Читать книгу Der Irre von St. James - Philipp Galen - Страница 7
5. Kapitel
ОглавлениеAm folgenden Abend um sechs Uhr sollte das vielbesprochene Konzert stattfinden, und ich konnte eine gewisse freudige Beweglichkeit in dem Treiben der Irren nicht verkennen. Alle waren an diesem ganzen Tage tätiger, gehorsamer, bereitwilliger denn je; man sah ihnen an, daß sie durch ihr Betragen und ihren Eifer des Vergnügens würdig erscheinen wollten, welches man ihnen verheißen hatte.
Schon um fünf Uhr sah man sie dem Hause zueilen, um sich zu reinigen und zu schmücken, wie es eine solche allgemeine Feierlichkeit verlangte, und um fertig zu sein, wenn um halb sechs Uhr die Glocke das Zeichen zur Versammlung geben würde.
Als ich daher die Zeichen vernahm, begab ich mich in den Konzertsaal. Eben als ich eintreten wollte und an einem Fenster vorüberging, sah ich einen Wagen über die Brücke fahren, der, mit vier Postpferden bespannt, vor die Seitentür des Weiberflügels lenkte.
Da man gewohnt war, in St. James alle Tage dergleichen zu erleben, so achtete man auch nicht mehr darauf, und ich war in meinem Innern viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, als daß mich die Neugierde verlockt hätte, die in dem Wagen sitzenden Personen einer näheren Musterung zu unterwerfen.
Im Saale fand ich Alles zum Beginn der Feier in Bereitschaft. Der breite, hohe Raum war durch Kerzen erleuchtet, ungeachtet man sich im Juni befand, wo um diese Zeit Abends noch Tageshelle herrscht, die man jedoch durch die herabgelassenen Vorhänge ausgeschlossen hatte.
Der für das Orchester bestimmte Teil war mit wohlbeleuchteten Pulten versehen, auf denen die Notenbücher aufgeschlagen lagen; in der Mitte desselben, ziemlich nach vorn, stand die schon erwähnte tragbare Orgel des Irren von St. James, denn dieser mußte auf allgemeines Verlangen jedes Konzert mit seinem Spiel beginnen.
Der große Raum für die Zuschauer, nur mit langen Bänken besetzt, stand noch leer; ich war in der Tat der Erste, der in dem Saale erschien.
Bald nachdem die Glocke das Zeichen zur Einführung der Zuhörer gegeben, wurde im Hintergrunde des Saales eine große Flügeltür geöffnet und, unter Vortritt ihrer Lehrerinnen und von ihren Aufseherinnen begleitet, traten zuerst die weiblichen Bewohner des Hauses, die Frauen aber von den Mädchen – und dies aus guten Gründen – gesondert, herein.
Fast Alle schauten gleich bei ihrem Eintritt mit aufgeheiterten Gesichtern zu den glänzenden Kronleuchtern empor, und ein freudiges Ah! ließ sich in langgedehntem Gesumme vernehmen. Sie begaben sich nach den vorderen Bänken, doch ließen sie ungefähr die sechs ersten, mit Polstern versehenen Stuhlreihen, die für die Beamten der Anstalt bestimmt waren, unbesetzt.
Alle waren reinlich und anständig, viele geschmackvoll, einige sogar elegant gekleidet, denn sie gehörten der vornehmeren Welt und einige wenige sogar dem Adel des Landes an. Übermäßigen Putz, gesuchten Luxus aber bemerkte ich auch hier auf keine Weise.
Nachdem der weibliche Teil der Zuhörer Platz genommen hatte, wurde zur Seite des Saales eine andere Flügeltür geöffnet und abermals unter Vortritt ihrer Lehrer und Aufseher traten die Männer und Knaben herein. Auch sie betrugen sich friedlich und sittsam, meist gingen zwei und zwei nebeneinander und hatten sich dann an der Hand gefaßt, manche führten sich auch am Arm herein, einige hatten sogar ihre Arme gegenseitig freundschaftlich sich um den Leib geschlungen. Eine Art rührenden Friedens lag auf allen diesen verschiedenen Gesichtern, kein Mensch auf der Welt hätte, zufällig eintretend, geahnt, wer und was diese Unglücklichen seien.
So saßen denn auch endlich die Männer hinter den Frauen. Erwartungsvoll und neugierig, teils sich untereinander, teils die Lichter und die bald sich öffnenden Türen der Musiker beobachtend, saßen Alle bescheiden und in ergebungsvoller Stille da.
