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Montag, 24. August

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BREMGARTENSTRASSE, LÄNGGASSE, BERN

Alex erwachte, als sein alter Radiowecker zu scherbeln begann. Er hatte das Gerät seit seinem 12. Geburtstag. Seine Eltern hatten es ihm geschenkt. Ein halbes Jahr später war seine Mutter gestorben. Deshalb konnte er die Kiste nicht einfach entsorgen. Er hing daran, es war ein wichtiges Erinnerungsstück, hatte er sich damals doch den Radiowecker so sehr gewünscht. Zusammen mit seiner Mutter hatte er ihn im Geschäft aussuchen dürfen.

Wie immer döste er noch fünf Minuten. Dann war es 6 Uhr. Die Frühnachrichten.

«Die Schlagzeilen: Der bekannte Politiker Alfred Jasper ist tot, er starb bei einer Wanderung im Berner Oberland.»

Alex war elektrisiert. Er stand auf und schaltete seine Hi-Fi-Anlage ein. Nervös trippelte er im Zimmer umher. Endlich, nach weiteren Schlagzeilen, kam die Nachrichtenredakteurin des öffentlich-rechtlichen Senders zur Meldung.

«Der bürgerliche Nationalrat Alfred Jasper ist gestern auf einer Bergtour bei Grindelwald verunfallt. Der 58-Jährige konnte nur noch tot geborgen werden. Dies berichtet die Zeitung ‹Aktuell›. Ein Sprecher von Jaspers Partei bestätigte vor wenigen Minuten die Meldung.»

Nun folgte ein O-Ton des Sprechers, der mit bedrückter Stimme Stellung nahm. Er habe es gestern spätabends erfahren, habe eine schlaflose Nacht verbracht und sei noch immer schockiert. Über die genauen Umstände des Todes von Alfred Jasper wisse er aber noch nichts.

Dann kam bereits die nächste Meldung.

Alex stürzte sich in die Kleider. Jeans, Hemd, Jeansjacke. Er rannte die drei Stockwerke hinunter und spurtete die rund 100 Meter bis zum nächsten Zeitungskasten. Da es erst 06.10 Uhr war, war der Kasten noch voll. Alex hätte die Zeitung zwar auch im Internet lesen können, doch er hatte nicht die Geduld zu warten, bis der Computer aufgestartet war.

«Aktuell» war eine Gratiszeitung. Das war nicht immer so gewesen. Der Verlag «Aktuell Media AG» hatte rechtzeitig den Trend in der Medienszene erkannt. Er hatte viele Millionen investiert, um überall Zeitungsboxen aufzustellen. Noch mehr Millionen steckte er in die Online-Ausgabe und alle möglichen Mobilkanäle und vor allem in ein Heer von Inserate-Akquisiteuren. Denn die Zeitung sollte auf dem inhaltlich gleich hohen Niveau erscheinen wie als Kaufzeitung. Einzig für den Postversand wurde ein Unkostenbeitrag verlangt. «Aktuell» konnte dank der Umstellung kräftig zulegen: Das Blatt wurde innert dreier Jahre zur meistgelesenen Zeitung.

Alex schnappte sich ein Exemplar.

Ein erster Blick auf die Headline. Es lief ihm kalt den Rücken hinunter.

«Sturz in Schlucht – Nationalrat Jasper tot»

«Verdammt», stiess Alex hervor.

Unter der Titelzeile war ein grosses Bild des Faulhorns abgedruckt, daneben ein Foto von Jasper im Bergtenue aus einer früheren Reportage.

Alex las die Autorenzeile: «Von Peter Renner».

Dann den Lead: «Alfred Jasper liebte die Berge. Er hatte einmal gesagt, dass er eines Tages auf einem Berg sterben möchte. Nun hat sich sein Wunsch viel zu früh erfüllt. Er stürzte gestern 150 Meter in die Tiefe. Was war geschehen?»

Eigenartig, dachte Alex. Was sollte schon geschehen sein? Warum ein Fragezeichen? Sein Chef Peter Renner mochte keine Fragezeichen. Er verlangte immer Fakten.

Alex ging langsam zurück zu seiner Wohnung und las dabei den Text.

«Sonntagmittag auf dem Faulhorn, einem beliebten Wanderziel oberhalb von Grindelwald im Berner Oberland. Der bürgerliche Nationalrat Alfred Jasper sitzt auf der Gartenterrasse. Er isst eine Bratwurst mit Kartoffelsalat. Bei ihm sitzen eine Frau und ein offensichtlich befreundetes Paar. Jasper trinkt Süssmost, keinen Alkohol. Berghotelwirt und Hüttenwart Fritz Balmer erinnert sich: ‹Ich kannte Jasper. Ein sehr netter Gast. Er war ausgelassen, küsste seine Frau immer wieder und schrieb sich später im Hüttenbuch ein.›»

Alex ärgerte sich masslos. Der Hüttenwart! Auf diese Idee hätte er selbst kommen können. Ein Telefonanruf, und er hätte die Story gehabt.

Doch als er weiterlas, musste er sich eingestehen, dass es doch nicht so einfach gewesen wäre.

«Als ‹Aktuell› gestern spätabends den Hüttenwart erreichte, wusste Balmer noch nicht, dass Jasper wenige Stunden nach seinem Besuch bei ihm auf dem Abstieg Richtung ‹Schynige Platte› ob Interlaken in ein Tobel gestürzt und verstorben war. ‹Das kann ich nicht fassen›, sagt Balmer. ‹Ich bekam über den Rettungsfunk mit, dass sich ein tragischer Unfall ereignet hatte. Aber so was …›»

Woher wusste Renner, dass der Tote Alfred Jasper war, fragte sich Alex. Er las weiter.

«Was nach dem Besuch der Gaststätte passierte, ist völlig unklar. Fakt ist: Um 15.23 Uhr ging bei der Polizei ein Notruf ein. Andere Wanderer hatten den Toten entdeckt und per Handy Alarm geschlagen. Die Retter, die per Helikopter zum Unglücksort geflogen wurden, konnten aber nur noch Jaspers Tod feststellen.»

Das war der Bericht auf der Frontseite. Die Fortsetzung war auf Seite 2 zu lesen.

Alex fröstelte. Es war zwar Sommer, aber so früh morgens noch recht frisch. Vor allem war es Alex nicht mehr gewohnt, bereits um diese Zeit unterwegs zu sein. Seit er Journalist war, fingen seine Arbeitstage meistens erst um 9 Uhr an. Und die Spätschicht, die Alex manchmal auch leisten musste, begann um 16 Uhr. Wie er früher in den Semesterferien jeweils schon um 7 Uhr zu irgendwelchen Hilfsjobs bei Fabriken oder Baufirmen hatte antraben können, war ihm mittlerweile ein Rätsel.

Im Gehen blätterte Alex um und betrachtete Seite 2.

Sie war ganz dem Unfall am Faulhorn gewidmet. Auf dem unteren Teil der Seite war ein Nachruf zu lesen, illustriert mit vielen Bildern: Jasper an internationalen Konferenzen mit prominenten Politikern aus aller Welt, Jasper mit Familie, Jasper als Bergsteiger und Skifahrer. Geschrieben war der Text von «Aktuell»-Politik-Chef Jonas Haberer. Er hatte sein Büro im Bundeshaus, im Zentrum der Schweizer Politik. Wenn er zu Sitzungen der «Aktuell»-Redaktion kam, liess er mit seinem Auftritt keine Zweifel offen, wer Herr im Haus war. Haberer, der immer Anzug und Cowboystiefel trug und so seine füllige Figur etwas kaschierte, ging jeweils schnurstracks zu Renner. Klack – klack – klack, tönten seine Stiefel auf dem Plattenboden der Redaktion. Er warf den Journalisten ein kurzes, völlig emotionsloses «Hallo» zu, stiess die gläserne Türe des Newsrooms auf und schlug Peter Renner rund 15 Mal auf die Schultern. Die Zecke wurde regelrecht durchgeschüttelt. Dann erzählte Haberer irgendetwas. Beide lachten wie die Irren. Haberers Lachen war dermassen laut, dass die Plexiglasscheiben des Newsrooms vibrierten. Alex, Sandra und die anderen Redaktionskolleginnen und -kollegen waren sich einig: Jonas Haberer sah mit seinen fettigen, halblangen Haaren nicht nur so aus wie ein Kotzbrocken, er war auch einer.

Aber er war «untouchable». Es wurde oft darüber gerätselt, wieso sich Haberer, der den Journalismus gerne als Machtinstrument missbrauchte, Alleingänge leisten konnte und dabei vom Chefredakteur gedeckt wurde. Deshalb wurde gemunkelt, dass die beiden in der Vergangenheit zusammen was ausgefressen hätten. Doch niemand wusste etwas Konkretes. Chefredakteur Don Muller, der eigentlich Anton Müller hiess, liess niemals Zweifel aufkommen: Haberer war Mitglied der Chefredaktion und der Boss für alles Politische. Punkt.

Alex schenkte sich Haberers Nachruf. War sicher schwülstig. Er las auch den Kommentar von Chefredakteur Muller nicht. Dass die Schweizer Politik mit Alfred Jasper eine grosse Persönlichkeit verlöre – dies konnte sich Alex auch ohne Mullers Hilfe zusammenreimen.

Viel mehr Interesse hatte er an Peter Renners Aufmacher. Alex blieb stehen.

Titel: «Todessturz – wo war Jaspers Frau? Wo waren seine Freunde?»

Text: «Alfred Jasper war ein guter Berggänger. Etliche Viertausender hatte er bestiegen. Ein einfacher Fehltritt auf einem Wanderweg sollte ihm zum Verhängnis werden. ‹Das kann ich kaum glauben›, sagt ein Bergsteigerkollege, der nicht mit Namen genannt werden will. ‹Der Fredu war immer auf Sicherheit bedacht. Er war immer der Mahner und Zweifler, er war immer derjenige, der alle Gefahren einer Tour aufzählte.›

Die Polizei bestätigte gestern: Jaspers Ausrüstung war top.

Erlitt er einen Schwächeanfall? Wo war seine Frau Erika? Wo waren seine Freunde?

Dafür hatte die Polizei bis gestern abend keine Erklärung. Der Sprecher der Kantonspolizei sagte gegenüber ‹Aktuell› nur: ‹Die Angehörigen wurden kontaktiert.› War die Frau, von der Hüttenwart Balmer überzeugt war, es sei Jaspers Ehefrau Erika, gar jemand anderes? Dazu der Hüttenwart: ‹Seine Ehefrau kenne ich nicht. Aber ich gehe schon davon aus, dass sie es war. Jedenfalls war sie in seinem Alter, graumelierte Haare, sehr schlank, Brillenträgerin, durchaus attraktiv.› Genau wie Erika Jasper. Was war wirklich dort oben auf dem Berg passiert?»

Alex ging weiter. Schnell. Viele Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Vor allem einer: Warum hatte nicht er diese Story, sondern Peter Renner? Was hatte er falsch gemacht?

Er schloss die Haustüre auf, stieg die drei Treppen hinauf, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm, und betrat seine Wohnung.

