Takt für das Rascheln der gelben Bonbondose. Diese befand sich in der Mittelkonsole, ihre Füllung war genauso wichtig wie ein voller Tank. Bernd entnahm ein Zitronenbonbon und startete den Wagen.

Er wollte schon nach hinten setzen, als er plötzlich etwas im Rückspiegel erblickte. Er drehte sich um, spähte durch die Heckscheibe, doch da war nichts. Aber er hätte schwören können, gerade einen Fuchs gesehen zu haben.

Gleich einem Schiff glitt der Wagen aus dem Parkhaus in den Verkehr, synchron zu den Rhythmen von Duke Ellingtons »Money Jungle«. Das Piano rief den Geist vergangener Zeiten wach und katapultierte Bernd in das New York der Swinging Sixties. Eine Zeitreise mit der Zeitmaschine Musik. Die Altbauten der Schöneberger Hauptstraße verwandelten sich in hochgeschossige Apartmentgebäude der 57th Street. Döner fressende Passanten mutierten zu elegant gekleideten New Yorkern, ihre sabbernden Rottweiler zu edlen Collies. Grelles Sonnenlicht wich angenehmen Sepia-Farben. Das war nun sein ganz persönlicher Film, in dem er das Geschehen lenkte. Gleich würde er im Sound Making Studio sein und den Duke auf seinem Kontrabass begleiten. Spielen, einfach nur spielen und den mythischen Augenblick für immer in sich aufsaugen.

Gedankenverloren übersah Bernd den Fußball, der über die Fahrbahn kullerte. Es wirkte wie eine klassische Szene aus der ARD-Sendung »Der siebte Sinn«, die er in den 80er Jahren regelmäßig gesehen hatte. Man konnte immer etwas lernen.

Plötzlich tauchte vor dem Wagen ein verschwitzter Junge in einem roten Fußballtrikot auf. Bernd stieg sofort auf die Bremse. Die Reifen des Volvos quietschten wie ein aufgescheuchter Elefant, doch der Koloss wollte nur schleppend langsamer werden.

Es hätte niemals gereicht. Die massive Stoßstange hätte das Kind voll erwischt und in die Luft geschleudert. Wenn, ja wenn das Schlagloch nicht genau an der Stelle gewesen wäre, wo es war. Der Junge trat hinein, kam ins Stolpern und flog im hohen Bogen auf die andere Straßenseite. Der Volvo schlitterte an ihm vorbei.

Als der Wagen endlich zum Stehen kam, stieg Bernd aus und rannte zu dem Jungen. Er lag weinend auf dem Bauch. Vorsichtig drehte Bernd ihn zur Seite. Blut rann aus den aufgeschürften Knien. Er nahm den Jungen auf den Arm und trug ihn zum Auto. Dort verarztete er die Wunden mit Pflastern aus dem Verbandskasten. Außer ein paar Prellungen war glücklicherweise nichts passiert. Als der Junge sich etwas beruhigt hatte, fragte Bernd, ob er ihn nach Hause bringen sollte. Der Junge schüttelte den Kopf. Schluchzend gestand er, dass er die Schule schwänzte. Seine Mutter arbeitete noch und kam erst in einer Stunde nach Hause. Da wäre der Unterricht ohnehin vorbei gewesen, so dass sie nichts bemerkt hätte.

Der Junge zitterte am ganzen Körper, er stand noch unter Schock. Seine Mutter durfte unter keinen Umständen etwas erfahren, sonst würde es wieder wochenlang Fernsehverbot geben. Bernd erklärte sich widerwillig einverstanden. Er schenkte dem Jungen eine Packung Butterkekse, die er noch im Handschuhfach fand. Im Gegenzug musste der Junge versprechen, nie wieder die Schule zu schwänzen.

Mit einer Verspätung von zwanzig Minuten fuhr er auf das Anwesen von Frau Spieß. Er parkte den Wagen auf dem mit »Besucher« ausgewiesenen Stellplatz.

»Herr Menzel!«, hörte er ihre martialische Stimme beim Aussteigen. Sie musste ihn gehört haben und wartete bereits am Villeneingang.

»Guten Morgen Frau Spieß, ich grüße Sie!« Mit einem bemühten Lächeln ging er die breite Sandsteintreppe hoch, Stufe für Stufe mehr von ihr erspähend: schwarze Pumps, hellgrauer Hosenanzug, weiße Bluse mit tiefem Ausschnitt. Schweigsam beobachtete sie seinen angestrengten Aufstieg. Er fühlte sich wie ein Volltrottel. Sie hätte ihn vor dreißig Jahren sehen sollen, als er noch täglich im Boxring stand.

»Tut gut, ein wenig Bewegung? Treten Sie ein.«

»Ich muss mich wirklich entschuldigen für die Verspätung, aber es gab Probleme. Ich–«

»Das gibt es doch immer«, unterbrach sie ihn. »Probleme sollten gut eingeplant sein.«

Sie drehte sich um und ging hinein. Das Foyer verfehlte auch dieses Mal nicht seine imposante Wirkung. Der weiß gesprenkelte Marmorboden und die emporragenden Säulen waren Zeugnis einer Bauweise, bei der Geld keine Rolle gespielt hatte. Hinter grünen Palmen bewachten angriffslustige Porzellantiger die Eingangshalle.

Sie schritt voran, begleitet vom wiederkehrenden Hall ihrer Absätze. Es erinnerte ihn an seinen ersten Hausbesuch, der einer Museumsführung glich. Bei ihren Worten »Italienischer Carrara, dreißig Millionen Jahre alt« hatte er an die Carrera-Bahn seines Sohnes Philipp denken müssen. Bis heute wusste er nicht genau, wie sie zu ihrem beträchtlichen Vermögen gekommen war. Vermutlich Immobiliengeschäfte. Der Depotwert betrug allein bei der WKP-Bank dreißig Millionen Euro und es gab noch weitere Depots bei anderen Banken. Diesen Umstand bekam er regelmäßig zu spüren, wenn es um die Verhandlung seiner Provisionshöhe ging.