Jetzt erschien der Direktor mit dem gesamten Verwaltungspersonale, den beiden Ärzten und dem Prediger, welchen die Frauen und Kinder der Beamten folgten, die alle auf den vorderen Stuhlreihen oder auf den an den Wänden entlanglaufenden Polstern Platz nahmen.
Kaum waren diese eingetreten, so erhoben sich alle Anwesende von ihren Plätzen und machten eine schweigsame Verbeugung.
Auf einen Wink des Direktors, der sich mit dem zugleich eingetretenen Beamtenpersonale wiedergrüßend und dankend verneigte, wurde alsdann hinter dem Orchesterraum eine Tür geöffnet, durch welche die ausübenden Musiker, aus Beamten. Musiklehrern und ihren Schülern, den Irren, bestehend, eintraten, von welchen die Letzteren, ehrerbietig sich verbeugend, ihre gewöhnlichen Plätze am Pult einnahmen.
Die Meisten derselben trugen ein Ordenszeichen, den sogenannten Musikorden: ein Beweis der Anerkennung ihrer Leistungen, den ihnen die Verwaltung überreicht hatte. Er bestand aus drei Klassen. Die erste Art bestand aus einem hellblauen, seidenen, in Form einer Rose zusammengeknüpften Band, welches im Knopfloch getragen wurde. Dies war die unterste Klasse. Die zweite war von rosarotem Atlasband, an welcher eine kleine silberne Lyra befestigt war; auch diese Rose wurde im Knopfloch getragen. Die dritte Art war von weißem Atlas, etwas größer, und wurde als die größte Auszeichnung gleich einem Ordensstern auf der linken Brust getragen.
Außerdem aber trug Jeder noch sein Instrument in der Hand.
Nachdem alle Anwesenden ihre Plätze eingenommen hatten, erhob sich der Direktor, stellte sich auf den erhöhten Platz vor die Orgel und sagte:
»Meine lieben Freunde und Genossen! Wir haben euch ein Konzert veranstaltet, weil wir wissen, ihr findet Vergnügen und Beruhigung in der Musik. Ich hege das Vertrauen zu euch, daß ein Jeder seine Gedanken sammeln und ein ebenso aufmerksamer wie ruhiger Zuhörer sein werde. Wenn Alles bereit ist, bitte ich den Anfang zu machen!«
Allgemeines Händeklatschen war die freundliche und dankbare Antwort auf die kurze Anrede.
Jetzt trat der Irre von St. James, den ich bisher noch nicht bemerkt hatte, aus dem Hintergrund des Orchesters hervor und begab sich an sein Instrument. Als er erschien, flüsterten die Frauen und Mädchen sich untereinander zu, und selbst unter den Männern hörte man das zischelnde Wort:
»Ah! Mr. Sidney! Mr. Sidney!«
Er verbeugte sich jetzt und dann setzte er sich an sein Instrument. Leider aber stand dies so, daß ich sein Gesicht während des Spieles nicht betrachten konnte, denn er kehrte mir den Rücken zu.
Jetzt begann er seinen Vortrag, und zwar mit einem jener bezaubernden, ergreifenden vollen Akkorde, mit dem ein Orgelspieler, wenn er ein erhabenes Lied anstimmt, stets des mächtigen Eindrucks gewiß ist. Gleich die ersten Minuten verkündeten den gewandten Meister. Vergeblich würde es sein, seine Musik schildern zu wollen; keine Musik läßt sich beschreiben, weil sie sich nicht begreifen, sondern nur empfinden läßt, am wenigsten aber läßt sich ein schönes Orgelspiel mit Worten zergliedern.
Bald war dem rauschenden Anfang eine stille, heilige, Frieden hauchende Melodie gefolgt. Die Töne schmolzen in sanften Wellenlinien dahin, rührend schwollen sie an und senkten sich wieder, es lag eine liebevolle Klage in dem milden Gange seiner Passagen, wie sie sich unwiderstehlich in jedes Herz drängten. Demnach war auch die Wirkung eine ungeheure; der Damm der Zurückhaltung ist bei Gefühlsmenschen weit leichter zu durchbrechen als bei geistesstarken, urteilsvollen Menschen, wie aber nun bei diesen mehr oder minder Wahnsinnigen, deren Herz allen sinnlichen Eindrücken unausweichlich geöffnet ist?