Alex betrachtete nun die Doppelseite, sah den Artikel seiner Studienkollegin Sandra Bosone, die mit den veruntreuten Spendengeldern die Seite 3 erobert hatte. Er fühlte sich jämmerlich und begann, Sandras Text zu lesen.

Nach zehn Zeilen klingelte sein Handy.

«Hey, Kleiner, habe ich dich geweckt?» Es war Peter Renner.

«Nein, alles klar. Habe gerade deinen Artikel gelesen. Habe diese Geschichte gestern in den Sand gesetzt, tut mir leid, aber …»

«Alex, bleib cool», sagte Renner trocken. «Mir ist später einfach noch ein alter Bekannter in den Sinn gekommen.»

«Was meinst du damit?»

«Man hat eben seine Vögelchen, die einem manchmal etwas zwitschern.»

«Aber auf den Hüttenwart hätte ich Trottel …»

«Alex, du fährst sofort nach Grindelwald», sagte Renner nun im üblichen Befehlston.

«Okay, wann muss ich dort sein?»

«Um neun Uhr.»

«Wo?»

«Talstation First. Fotograf Henry Tussot wartet auf dich.»

«Was müssen wir tun?»

«Erklär ich dir später. Ruf an, wenn ihr oben seid.»

«Geht es um den toten Jasper?»

«Erkläre ich dir dann, Kleiner», antwortete Renner hastig. «Muss auflegen, auf der anderen Leitung wartet die Lemmovski.»

BUONAS, GEMEINDE RISCH AM ZUGERSEE

«Renner, erklären Sie mir bitte Ihren Artikel», sagte Emma Lemmovski freundlich, aber bestimmt. Sie sass in ihrem Fitnessstudio auf dem Hometrainer, trug einen äusserst knappen Dress und hatte die langen, blonden Haare mit einem blauen Haarband zu einem Rossschwanz zusammengebunden. Obwohl sie zünftig in die Pedale trat, ging ihr Atem ganz ruhig.

«Eine Exklusivstory», sagte Renner. «Alle Agenturen und Radios zitieren uns. Sogar ausländische Sender.»

«Darauf sind Sie stolz?»

«Ehrlich gesagt, ja. Sie wollen doch exklusive Geschichten.»

«Renner, Sie sind und bleiben eine alte Boulevard-Gurgel», sagte Emma Lemmovski. Sie stellte den Hometrainer auf «Steigung», behielt den Tretrhythmus bei und spürte, wie ihr der Schweiss aus den Poren trat.

«Das ist doch ein guter Primeur», versuchte sich Renner zu rechtfertigen. Doch das nützte nichts.

«Es ist unterste Schublade. Sie wissen ganz genau, dass solche Mutmassungen nicht in unser Blatt gehören und …»

«Das sind keine Mutmassungen, Frau Lemmovski, das sind Tatsachen», warf Renner ein.

«Ach? Sie wissen nichts, Renner. Sie suggerieren sogar, dass der gute Jasper mit einer fremden Frau unterwegs war, möglicherweise sogar ein Verhältnis mit ihr hatte. Natürlich, Sie sind ja auch immer und überall dabei!»

«Nicht direkt. Aber ich bin mir sicher oder fast sicher, dass …»

«Sie sind sich fast sicher, so, so!»

«Chefredakteur Muller war über alles im Bild.»

Emma Lemmovski stieg vom Rad, nahm das Haarband ab, schüttelte ihre Mähne und schaute einen Moment lang schweigend zum Fenster des Fitnessraums hinaus auf den See. Das beruhigte sie.

«Aha, der Chefredakteur war im Bild», sagte sie dann. «Hören Sie auf, Renner! Wir beide werden das unter uns regeln. Ohne Muller.» Sie hielt einen Moment inne und fügte dann hinzu: «Wie immer, nicht wahr?»

«Natürlich.» Renner gab klein bei.

Emma Lemmovski legte das Telefon weg, zog den Fitnessdress aus und zupfte den rot-grünen Bikini, den sie darunter trug, zurecht. Dann öffnete sie die Schiebetüre zum Garten, ging hinaus und sprang in den Pool.

Sie crawlte Länge um Länge, bis sie einen Kilometer geschwommen war. Wie jeden Tag. Sommer und Winter. Dafür hatte sie mit ihren 39 Jahren und trotz der Geburt ihrer zwei Söhne noch immer eine fast makellose Figur.

Sie stieg aus dem Wasser, beugte sich kopfüber hinunter, bis ihre Haare den Boden berührten. Mit einem kräftigen Ruck liess sie den ganzen Oberkörper nach oben und den Kopf nach hinten schnellen, so dass die Haare ein Rad schlugen. Sie liebte diese Prozedur, und sie liebte es, wenn Männer ihr dabei zusahen. Da die Nachbarn allerdings keinen Einblick in das Grundstück hatten und auf dem See keine Boote waren, tat sie es nun ausschliesslich für sich. Sie liebte ihre Haare, die ihr bis zur Taille reichten. Sie liessen Emma noch grösser erscheinen, als sie ohnehin schon war. Früher, als sie noch ab und zu modelte, waren die Haare ihr Markenzeichen gewesen. Heute nutzte sie sie, um in Sitzungen die männlichen Teilnehmer bei Bedarf erotisch abzulenken.

Nach dem Fitnessprogramm duschte sie, zog einen dezenten beigen Hosenanzug an, föhnte die Haare, schminkte sich, aber dezent, Lidschatten, Lippenstift, ein wenig Wangenrouge. Danach weckte sie ihre beiden Söhne, 12 und 10 Jahre alt. Sie frühstückte mit ihnen und besprach mit ihnen den Tag. Marcel, der ältere, fragte, ob am Nachmittag seine Freunde zu ihm kommen und sie zusammen im Pool baden dürften. Emma stimmte zu und ermahnte Marcel, seinen Bruder Rudolf auch mitmachen zu lassen. Das sei logisch, sagte Marcel und klatschte mit seinem Bruder ein Give-me-Five.

Emma war stolz. Sie lächelte.

Sie begleitete die beiden vor das Anwesen und schaute ihnen noch lange nach, wie sie mit den Fahrrädern in Richtung Schule radelten. Dann ging sie zurück in die Villa, in der die Familie seit einem Jahr wohnte. Im oberen Stock gab es ein grosses Büro. Sie schaltete den Monitor ein, drückte auf dem Telefon die Speichertaste A und wartete ab. Es war kurz vor 07.30 Uhr.

«Liebling, wie geht es dir?» Auf dem Monitor erschien das leicht verzerrte Bild ihres Mannes, David Lemmovski. Er sass in einem Hotelzimmer in Berlin.

«Gut. Wie war dein Flug gestern?»

«Alles prima.»

«Alfred ist tot.»

«Ich habe es gerade online in unserer Zeitung gelesen. Traurig. Der gute Alfred Jasper. Aber immerhin hat Renner einen Primeur landen können.»

«Es ist eine Katastrophe!», sagte Emma aufgebracht.

«Ganz ruhig, Emma. Was ist eine Katastrophe?»

«Diese Story! Schmutzwäsche. Leichenfledderei. Wie peinlich!»

«Aber sie bringt Leser. Und Online-Hits.»

«Ein geschätzter Politiker stürzt auf einer Bergtour in den Tod, und wir schlachten das gnadenlos für Auflagezahlen aus. David, ich bitte dich!»

«Wir brauchen gute Zahlen, Emma, das weisst du.»

«Aber doch nicht auf diese Weise.»

«Hör zu, ich muss jetzt an die Sitzung. Du machst das schon!» David Lemmovski schickte seiner Frau einen virtuellen Kuss zu. Dann brach die Leitung ab, der Monitor wurde schwarz.

«Idiot!», sagte Emma Lemmovski.

Sie lebte seit 13 Jahren in der Schweiz, fühlte sich hier zu Hause. Aber mit gewissen Dingen hatte die gebürtige Deutsche immer noch ihre Probleme. Über Geld und den Tod, so hatte sie festgestellt, wurde in der Schweiz, zumindest in der Deutschschweiz, einfach nicht gesprochen. Die Medien kreierten zwar reisserische Schlagzeilen, doch in persönlichen Gesprächen mieden die Leute das Thema. Selbst mit ihrem Ehemann David konnte sie darüber kaum diskutieren. Alfred war immerhin ein Bekannter ihres Mannes gewesen. Aber sein Tod berührte ihn kaum. Oder er zeigte es eben nicht.

Um 07.45 Uhr rief Emma Lemmovski Chefredakteur Don Muller an. Doch sie bekam nur die Mailbox zu hören.

«Lemmovski hier. Herr Muller, ich erwarte Sie um neun Uhr dreissig zu einer Besprechung in meinem Büro.»

FIRSTBAHN, BERGFAHRT GRINDELWALD-FIRST

«Séb hat mich um halb sieben geweckt. Das gibt es doch gar nicht!»

«Wer ist Séb?», fragte Alex.

«Sébastien. Er selbst wurde von Renner aus den Federn geholt», erklärte Henry Tussot.

Sébastien Constantin war der Bildchef von «Aktuell». Jeder Bildauftrag lief über ihn. Wurde ein Fotograf gebraucht, musste Sébastien einen organisieren. Er stammte, wie Fotograf Henry Tussot, aus der französischen Schweiz. Deshalb sprachen die beiden französisch miteinander.

Henry sprach gut Deutsch, er hatte nur einen leichten Akzent, was bei den Frauen gut ankam. Jedenfalls galt er auf der Redaktion als Filou, obwohl er nicht besonders attraktiv war. Schlaksig, schütteres Haar. Und er lebte ziemlich chaotisch. Aber als Fotograf war er gut.

«Was sollen wir da oben?», fragte Henry.

«Ich weiss es nicht. Ich denke, wir müssen recherchieren, wie es gestern zu diesem Unfall kam.»

Henry hatte keine Ahnung. Er hatte weder Zeitung gelesen noch Radio gehört. Alex erzählte ihm deshalb die ganze Geschichte.

Die Gondel rumpelte durch die Mittelstation. Alex und Henry sassen in einer der ersten Kabinen, die an diesem Tag hochschaukelten. Alex war um 08.39 Uhr mit dem Zug in Grindelwald angekommen und dann durch das Dorf zur Talstation der Firstbahn gerannt. Dort hatte Henry bereits gewartet. Da es Montag war und die Sommerferien in der Schweiz bereits vorbei waren, war der Andrang vor der Kasse nicht so gross gewesen. Es wollten einige Rentner, Bergsportler und vor allem ausländische Touristen hochfahren.

«Nun, Jasper ist tot. Und wir müssen irgendeine Nachfolgegeschichte liefern», beendete Alex seine Zusammenfassung.

«Und was soll ich dabei?», fragte Henry leicht gereizt. «Eine Geröllhalde fotografieren kannst du auch, dazu braucht es mich nicht.»

Mit der Geröllhalde meinte Henry Tussot die Unglücksstelle. Für ihn war der Auftrag alles andere als reizvoll. Er mochte solche Geschichten nicht. Er verstand sich als Fotoreporter und nicht als Boulevard-Fotograf oder gar als Paparazzo. Eine Reportage war für ihn in erster Linie eine Bildstrecke mit Text, eine Geschichte, die in Fotos erzählt wurde, eine Dokumentation mit Bildern, die die Leser beeindrucken sollte.