Im Salon angekommen bedeutete sie ihm, auf dem linken Chesterfield Sessel Platz zu nehmen. Bereitwillig folgte Bernd der Anweisung. Sie holte einen Tabletcomputer aus dem Biedermeier Sekretär und setzte sich auf den rechten Sessel. Für einen kurzen Moment schauten sie sich an, ohne etwas zu sagen. Gleich würden sie über Dinge wie Rendite, Rating oder Volatilität sprechen. Aber in diesen Sekunden der Stille war ihre Strenge einer Schutzlosigkeit gewichen. Sie sah verletzlich und müde aus. Selbst das Make-up konnte nicht verbergen, dass die Augenringe einen weiteren Kreis geschlagen hatten. Der Alterungsprozess ging in die nächste Runde. Welche Sorgen plagten einen Menschen wie sie, der eigentlich alles besaß? Eine Krankheit?

»Schön, dass Sie es doch noch geschafft haben.« Eine Anspielung auf seine Unpünktlichkeit. Sie hatte sich gefangen. Der Termin stand seit vier Wochen fest, nachdem sie die letzten beiden Male jeweils kurzfristig abgesagt hatte.

Bei der Besprechung ihres Depots verhielt sie sich wieder sachlich. Bernd gelang es, den Fortunes-Fonds ohne eine einzige Unsicherheit zu präsentieren. Merkwürdigerweise stellte Frau Spieß kaum Detailfragen. Er spürte, dass etwas anders war.

Dieses Einfühlungsvermögen war einst Bernds Stärke im Verkauf gewesen. Er kannte die Bedürfnisse seiner Kunden und konnte die Auswahl der WKP-Produkte darauf abstimmen. Zugegeben, manchmal machte er von dem »Interpretationsspielraum« großzügig Gebrauch. Aber die Kunden waren stets zufrieden. Mit seinen kindlichen Augen und der Stupsnase weckte er bei der weiblichen Klientel zudem mütterliche Instinkte, was sich ebenfalls verkaufsfördernd auswirkte. Die Kollegen nannten ihn deshalb den »Witwenflüsterer«. Eine Anspielung auf das Alter seiner Klientel. Bernds Berufsleben verlief ohne nennenswerte Höhen und Tiefen.

Bis zu dem Zeitpunkt, wo ein Algorithmus die Produktauswahl übernahm und er Vermögensanlagen verkaufen musste, die er selbst nicht mehr wirklich verstand.

Frau Spieß erklärte ihr Einverständnis zu sämtlichen Empfehlungen. Ausfertigung und Unterzeichnung der Orderaufträge wären die nächsten logischen Schritte gewesen. Aber etwas in Bernd sträubte sich. Auch wenn es jedes Mal ein harter Kampf war, so fehlte ihm jetzt das übliche Feilschen um Provisionen und Margen. Sie hatte keinen einzigen Alternativvorschlag gefordert, sondern alles ohne Widersprüche akzeptiert. Ein völlig wehrloser Gegner. Die Aufträge hätte er zwar gut gebrauchen können, um seine Verkaufsbilanz aufzubessern. Aber nicht auf diese Art. Er kaute auf seiner Unterlippe. Schließlich wagte er sich vor.

»Frau Spieß, bitte verzeihen Sie mir. Ich möchte weder indiskret wirken noch Ihnen zu nahe treten, ich bin ja lediglich ihr Bankberater. Es ist nur so, ich habe das Gefühl, dass Sie etwas bedrückt.«

Zunächst kam keine Reaktion. Sie wirkte abwesend. Schien nachzudenken. Bernd meinte, den gleichen, verletzlichen Blick wie zu Beginn des Termins zu sehen.

Nach einem Räuspern begann sie, zu erzählen. Von ihrem Sohn Maximilian. Den Auseinandersetzungen wegen Kleinigkeiten. Musik zu laut, Jeans zerrissen, das Übliche bei pubertierenden Jugendlichen. Irgendwann bemerkte sie, dass Max nachts aus dem Fenster kletterte. Es gab eine Woche Hausarrest.

Eines Tages rief der Klassenlehrer an. Er kam sofort zur Sache. Max schwänze häufig den Unterricht und wenn er mal doch im Klassenzimmer auftauche, stinke er nach Alkohol. Von den Noten ganz zu schweigen. Es stehe ihm als Pädagoge zwar nicht zu, den Schuldigen zu suchen. Aber Max treibe sich in letzter Zeit mit Steven aus der 8b herum. Ein ausgemachtes Problemkind.

Sie stellte ihren Sohn zur Rede. »Weil ein verschissener Lehrer anruft, interessiert es dich plötzlich, was ich mache. Du bist echt eine Fotze!« Der Streit eskalierte. Es gab vier Wochen Hausarrest. Außerdem beschloss sie, mit ihm eine Therapeutin aufzusuchen.

In der folgenden Nacht verschwand Max spurlos. Niemand wusste, wo er steckte. Zunächst suchte sie mit ihrem Lebensgefährten fieberhaft. Dann gingen sie zur Polizei und engagierten sogar einen Privatdetektiv, nachdem sie wochenlang kein Lebenszeichen von ihm gehört hatten. Ohne Erfolg.

In sich kauernd klagte sie immer wieder, sie habe als Mutter völlig versagt. Jeglicher Hochmut und jegliches Klassenbewusstsein waren verflogen. Mit solch einem Gefühlsausbruch hatte Bernd nicht gerechnet. Mal stammelte er ein »tut mir leid« mal ein »ach herrje«. Sie begann, zu schluchzen.

Bernd rückte den Sessel unauffällig näher und legte seine Hand auf ihre im Schoß gefalteten Hände. Allmählich beruhigte sich Frau Spieß. Lange saßen sie so zusammen, ohne dass ein Wort fiel. Er empfand diesen Moment weder als peinlich noch übergreifend, sondern einfach nur als menschlich. Er sollte es bereuen.

«Besser, Sie gehen jetzt.» Sie flüsterte ihre Worte in seine Richtung.

Bernd zog seine Hand zurück und stand auf. Auch sie erhob sich, wirkte jedoch unsicher auf den Beinen. Normalerweise wäre sie nun in Richtung Foyer geschritten. Doch nichts geschah. Sie schaute durch die Fensterfront hinaus in den gepflegten Garten.