Schon nach einigen Minuten dieser klagenden, sanften, hinsterbenden Melodie sah ich, daß auf den ersten Bänken die Schnupftücher häufiger erhoben wurden, allmählich hörte man hie und da ein unterdrücktes leises Weinen, dann lauter und lauter; hier brach ein Schluchzen hervor, dort ein wimmerndes Ach! und endlich, denn das Weinen ist ansteckend wie das Lachen, weinte Alles ringsum, zuerst die Frauen, der Beamten, dann diese selbst, der Direktor, die Ärzte und ich selber.
Ich hätte den Spieler öffentlich an meine Brust drücken und mein ganzes Entzücken über ihn vor allen Ohren ausschreien mögen.
Da war er fertig. Das laute Weinen ließ nach, die Tränen, die so reichlich geflossen, wurden getrocknet, man vergaß über den Eindruck, den der Spieler gemacht, den Beifall, den man ihm schuldig war, und Aller Augen waren liebevoll und begeistert auf ihn gerichtet, als er langsam aufstand und sich im Saale, mit den Augen suchend, nach einem Platze umsah.
Da fiel sein Blick auf mich, und da er neben mir einen Stuhl leer sah, schritt er herab und setzte sich zu mir. Statt aller danksagenden Worte drückte ich ihm die Hand. Er schien mich zu verstehen und drückte die meinige auch wieder.
Jetzt trat ein Flötist auf. Der Spieler war ein ehemaliger Virtuose an der Oper zu London, durch Familienkummer in seine jetzige unglückliche Lage gebracht, aber nunmehr der Heilung nahe. Er schien ganz Musik zu sein und alles das zu empfinden, was er hören ließ.
Alsdann folgte ein Quartett, bestehend aus zwei Violinen, einem Violoncello und einer Klarinette, eine sonderbare Zusammenstellung, aber es machte einen guten Eindruck, zumal die vier Musiker tüchtig eingespielt waren.
Dann trat eine Pause ein. Ich fragte den neben mir sitzenden Direktor, ob nicht auch gesungen würde?
»Ha!« sagte er, »wissen Sie nicht, daß kein Mensch, der seinen Verstand verloren, seine natürliche wohlklingende Stimme behält? Zwischen den Organen des Denkens und Sprechens, also auch des Singens, scheint eine innige Sympathie zu bestehen.«
Einige Augenblicke des Nachdenkens reichten hin, mir die Überzeugung zu verschaffen, daß er Recht haben könne, obgleich mir dies noch niemals eingefallen war; auch erinnerte ich mich nicht, jemals einen Wahnsinnigen mit schöner, reiner Stimme singen gehört zu haben, deshalb erwiderte ich:
»Freilich, Beides steht in naher Verbindung miteinander, und meine geringe Erfahrung bestätigt auch diese Ihre Aussage, denn ich habe noch keinen Irren gut singen hören. Allein, wenn ich diese schönen, zarten Mädchengesichter hier vor mir betrachte, die mit dem Wahnsinn gar nichts zu tun zu haben scheinen, so sollte ich denken, daß es wohl Einige unter ihnen gäbe, die uns eine Ausnahme von der Regel annehmen ließen.«
»Ganz gewiß nicht!« sagte der Oberarzt, der unser Gespräch mitangehört hatte, da er dicht bei uns saß, »ganz gewiß nicht! obgleich von diesen jungen Damen eine sogar eine Sängerin von Profession ist. Es liegt immer etwas Totes, Heiseres, Kaltes, Geschmackloses in ihren Stimmen, mehr oder minder freilich, das gebe ich zu; ich habe lange mein Augenmerk auf diesen Umstand gerichtet und will mit Ihnen eine Wette eingehen, daß keine wohlklingende Stimme unter allen hier Versammelten ist, es gilt eine Probe.«
»Ich glaube es, ich glaube es!« erwiderte ich. »Doch was sind das da für Einrichtungen auf dem kleinen Tische?«
»Geben Sie acht, Sie sollen etwas Neues hören!«
Unser Gespräch wurde durch die Fortsetzung des Konzerts unterbrochen, und zwar durch ein Instrument, welches ich, in dieser Ausdehnung und Vollkommenheit wenigstens, noch nicht kannte und dessen so große Ausbildung ich auch für unmöglich gehalten hatte. Im Vordergrunde des Orchesters auf einem kleinen, zu diesem Zweck aufgestellten Tische wurden eine Menge größerer und kleinerer Instrumente nebeneinander niedergelegt, die aus verschiedenen Metallen bestanden. Es waren dies die bei uns unter dem Namen Maultrommeln oder Brummeisen bekannten und bei der Schuljugend einst so sehr beliebten Spielzeuge, die aber hier ernsthaftere Wirkungen hervorrufen sollten.