Henry Tussot checkte nochmals seinen Rucksack mit den diversen Kameras und Objektiven. Alex schaute zum Fenster hinaus und dachte daran, irgendwann mal mit seiner Freundin Mara hierherzukommen. Er war schon lange mit ihr zusammen. Im Gegensatz zu ihm lebte sie immer noch im Wallis. Sie waren bereits ein Paar, als sie den Schulabschluss gemacht hatten. Nachher trennten sich zwar ihre Wege, doch sie blieben zusammen und lebten eine Wochenendbeziehung. Manchmal intensiv, oft aber ohne Leidenschaft. Sich zu trennen, war allerdings noch nie ein Thema gewesen. Zumindest wurde es weder von Alex noch von Mara je angesprochen.

Die Gondel fuhr in die Bergstation ein. Alex und Henry stiegen aus und gingen zum Wanderwegweiser.

«Wir müssen aber nicht bis zum Faulhorn, oder?», sagte Henry. «Hier steht, das würde zwei Stunden und zwanzig Minuten dauern. Diese Scheisse mache ich nicht mit!»

«Wart mal ab, ich rufe erst Renner an.»

Renner nahm wie meistens nach dem ersten Klingeln ab.

«Wir sind jetzt auf der First», meldete Alex.

«Gut. Hier ist bereits der Teufel los. Also, du und Henry müsst heute alles geben. Ist Henry überhaupt da?»

«Ja, klar.»

So klar war das nicht. Mit den Fotografen war dies so eine Sache. Bildchef Sébastien Constantin hatte keine leichte Aufgabe, das Rudel Individualisten zu führen. So kam es immer mal wieder vor, dass eine Fotografin oder ein Fotograf ausscherte und eigene Pfade beschritt, die der Redaktion nichts brachten.

«Prima», sagte Renner. «Tussot ist gut für solche Sachen. Also: Erst geht ihr auf das Faulhorn und quetscht den Hüttenwart aus und macht ein Foto mit ihm am Tisch, wo Jasper gestern zu Mittag ass.»

«Wie heisst der Hüttenwart schon wieder?»

«Balmer. Ich habe ihn bereits informiert, dass ihr kommt. Er macht mit.»

«Danke, Peter. Danach gehen wir wohl zur Unfallstelle?»

«Ja. Ich werde von der Polizei noch die genauen Koordinaten bekommen. Du hast ja auf deinem Handy GPS. Ich werde dir also die Daten per SMS später durchgeben. Dort dreht ihr jeden Stein um, fotografiert alle Spuren, einfach alles, okay?»

«Ja. Was suchen wir denn?»

«Keine Ahnung. Verdächtige Gegenstände, Spuren. Blut.»

«Okay, geben uns alle Mühe.»

«Danach übermittelt ihr mir so schnell wie möglich einen Infotext und die Fotos. Ich hoffe, dass ihr dies bis 15 Uhr machen könnt.»

«Geht klar. Bis später.»

Alex und Henry, der Renner mehrmals verfluchte, machten sich auf den Weg. Sie schlugen ein hohes Tempo an. Der Wanderweg war ausserordentlich breit und gut gesichert. Da das Faulhorn wegen der atemberaubenden Sicht auf die weltberühmten Berge Eiger, Mönch und Jungfrau bei vielen ausländischen Touristen sehr beliebt war, kraxelten hier an schönen Tagen zum Teil Hunderte von Menschen hinauf, viele mit schlechtem Schuhwerk. Auch Alex und Henry waren nicht gerade vorbildlich ausgerüstet: Alex trug immerhin leichte Trekkingschuhe, Henry lediglich Sneakers.

Bis zum Bachalpsee sprachen sie kein Wort. Sie absolvierten die Strecke in 35 statt der auf dem Wanderwegschild angegebenen 50 Minuten.

Dann hörten sie einen Helikopter.

«Warum sitzen wir Idioten eigentlich nicht in einem Helikopter?», fragte Henry genervt.

«Ich weiss es nicht», antwortete Alex.

«Das ist doch Scheisse, was wir hier machen!»

«Komm, beeilen wir uns. Weiter.»

«Hör mal, Alex, du bist neu bei uns. Also lass dich aufklären von einem, der schon lange im Geschäft ist. Der Renner verarscht uns gewaltig.» Henry war zwar mit seinen 31 Jahren nur gerade vier Jahre älter als Alex, doch er war tatsächlich schon ein sehr erfahrener Fotoreporter. Denn seit dem Rauswurf aus dem Gymnasium hatte er sich als Fotograf durchgeschlagen. Lange Zeit verdiente er fast nichts, erst seit er Aufträge von «Aktuell» erhielt, kam er zu einem ordentlichen Honorar.

«Warum sollte uns Renner verarschen?», fragte Alex.

«Ich weiss es nicht. Aber irgendetwas stimmt da nicht.»

«Was denn?»

Der Helikopter erschien plötzlich beim Faulhorn, kreiste eine Zeitlang und verschwand dann hinter der Bergkuppe. Er war kaum mehr zu hören.

«Alex, ich bin Fotograf, aber kein Idiot. Dieser Helikopter fliegt genau dorthin, wo wir hinmüssen.»

«Ist vielleicht die Polizei.»

«In einem privaten Helikopter?»

«Na ja …»

«Eben. Los, beeilen wir uns.»

Henry Tussot war angefixt. Sein Gefühl für Stories sagte ihm, dass es interessant werden könnte. Auch fotografisch.

Alex trottete ihm nach.

Er spürte den gewaltigen Druck. Er musste auf jeden Fall eine Geschichte aus dieser Nummer herauskitzeln. Auf irgendeine Art. Und mit ein bisschen Glück würde er sogar Seite 1 erobern können. Das wär was! Möglicherweise hatte er den Aufmacher, die Headline. Wow, das wäre das Maximum! Er spürte, dass dies seine Chance war. Wenn nicht etwas Dramatisches auf der Welt passieren würde, dann könnte er den Aufmacher buchen. Da wäre er sogar seiner Kollegin Sandra Bosone voraus, die wie er auch noch keinen Aufmacher gehabt hatte.

Alex war voll motiviert.

Er blickte auf die Uhr. 09.56 Uhr. In vier Minuten würde die Redaktionssitzung beginnen. Renner würde ankündigen, dass er ein Team an die Unfallstelle beordert habe und sich einen Aufmacher vorstellen könnte.

«Also, los, los, los», flüsterte Alex zu sich.

KONFERENZZENTRUM, FRIEDRICHSTRASSE, BERLIN-MITTE

David Lemmovski war bereit. Er kontrollierte auf der Toilette noch einmal seine Frisur, zupfte einige Strähnen zurecht und ging schnellen Schrittes zum Konferenzraum «New York», einem grossen Saal zuoberst im Gebäude mit dem riesigen Glasdach.

Lemmovski schaute auf seine Uhr: 09.58 Uhr. Noch zwei Minuten.

Zuvor, um Punkt 8 Uhr, hatte er sich noch einmal mit seinen fünf engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern getroffen. Drei von ihnen waren in Deutschland stationiert, Susanne Tosh und Gunther Friesen gehörten zu seinem persönlichen Stab. Sie waren fast immer an seiner Seite. Ob im Headoffice in Zürich oder in der deutschen Vertretung in Berlin. Auch auf Reisen, vorwiegend nach Osteuropa, Asien oder Amerika, mussten sie ihn stets begleiten.

An der Sitzung besprachen sie alles. Jede und jeder wusste nun, welche Rolle er oder sie bei den kommenden Verhandlungen zu spielen hatte.

«Denken Sie daran», hatte Lemmovski zum Schluss gesagt, «es geht heute um alles.»

Das war ein wenig pathetisch. Aber David Lemmovski liebte das Pathos.

Wieder schaute er auf die Uhr. Noch eine Minute.

Er ging um den Konferenztisch herum, blieb bei einem Stuhl stehen und sagte gereizt: «Hier ist eine Tasche! Wem gehört diese Tasche, verdammt?» Er hob sie auf. Es war eine mit Dossiers und Papieren überquellende Ledertasche mit dem schlichten, hellblauen Firmenlogo «Lemmovski». Alle Kadermitarbeiter der «Lemmovski Group» bekamen an ihrem ersten Arbeitstag eine solche Tasche.

«Das ist meine», sagte Susanne Tosh, eilte zu Lemmovski und nahm sie ihm ab.

«Weg damit», schnauzte David Lemmovski.

Susanne Tosh stellte sie unter den ihr zugewiesenen Platz.

Plötzlich surrte das Telefon im Konferenzraum. Susanne Tosh nahm ab und sagte nur: «Okay.» Dann legte sie wieder auf.

«Sie sind da», meldete sie David Lemmovski.

«Gut.»

Er strich sich noch einmal durch die Haare und ging zum Fahrstuhl, um die Gäste zu empfangen.

Der Fahrstuhl klingelte, die Schiebetüre öffnete sich. Lemmovski reichte den schwarz-, grau- und dunkelblau gewandeten Herren die Hand, legte jeweils seine linke Hand auf deren Arm und wünschte jedem in seiner Landessprache einen guten Tag. Deutsch, englisch, französisch, spanisch und polnisch. Mit der Entourage der einzelnen Verhandlungspartner waren es 17 Leute.

Als alle am runden Tisch Platz genommen hatten, erschienen drei junge, hübsche Serviceangestellte, schenkten Kaffee und Tee ein und stellten kleine Sandwichs auf den Tisch. Als die Mädchen wieder gegangen waren, stand Lemmovski auf. Susanne Tosh, die gleich neben ihm sass, legte ihm die Papiere hin, so dass er seine Rede gut ablesen konnte.

«Vielen Dank für Ihr Erscheinen. Es ist mir eine Ehre, Sie heute zu begrüssen.»

Er wartete kurz, denn den fremdsprachigen Herren wurde alles von Dolmetschern übersetzt, ausser dem Polen. Er verzichtete auf eine Übersetzung, da er selbst gut Deutsch sprach.

«Wir werden heute alle einen erfolgreichen Tag erleben», fuhr Lemmovski fort. «Unser ‹Zentrum für Völker und Religionen, Wirtschaft und Wissenschaft› wird eine einzigartige Institution friedenserhaltender, globaler Zusammenarbeit.»

«So, so», sagte Susanne Tosh zu sich selbst. Allerdings einen Tick zu laut, David Lemmovski hatte es gehört und warf ihr einen bösen Blick zu.

REDAKTION «AKTUELL», WANKDORF, BERN

Die 45 diensthabenden Redakteure von «Aktuell», «Aktuell Online» und «Aktuell Mobile», dem Nachrichtendienst für die Handy-Ausgabe, sassen seit neun Minuten dichtgedrängt um den riesigen Tisch und warteten. Einige der Journalisten, Produzenten und Grafiker blätterten im «Aktuell» oder lasen Konkurrenzzeitungen. Andere schwatzten miteinander. Sandra Bosone diskutierte mit einer Kollegin aus der Wirtschaftsabteilung. Beide hatten ein Mineralwasser vor sich und nippten von Zeit zu Zeit an der Flasche.