Er überlegte, was er Sinnvolles sagen könnte. »Das mit den Orderaufträgen hat Zeit, das können wir gerne auf ein anderes Mal verschieben.« Beinahe hätte er noch hinzugefügt »wenn es besser passt«, realisierte jedoch, dass es das soeben Geschehene unnötig thematisieren würde. Der Anständige schweigt. Sie nickte stumm und wandte sich Richtung Foyer.

Mit einem angedeuteten Handkuss nahm Bernd an der Haustür Abschied. Als er in seinem Volvo saß, schaute er noch einmal zur Villa hoch. Er kam ins Grübeln. Hatte er sich angemessen verhalten? Wäre es nicht besser gewesen, wie üblich zu verfahren? Ob diese Episode Folgen für ihre zukünftige Geschäftsbeziehung haben würde?

Ach seine Kunden. Den meisten graute davor, das Vermögen falsch anzulegen. Er konnte ihnen diese Angst nehmen. Auch die persönlichen Gespräche schätzte er. Ein guter Bankberater musste eine gesunde Menschenkenntnis besitzen und nicht nur finanzielle Ratschläge erteilen können. Hinzu kam das Savoir-vivre: Er liebte es, mit seinen Mandanten über Oldtimer, kubanische Zigarren oder schottischen Single-Malt-Whiskey zu fachsimpeln. Dann wähnte er sich mit ihnen auf einer Stufe. Bei diesem Gedanken beschloss er, seinem Lieblingsitaliener in der Bleibtreustraße einen Besuch abzustatten.

Eine Pizza Parma und ein Glas Nero d’Avola später war er auf dem Weg zurück in die Bank. Sein Oberkörper wippte rhythmisch zu dem Song »Root Down« von Jimmy Smith, als ein Anruf den Groove zerriss. Im Handydisplay erschien »Andreas Vollenhart« sowie das Foto eines Pavianhinterteils. Es war der Leiter des Private Banking, sein direkter Vorgesetzter. Bernd stellte die Musik leiser.

»Hallo Andreas, wie geht’s, wie steht’s?«

»Bernd, du hast Nerven, so ans Telefon ranzugehen. Beweg deinen Arsch sofort in die Bank!«

»Was ist denn los? Was passiert?«

»Das brauch ich dir nicht zu erklären, das weißt du ganz genau. Komm sofort her!«

»Aha, auch gut. Ich bin in zehn Minuten da.«

Er hatte Andreas noch nie so erlebt. Etwas stimmte nicht. Zu allem Überfluss war die Tauentzienstraße wegen einer Demonstration gesperrt. Vor der Umfahrung hatte sich ein langer Stau gebildet.

Es war mühsam geworden, mit dem Auto durch Berlin zu fahren. Ständig neue Baustellen und Absperrungen. Fanmeile, Fashionweek, Marathon, Velothon. Der Preis der Hauptstadt.

Plötzlich fiel ihm ein, dass er den Anruf bei Herrn Karl vergessen hatte. Herr Karl war der Geschäftsführer eines großen Verlages. Die aktuelle Marktanalyse wollte er stets montags um 13.30 Uhr von Bernd persönlich erhalten. Er wählte seine Nummer und las beim Stop-and-go-Verkehr den Online-Bericht aus der WKP-Berater-App ab. Herr Karl war zufrieden.

In der Abteilung angelangt wurde Bernd von Andreas und Frau Dr. Gottwald, der Justitiarin der WKP-Bank, regelrecht abgepasst. Dunkler konnten die Wolken wohl kaum aufziehen. Hätte er doch nur auf den Rotwein verzichtet. Andreas harschte Bernd an, mit in den Konferenzraum zu kommen. Was hatte das zu bedeuten? Seine Umsatzzahlen verfehlten zwar die Vorgaben, aber so schlecht sahen sie auch nicht aus. Außerdem blieben einige Kollegen ebenfalls unter dem Soll.

Nachdem Andreas die gläserne Tür geschlossen hatte, setzten sie sich an den eichenhölzernen Konferenztisch. Bernd auf der einen, Andreas und Frau Dr. Gottwald auf der anderen Seite.

Andreas eröffnete das Gespräch: »Bernd, du weißt, warum wir hier sitzen. Dein Termin bei Frau Spieß.«

Doch die Umsatzzahlen. Hätte er das Geschäft mal besser geradlinig durchgezogen.

»Wir stehen kurz vor dem Abschluss, aber leider kam etwas dazwischen. Frau Spieß wird die Orderaufträge bald unterschreiben, versprochen.« Bernd rückte den Krawattenknoten zurecht.

»Etwas dazwischen? Etwas kam zwischen Euch? Wie soll ich das verstehen?« Die Stimme von Andreas überschlug sich. Seine Augen glühten vor Wut und schienen in dem tiefroten Kopf eine Kernschmelze in Gang zu setzen. Frau Dr. Gottwald verharrte hingegen regungslos.

»Darüber möchte und kann ich jetzt nicht sprechen. Das wäre auch ganz im Sinne von Frau Spieß.« Bernd gab sich betont reserviert.

»Das ist doch Bullshit! Vor einer halben Stunde hat Dr. Hartmann angerufen, der Anwalt von Frau Spieß. Es werden schwere Vorwürfe gegen dich erhoben.«

»Bitte? Was denn für Vorwürfe?«

»Das habe ich gehofft, von dir persönlich zu erfahren und nicht von Dr. Hartmann. du sollst Frau Spieß in ihrer Villa bedroht haben, nachdem sie sich weigerte, die Orderaufträge zu unterschreiben. Genau genommen sollst du sogar handgreiflich geworden sein und versucht haben, sie zu vergewaltigen.«

Bernd wurde schwindelig. Er kam sich vor wie in seinem schlimmsten Alptraum. Wenn er vergeblich versuchte, an die Wasseroberfläche zu schwimmen. Keine Luft mehr bekam. Zu ertrinken drohte. Schweißgebadet wachte er dann jedes Mal auf. Seine Frau Sylvia drängte ihn schon seit längerem, wegen der Atemaussetzer endlich einen Arzt aufzusuchen.

Er wollte etwas sagen, aber aus seinem trockenen Mund kam nur ein Krächzen. Andreas fuhr fort.