Als nun zwei Reihen dieser Instrumentchen geordnet waren, trat ein ganz junger Mensch mit melancholischer Miene, langen, dunklen, herabhängenden Haaren und geisterhaft bleichen, aber nicht unschönen Gesichtszügen an den Tisch und überblickte selbst noch einmal die Reihenfolge seiner Instrumente. Dann wurden die Lichter in der Nähe gelöscht, damit man das sonderbar verzerrte Mienenspiel des Künstlers nicht so deutlich gewahren könne, und nun setzte derselbe zwei Eisen, ein größeres und ein kleineres, in jeder Hand eines haltend, an die Zähne und begann sein Spiel.
Alsbald entwickelten sich mir bis dahin gänzlich unbekannte, summende und überaus klagende Töne, die aber mit solcher Meisterschaft hervorgebracht wurden, daß ich erstaunen mußte. Denn während der Spieler mit der einen Hand noch fortspielte, legte er mit der anderen ein Eisen auf den Tisch; schnell ergriff er ein anderes, und so fort, bald ein größeres, bald ein kleineres wählend, wodurch er eine so große Abwechslung hervorzubringen verstand, daß man in Wahrheit ein ganzes kleines Orchester zu hören glaubte.
Es war eine einlullende, sphärenartige Musik, die den Hörer in ganz fremde Regionen zu versetzen vermochte, indem die Töne in der Tat zauberhaft und wie elfenartige Träumereien klangen. Diese sanften auf- und absteigenden Schwingungen, die bis in die feinsten Schattierungen sich verloren und in Luft aufzulösen schienen, dieses ergreifende Tremolo, welches jeden Nerv erbeben machte, dieses sanfte Hauchen wie ein dahinsterbender, an einem Felsen sich brechender kleiner Windstoß – doch wie kann es mir einfallen, diese sonderbare, nie gehörte Musik schildern zu wollen, die mit dem ganzen Eindruck, den dieser seltsame Spieler mit seinem nach der Decke gewendeten Gesicht und seinem rechts und links wankenden Oberkörper hervorbrachte, im genauesten Einklange stand.
Er war zu Ende, aber die tiefste Stille dauerte fort, als ob jeder Hörer die hinsterbenden Töne noch in seinem Innern nachsummen ließe.
Der Spieler war verschwunden, ehe noch dieser schweigsame Rausch vorüber war. Ich drückte den mir zunächst Sitzenden meine Verwunderung über das Gehörte aus, als der ganze versammelte Chor der Musiker sich an seine Pulte stellte, um die Schlußsymphonie mit vollem Orchester vorzutragen.
Die Komposition rührte von einem Irren her, der sie dirigierte, und hatte zum Gegenstand: »Gedanken Gottes vor Erschaffung der Welt.«
In der Tat ein Gegenstand, über den eine ausschweifende, exaltierte Phantasie Wunderdinge hervorbringen kann, und so war es denn auch. Dieser Teil des Konzerts war daher auch mehr aufregend als beruhigend, und ich bemerkte dies dem Direktor, der mir jedoch zur Antwort gab, daß man aus Rücksicht für den Komponisten die Aufführung seiner Musik zugelassen hätte, da er sich selbst einmal davon große Gemütserleichterung versprach, andererseits man aber befürchten müßte, die Nichterfüllung seines Wunsches werde ihn rasend machen, insofern er ein sehr exaltierter Mensch war und vor Erwartung, sich selbst aus seiner Musik zu hören, beinahe starb.
Der Charakter dieser Musik war geisterhaft und erschütternd, man glaubte nur Gespenster zu sehen und zu hören, und selbst mir schauerte die Haut vor großartigem Entsetzen. Nun denke man sich die Irren, die zusammengekauert, bebend dasaßen, als erwarteten sie nach den einzelnen Posaunenstößen, in welcher Tonart natürlich Gott sprach, der Himmel werde sich auftun und der Tag des ewigen Gerichtes seinen Anfang nehmen.
