Читать книгу Bedeutet ein halbes Gehirn, ein halber Mensch zu sein? - Philipp Dörr - Страница 7
ОглавлениеBehinderung und der Weg ins alltägliche Leben
Viele Menschen bewundern meine Lebensfreude als Behinderter, doch keiner kann sich so richtig vorstellen, was es bedeutet mit solchen Einschränkungen sein Leben zu meistern und welche Bedingungen erfüllt sein müssen.
Zunächst möchte ich Ihnen sagen, dass ein Leben mit Einschränkungen nur funktionieren kann, wenn eine gewisse Basis existiert, auf der man aufbauen kann. Eine der Hauptvoraussetzungen ist ein starkes Selbstvertrauen. Eine Behinderung ist nicht gleichzusetzen mit dem Ende eines Lebens. Ganz im Gegenteil.
Natürlich werden bestimmte Dinge erschwert, oder gar nicht mehr machbar sein.
Dies ist für die meisten ein schwerer Rückschlag und endet oft in tiefer Verzweiflung oder im schlimmsten Fall in einer Depression. Um diese Eskalation zu verhindern, muss man vor allem bereit sein, Hilfe zu akzeptieren und eigene kreative Alternativen für seine Vorhaben zu finden. Dies muss aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass man sich in eine Abhängigkeit begibt. Vielmehr ist dies als Ansatz anzusehen, erste eigene Dinge auszuprobieren. Man muss für sich selbst abwägen, was man in der gegebenen Situation versucht. Die Ansätze und Pläne müssen jedoch vom Betroffenen selbst kommen, um dann anschließend passende Hilfestellungen zu finden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist eine gesunde Einschätzung der eigenen Fähigkeiten. Man darf mit gewissen Einschränkungen nicht erwarten, dass man innerhalb kürzester Zeit Wunder vollbringen kann. Ein schrittweises Vorgehen ist hier immens wichtig. Obgleich es das Lernen von Bewegungen ist oder Alltagstätigkeiten ist, muss man sich über jeden kleinen Fortschritt freuen. Dies motiviert den Behinderten weiter, darauf aufzubauen und neue Dinge auszuprobieren. Im längerfristigen Verlauf wird man immer besser und lernt so, trotz der Einschränkungen wieder am alltäglichen Leben teilzunehmen.
Ein weiterer wichtiger Faktor sind die Menschen, die dem Betroffenen in schwierigen Situationen zur Seite stehen. Dies mag für den ein oder anderen zwar anfangs eine Abhängigkeit bedeuten, kann aber je nach Fortschritt angepasst und reduziert werden.
Eine Erfahrung aus meiner eigenen Vergangenheit, die auch heute noch große Bedeutung hat, lautet:
„Eine Abhängigkeit beginnt immer dann, wenn man den Glauben an sich selbst verliert“.
Genau diesen Satz habe ich schon vielen Betroffenen vermittelt. Es ist wahrhaftig keine Schande, auf seinem Weg zur Selbstständigkeit kleine Hilfen in Anspruch zu nehmen, solange man diese Hilfestellungen als Basis für weitere Fortschritte sieht.
Wie Sie als Leser bereits durch die Vorstellung meiner Person erfahren haben, war es bei mir der identische Fall und ist es auch heute noch. Mein Leben ist auch heute noch von einer gewissen Abhängigkeit bestimmt.
Sehr wichtig dabei ist es, diese Hilfestellungen nicht als selbstverständlich oder Fortbestand einer Abhängigkeit zu interpretieren. Im schlimmsten Fall wirkt sich dies auf die Motivation des Betroffenen aus und blockiert die eigene Kreativität. Im folgenden Abschnitt möchte ich auf verschiedene Extremsituationen eingehen und Ihnen als Leser näher bringen, wie es sich auf die Denkweise und Handlungen des Betroffenen auswirkt.
In der ersten Extremsituation wiegt sich der Betroffene in Sicherheit und zeigt keine Motivation für eigene Anstrengungen, da ihm auch ohne seine Mitwirkung alles auf dem Silbertablett serviert wird.
In der zweiten Extremsituation besteht eine Motivation zur Selbstverbesserung, welche jedoch durch unnötige oder zu viele Hilfestellungen gemindert wird.