»Okay, du hast dazu also nichts zu sagen. du wirst sicherlich verstehen, dass wir bei diesen schweren Vorwürfen das Arbeitsverhältnis mit dir nicht fortsetzen können. Frau Dr. Gottwald hat ein Kündigungsschreiben aufgesetzt, das du bitte gleich schriftlich bestätigen magst. Der Sicherheitsdienst wird dich dann zu deinem Schreibtisch begleiten, wo du deine persönlichen Gegenstände holen kannst. Alles andere bleibt selbstverständlich in der Bank.«

Bernd konnte noch immer nichts sagen. Dafür meldete sich sein Magen mit der Pizza Parma.

»Ach ja, Bernd, noch eines: Dr. Hartmann hat angedeutet, dass Frau Spieß eventuell von einer Strafanzeige absehen

würde. Voraussetzung ist aber, dass du jetzt nicht mit einer Kündigungsschutzklage oder so was kommst, sondern darauf verzichtest und die Bank mit sofortiger Wirkung verlässt. Es wäre auch in unserem Interesse, wenn das Ganze nicht öffentlich würde. Frau Dr. Gottwald hat hierzu etwas vorbereitet, das du auch gleich unterschreiben kannst. Aber natürlich nur, wenn du willst, es besteht keine Verpflichtung.«

Andreas schob drei verschiedene Blätter über den Tisch: das Kündigungsschreiben, den Verzicht auf die Kündigungsschutzklage sowie eine Verschwiegenheitserklärung.

Nun ergriff Frau Dr. Gottwald das Wort: »Sollten Sie noch Unterlagen der WKP-Bank zu Hause oder in sonstigem Privatbesitz haben, sind diese unverzüglich an die Bank zurückzureichen. Im Falle der Weigerung oder Nichtbefolgung werden wir Sie auf Herausgabe sowie Zahlung von Schadensersatz verklagen. Die Kosten des Verfahrens haben Sie selbstverständlich zu tragen. Damit wir sicher gehen können, erhalten Sie diesen Fragebogen, den Sie an die Rechtsabteilung vollständig ausgefüllt bis spätestens morgen 12.00 Uhr im Original zurückschicken mögen, vorab per Fax reicht zur Wahrung der Frist aus. Ach ja, Ihren E-Mail Zugang haben wir natürlich auch per sofort sperren lassen. Hier bräuchten wir aber noch das Passwort. Sollten Sie sich weigern, es uns zu geben, würden wir das ebenfalls gerichtlich klären.«

Bei ihren letzten Worten reichte Frau Dr. Gottwald Bernd den Fragebogen. Sie lächelte. Bernd lächelte zurück. Er hatte nicht zugehört, sondern nur ihr hübsches Gesicht und die wallenden Haare betrachtet. Sie erinnerte ihn an jemanden aus längst vergangenen Zeiten. Eine Schauspielerin?

Andreas hatte sich mittlerweile beruhigt und sein Business-Lächeln aufgesetzt. Bernd hasste es. Er schaute auf die vor ihm liegenden Blätter. Am liebsten hätte er die Pizza Parma darauf gekotzt.

Es hatte keinen Zweck, sich zu verteidigen. Er lag blutend am Boden und war bereits ausgezählt. Sie warteten nur darauf, dass er unterschrieb. Seine Sicht der Dinge? Ohne Belang. Die ganze Geschichte erweckte den Anschein, als ob ihnen der Vorfall höchst gelegen kam. Einen verheirateten Familienvater mit zwei Kindern im Schulalter wird man sonst nicht so schnell los. Es sei denn, es gibt einen Grund zur außerordentlichen Kündigung. Et voilà. An Marlene Spieß dachte er in diesem Moment komischerweise nicht. Andreas zog seinen Montblanc Füller aus dem Jackett. Bernd nahm ihn stumm entgegen und wollte schon unterschreiben, aber etwas sträubte sich in ihm. Sollte er so widerstandslos aufgeben? Ihr Vorgehen war unfair, es war brutal. Das hier kam einer Vergewaltigung gleich. Mit einer Unterschrift würde er sein Einverständnis dazu erklären. Eine einvernehmliche Vergewaltigung. Bernd verzog den Mund ob dieser Absurdität.

Plötzlich stand er auf. Die Erwartung auf ihren Gesichtern wich einer Verwunderung. Er führte seinen rechten Arm mit dem Montblanc in der Hand langsam nach oben. Als dieser senkrecht in der Luft stand, hielt er inne. Mit großen Kinderaugen bestaunten Andreas und Frau Dr. Gottwald das Geschehen.

»Na, wo ist das Vögelchen?« platzte es aus ihm heraus. Ehe sie reagieren konnten, legte er den Schalter um.

Wie schweres Pendel raste sein Arm abwärts. Die geballte Faust hämmerte den Montblanc auf den Konferenztisch. Das Vorderteil platzte krachend, Kunststoffteile schossen in alle Richtungen. Bernd war überrascht, dass ein Füller so laut sein konnte. Montblanc eben. Das abgebrochene Schaftende festhaltend, betrachtete er sein Werk voller Zufriedenheit. Sogar Tinte war auf die Blätter gespritzt. Einmal in Fahrt, öffnete er die Faust und schnippte das Füllerwrack in die Luft. Nach einem perfekten Bogen landete es auf dem Tisch und kullerte bis zu Andreas. Entsetzt schauten sie ihn an. Es herrschte völlige Stille. Bernd nutzte den Augenblick und ergriff das Wort: »Au revoir Mesdames et Messieurs. Es war mir ein Fest.« Mit entschlossenen Schritten ging er zur Tür und ließ diese schwungvoll zurück ins Schloss fallen. Die hinter ihm losbrechende Aufregung bekam er nicht mehr mit.

Unter den fragenden Blicken seiner Kollegen verließ er das Büro. Sollten die sich um den Inhalt seines Schreibtisches kümmern. Der Schokoladenvorrat war erschöpft und das Bild seiner Kinder vergilbt. Bernd Menzel lächelte, als er aus dem Bankgebäude heraustrat.