Jetzt sollte der Dank von dem Direktor und das Abendgebet von dem Prediger gesprochen werden, als sich mein Nachbar, der Irre von St. James, zu unser Aller Staunen erhob und um die Erlaubnis bat, noch einen Gesang zur Orgel vortragen zu dürfen.
Natürlich wurde das Gesuch freundlich genehmigt, nur konnte ich mich nicht enthalten, mit einem unwillkürlichen Lächeln nach dem Direktor und dem Oberarzte hinzublicken, um sie gleichsam an ihre vorherige Aussage zu erinnern. Beide verstanden mich auch sogleich, drückten aber eine verschiedene Meinung mit ihren Mienen aus. Denn während der Oberarzt, wie seiner Sache äußerst gewiß, scheinbar gleichgültig dem Kommenden entgegensah, glaubte ich in dem Gesichte des Direktors eine gewisse triumphierende herausfordernde Verwunderung zu lesen.
Es war ein wunderschönes Gedicht, welches, von Mr. Sidney vielleicht gedichtet, auch von ihm in Musik gesetzt war und jetzt von ihm gesungen wurde, und wie ich nachher erfuhr, betitelt: »Abendgedanken eines Gott für seine Kinder dankenden Vaters.«
Schon die ersten Strophen waren hinreichend, mir zu beweisen, daß der Sänger auch in dieser Kunst Meister sei. Die vollen, metallreichen und goldreinen Baritontöne, die wir vernahmen, seine deutliche Aussprache, sein gefühlvoller Vortrag, alles dies zusammengenommen reichte hin, den höchsten Anforderungen zu genügen. Der Direktor, die Ärzte und mehrere der anwesenden Lehrer und Beamten der Anstalt warfen sich einige Blicke untereinander zu, die deutlich zu verstehen gaben, wie überrascht sie seien.
Ihre Verlegenheit wurde noch gesteigert, als die mit Leidenschaft und dem innigsten Anteil zuhörenden Wahnsinnigen aus freien Stücken und wider ein bestehendes Hausgesetz den Sänger, als er zu Ende war, beklatschten, ja, ihn mit einem lauten Beifallsjauchzen, als er sich zurückzog, begrüßten.
In diesem Augenblick sah ich den Oberarzt an. Ich mußte lächeln, das schien ihn zu verletzen, sein Blick nahm etwas Spöttisches und Unheimliches an, was ich bisher noch nicht an ihm beobachtet hatte, aber ich sagte, mich zu ihm hinneigend, leise:
»Nun, ich denke, diese Irren haben keine Stimme? Mr. Sidney scheint Ihre Theorie zu Schanden machen zu wollen, ich wollte, ich hätte mit Ihnen gewettet!«
»Der Spitzbube!« erwiderte er flüsternd, »ich will wetten, daß er meine Worte vorher gehört hat und mich nun kompromittieren will – haha! so mag es denn Ausnahmen von der Regel geben, ich gestehe es ein.«
So war denn das Konzert, das so würdig mit dem schönen Orgelspiel begonnen hatte, ebenso glänzend mit dem Gesang beendigt.
Während nun die Aufregung der immer noch dasitzenden Zuhörer sich wieder legte, sprachen die Vorsteher der Anstalt einige Augenblicke miteinander; darauf näherte sich der Direktor dem Irren von St. James, der unter den Musikern stand, und wechselte einige Worte mit ihm. Alsdann trat er wieder auf die Erhöhung vor die Orgel und sagte laut: »Das Konzert ist vorbei, wir danken den Musikern für ihre angenehme Unterhaltung. Die kleine Belohnung, die wir heute Mr. Sidney zuerkennen möchten, hat derselbe, wie auch früher, abgelehnt und mich gebeten, dieselbe Mr. Viscount zu überreichen. Treten Sie hervor, Mr. Viscount, und empfangen Sie, was Ihnen gebührt und was wir Ihnen in Anerkennung Ihrer Verdienste in allgemeiner Übereinstimmung gern zuerkennen.«
Mr. Viscount, der Brummeisenspieler, trat bescheiden aus dem Hintergrunde hervor, wohin er sich zurückgezogen hatte, und empfing den ersten Grad des Musikordens, das in Form einer Rose geknüpfte hellblaue seidene Band.