Gerade diese zweite Situation ist eine äußerst komplexe Gradwanderung, da man einerseits die Anstrengungen des Betroffenen würdigen möchte, aber gleichzeitig versucht gefährliche Situationen zu vermeiden. Hier gilt es vor allem die Anstrengungen und Fortschritte des Betroffenen zu beobachten und nur dann Hilfe anzubieten, wenn das jeweilige Vorhaben zu scheitern droht. Im Verlauf lernt der Behinderte immer mehr, seine individuellen Fähigkeiten und Grenzen kennen und erbittet aus eigener Kraft die Hilfe anderer Personen. Aus psychologischer Sicht ist dies die bessere Lösung, da man einerseits sich selbst besser einschätzt und das Selbstvertrauen bei Hilfegesuchen nicht darunter leidet. Auch das Ausmaß der Hilfestellung ist dabei entscheidend. Nimmt der Betroffene beispielsweise zu viel Hilfe in Anspruch, kann man als außenstehende Person ihn dazu motivieren, eigene Versuche unter Beobachtung zu unternehmen. Bei Erfolg stellt dies eine wichtige Erfahrung für den Betroffenen dar. Diese Erfahrung des Erfolges bedeutet nicht nur eine Genugtuung, sondern steigert auch die Motivation für zukünftige Vorhaben. Im Falle eines Misserfolgs ist es von großer Bedeutung, den Betroffenen zu erneuten Versuchen zu motivieren oder mit ihm gemeinsam neue Alternativen zu finden.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist der zeitliche Verlauf in der sich die Einschränkung und das Störungsbild des Betroffenen verändert. Eine besondere Herausforderung stellt dies nicht nur für den Behinderten selbst dar, sondern vorwiegend für das familiäre und soziale Umfeld. Das Erscheinungsbild und Ausmaß der Einschränkungen verändert sich über die Zeit hinweg und ist nur über eine gewisse Zeit ein statisches Gebilde. Es verändert sich je nach Auswirkung von Maßnahmen. Je nach Fortschritt oder auch Rückschlägen, müssen die Bedingungen an den Betroffenen immer wieder neu angepasst werden. Natürlich ist dies oft mit teils enormen Aufwand für sein soziales Umfeld verbunden. Andererseits ist es nicht nur für den Betroffenen, sondern auch für sein Umfeld immer wieder eine Freude, Fortschritte zu beobachten und seinem Ziel näher zu kommen. Bei Misserfolgen ist vor allem das soziale Umfeld gefragt, den Willen und die
Motivation des Betroffenen zu bewahren.
Ein gern erzähltes Beispiel für diesen Prozess ist, wie ich mit einer Hand lernte Joypads von Spielkonsolen zu bedienen. Dies begann damit, dass ich in einem kleinen Jugendzentrum 1993 den Super Nintendo mit Super Mario World kennenlernte. Zunächst wusste ich selbst nicht so richtig, wie ich den Joypad gleichzeitig halten und bedienen sollte. Die anderen Kinder und Jugendlichen schauten mich ebenfalls zunächst etwas ungläubig an. Einer von ihnen bot sich an mir den Joypad für mich festzuhalten, sodass ich die Knöpfe und das Steuerkreuz bedienen konnte. Zu Beginn scheiterten zwar die ersten Versuche, aber mein Umfeld ermutigte mich immer wieder, es erneut zu versuchen. Kurze Zeit später fand ich einen Weg es alleine zu meistern. Ich legte das Joypad einfach auf mein rechtes Bein und griff mit meiner rechten Hand über ihn. Es war eine riesige Freude für mich zu sehen, wie ich immer besser wurde, bis sogar der Punkt erreicht war, dass die anderen selbst mit zweihändiger Bedienung kaum eine Chance gegen mich hatten. Dies führte letztendlich dazu, dass ich mir auch einen Super Nintendo für zuhause wünschte. Die neueren Geräte, wie Playstation besaßen noch komplexere Joypads, aber da ich bereits Vorerfahrungen mit dem Super Nintendo hatte, war es ein leichtes, meine Fingerführung und einhändige Bedienung darauf abzustimmen. Meine Freunde bestätigten mir auch immer wieder, wie unglaublich gut ich mit einer Hand spielen kann und respektieren meine Fähigkeiten.
Wie Sie als Leser sehen können, gehört nicht nur der eigene Wille zum Verbesserungsprozess, sondern auch das Feedback. Es mag vielleicht sein, dass es auf diesem Weg des Erlernens neuer Fertigkeiten die eine oder andere Hürde zu meistern gibt, aber das wichtigste dabei ist es, niemals aufzugeben. Dies gilt nicht nur speziell für mein genanntes Beispiel, sondern ist allgemein auf das Erlernen von Bewegungen und Handlungen anzusehen. Solange man an seine Fähigkeiten und Zielsetzungen glaubt, besteht auch die Motivation für Versuche. Wie dies allerdings im Endeffekt aussieht, liegt in der eigenen Kreativität und dem Feedback, denn….
„Der Weg ist das Ziel!“