Die Abteilungsleiter schrieben irgendwas in ihre Notizbücher oder hantierten an ihren Laptops herum. Jedenfalls versuchten sie, einen wichtigen Eindruck zu machen. Nur News-Chef Peter Renner, die Zecke, hockte einfach da und starrte ins Leere. Er hatte immer noch die Sprechgarnitur am Kopf. Er war der Einzige, der an der Sitzung telefonieren durfte. Allerdings hatte er seinen direkten Anschluss zur Telefonzentrale umgeschaltet. Die Telefonistin beim Eingang der Redaktion war jedoch angewiesen, die dringendsten Anrufe über Renners zweite Leitung durchzustellen.

Prominentester Abwesender war Politik-Chef Jonas Haberer. Seine Themenvorschläge liefen immer über Peter Renner. Und seinen Titel «Mitglied der Chefredaktion», was innerhalb der «Lemmovski Group» als Kaderposition galt, nutzte Haberer nur, um seine Bedeutung gegenüber seinen Informanten, Interviewpartnern und Freunden aus Regierung und Parlament hervorzuheben.

Der grosse Sitzungsraum hatte keine Fenster. Er wurde im Lauf des Tages als «Kino» benutzt. Dann, wenn es darum ging, Fotos für die Zeitung zu betrachten und eine Auswahl zu treffen. Die Bilder erschienen auf einem Grossbildschirm, der von der Decke heruntergefahren werden konnte. Auf diesem Monitor konnte auch das Layout betrachtet und allenfalls korrigiert werden, wenn der Chefredakteur noch nicht damit zufrieden war.

Um 10.11 Uhr rauschte die Chefredaktion mit Verlegerin Emma Lemmovski herein. Chefredakteur Don Muller, wie immer in Anzug und Krawatte, sein Stellvertreter Christian Reich, in Jeans und rotem Hemd, und Redaktionsassistentin Cordula Hahne, die sofort sämtliche Blicke der männlichen «Aktuell»-Macher auf sich zog. Nicht weil sie umwerfend hübsch war, sondern weil sie sich immer sehr sexy und gewagt kleidete. Heute trug sie ein kurzes, dünnes Kleid mit Blumenmuster, dazu Sommerstiefel mit vielen kleinen Löchern und hohen Absätzen.

Emma Lemmovski erkannte sofort, dass nicht sie selbst im Mittelpunkt stand. Sie löste die Klammer, die ihre langen Haare zusammenhielt, strich einige Strähnen glatt und setzte die Klammer wieder an. Nun blickten alle auf sie.

Don Muller hüstelte. Dann sagte er: «Guten Morgen. Wir begrüssen Emma Lemmovski, die uns eine Mitteilung zu machen hat.»

«Liebe Kolleginnen und Kollegen, es freut mich, bei euch zu sein.»

Mit diesen Worten begann sie immer. Das habe sie wohl in einem Managerkurs gelernt, pflegte Renner jeweils etwas abschätzig zu bemerken, wenn er unter Kollegen über die Verlegerin sprach. Obwohl sie als Journalistin und Redaktionsleiterin in Deutschland gearbeitet hatte, hielt Renner nicht allzu viel von ihrem Können.

«Ich möchte Ihnen allen zur heutigen Ausgabe gratulieren», fuhr sie fort. «Vor allem natürlich Peter Renner.»

Renners runder Leib zuckte. Doch Renner versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Nach der Moralpredigt vom Morgen war Lemmovskis Lob äusserst seltsam. Nun wird wohl noch was kommen, dachte er und starrte weiter ins Leere.

«Einige Fakten mehr würden der Story guttun», sagte Emma Lemmovski. «Also beissen Sie sich rein. Aber das machen Sie sowieso.» Sie lächelte Renner an und ergänzte: «Sie haben nicht umsonst den Spitznamen Zecke.»

Lautes Gelächter im Raum.

Renner war baff. Er schaute verlegen zu Emma Lemmovski, die ihn mit ihren grünblauen Augen anfunkelte und ihm nun auch noch zuzwinkerte.

Nachdem das Gelächter verstummt war, herrschte einige Sekunden Stille. Sandra Bosone hatte gerade wieder die Wasserflasche am Mund und musste schlucken, was ziemlich deutlich zu vernehmen war. Renner bemerkte, dass Don Muller, der vis-à-vis von ihm sass, mit den Beinen wedelte, es sah aus wie ein Vogel, der kurz vor dem Abflug seine Flügel auf Touren bringt. Das machte Muller immer, wenn er nervös war.

«Nun, warum ich hier bin», setzte Emma Lemmovski an. «Wir werden in der Geschäftsleitung der ‹Aktuell Media AG› eine Änderung vornehmen. Ich trete per sofort als Geschäftsführerin zurück und konzentriere mich auf die Arbeit als Verlegerin und Verwaltungsratspräsidentin. Die Geschäftsleitung wird Don Muller übernehmen. Herr Muller bleibt aber Chefredakteur. In der Redaktion bleibt so weit alles beim alten, ausser dass die Herren Reich und Renner wegen der Doppelbelastung von Herrn Muller zusätzliche Aufgaben übernehmen werden. Dies betrifft vor allem unseren stellvertretenden Chefredakteur Reich.»

Darauf folgte ein etwas länglicher Vortrag über die Wichtigkeit der Verlegerin in einer immer hektischeren Zeit.

Die ersten Journalisten wurden unruhig.

«Lassen Sie mich noch eines deutlich machen», sagte Emma Lemmovski nun in einem resoluten Ton. «Die Geschäftsführer anderer Verlage sind mittlerweile reine Manager, die keinen Unterschied machen, ob sie Zeitungen oder Schrauben verkaufen. Mir persönlich ist es sehr wichtig, dass wir einen erfahrenen und erfolgreichen Journalisten als CEO haben. Damit setzen wir ein Zeichen, dass bei ‹Aktuell› der Journalismus im Vordergrund steht, nicht der Gewinn.»

Ältere Redakteure begannen zu klatschen. Sofort applaudierten die Kulturjournalisten mit. Die Abteilungsleiter ebenso, bis auf Renner. Dieser sass nach wie vor da und starrte. Die jüngeren Redakteure klatschten halbherzig, die Online-Journalisten gar nicht. Sie schauten sich bloss gelangweilt um. Oder starrten auf Assistentin Cordula Hahne, die dies sichtlich genoss und dauernd lächelte.

Muller wedelte weiter mit seinen Beinen.

«Vielen Dank, Frau Lemmovski. Wir fahren dann fort mit unserer Sitzung», sagte Chefredakteur Muller schliesslich. Emma Lemmovski lehnte sich zurück, löste die Klammer aus ihren Haaren, strich die Haare glatt und setzte die Klammer wieder ein.

Die Morgensitzung war die einzige Redaktionskonferenz, an der alle, die gerade Dienst hatten und im Büro waren, teilnahmen. Die anderen Konferenzen wurden ausschliesslich von den Abteilungsleitern bestritten. Die Morgensitzungen waren für die Blattkritik und die Planung des Tages gedacht. Blattkritik fand aber nur selten statt. Chefredakteur Muller fand meistens alles «super». Renner nannte dies «Die Superlüge». Wer nichts kritisierte, musste auch nichts verbessern. Vor allem, wenn er selbst nicht wusste wie.

Muller erteilte das Wort Renner, der die aktuellen Nachrichten-Stories vorzuschlagen hatte.

«Wie Frau Lemmovski richtig sagte, werden wir die Jasper-Story weiterziehen. Alex Gaster ist dort, wo der Unfall geschah, und wird …»

«Alex Gaster?», fragte Emma Lemmovski.

«Unser ehemaliger Praktikant», erklärte Renner.

«Sie schicken einen Ex-Praktikanten an diese Story?»

«Er ist seit drei Monaten fest bei uns als Reporter angestellt. Zudem werden noch weitere Leute auf diesen Fall angesetzt.»

Emma Lemmovski sagte nichts mehr.

Auch Muller sagte nichts. Er schwieg auch, als die Leiterinnen und Leiter der Wirtschafts-, der Sport-, der Unterhaltungs- und der Kulturredaktion ihre Geschichten und Themen anboten. Der einzige Ton, den er hervorbrachte, war ein unartikuliertes «Ähä» und hin und wieder ein leises «Super». Renner stellte aber fest, dass er aufgehört hatte, mit den Beinen zu wedeln. Also war alles so weit wieder in Ordnung.

Assistentin Cordula lächelte nicht mehr, denn sie war damit beschäftigt, für Muller alles aufzuschreiben.

Nach der Sitzung ging Peter Renner sofort in seinen Newsroom, hob die Telefonumleitung ins Sekretariat wieder auf und rief Politik-Chef Jonas Haberer an. Dieser war aber nicht erreichbar.

Per Mail beorderte er Sandra Bosone und Flo Arber, einen weiteren jungen Reporter, zu sich.

«Also», sagte Renner. «Sandra, du kümmerst dich um Jaspers Privatleben, versuchst, seine Frau zu interviewen, seinen Sohn, das ganze Umfeld. Flo, du recherchierst bei der Polizei, klapperst seine Wirtschaftsbeziehungen ab.»

Die beiden nickten.

Beim Hinausgehen drehte sich Sandra um: «Weisst du, was der Wechsel in der Chefredaktion bedeutet?»

«Nein, keine Ahnung», sagte Renner und blickte angestrengt auf einen seiner Monitore.

Peter Renner wusste es tatsächlich nicht. Aber er ahnte es. Und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

FAULHORN, WESTFLANKE

Alex und Henry waren kurz nach Mittag bereits auf dem Abstieg vom Faulhorn. Sie hatten den steilen Pfad über den Grat gewählt, der zwar kürzer war als der gut ausgebaute Weg im Südhang. Doch der Pfad, wie der gesamte Abstieg vom Faulhorn über die Männdlenen-Hütte zur Schynige Platte, der mit rund 3 Stunden angegeben wurde, war als Bergweg mit weiss-rot-weissen Pinselstrichen an Felsblöcken markiert und nur für geübte Wanderer mit guter Ausrüstung gedacht. Viele Stellen waren schmal und gefährlich, gegen Norden fiel das Gelände teilweise fast senkrecht in die Tiefe ab. Eine Tafel beim Berghotel wies speziell darauf hin. Doch Alex und Henry hatten sie ignoriert, obwohl beide keine geeigneten Schuhe trugen.

Schon nach wenigen Metern stöhnte Henry das erste Mal auf. Kurz darauf ein zweites Mal. Dann stolperte er, konnte sich gerade noch auffangen und fluchte auf Französisch über diesen Weg, über Renner und über seinen Chef Constantin. Alex blieb ruhig und nahm ihm die schwere Fototasche ab.

Als sie das erste Stück geschafft hatten, setzten sie sich auf einen Stein. Henry keuchte laut. Irgendwo in der Ferne rotierte wieder ein Helikopter. Das Geratter wurde lauter, dann wieder leiser. Henry zeigte Richtung Himmel, verwarf die Hände und verfluchte Renner und Constantin erneut.

Nachdem er sich etwas erholt hatte, nahm er seine Tasche, kontrollierte den Fotoapparat und schaute sich die Bilder an, die er auf dem Faulhorn geschossen hatte.