Das Lächeln hielt jedoch nur für kurze Zeit an. Was nun? Seine Frau Sylvia anrufen? Und ihr erklären, dass sie ihn wegen »angeblicher« Vergewaltigungsvorwürfe gefeuert hatten? Nein, unmöglich. Er brauchte erst etwas Abstand von der Sache.

Bernd lockerte den Krawattenknoten und zog das Jackett aus. Hier draußen war es unerträglich heiß. Unschlüssig begann er, die Potsdamer Straße entlang zu gehen. Vorbei am Wintergarten Varieté, das im grellen Tageslicht schmucklos aussah. Weiter über die Kurfürstenstraße mit dem Babystrich. Jedes Mal, wenn er am Feierabend die Freier aus den Autos heraus mit den Mädchen gestikulieren sah, dachte er, dass man diese Typen allesamt kastrieren sollte. An der Winterfeldstraße angelangt, musste er an seine zahlreichen Einkäufe auf dem Winterfeldmarkt denken. Das Flanieren zwischen den Ständen mit frischem Obst und Gemüse. Ein Plausch hier, ein Plausch da und vor dem Weg nach Hause noch einen kleinen Aperitif. Bernd ging weiter bis zu Pallasstraße, wo er vor dem »Sozialpalast« stehen blieb. Auf den Trümmern des ehemaligen Sportpalastes war dieser gigantische Wohnkomplex gebaut worden. Was für eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet an dem Ort, wo Joseph Goebbels 1943 zum totalen Krieg aufrief, nun zweitausend Menschen unterschiedlichster Herkunft friedlich zusammenlebten.

Das Leben. Bernd wurde plötzlich bewusst, dass er zum ersten Mal in seinem Leben arbeitslos war. Eine Ohnmacht stieg in ihm auf, ähnlich wie beim Aufwachen nach einem K.O.-Schlag.

Du kommst zu Bewusstsein und merkst, es ist zu spät ist. Du kannst nichts mehr ausrichten. Dein Mund ist voller Blut und dein Kopf fühlt sich wie eine zermanschte Melone an. Jede Bewegung ist qualvoll, der Schmerz übermächtig.

In diesem Moment entdeckte er einen Discounter. Mit einer Plastiktüte voller Bierdosen kam er wieder heraus.

Auf dem Weg ins Unbestimmte öffnete er die erste Büchse und trank sie in einem Zug leer. Einen Moment später musste Bernd herzhaft rülpsen. Er blickte sich peinlich berührt um. Es schien niemanden zu kümmern. Ein rülpsender, Bier trinkender Mann gehörte zum Berliner Alltagsbild wie ein Scheißhaufen auf dem Gehweg. Bernd rülpste noch einmal lautstark und lachte bei dem Gedanken, dass er mit Bierdose, weißem Hemd und blauer Hose wie Homer Simpson aussah.

Beim Erreichen des Heinrich-Lassen-Parks war die zweite Dose bereits leer. »Mensch Junge, das läuft ja heute mal wieder!«, sprach er zu sich selbst.

Am Rande eines Spielplatzes setzte er sich auf einen Steinblock. Auf dem benachbarten Sportfeld spielten ein paar Jugendliche trotz der Hitze Basketball. Bernd schaute fasziniert zu. Als er einen erfolgreichen Korbwurf bejubelte, sahen sie ihn irritiert an. Beim zweiten Jubelschrei grinsten sie vielsagend. Beim dritten Mal rief ein Junge mit roter Baseball-Cap: »Hey du Schwuchtel, zieh ab und fick deine Mutter.« Bernd blieb sitzen.

Vielleicht sollte er bei dem Wetter ins Freibad gehen? Eine fette Arschbombe vom Dreimeterbrett hinlegen, das würde guttun. So wie früher, als er mit den Kindern noch regelmäßig ins Sommerbad am Insulaner ging. Er nahm das Handy aus der Jacketttasche und wählte die Nummer seines Sohnes Philipp. Bernd stellte sich vor, wie er in diesem Moment vor dem neuen Smartphone saß (sie hatten es vor zwei Wochen gemeinsam in einem Handyladen gekauft) und überlegte, ob er rangehen sollte oder nicht. Es klingelte lange, bis er sich schließlich meldete.

»Yo!« Das war seine Begrüßung, wenn er bei einem Kumpel war. Hauptsache cool sein. Ein Wunder, dass er überhaupt abnahm.

»Hallo mein Lieber, Papa hier. Geht’s dir gut?«

»Yo.« Was für eine dämliche Frage an einen Dreizehnjährigen. Was sollte er anderes antworten? Ich verstehe die Welt nicht mehr? Mich nicht, die Mädchen nicht und meine spießigen Eltern schon gar nicht?

»Störe ich gerade? Was treibst du so?«

»Bin bei Dennis.« Das hätte er sich denken können. Sie verbrachten jede freie Minute zusammen. Meistens spielten sie irgendwelchen Schwachsinn am Computer. Es war Bernd eine Zeit lang sogar lieber, als wenn sie im Einkaufszentrum »abhingen«. Bis er im Fernsehen einen Bericht über das Surfverhalten von Kindern sah. Welch perverse Internetseiten einfach so ohne Altersbeschränkung aufgerufen werden konnten. Danach installierte sein technisch versierter Freund Uwe eine Kindersicherung.

»Was ist los?« Bernd bemerkte erst jetzt, dass er die ganze Zeit über geschwiegen hatte.

»Ach nichts Bestimmtes. Wollte mich nur mal melden.«

»Musst du nicht arbeiten?«

Bernd nahm einen tiefen Schluck aus der Bierdose. »Doch, doch. Ich bin nur gerade zwischen zwei Kundenterminen und wollte mich mal melden.«

»Aber Papa, wir sehen uns doch heute Abend, oder?« Bernd war überrascht. Philipp sagte in Dennis’ Gegenwart tatsächlich Papa. Für seine Verhältnisse eine Liebeserklärung.

»Mein Junge, ich muss jetzt Schluss machen. Tschüss.«

Er legte auf und musste sogleich wieder an die WKP-Bank denken. Die wöchentlichen Teamsitzungen. Die Maßregelungen von Andreas, wenn er das Soll nicht erreicht hatte. Seine vermeintlich wohlwollenden Kommentare: »Mein lieber Bernd, geh doch nochmal deine 80-Plus-Klientel durch, davon hast du ja genügend. Bei einem Klosterfrau Melissengeist wickelst du die bestimmt um den Finger, haha!«.