Jetzt entstand abermals eine lautlose Stille worauf sich der Prediger erhob und also sprach:
»Meine lieben Kinder! Der allgütige Gort, unser Aller himmlischer Vater, hat uns die überredende Gewalt der Töne gegeben, auf daß sie durch unser Ohr in unser Herz gelangen und unser Gemüt beruhigen und kräftigen mögen, wie wir es, als arme Sünder, täglich bedürfen. Wir danken ihm auch für diese seine herzliche Gabe und wollen uns alle Tage bemühen, uns seiner Gnade immer werter zu machen. Gehet jetzt mit diesem edlen Vorsatz zur Ruhe und Gott wird über euch wachen und euren Sinn erleuchten. Amen!«
Alle wiederholten das Amen und erhoben sich dann, und in derselben Ordnung, wie sie gekommen waren, entfernten sich die Anwesenden. Nur der Direktor und die übrigen Beamten blieben zurück, um ihre Konferenz abzuhalten und unter anderen Angelegenheiten auch über die Wahl des aufzuführenden Schauspiels zu beraten.
Da ich keine besondere Einladung hierzu empfangen hatte, entfernte ich mich ebenfalls, denn ich sah Mr. Sidney noch in der Tür einen Augenblick stehenbleiben, als ob er mich erwarte. Ich trat zu ihm und ging mit ihm in den Park. Hier war ich schon einigemale mit ihm einen breiten Weg auf und ab geschritten, als wir, immer noch schweigend stehenblieben. Erst jetzt bemerkte ich, daß wir ganz allein waren und daß mein Gefährte sein melancholisches Auge fragend auf mich gerichtet hatte.
Was wollte er von mir wissen? Ich konnte es nicht erraten, und doch lag eine Frage deutlich auf seinem leicht zu entziffernden Antlitz ausgeprägt.
Späterhin erst, als ich schon inniger mit seinen Schicksalen vertraut war und ihn an diesen schweigsamen Spaziergang erinnerte, habe ich erfahren, daß in diesem Augenblick sein Herz, durch die Musik erwärmt und erweicht, eine größere Sehnsucht nach dem, was er liebte und entbehrte, empfunden habe denn je.
Wir waren, langsam wandelnd, in den Teil des Parkes gelangt, von welchem aus man den rechten Flügel des Hauses beobachten konnte, in dem die Frauen wohnten.
Der Wagen, dessen Ankunft ich am Nachmittag beobachtet hatte, stand noch vor der Tür, aber die Pferde waren abgeschirrt, um in den Ställen gefüttert zu werden.
Als wir in die Nähe dieses Wagens kamen, stand der Irre von St. James still und richtete erst gleichgültig, dann aufmerksam seine Blicke darauf. Er schien etwas unruhiger zu werden und blickte, traurig den Kopf schüttelnd, nach den Fenstern empor, auf denen eben der scheidende Blick der goldenen Sonne ruhte.
Da sagte er in einem leisen, fast nur hauchenden Tone, wie zu sich selber:
»Schon wieder Eine!«
Unwillkürlich folgte mein Blick dem seinigen in die Höhe, und ich sah nun deutlich ein weibliches Antlitz im dritten Stockwerke durch eines der Gitterfenster zu uns herabblicken. Sie war in ein weißes Gewand gehüllt, jedoch nur bis zur Hälfte der Brust sichtbar.
Das Gesicht dieser einsam und traurig zu uns herabblickenden Gestalt, soweit ich es erkennen konnte, war schön, aber eigentümlich, denn der allmählich schwindende Sonnenstrahl färbte es nicht mehr rosig und golden, sondern bleich, und es glich beinahe einem vom matten Mondlicht geisterhaft beschienenen Gespenst. Lange dunkelblonde Locken fielen über ein bloßgetragenes schönes Schulternpaar herab, und – sei es ein Spiel der Beleuchtung oder ein Spiegelbild meiner Phantasie – die großen, auf uns herabgerichteten Augen schienen voller Tränen zu sein, wie denn auch ihre abgehärmten, obwohl noch reizenden Wangen die unzweifelhaften Spuren dieser Tränen trugen.
Während ich diese Einzelheiten, im Stillen beobachtend, sammelte, hatte ich mein Augenmerk von meinem Gefährten abgezogen; kaum aber mit einem flüchtigen Blick auf ihn hinabschauend, erschrak ich über die plötzliche und entsetzliche Veränderung, die in seinen Gesichtszügen und in seiner Haltung vorgegangen war.