«Dieses Foto ist prima», sagte er und streckte Alex den Apparat hin. «Der Hüttenwart am Tisch, wo dieser Kasper …»

«Jasper», korrigierte Alex. «Der Mann heisst oder hiess Jasper.»

«Von mir aus. Jedenfalls ein gutes Foto.»

«Ja, ist wirklich gut. Aber das Interview brachte nichts.»

«Ach, das ist doch egal, Hauptsache ein gutes Bild.»

«Aber was soll ich schreiben?»

«Na eben, dass dieser Kasper oder Jasper da oben eine Wurst gemampft hat, bevor er in den Tod gestürzt ist.»

«Das hat schon Renner geschrieben. Steht alles heute in unserem Blatt.»

«Ach so», meinte Henry, stand auf und machte noch einige Bilder vom Faulhorn. Auch Alex stand auf. «Bist du wieder fit?», fragte er.

«Ja, logisch!»

Da der Weg nun weniger steil war, kamen sie rascher vorwärts.

Alex Gaster hatte mit den Fotografen noch seine liebe Mühe. Er konnte nicht verstehen, dass sich die meisten nicht wirklich für die Stories interessierten. Hauptsache Bilder, Bilder, Bilder. Dass es dazu immer noch einen Text brauchte, war den Fotoreportern ziemlich egal. Wenn sie ihr Bild hatten, wollten sie möglichst schnell einen Abgang machen und es in die Redaktion schicken.

Oft kam es zwar nicht vor, dass Alex zusammen mit einem Fotografen unterwegs war. Alle «Aktuell»-Reporter waren ausser mit einem Hightech-Telefon und einem Tonaufnahmegerät, dessen Qualität für Radiosendungen geeignet war, zusätzlich mit einer Kamera ausgerüstet. Mit dieser Kamera konnten sie fotografieren, aber auch Videoclips drehen. So lieferten die «Aktuell»-Redakteure nicht nur für die Zeitung Material, sondern auch fürs Internet.

Alex hatte zwar keine Probleme mit dem Job als «All-in-one»-Reporter. Schliesslich hatte er während des Studiums auch bei Radio und Fernsehen Praktika absolviert. Doch Schreiben und Fotografieren hatte ihm immer am besten gefallen. Deshalb war für ihn bald einmal klar gewesen, dass er für ein Printmedium arbeiten wollte. Dass er fürs Web auch Video- und Audioclips liefern musste, sah er als zusätzlichen Ansporn an, der durchaus seinen Reiz hatte.

Videoclips zu drehen, war ausserdem etwas, was ihn mit seiner Freundin Mara verband. Diese hatte als Snowboarderin zwar die grosse Karriere verpasst, doch als Clip-Produzentin von spektakulären Jumps und waghalsigen Abfahrten hatte sie es geschafft, sich in der Szene einen Namen zu machen und etwas zu ihrem Lehrerinnen-Job hinzuzuverdienen. Alex hatte sie immer darin unterstützt und oft begleitet. Einmal war ihm, als er noch Student gewesen war, bei einem solchen Snowboard-Shooting sogar ein so gutes Pic geglückt, dass er es tatsächlich «Aktuell» hatte verkaufen können. Er hatte 100 Franken kassiert, sich damit Champagner und Fingerfood-Delikatessen gekauft und sich mit Mara einen schönen, prickelnden Abend gemacht.

Fotos waren bei «Aktuell» tatsächlich sehr wichtig. Deshalb herrschte unter den professionellen Fotografen, die alle als Freiberufler arbeiteten, ein grosser Konkurrenzkampf. Wer sich nicht voll einsetzte und rund um die Uhr zur Verfügung stand, hatte keine Chance. Viele «Aktuell»-Bilder waren auch schon mit Fotopreisen bedacht worden, was die Fotografen zusätzlich anspornte.

«Sag mal, Alex», sagte Henry später, «was ist eigentlich aus Jaspers Hund geworden?»

«Jaspers Hund?»

«Ja, der Hüttenwart erzählte doch, dass Jasper seinem Hund den letzten Wurstzipfel verfüttert hat.»

Alex Gaster blieb stehen und schaute Henry verwundert an.

«Was ist, Alex? Habe ich was Dummes gefragt?»

«Nein, ganz und gar nicht», antwortete Alex und merkte, dass er sich in Henry getäuscht hatte. Er selbst hatte der Hundegeschichte des Hüttenwarts keine Beachtung geschenkt.

«Was ist aus dem Hund geworden?», wiederholte Alex nochmals Henrys Frage. «Das ist sogar eine verdammt gute Frage. Wenn, wie Renner mutmasst, Jaspers Begleiterin nicht seine Ehefrau war, dann hätte der Hund beim Unfall bei Jasper sein müssen.»

«Siehst du, Alex, das sage ich ja.»

«Vorausgesetzt, dass es tatsächlich Jaspers Hund war», schränkte Alex sofort ein.

«Mensch, Alex, klar war es Jaspers Hund.»

«Warum weisst du das?»

«Weil es der Hüttenwart gesagt hat.»

«Nein, das hat er nicht gesagt.»

«Doch.»

«Das habe ich nicht gehört.»

«Als ich nach dem Interview und dem Foto-Shooting dem Typen da oben in der Küche die Fotos auf dem Kamerabildschirm gezeigt habe, sagte er zu mir, ich sei gleich frech wie Jaspers Hund, der auch immer zu ihm in die Küche gekommen sei, wenn Jasper mit ihm auf dem Faulhorn gewesen sei. Also kannte er Jaspers Hund.»

«Warum sagst du mir das erst jetzt?», schrie Alex und griff sofort zu seinem Handy. Er rief Renner an und fragte ihn, ob Hüttenwart Balmer ihm am Sonntag nichts von Jaspers Hund erzählt habe.

«Nein», antwortete Renner. «Ich klär das sofort ab und schicke dir eine Mitteilung. Sehr gut, Alex.»

Alex erwähnte nicht, dass ihn eigentlich Henry auf die Spur gebrachte hatte. Wenn es denn eine Spur war. Aber immerhin: Er hatte eine News. Der Ausflug war zumindest nicht ganz vergebens.

«Ich brauche endlich einen verdammten Aufmacher», murmelte Alex wenig später, als sie wieder unterwegs waren.

«Was hast du gesagt?», fragte Henry.

«Ach nichts.»

Dann piepste Alex’ Handy. Renner hatte die Koordinaten der Unfallstelle geschickt. Alex übertrug sie ins GPS-Programm, Sekunden später erschien auf dem kleinen Bildschirm die Karte.

«Hey, Henry, ich denke, wir sind gleich da.»

«Endlich», sagte Henry Tussot, «ich breche gleich zusammen!» Denn neben seiner Fotoausrüstung hatte er auch noch seinen Laptop dabei, da er die Bilder sofort schicken musste und nicht erst, wenn sie wieder unten im Tal waren.

Plötzlich hörten sie wieder einen Helikopter.

Dann Schüsse.

REDAKTION «AKTUELL», WANKDORF, BERN

Sandra Bosone kam nicht darum herum. Renner hatte schon dreimal nach dem Stand ihrer Recherche gefragt. In der letzten Mail hatte er noch die Hunde-News von Alex durchgegeben mit dem Hinweis, sie solle Frau Jasper danach fragen und sie bitten, ein Foto des Tieres zu senden. Nun musste sie die Witwe anrufen.

Sie hasste solche Telefonate. Angehörige eines Toten zu interviewen, machte niemand gern. Ältere Kollegen, die längst die Abteilung gewechselt hatten, im Politik- oder Wirtschaftsressort arbeiteten oder als Produzenten, brüsteten sich gern damit, wie sie früher als «Witwenschüttler» Trauernde zum Reden gebracht hatten. Einfach ein paar Blumen kaufen, zu den Angehörigen fahren und an der Türe sein aufrichtiges Beileid kundtun. Dies habe immer funktioniert, erzählten sie grossartig.

Natürlich wussten alle, dass dies nicht so einfach war. Einfach kurz von Bern ins Oberland düsen, nach Bönigen bei Interlaken, wo die Jaspers wohnten, an der Haustüre klingeln und dann eine Absage erhalten – das lag zeitlich nicht drin. Sie waren zwar eine personell gutdotierte Redaktion, aber auch sie mussten wie alle anderen Zeitungen sparen. Also musste das «Witwenschütteln» erst mal am Telefon beginnen. Später, wenn die Jasper mitmachen würde, könnte man immer noch einen Fotografen vorbeischicken, um zu einem Herzschmerz-Bild zu kommen.

Sandra Bosone las noch einmal die Artikel über die Familie Jasper durch, die bisher erschienen waren. Es war eine recht umfangreiche Dokumentation, die sie von der Schweizerischen Mediendatenbank im Web heruntergeladen hatte.

Sandra wurde nervös. Sie hasste das wirklich. Als sie mit dem Publizistikstudium begonnen hatte, hatte sie sich geschworen, so etwas nie zu tun. Sie fand es unmoralisch, mies, billig. Sie könnte Renner ja sagen, dass sie das nicht machen wolle. Nicht machen würde. Aus ethischen Gründen. Dann würde jemand anderes anrufen und möglicherweise Erfolg haben. Es war schliesslich so einfach, wie die gestandenen Reporter immer zu prahlen pflegten.

Früher war es vielleicht einfach, sagte sich Sandra. Da konnten Reporter tricksen, sich als Sanitäter oder sonstige Wohltäter ausgeben, da war bei Unglücken und Verbrechen die Polizei noch nicht so darauf bedacht, Journalisten fernzuhalten. Es gab auch weniger von diesen blutrünstigen Fotografen, Kameraleuten und Reportern. Heute wurden die Opfer sofort abgeschirmt und psychologisch betreut. Bei grossen Unglücken wie Eisenbahnunfällen oder Felsstürzen standen mittlerweile ganze Heerscharen von Psychologen auf dem Platz. Journalisten hatten gar keine Chance mehr, an Opfer oder Angehörige heranzukommen.

Aber dieses Philosophieren brachte Sandra Bosone nicht weiter.

Sie nahm einen grossen Schluck Wasser aus der Flasche, atmete tief durch und ergriff den Telefonhörer. Das Display des Telefons zeigte 13.53 Uhr. Sie wählte Jaspers Privatnummer.

Es klingelte dreimal.

«Ja, bitte, wer ist da?», sagte ein Mann mit einer ziemlich hohen Stimme.

«Ich bin Sandra Bosone vom ‹Aktuell›. Mit wem spreche ich, wenn ich fragen darf?»

Sandra gab sich betont freundlich und einfühlsam. Einige Kollegen im Grossraumbüro schauten bereits zu ihr hinüber, da Reporter solch übermässige Freundlichkeit nur bei ganz schwierigen Telefonaten an den Tag legten. Normalerweise war der Interview-Ton der Journalisten sehr sachlich, damit sie sich später nicht vom Befragten vorwerfen lassen mussten, sie hätten sich eingeschleimt.

«Ich bin Leon Jasper, der Sohn des verstorbenen Alfred Jasper.» Leon Jasper klang seltsam, fand Sandra. Sie kannte zwar den melodiösen Dialekt der Berner Oberländer, doch weil Leon Jasper eine so hohe Stimme hatte, tönten seine Worte mehr wie Gesang.

«Mein herzliches Beileid.»