Das Bier drückte mittlerweile gewaltig auf seine Blase. Bernd stand auf. An der Rückseite eines kleinen Hügels fand er schließlich einen Baum, der ihn vor den Blicken neugieriger Kinder und besorgter Eltern schützte. In sich versunken betrachtete er den beachtlichen Strahl. Als dieser versiegt war, schaute er eher zufällig nach rechts.

Bernd erstarrte. Dutzende Köpfe bewegten sich hinter einer riesigen Fensterfront gleichförmig in Bahnen. Sie sahen aus wie Gummientchen, die von einer Wasserströmung getrieben wurden. Das gesamte Stadtbad Schöneberg hatte ihm gerade beim Pinkeln zugesehen. Da kam ihm eine Idee.

Zwanzig Minuten später beherbergte die Sauna des Stadtbades ihren ersten und einzigen Tagesgast. Für die Kassiererin war es nicht ungewöhnlich, dass ein alkoholisierter und stark schwitzender Mann ohne Badeutensilien bei 35 Grad im Schatten saunieren wollte. Zumindest merkte man ihr nichts an. Bernd kaufte noch eine rote Badehose und ein blaues Handtuch, auf dem in gelben Lettern »BBB - Berliner Bäderbetriebe« stand. Duschgel hatten sie keines, das könne er sich aber mit Sicherheit von jemandem ausleihen.

Während das Metall des Ofens bedeutungsschwer knackte und die Hitze antrieb, schweiften seine Gedanken zu Frau Spieß. War sie so mächtig, dass sie seine Entlassung mit einem frei erfundenen Vorwurf provozieren konnte? Was hatte er ihr angetan? Zu viel Mitgefühl gezeigt?

Er musste sie zur Rede stellen. Sie hatte die verdammte Pflicht, ihre Anschuldigungen zurückzunehmen. Am besten mit einem Brief an die WKP-Bank. Wenn sie jedoch – sein Puls raste bei dem Gedanken – tatsächlich die Dreistigkeit besäße, sich zu weigern, dann würde er ihr zeigen, wo der Hammer hing. Diese arrogante Schlampe brauchte mal eine richtige Lehrstunde, mit welchen Mitteln auch immer.

Und Andreas? Was für ein verlogener, über Leichen gehender Charakterzwerg! Die privaten Treffen mit ihren Familien – alles nur Berechnung. Nachdem Andreas die Leitungsstelle hatte, hörten die Verabredungen plötzlich auf. Bernds wirtschaftlicher Wert war rapide gefallen. So ist das eben im Showgeschäft. Next-step-ahead.

Am liebsten würde er ihn so richtig erniedrigen. Seine Selbstherrlichkeit mit einer Aktion zerstören. Er könnte ihn entführen und nackt an einem belebten Ort aussetzen, wo es von Touristen nur so wimmelte. Vielleicht am Reichstag? Oder dem Brandenburger Tor? Er stellte sich vor, wie das Foto des entblößten Andreas weltweit durch die sozialen Netzwerke ging. »Look here, a German nudist in front of the Reichstag! Unbelievable!« Na dann viel Spaß beim Löschen der Fotos aus dem World Wide Web.

Mit einem entschlossenen Ruck erhob er sich von der Holzbank. Unter der Kaltwasserdusche fühlte Bernd sich seit langem wieder richtig lebendig. Er wankte zum Schwimmbecken und wurde Teil des Stromes, den die Entchen mit ihren rhythmischen Bewegungen bildeten. Bernd war wieder in die Normalität aufgetaucht. »Maus, Haus – Kerze. Maus, Haus – Kerze.« Beim Gedanken an die Worte seines Schwimmlehrers musste er innerlich kichern.

Als er das Schwimmbad verließ, klingelte sein Handy.

»Bernd, wo steckst du denn? Seit über einer Stunde versuche ich, dich zu erreichen. Philipp sagte, du hättest Kundentermine. Aber als ich in der Bank anrief, druckste deine Sekretärin nur so komisch herum. Was ist los?«

Sylvia. Es tat gut, ihre Stimme zu hören. Ob er mit den katastrophalen Neuigkeiten noch warten sollte? Aber was hätte er davon?

»Sylvi, mein Schatz, ich sag’s wie’s ist: Man hat mir gekündigt.«

»Wie bitte? Warum das denn? Deine Verkaufszahlen etwa?«

»Nein, etwas anderes. Aber das erzähle ich dir später.«

»Wann später? Kommst du zum Abendessen? Ich habe extra Hackfleischauflauf gemacht.«

»Es tut mir leid, aber das werde ich nicht schaffen. Ich muss noch was klären und dann mach ich mich auf den Heimweg.«

Bernd war sich bewusst, dass er das unausgesprochene Gesetz der gemeinsamen Entscheidungen brach und damit seiner Frau vor den Kopf schlug. Seine Brust verengte sich, er konnte ihre Verletztheit regelrecht spüren. Doch dieses Mal musste er die Sache alleine durchziehen. Er versprach, nichts Dummes anzustellen und legte auf.

Sein Magen knurrte. Er musste genau jetzt etwas essen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckte er einen Dönerimbiss. Besser als nichts. Während er auf einen Köfteteller wartete, kam eine Gruppe Jugendlicher grölend über die Straße gerannt. Es waren die Basketballspieler aus dem Park. Sogleich baute sich der Junge mit der roten Baseball-Cap vor Bernd auf. Er grinste ihn provozierend an.

»Na schau mal, wen wir hier haben. Den Perversen vom Park. Hast du deine Mutter schon gefickt? Siehst so rot aus im Gesicht!«

Triumphierend drehte er sich zu seinen Freunden um. Ein Fehler. Bernd packte ihn am Kragen und zog ihn hoch. Völlig verdutzt strampelte der Junge mit den Beinen und wollte sich loszureißen. Vergeblich.