Eine leichenhafte Blässe bedeckte seine eisig gewordenen und bewegungslosen, sonst so freundlichen Züge, seine Augen waren starr in die Höhe auf das Fenster gerichtet, an welchem das weibliche Antlitz zu sehen war. Sodann fingen alle Muskeln seines jetzt zur Unkennbarkeit entstellten Gesichtes an, krampfhaft zu arbeiten, namentlich um seinen Mund zuckte es gleich Blitzen, die sich unaufhörlich folgten. Seine Arme hatte er, wie abwehrend, vor sich ausgestreckt, sein Kopf war, als ob er sich fürchte, etwas Entsetzliches zu schauen, rückwärts gebogen, sein Haar schien sich zu sträuben und seine Knie fingen an zu schlottern.
Alles dies war schneller geschehen, als ich es beschreiben kann.
Mich ergriff eine schreckliche Angst. Ich erinnerte mich sogleich alles dessen, was man mir von ihm gesagt hatte, der rasenden Wut, die ihn periodisch befiel, und der Unmöglichkeit, seiner Unbändigkeit in solchen Augenblicken zu widerstehen.
Da sah er mich plötzlich, wie um Hilfe flehend, dann aber mit dem Ausdruck der Wut und Verzweiflung an. Sein Auge sprühte ein glühendes Feuer, wie ich es noch bei keinem Menschen wahrgenommen, seine starke Hand erfaßte meinen Arm, ich fühlte, wie ihr Druck alle meine Muskeln lähmte und jeden möglichen Widerstand zunichte machte.
Ich weiß nicht, welches Grausen mich plötzlich ergriff, ich wußte bei der Schnelle des Vorgangs augenblicklich nicht, was ich tun sollte; meine Einbildungskraft suchte zu enträtseln, was er mit mir, dem gegen ihn Schwachen und Ohnmächtigen, vornehmen, wie und auf welche Art er mich umbringen würde, kaum ertrug ich den schmerzhaften Druck seiner furchtbar pressenden Hand, und in mir rief es wie mit einer Donnerstimme, die mich selbst erschüttern machte:
»Ja, ich sehe es, er ist verrückt!«
Dennoch wollte ich versuchen, mich loszureißen, ich wollte um Beistand rufen, aber es war unmöglich, mich von dem krampfhaften Griff zu befreien.
Doch diese Gedanken gab mir der knechtische Sinn der Selbsterhaltung nur einen Augenblick lang ein, ebenso schnell folgte darauf der Gedanke, und ich danke noch heute Gott für diese Eingebung, daß ich ein Arzt und ein Mensch sei, berufen und bestimmt, alle Qualen und Leiden meines Mitgeschöpfes tragen zu helfen, sie zu bekämpfen und, um Anderen Heil zu bringen, selbst die eigene Duldung nicht zu scheuen.
Ich beschloß daher, diesen vielleicht schnell vorübergehenden Augenblick zu ertragen, vielleicht könnte ich dem armen Unglücklichen hilfreich sein, der mir eine so große Teilnahme einzuflößen verstand.
In diesem Sinne faßte ich schnell meinen Entschluß. Ich sammelte meine Kräfte und ergriff langsam, energisch mit meiner einen freien Hand seinen linken Arm, schüttelte denselben mit aller mir übriggebliebenen Kraft, brachte meine Lippen seinem Ohre so nahe wie möglich und sagte mit fester, mutiger, aber sanfter Stimme:
»Was hast du, mein Bruder?«
Dieser wohlgemeinte und in der Eile auf meine Lippen gekommene Ruf schien wunderbar zu wirken. Seine Finger ließen in ihrem Drucke allmählich nach, sein starrer, glühender Blick erlosch, das Zucken seiner Muskeln beruhigte sich, er schien schwach zu werden und zu taumeln; ich sah mich schnell um, ob auch nicht Jemand uns belauschte, glücklicherweise sah und hörte ich nichts, und ihn mit beiden Armen unterstützend, führte ich den unglücklichen jungen Mann nach einer nicht weit davon stehenden Bank.