«Danke. Wir stehen für Interviews nicht zur Verfügung. Ich bitte Sie, sich mit der Partei meines Vaters in Verbindung zu setzen.»

Damit hatte Sandra gerechnet: «Wir wollten nur unsere aufrichtige Anteilnahme ausdrücken und fragen, wie die Familie mit diesem Schicksalsschlag umgeht.»

Sandra wusste genau, dass ihre Reporterkolleginnen und -kollegen ihr zuhörten und nun wohl Grimassen machten. Heuchelei gehörte manchmal zum Job. Und um damit klarzukommen, nahmen sich die Journalisten gegenseitig hoch und äfften einander nach.

Leon Jasper sagte nichts.

«Hallo?», sagte Sandra leise.

«Wir sind erschüttert und sehr traurig», antwortete Leon Jasper.

Sandras Herz klopfte heftig. Na bitte, dachte sie, ein Quote, ein Zitat, vielleicht sogar die Seite-1-Schlagzeile!

«Ihre Mutter war ja beim Unglück …»

«Nein, sie war nicht dabei», unterbrach Leon Jasper sie bestimmt, eine Melodie war trotz seines Dialekts kaum mehr zu erkennen. «Sie haben dies ja bereits geschrieben und meinem Vater Unterstellungen gemacht. Ich bitte Sie, uns nun in Ruhe zu lassen.»

«Natürlich», sagte Sandra und machte das Gegenteil, denn immerhin hatte sie gerade die Bestätigung aus ihm herausgekitzelt, dass Alfred Jasper nicht mit seiner Frau auf der Wanderung gewesen war. Also würde sie vielleicht noch mehr aus ihm herauskriegen, wenn sie das Gespräch in die Länge ziehen konnte.

«Sie verstehen sicher», fuhr sie fort, «dass wir einen solch beliebten Politiker, wie Ihr Vater es war, in gebührender Weise ehren möchten und deshalb …»

«Ja, dafür danken wir Ihnen auch», unterbrach Leon Jasper sie erneut. «Nun möchte ich Sie …»

«Ist Herr Jaspers Hund eigentlich wieder aufgetaucht?», fragte Sandra forsch. Denn sie spürte, dass Leon Jasper demnächst auflegen würde.

«Was wissen Sie über Rolf?», fragte Leon Jasper schnell.

Sandra war perplex. Sie hatte diese Frage nicht erwartet und war zudem über den Namen erstaunt. Rolf. Hiess Jaspers Hund Rolf? Sie musste nachfragen.

«Ah, der Hund heisst Rolf?»

«Ja, er war mit meinem Vater auf der Tour und ist verschwunden», erzählte Leon Jasper nun wieder im Singsang seines Dialekts. «Vielleicht ist er so verstört, dass er sich irgendwo verkrochen hat oder herumirrt.»

Nun hatte sie ihn, da war sich Sandra sicher.

«Wir können ihn suchen», sagte sie.

«Wie denn?», fragte Leon Jasper überrascht.

«Wir schreiben morgen in der Zeitung, dass alle Wanderer nach Rolf Ausschau halten sollen. Am besten würden Sie uns ein Foto von Rolf mailen.»

Sandra hörte, wie Leon Jasper die Sprechmuschel des Telefons mit der Hand abdeckte und jemanden im Hintergrund nach dessen Meinung fragte.

«Ja, das können wir machen», sagte Leon Jasper nach einer Weile.

Sandra gab ihre Mail-Adresse an, bedankte sich und wünschte ihm und der ganzen Familie Jasper viel Kraft.

«Wir melden uns sofort, wenn wir eine Spur von Rolf haben», sagte Sandra. «Am besten geben Sie mir Ihre Handynummer.» Leon Jasper gab die Nummer an und verabschiedete sich.

Sandra legte den Hörer auf, juckte von ihrem Stuhl und schrie durchs ganze Büro: «Wie geil ist das denn?!»

Sie wollte gleich zu Peter Renner, um ihn über den Erfolg ihrer Recherche zu orientieren.

Doch kurz vor dem Newsroom stellte sich ihr Janine Hurst, eine etwas ältere Redakteurin aus der Unterhaltungsabteilung mit kurzen, graumelierten Haaren, in den Weg.

«Tick dich wieder ein, Mädchen», sagte sie und nahm ihre Brille ab. «Ist ja echt peinlich, wie du dich aufführst.»

Sandra kümmerte sich nicht darum. Alte Schnepfe, dachte sie nur. Sie liess Janine Hurst einfach stehen.

Beim Vorbeigehen bemerkte sie, dass Janine Hurst Tränen in den Augen hatte.

HOLIDAY INN HOTEL, BERLIN, CITY-WEST

«Finden Sie nicht, wir hätten die Herren aufklären müssen?», fragte Susanne Tosh ihren Chef.

«Worüber denn?», fragte David Lemmovski zurück.

«Na, über die weiteren Zwecke dieses Zentrums.» Tatsächlich wusste Susanne Tosh selbst nicht viel über die weiteren Zwecke von David Lemmovskis «Zentrum für Völker und Religionen, Wirtschaft und Wissenschaft», das er am Vormittag vor der europäischen Delegation im Berliner Konferenzzentrum grossspurig angekündigt hatte. Sie hätte selbst gerne mehr darüber erfahren, am liebsten sämtliche Details. Aber darüber waren weder sie noch David Lemmovskis zweiter persönlicher Mitarbeiter, Gunther Friesen, informiert. Susanne Tosh wusste nur, dass das Schweizer Aussenministerium involviert war. Und dies fand sie gar nicht gut. Sie hatte David Lemmovski schon mehrfach geraten, nicht mit Politikern oder Regierungsbeamten zu wirtschaften.

«Sehen Sie», sagte David Lemmovski, «das ist es, was ich so an Ihnen mag. Sie sind meine rechte Hand, aber Sie trauen mir nicht.»

«Das stimmt nicht.»

«Oh doch, aber ich bin Ihnen sehr dankbar dafür. Lassen wir ein wenig Zeit verstreichen. Die Herren Wissenschafter und Politiker werden die Details früh genug erfahren.»

«Warum sagen Sie, ich würde Ihnen nicht trauen?», insistierte Susanne. Immerhin trug sie den Titel «Persönliche Mitarbeiterin» und «Leiterin Aussenbeziehungen» der «Lemmovski Group» und fand diese Aussage ihres Chefs ziemlich daneben. Für sie war es ein typischer Männersatz einer Frau gegenüber. Und dies hasste sie.

«Das war ja nicht ganz ernst gemeint», rechtfertigte sich David Lemmovski. «Ich entschuldige mich für den saloppen Ausdruck. Ich wollte eigentlich sagen, dass ich Ihnen für Ihre kritische Einstellung mir gegenüber dankbar bin.»

«Okay, Sie Macho.» Susanne Tosh lächelte und kniff ihn kurz in den Arm.

Dann besprachen sie zusammen weitere Dossiers. Lemmovski und sein Team hatten noch ein wenig Zeit bis zu ihrem Flug nach Zürich. Vom Hotel aus benötigten sie mit dem Shuttle-Bus nur wenige Minuten zum Berliner Flughafen Tegel. Die Nähe zum Flugplatz war auch der Grund, weshalb sich David Lemmovski in diesem Hotel eingemietet hatte, das weder vom Bau noch von der Lage oder vom Namen her etwas Prunkvolles darstellte. Hier konnte er die Zeit bei seinen Aufenthalten in der deutschen Hauptstadt am besten nutzen. Für Lemmovski war Berlin ganz klar die europäische Hauptstadt, sämtliche internationalen Kontakte pflegte er hier. Er wohnte immer in der gleichen Suite, sie war das ganze Jahr hindurch für ihn bereit, für seine beiden Mitarbeiter Susanne Tosh und Gunther Friesen waren zwei gewöhnliche Zimmer reserviert. Am Berliner Lemmovski-Geschäftssitz war er sehr selten, da dieser in einem modernen Gewerbe- und Industriepark ausserhalb Berlins lag. Wie alle Lemmovski-Niederlassungen. Selbst die «Aktuell»-Redaktion lag nicht im Zentrum, sondern an der Peripherie der Schweizer Hauptstadt, in einem Betonbau aus den 70er-Jahren im Wankdorf-Quartier. Dafür war die Autobahn nahe, was für die Reporter ein Vorteil war. Büros gehörten nicht in eine Innenstadt, fand David Lemmovski. Dort sollte man wohnen und Gäste empfangen. Wie heute in Berlin. Für solch wichtige Meetings liess er immer feudale Konferenzsäle mieten, inklusive Catering-Service. So konnte er stundenlange Mittagessen, für ihn eine reine Zeitverschwendung, umgehen.

Kurz vor 15 Uhr mahnte Susanne Tosh zum Aufbruch.

«Wann sind wir wieder in Berlin?», fragte sie noch.

«Ich denke Donnerstag. Bis Freitagmittag, so wie heute.»

«Gut. Gunther Friesen und ich werden bis dann die eben besprochenen Geschäfte vorantreiben, damit wir die Papiere am Freitag unterzeichnen können. Möchten Sie am Donnerstagabend einen Gast empfangen?»

«Vielleicht. Ich lass es Sie wissen. Wo ist eigentlich Gunther?»

«Er wartet am Terminal. Gunther hat die Gäste beim Essen betreut und sie dann zu den Limousinen begleitet.»

«Sehr gut, wie immer», sagte David Lemmovski. «Sie und Gunther sind einfach die Besten.»

Eine Stunde später rollte die Maschine mit David Lemmovski und seinen beiden persönlichen Mitarbeitern an Bord zur Startbahn. David hatte sich vorgenommen, einige Zeitungen und Zeitschriften zu lesen. Doch nun schwirrte ihm das Gespräch mit Susanne Tosh im Kopf herum. Er hatte bis anhin nur die eiskalte Geschäftsfrau und mit Doktortitel ausgestattete Mitarbeiterin in ihr gesehen, das Karriereweib. Eigentlich wusste er gar nichts über sie, er hatte sich noch nie Gedanken gemacht, was Susanne Tosh in ihrer Freizeit machte. Ob sie eine Familie hatte? Wohl kaum. Sie arbeitete ja immer. Einen Mann? Einen Freund? Hatte sie etwa was mit Gunther?

Ach, was kümmert mich das alles, dachte er, Susanne ist eh nicht mein Typ. Zu rundlich. Wir Lemmovskis stehen auf grossgewachsene, schlanke Blondinen. Wie Emma. Hoffentlich halten sich meine Jungs an diese Tradition.

Bei diesem Gedanken lächelte er verschmitzt.

Er war stolz auf seine beiden Söhne Marcel und Rudolf.

Wenn alles nach Plan lief, würden sie ein tolles Erbe antreten können. Die «Lemmovski Group» für Marcel. Die zur Gruppe gehörende «Aktuell Media AG» für Rudolf.

Er selbst wäre dann längst in einer ganz anderen Position.

REDAKTION «AKTUELL», WANKDORF, BERN

«Renner, haben Sie keine Mittagspause gemacht?», fragte Emma Lemmovski.

«Nein, mache ich nie», erwiderte der Nachrichtenchef.

«Ist ungesund.»