»Ich weiß, wen ich gleich ficken werde. Und zwar dich! Ich steh nämlich auf kleine Jungs, was sagst du dazu?«

»Hey du Wichser, lass mich runter!« Der Junge begann, in Bernds Bauch zu boxen. Die Schläge waren wirkungslos, sie versanken wie in einem mächtigen Luftkissen.

»An deiner Stelle würde ich jetzt ganz schnell nach Hause laufen. Zu Mami. Verstanden?«

Der Junge wollte noch etwas sagen, aber da war es schon zu spät. Bernds Kopf stieß nach vorne. Der Junge schrie auf und sackte zu Boden. »Scheiße Mann, der Typ hat mir das Gesicht gebrochen.« Jammernd hielt er eine Hand vor die blutende Nase. Mit der anderen Hand tastete er hilflos nach der roten Baseball-Cap, die heruntergefallen war.

Aus seinen vielen Boxkämpfen wusste Bernd, wie eine gebrochene Nase aussah. Der Stoß hatte definitiv keine Fraktur verursacht, auch wenn es höllisch weh tat.

»Ein Köfteteller?« Ohne eine Regung reichte ihm der Wirt das Essen. Die Jugendlichen trotteten davon wie nach einem verlorenen Elfmeterschießen. Bernd bestellte sich noch ein Bier und begann, genüsslich zu kauen. Gar nicht mal so schlecht für eine Imbissbude.

Aber was war gerade in ihn gefahren? Warum der Kopfstoß? Verlor er die Kontrolle über sich? Er befand sich in einem Ausnahmezustand, keine Frage. Zum gefühlten ersten Mal fehlte ihm der Lebenskompass. Abitur, Bundeswehr, Banklehre und über fünfundzwanzig Jahre bei der WKP-Bank. Bernd wusste immer ganz genau, was er zu tun hatte. Auf Makro- und Mikroebene. Sylvie, Heirat, Kinder. Arbeiten, Urlaub, Arbeiten, Urlaub und dann Weihnachten. Aber nun? Jetzt schien plötzlich alles möglich. Dieser Gedanke verunsicherte ihn zutiefst.

Nachdem er bezahlt hatte, öffnete er ein weiteres Bier aus seiner Vorratstüte und ging Richtung Kleistpark. Über die Langenscheidtstraße gelangte er zur S-Bahnbrücke. Als er sie zur Hälfte überquert hatte, blieb er stehen und blickte in den Horizont.

Wie kleine, getriebene Ameisen bewegen wir uns unentwegt auf den Straßen dieses zubetonierten Molochs. Schauen weder links noch rechts, sondern haben nur unsere eigenen Bedürfnisse vor Augen. Warum sind wir so selbstsüchtig?

Er zerdrückte die ausgetrunkene Bierdose und warf sie im hohen Bogen auf die S-Bahngleise. Fühlte er sich nun besser? Nein, nicht wirklich. Wie lange würde es dauern, bis die Dose dort verrottet war? Hundert oder gar tausend Jahre? Immerhin hatte er der Nachwelt gerade etwas hinterlassen. Das konnte nicht jeder von sich behaupten.

Seine Hand glitt wieder in die Plastiktüte und zog das vorletzte Bier heraus. Vielleicht ließen sich damit die beschissenen existenziellen Gedanken wegspülen. Und etwas Mut für seine Aktion bei der Spieß antrinken.

Bernd setzte seinen Weg ins Unbestimmte fort. An einer Bushaltestelle wurde es allerdings schon wieder existenziell. Er musste pissen wie ein Ochse. Ohne sich umzusehen, stellte er sich vor eine Hauswand und ließ seinem Drang freien Lauf. Ah, wie gut das tat!

»Hey Mann, deine Pisse läuft direkt in meine Wohnung! Kannste dir nich ‘nen anderes Pissoir aussuchen?«

Bernd knüpfte hektisch die Hose zu. Neben der überdachten Bushaltestelle stand ein kleines hutzeliges Männchen. Mit den langen, schlohweißen Haaren und dem über die Brust reichenden Bart sah es aus wie eine halbe Portion Gandalf aus »Herr der Ringe«. Es hatte sich in der Bushaltestelle häuslich eingerichtet. Eine mit Decken belegte Bank war umgeben von unzähligen Kartons und Verpackungen, die bis unter das Dach reichten. Sie erweckten den Anschein, als ob sie beim geringsten Windstoß auf ihren kleinen Bewohner herabfallen könnten.

»Tut mir leid, hab nicht gesehen, dass hier jemand wohnt.« Bernd hob die Schultern.

»Wohnen, wohnte, gewohnt! Willst du mich verarschen? Sieht so etwa eine Wohnung aus?«

»Naja …«

»War nur ein kleiner Scherz, haha. Haste auch eins für mich?« Gandalf zeigte mit dem Finger auf Bernds Bierbüchse. »Schuldest mir ja ‘ne Entschädigung für die Sauerei.«

»Na klar, hier.« Bernd reichte ihm das letzte Bier aus der Tüte.

»Kann ich die auch haben? Die könnte ich gut für meine Schmutzwäsche gebrauchen.« Gandalf deutete auf die leere Tüte in seiner Hand. Bernd gab ihm das Plastik, worauf Gandalf ihn einlud, es sich in seinen bescheidenen drei Wänden gemütlich zu machen.

»Chet oder Miles?«, fragte er ihn irgendwann.

»Wie meinst du das?« Bernd wusste nicht, worauf er hinauswollte.

»Du siehst aus wie ein Jazzliebhaber. Deshalb meine Frage: Findest du Chet Baker oder Miles Davis besser? Ich hätte jetzt auch »Beatles oder Stones« sagen können, aber das hätte nicht zu dir gepasst.«

»Chet. Der weiche Sound. Das tragische Leben. Ein gefallener Engel.« Bernd seufzte.

»Naturellement mon cher amie! Aber ich fand Miles innovativer. Er hat alles ausprobiert.«

Was folgte war eine lebhafte Diskussion unter Experten. Jeder hatte seine stichhaltigen Gründe. Am Ende stellten sie fest, dass sie beide auf Chets letztem Konzert in Hannover waren. »The last great concert«.