Aber kaum auf derselben sitzend, kehrte ihm das Bewußtsein, das er verloren zu haben schien, zurück, und er erinnerte sich, was ihn in diese elende und unvorhergesehene Lage gebracht. Er richtete seinen Kopf empor und sah mich mit einem unbeschreiblich milden, beinahe flehenden Blick an, dann aber rief er mit einer fast ton- und atemlosen Stimme:
»Geschwind – geschwind – hinauf! Schnell – schnell – wer ist sie? wie alt – woher? Schnell – um Gottes willen!«
Fast stieß er mich von sich, ich sprang mehr, als ich lief, durch den Garten, ich flog die Treppe hinauf und kam in dem Augenblick oben im Weiberflügel vor dem Fenster an, als eine Wärterin zu der weiblichen Gestalt trat und diese anredete. In ihrer Hand hielt sie einen Zettel; einen Blick darüber werfend, sah ich, daß es das sogenannte Nationale der eben neu Angekommenen war.
»Erlauben Sie«, sagte ich, »einen Augenblick nur, ich bringe es sogleich wieder!«
Die Frau sah mich verwundert an, gab mir aber das Papier, denn sie wußte, wer ich war.
Ich eilte, was ich konnte, hinunter, kam in den Park und sah ihn noch auf der Bank sitzen, von wo er, sobald er mich bemerkte, mir mit vorgestreckten Armen entgegenkam.
»Hier, hier!« rief ich, »hier ist ihr Name und Alles, worüber Sie Auskunft wünschen!«
Er ergriff das Blatt mit zitternden Händen, seine Blicke jagten über das Papier, er stammelte und ich las:
»Georgine Grey, sechsundzwanzig Jahre alt, aus London gebürtig.«
»Ach!« rief er und gab mir das Blatt mit einem tiefen, langen Atemzug zurück, »das war eine traurige, traurige Täuschung – aber so ähnlich – doch gelobt sei Gott!«
Und, wie mir däuchte, ein stilles Gebet sprechend, lehnte er sich gegen den Rücksitz der Bank und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen, das von kalten Schweißtropfen überflutet war.
Ich war so aufgeregt von den furchtbaren Gemütsbewegungen eines Fremden, als wenn sie mich selbst betroffen hätten. Das, was dieser Mensch Schlimmes erfahren, mußte in der Tat etwas Ungewöhnliches sein, und ich betrachtete ihn daher beklommen und auf das Höchste bewegt.
Da sah ich an ihm die unsichtbare Quelle der Seele geöffnet – Tränen, heiße Tränen durch seine Finger rinnen, und gestehe ich es doch gern, auch meine Augen wurden gefüllt von dem köstlichen Tau, der die volle Brust jener unerträglichen Last enthebt, die sie sonst sprengen und vernichten würde.
Nach einigen Minuten ließ er die Hände von seinem Gesichte sinken und zeigte mir ein ganz anderes Antlitz. Es war noch mit den Spuren der eben vergossenen Tränen bedeckt, aber schwach und sanft gerötet, ob durch das Gefühl der Scham, daß ich ihn in einem furchtbaren Augenblick, dem er nicht zu widerstehen vermochte, belauscht, ob durch die freudige Erhebung seiner Seele, ich weiß es nicht, aber es war ruhig, milde und durch die edelsten Empfindungen verklärt. Und mit seiner gewöhnlichen, ans Herz dringenden Stimme sagte er:
»Gehen Sie, gehen Sie – ach! Sie sehen, es war eine Täuschung meiner aufgeregten Phantasie, meiner durch vier Jahre der Trennung aufs Äußerste gestiegenen Sehnsucht, meiner armen, unablässig gequälten Seele – gehen Sie – Sie haben mich schwach gesehen – Andere nennen es verrückt – Ach!« fuhr er nach einer kurzen Pause des Sinnens fort, »ich muß Ihnen unerklärlich sein, ein unauflösliches Rätsel, aber – Sie sollen Alles erfahren, kein Geheimnis soll ferner zwischen uns sein, und da Sie die Wirkung gesehen haben, sollen Sie auch die Ursache kennenlernen – aber jetzt gehen Sie und lassen sie mich allein, ich bin mir selber einige Aufklärung schuldig – morgen oder übermorgen, sobald es geht, soll Ihnen die Ihrige werden.«
Und mit der Hand zum Gruße winkend, ging er langsamen Schrittes davon, durch den Park und in das Haus, während ich mich mit klopfendem Herzen und neu erregter Hoffnung auf mein Zimmer begab, um über das eben Erlebte weiter nachzudenken.