«Wir brauchen doch exklusive Stories.» Renner schaute auf seine Monitore.

«Genau. Aber nicht so blutrünstige wie heute über Jasper.»

Renner wandte sich seiner Chefin zu: «Warum haben Sie denn die Story an der Sitzung nicht zerrissen, sondern gelobt?»

«Ich sagte Ihnen ja, dass wir das unter uns regeln.»

«Was heisst das?»

«Ich kann und will nicht auf Sie verzichten, Renner. Wir brauchen Schlagzeilen, Auflage und massenhaft Leute, die unsere Online-Ausgabe nutzen und unseren Mobile-Service abonnieren. Das bringt uns Werbeeinnahmen. Aber reissen Sie sich zusammen und schiessen nicht wieder übers Ziel hinaus, sonst …» Emma hielt inne.

«Sonst?», fragte Renner.

«Nichts.»

«Nichts? Natürlich.» Renner starrte wieder auf die Monitore. «Wie Sie ja an der Sitzung gesagt haben», sagte er in einem monotonen Ton, «wollen wir nicht unbedingt Gewinn machen, sondern wir kreieren täglich eine seriöse, intellektuelle, hintergründige, relevante, interessante, kulturelle Zeitung für …»

«Es reicht, Peter. Ich muss jetzt gehen. Wenn irgendetwas ist …» – Emma Lemmovski trat dicht an Renner heran, neigte sich etwas zu ihm hinunter und legte die rechte Hand auf seine Schulter – «… dann rufen Sie mich an.»

«Dann rufe ich Sie an. Nicht den Chefredakteur, sondern Sie.»

Emma Lemmovski lächelte ihn an und sagte schliesslich: «Genau.»

BERGWEG FAULHORN – SCHYNIGE PLATTE, PUNKT 2546

Alex war stinksauer. Oder eifersüchtig. Oder irgendwas dazwischen.

Er stand mit Fotograf Henry Tussot bei einer Weggabelung, die auf einer Tafel als Punkt 2546 bezeichnet war. Das hiess, sie waren auf einer kleinen Ebene, die 2546 Meter über Meer lag. Hier bog ein Weg Richtung Iseltwald ab, einer kleinen Ortschaft am Brienzersee. Ganz in der Nähe des Punktes 2546 war Alfred Jasper zu Tode gestürzt.

Das GPS-Programm auf dem Handy von Alex hatte sie zuvor tatsächlich an eine Stelle geführt, wo der Weg über einen Grat verlief und eine beinahe senkrecht abfallende Felsrinne durchquerte. Allerdings war der Wanderweg gut ausgebaut. Henry hatte die Stelle fotografiert und auch einige eindrückliche Bilder vom steilen Abhang gemacht. Spuren auf dem Wanderweg oder an den Felsen hatten sie jedoch keine gefunden.

Danach waren sie bis zur Männdlenen-Hütte abgestiegen und hatten sich dort bei der Hüttenwartin erkundigt, ob sie irgendetwas zum Unfall sagen könne. Doch sie wusste nicht mehr als Fritz Balmer vom Faulhorn. Alex fragte sie, wie man zur Stelle gelange, an der Jasper liegengeblieben war. Doch die Hüttenwartin riet ihm ab, der Abstieg ins Tobel sei viel zu gefährlich. Alex und Henry gingen dann auf dem Bergweg noch ein Stück weiter und erreichten auf der gegenüberliegenden Seite der Absturzstelle einen Ort, von dem aus man die Rinne, die Jasper hinuntergestürzt war, gut sehen konnte. Henry montierte sein 400-mm-Objektiv und drückte mehrmals auf den Auslöser. Die Grafiker könnten ja mit einem roten Pfeil die Stelle von Jaspers Sturz markieren, meinte Henry.

Dann stiegen sie wieder hinauf über die Männdlenen-Hütte bis zum Punkt 2546.

Obwohl die Nachmittagssonne brannte, gönnten sie sich keine Pause. Es war schon kurz vor 15 Uhr. Eigentlich müssten sie bereits Text und Fotos übermitteln. Doch irgendwelche Spuren hatten sie noch immer keine gefunden.

Aber nicht deswegen war Alex schlecht drauf. Sondern wegen der SMS von Sandra Bosone, die er soeben erhalten hatte.

«hi du», hatte sie getippt. «jasper war nicht mit frau unterwegs. aber mit hund, der heisst rolf. ist verschwunden. wir suchen ihn via zeitung, familie hat grad foto geschickt. also halt die augen offen, vielleicht findest du ihn ja, wär cool. k sandra.»

Das «k» stand für Kuss. Jede SMS oder jede Mail, die sich die beiden schrieben, war mit einem «k» versehen. Zwar hatten sie sich noch nie geküsst, doch das war nur eine Frage der Zeit. Davon waren zumindest die Redaktionskollegen überzeugt. Noch mehr die Kolleginnen. Denn obwohl Alex und Sandra liiert waren, knisterte es zwischen den beiden.

«He, Henry!», rief er dem Fotografen entnervt zu, der weiter vorne bei einer extrem abschüssigen Stelle im Gras lag, vorsichtig seine Kamera in die Tiefe hielt und pausenlos abdrückte. «Hast du etwas gefunden?»

«Non!», schrie Henry, der sich aufrappelte und zu Alex kam.

«Wir machen hier eh nur Drecksarbeit!», sagte Alex.

«Warum?»

«Die Story hat Sandra.»

Alex erzählte ihm von der Mitteilung.

Erneut piepste sein Handy. Diesmal hatte Sandra das Hundefoto geschickt.

«Das ist Rolf», sagte Alex und zeigte Henry das MMS mit dem Foto von Jaspers Hund.

«Toll», sagte dieser. «Ein grauer Schäfer in grauen Steinen. Da suchen wir uns ja dämlich. Vergiss den Köter. Ich mach jetzt noch ein weiteres Übersichtsbild, dann schicken wir das Ganze und hauen ab.»

«Ich frage erst Renner.»

«Wozu? Da ist nichts zu finden.» Alex’ gereizte Stimmung hatte sich auf Henry übertragen, dieser heizte sie zusätzlich an. «Was suchen wir hier eigentlich? Blut? Hautfetzen? Kleiderreste? Ist doch Schwachsinn!» Er machte eine Pause. Dann fuhr er noch erregter fort: «Und selbst wenn wir so etwas finden, dann drucken sie die Fotos davon eh nicht ab. Der Renner soll endlich mit seinem Scheiss-Boulevard aufhören.»

Alex’ Handy klingelte. Es war Renner. Aber Alex konnte kein Wort verstehen, die Verbindung brach nach wenigen Sekunden ab. Alex blickte auf das Display seines Handys und sah, dass er keinen oder, je nachdem, wo er gerade stand, nur einen ganz schwachen Empfang hatte.

«Auch das noch», sagte er, «für Kurzmitteilungen reicht das Signal offenbar, aber telefonieren kannst du vergessen. Demnach sind die, die Jasper entdeckt haben, auch weiter runter oder rauf, um zu telefonieren. Was meinst du, Henry, gehen wir ein Stück Richtung Faulhorn zurück?»

«Wir gehen zurück», antwortete Henry. «Wir sind hier sowieso fertig.»

Nach wenigen Minuten sah Alex, dass sein Handy wieder Empfang hatte. Er rief sofort Renner an.

«Na, Kleiner? Seid ihr abgestürzt? Oder geniesst ihr die Sonne und die gute Bergluft?»

Alex wusste, dass Renner scherzte und bloss hören wollte, ob er und Henry etwas Neues zu berichten hätten. Alex erzählte, dass sie zwar keine Spuren gefunden, aber die Unfallstelle mit grossem Aufwand von allen Seiten fotografiert hätten.

«Sehr gut, ihr zwei Bergler», sagte Renner. «Schreib alles auf und sende es mir gleich. Dann geht ihr hinunter ins Tal. Melde dich vorher aber nochmals.»

Alex suchte sich bei einem Felsen einen Schattenplatz, klappte auf seinem Handy die Tastatur auf und begann, in der Textdatei seine Infos niederzuschreiben. Er tippte mit den beiden Daumen. Er war recht schnell. Auf die Formulierungen achtete er nicht besonders, da er davon ausging, dass sein Text mit den Infos der anderen Reporter zusammengebaut wurde. Dies mochte Alex zwar nicht besonders. Aber ihm war auch klar, dass seine Recherchen nicht genügend Material für einen guten Artikel hergaben.

Henry Tussot lud seine Fotos von der Kamera auf den Laptop, prüfte jedes Bild, schmiss die meisten in den virtuellen Papierkorb. Zuletzt waren nur noch sechs seiner 154 Fotos übrig: Hüttenwart Balmer am Tisch, an dem Jasper mit den noch immer unbekannten drei Begleitern zu Mittag gegessen hatte, ein Close-up, auf dem nur Balmers Kopf zu sehen war, dann ein Bild vom Faulhorn als Totale, ein Foto der Unfallstelle, ein Blick in die Tiefe und ein Übersichtsbild von der anderen Seite des Tobels. Henry schloss das Modem an den Laptop an, stellte die Verbindung zum Internet her und begann zu senden.

Dies dauerte.

Alex tippte. Henry fummelte an seiner Kamera-Ausrüstung herum. Plötzlich hörten sie einen Helikopter. Das Rattern wurde schnell lauter, und schon tauchte der Heli hinter dem Berggrat auf, flog tief über sie hinweg und schwenkte Richtung Tal ab.

«Sieh dir das an, Alex, das glaube ich ja nicht!», rief Henry.

Aber Alex schaute nicht einmal auf, zu sehr war er in seine Arbeit vertieft. «Henry, hast du etwas zu trinken dabei?», fragte er dann.

Henry wunderte sich zwar etwas, aber Schreiberlinge waren für ihn eh seltsame Wesen.

«Nein, leider nicht. Habe selbst furchtbar Durst. Aber sag mal, hast du den Helikopter nicht bemerkt?»

«Doch», sagte Alex, starrte aber weiter auf den Mini-Bildschirm des Handys und tippte weiter.

«In dieser Maschine sass Jonas Haberer!»

Nun blickte Alex auf: «Spinnst du?»

«Natürlich war das Haberer!»

«Unser Politik-Chef?»

«Ja, klar. Habe doch seine Fett-Frisur gesehen!»

«Unmöglich. Du konntest doch nicht sehen, wer in diesem Helikopter sass.»

«Ich bin Fotograf. Ich sehe so was!», sagte Henry bestimmt. «Ruf Renner an.»

«Keine Zeit», sagte Alex und tippte mit seinen Daumen weiter.

Henry zückte sein Handy und rief Bildchef Sébastien Constantin an.

«Seid ihr jetzt völlig übergeschnappt?», schimpfte Henry. «Schickt uns tatsächlich noch den Haberer hier hinauf, natürlich im Helikopter. Und wir beiden Arschlöcher machen hier diesen Quatsch, ich habe die Nase voll, Séb …»

«Beruhige dich, Henry», sagte Séb. «Wo soll Haberer sein?»

Henry machte noch einmal seinem Ärger Luft und betonte immer wieder, dass er endgültig genug habe.

Séb ging gar nicht darauf ein: «Haberer war sicher nicht dort. Die dünne Bergluft tut deinem Gehirn nicht gut. Henry, wir warten gespannt auf deine Bilder.»