»So, Bier is’ alle und ich brauch auch mal wieder ein wenig Privatsphäre. Aber eins wollte ich noch loswerden: Lass dir nicht so viel in deinem Leben gefallen.«

Bernd bedankte sich für den Rat und verabschiedete sich mit dem Versprechen, nicht noch einmal in Gandalfs Wohnung zu urinieren. Er ging weiter in Richtung Kreuzberg.

Das Gespräch hatte ihm einen Schub gegeben. Er war bereit für seinen Plan. Ein Taxi musste her und ihn zur Spieß bringen. Aber verflucht, die Blase drückte schon wieder. Das war der Nachteil von Bier, er sollte besser auf Wein oder Schnaps umsteigen.

In einigen Metern Entfernung entdeckte er eine kleine Menschentraube. Sie stand vor einem Lokal, über dessen Eingangstür in gelben Lettern »In Crowd« leuchtete. Wenn das mal kein Jazz Club ist, dachte er sich. Der Name stammte bestimmt von dem Song »The In Crowd« von Ramsey Lewis.

»Hey Mister! You gotta pay here!« Bernd hatte beim Betreten des Clubs die Kasse übersehen, wo ein junger Mann im khakifarbenen Trenchcoat auf einem Hocker saß. Hinter ihm hängte ein liebloser Zettel, auf dem handgeschrieben »Tonight: KRANACH« stand. Das klang nicht wirklich nach Jazz, aber sei’s drum. Hier könnte er auf Toilette gehen und sich mehr Mut für seine Aktion antrinken. Und vielleicht ganz nebenbei nette Musik hören? Er drückte dem Schnauzbartträger zehn Euro in die Hand und ging hinein.

Fünf Gläser Wein und vier Lieder später verließ Bernd den Club. Krautrock! Er war auf ein Krautrock Konzert geraten! Wenn er eines pervers fand, dann diese Stilrichtung. Weder Fisch noch Fleisch, ein asexueller Hybrid, eine Mischung aus Mensch und Maschine. Widerlich. Dazu dieser selbstverliebte Gitarrist. Und was für ein Gestank! Unter normalen Umständen wäre er sofort wieder gegangen. Den Rest gab ihm eine Frau in der ersten Reihe, die wie Frau Dr. Gottwald aussah. Die Geister der Bank verfolgten ihn bis hierher. Immerhin hatte er nun einen sitzen. Und zwar ganz gewaltig.

Er torkelte zum Straßenrand und begann bei jedem elfenbeinfarbigen Fahrzeug wild mit den Armen zu wedeln. Irgendwann war tatsächlich ein leeres Taxi darunter und hielt vor ihm. Bernd brabbelte eine Adresse zu dem Fahrer und ließ sich auf die Rückbank fallen.

»Wir sind da.«

Bernd hatte das Gefühl, gerade erst losgefahren zu sein. Er blickte aus dem Fenster und sah das Haus von Andreas. Verdammt, er wollte doch eigentlich zur Spieß, der Ursache allen Übels. Aber auch egal. Wo er schon mal hier war, könnte er die Sache mit Andreas gleich mit erledigen. Er gab dem Taxifahrer großzügig Trinkgeld und mühte sich aus dem Wagen. Keine Sekunde war ihm bewusst, dass der Mann ein potentieller Zeuge sein könnte. Schwungvoll schlug er die Tür zu und als der betagte Diesel mit einem Röhren wieder losfuhr, hatte auch der letzte Tiefschläfer in dem ruhigen Wohnviertel seine Ankunft mitbekommen.

Wankend stand er vor dem Einfamilienhaus. Am liebsten hätte er etwas kaputt gemacht. Aber dummerweise stand der Mercedes von Andreas in der Garage.

Umständlich hievte er sich über das Gartentor und ging am Haus entlang in den hinteren Teil des Gartens. Plötzlich schlug ihm etwas gegen das Schienbein. Bernd stöhnte. Er griff nach unten und hielt einen Kinderrechen in der Hand. Räumte man im gut situierten Dahlem die Spielsachen nicht fein säuberlich auf? Damit die Nachbarn ja keinen schlechten Eindruck von einem bekamen? Aber Andreas!

Dunkel und schweigsam lag die rückwärtige Hausfassade vor ihm. Sämtliche Fenster waren aufgrund der Hitze geöffnet. Er schlich über den Rasen zur Terrassentür, die ebenfalls offenstand. Er ging hinein. Sofort fiel ihm der Essensgeruch auf. Hatte es Auflauf gegeben? Ein Heißhunger überfiel Bernd. Ob im Ofen noch Reste waren? Zuvor musste er jedoch etwas erledigen.

Sein Magenknurren ignorierend begann er, die Treppe zum oberen Stockwerk hochzusteigen. Dabei hielt er sich immer wieder am Geländer fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

Oben angekommen steuerte er auf das Schlafzimmer von Andreas und Kerstin zu. Er dachte an den Frust, der sich über all die Jahre aufgestaut hatte. Die versteckten und die offenen Sticheleien. Die tiefrote Fratze und den explodierenden Montblanc. Jetzt war sein Moment gekommen.

Am Türrahmen hielt Bernd mit einem Mal inne. Das Bild, das sich ihm darbot, irritierte ihn zutiefst. Der so selbstbewusste Andreas, den nichts verunsichern konnte, der gerne mal einen Machospruch losließ und den weiblichen Bankangestellten demonstrativ auf den Hintern geilte, lag nicht etwa in seiner ganzen Herrlichkeit auf dem Rücken, die Arme weit ausgestreckt. Nein, er kauerte sich wie ein schutzbedürftiges kleines Kind an seine Kerstin. Klassische Löffelchenstellung.

Den verletzlichen, liebenden Andreas hatte Bernd nicht erwartet. Dieses Bild saugte seine Entschlusskraft vollständig auf. Was war das für eine Schnapsidee gewesen, ihn zu entführen.

Er drehte sich um und ging die Treppe hinab zur Küche. Im Ofen war tatsächlich noch ein Rest Lasagne. Er nahm die Auflaufform heraus und schlich sich in den Garten. Auf einem weißen Liegestuhl ließ er die Teigblätter im Mund zergehen.

Zumindest ein Mundraub war ihm gelungen. Zufrieden schlummerte Bernd Menzel nach dem letzten Bissen ein.


Berlin City Blues

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