«Die laufen gerade durch.»

Henry klickte sich weg, nörgelte noch etwas herum, schaute dann gelangweilt in seinen Computer und beobachtete, wie der Balken, der den Anteil gesendeter Foto-Dateien anzeigte, immer dunkler wurde.

Alex beendete seinen Text und schickte ihn via Internet an News-Chef Peter Renner. Als auch Henry mit der Übertragung fertig war, packten die beiden ihre elektronischen Utensilien zusammen und berieten, wie sie am schnellsten vom Berg ins Tal kämen. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder sie marschierten abwärts zur Schynige Platte und tuckerten mit der steilen Zahnradbahn nach Wilderswil. Alex hätte von dort mit dem Zug via Interlaken nach Bern fahren können, Henry hingegen hätte erst mit dem Zug nach Grindelwald zurückfahren müssen, um dort sein Auto zu holen. Die zweite Möglichkeit war, bis zur Abzweigung zum Faulhorn zurückzusteigen, um zur Bergstation der Firstbahn zu gelangen, im Prinzip also den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren, ohne den Abstecher zum Faulhorn hinauf. Alex und Henry entschieden sich für diese Variante. Eigentlich hatte Henry alleine entschieden und Alex genötigt, mit ihm zu kommen. Denn er war überzeugt, so am schnellsten zu seinem Auto zu gelangen. Und Alex musste mit ihm mitkommen, weil Henry Angst davor hatte, «in dieser Todeszone der Alpen jämmerlich zu krepieren», wie er sagte.

Obwohl der Weg steil bergauf führte und sie schon eine anstrengende Tour hinter sich hatten, schlugen sie wiederum ein forsches Tempo an. Alex ging im Kopf noch einmal seinen Text durch. Da fiel ihm ein, dass er etwas vergessen hatte. Er blieb stehen, kramte sein Handy hervor und tippte eine SMS an Peter Renner.

«Hey, Alex, was machst du jetzt schon wieder?», fragte Henry leicht genervt. Er wollte so schnell wie möglich zurück nach Bern.

«Habe in meinem Text zwei Dinge vergessen.»

«Was denn?»

«Findest du nicht auch, dieser Bergweg ist ziemlich sicher?»

«Doch, eigentlich schon. Jasper war ja besser ausgerüstet als wir.»

«Eben.»

«Und was ist das Zweite, das du vergessen hast?»

«Die drei Schüsse.»

«Drei? Ich habe nur zwei gehört», sagte Henry.

«Spielt ja keine Rolle. Zwei oder drei.»

Als sie die Schüsse gehört hatten, hatten sie kurz darüber gesprochen. Henry hatte gefragt, ob Jagdsaison sei. Alex, der in den Walliser Bergen aufgewachsen war und sich einigermassen in der Jagd auskannte, klärte Stadtmensch Henry auf, dass zu dieser Zeit nicht gejagt werden dürfe. Aber vielleicht war es ja eine ausserordentliche Jagd, vielleicht musste der Wildhüter ein schwer verletztes Tier töten, oder es trieb sich sogar ein Wolf herum oder ein Bär, oder es hatte eine ganz andere Bewandtnis, vielleicht war sogar das Schweizer Militär irgendwo bei einer Übung. Jedenfalls kümmerten sie sich nicht weiter darum, einen Zusammenhang mit dem Unglück Jasper hielten sie für ausgeschlossen.

Deshalb waren sie auch nicht mehr sicher, ob es zwei oder drei Schüsse gewesen waren. Alex hatte während seines Journalistikstudiums ein Praktikum bei der Presseabteilung der Zürcher Kantonspolizei absolviert. Dort hatte er gelernt, dass Zeugenaussagen immer mit grösster Vorsicht zu verwenden seien. Der Mensch hört oder sieht etwas, kann dies aber in den meisten Fällen nicht wirklich sachlich wiedergeben, da er das Gesehene oder Gehörte automatisch interpretiert.

Alex schickte die SMS ab. Eine Minute später klingelte sein Handy.

«Was ist das mit diesen Schüssen?», fragte Peter Renner aufgeregt.

«Nichts Besonderes», antwortete Alex. «Ich dachte, ich melde es dir einfach der Vollständigkeit halber.»

«Wann habt ihr diese Schüsse gehört?»

«Das muss um die Mittagszeit herum gewesen sein.»

«Nein, es war viel später», sagte Henry zu Alex.

Auch das hatte Alex in seiner Zeit bei der Polizei gelernt: Zeitangaben von Zeugen konnten extrem divergieren.

«Hey, Kleiner, da hat jemand Jaspers Hund gejagt», sagte Renner ziemlich laut. So laut, dass es sogar Henry hören konnte. Er verdrehte die Augen.

«Und warum sollte jemand auf Jaspers Hund schiessen?», fragte Alex.

«Das weiss ich auch noch nicht», antwortete Renner. «Aber wir werden es herausfinden.»

«Aber wie wollen wir das denn anstellen, hier oben …»

«Hey, Alex!», rief Henry dazwischen. «Sag dem Renner, dass wir Haberer gesehen haben!»

«Was sagt Henry?», fragte Renner, der den Zwischenruf des Fotografen gut gehört hatte. «Haberer ist auch da oben?»

«Ja… also nein…, vielleicht», versuchte Alex zu erklären. «Henry will Haberer in einem Helikopter gesehen haben.»

«Und du?», fragte Renner.

«Ich war am Schreiben und habe nichts gesehen.»

«Na ja», sagte Renner. «Ihr zwei bleibt auf alle Fälle dort oben und sucht den Hund. Das ist sowieso eine gute Idee. Falls der Hund nicht auftaucht, können wir morgen eine Umfrage bei Wanderern machen. Du weisst ja, wir lancieren morgen in der Zeitung die Suche nach dem Hund.»

«Wir sollen hier oben bleiben?», fragte Alex nochmals nach.

Nun war es um Henry geschehen: «Kommt nicht in Frage! Himmelarsch! Der Renner hat eine Macke! Ohne mich. Ich haue ab. Ich habe noch andere Termine. Ehrlich, diese Scheisse könnt ihr alleine machen!»

«Ist Henry gerade am Ausflippen?», fragte Renner belustigt.

«Ja, so etwas in der Art», sagte Alex.

«Soll sich mal wieder einkriegen, ihr bleibt dort oben. Basta. Geht zurück zum Faulhorn, macht euch einen netten Abend. Ich rufe gleich Hüttenwart Balmer an. Er hat sicher noch irgendwo zwei Betten für euch. Also bis später.»

Henry war bereits losmarschiert.

«Henry», rief Alex. «Jetzt bleib mal cool.»

«Nein.» Er streckte Alex die Fototasche hin. «Da, nimm meinen Fotoapparat. Mach den Quatsch alleine.»

Später rief Henry Tussot seinen Chef Sébastien Constantin an. Der liess ebenso wenig mit sich diskutieren wie Peter Renner. Séb machte Henry klar, dass diese Story mit grösster Priorität behandelt würde. Da fügte sich Henry und trottete mit Alex Richtung Faulhorn.

Alex gefiel die Sache. Er fühlte sich als Reporter. Das war das, was er schon immer werden wollte.

Was ihm weniger gefiel, war die SMS seiner Freundin Mara: «Lieber Alexander, Du hast mir am Wochenende gefehlt. Deshalb bin ich auf dem Weg zum Bahnhof in Brig. Werde Dich besuchen. Wann hast Du Feierabend?»

Mara war eine der wenigen, die sich auch in SMS-Texten an die Rechtschreibung hielten. Dies hing nicht nur mit ihrer Arbeit als Lehrerin zusammen, Mara wehrte sich grundsätzlich gegen eine Verluderung der Sprache. Deshalb nannte sie Alex auch immer bei seinem vollen Namen Alexander. Mara pflegte zudem ihren Dialekt, aus ähnlichen Gründen. Die meisten Oberwalliser sprachen zwar noch Walliserdeutsch, trotzdem wurde es langsam verwässert. Auch Alex, der lange in Zürich und nun in Bern lebte, sprach nicht mehr ein lupenreines Walliserdeutsch.

Wohl oder übel musste Alex nun Mara mitteilen, dass er nicht nach Hause komme. Natürlich würde sie das verstehen, es war ja nicht das erste Mal, dass er sie wegen «Aktuell» vertrösten musste. Trotzdem war beiden längst klar, dass ihre Beziehung seit seinem Engagement bei «Aktuell» in eine kritische Phase geraten war. Denn seit er hin und wieder auch am Wochenende arbeiten musste, war die gemeinsame Zeit noch rarer geworden. Er hatte Mara zwar einmal den Vorschlag gemacht, sie solle doch in Bern einen Job annehmen, war aber nicht unglücklich, dass sie dies ablehnte. Wahrscheinlich, so vermutete Alex, hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, er würde bald ins Wallis zurückkehren und bei der dortigen Lokalzeitung einsteigen. Der Chefredakteur des «Walliser Echos» war mit Maras Familie befreundet. Für Alex wäre damit der Weg für eine schöne Journalistenkarriere im Wallis geebnet. Alex sagte es Mara zwar nicht direkt, doch für ihn war dies keine Option. Er wollte höher hinaus. Für ein nationales Blatt schreiben. Wie jetzt für «Aktuell». Vielleicht würde er sogar mal den Sprung zu einer Zeitung in Deutschland schaffen.

Er schrieb Mara, dass er auf dem Faulhorn bleiben müsse.

Mara simste zurück, dass dies zwar schade, aber in Ordnung sei. Sie würde ihn vermissen, wünsche ihm aber viel Erfolg für die Story.

Alex schrieb: «vermisse dich auch sehr».

Aber das tat er nicht.

BUONAS, GEMEINDE RISCH AM ZUGERSEE

Die Pool-Party in der Lemmovski-Villa endete mit Tränen.

Als Emma Lemmovski vor einer halben Stunde von ihrem Besuch bei der «Aktuell»-Redaktion in Bern zurückgekommen war, hatte sie sich kurz am Schwimmbecken gezeigt. Die Stimmung war zu diesem Zeitpunkt fröhlich und ausgelassen. Weder ihre Söhne noch die fünf anderen Kinder nahmen gross Notiz von ihr. Sie spielten eine Art Wasserball, jedenfalls balgten sich sämtliche Kids um den Ball, rissen und zerrten daran, tauchten ab und wieder auf. Da Emma sah, dass alles in Ordnung war und Jana, ihr Kindermädchen, die Lage beobachtete, zog sie sich in ihr Büro zurück. Sie war nicht der Typ Mutter, der sich ins Spiel der Kinder einmischte.

In ihrem Büro checkte sie die Mails, beantwortete sie und zappte danach auf die «Aktuell-Online»-Page.

Aufgemacht war natürlich die Jasper-Story.

Titel: «Jaspers Tod noch immer ein Rätsel»

Emma Lemmovski wurde ein wenig unruhig, weil sie wieder wilde Spekulationen befürchtete. Doch der Artikel war neutral gefasst. Ein Polizeisprecher wurde zitiert. Die genaue Unfallursache sei zwar nach wie vor nicht geklärt, aber nach dem Stand der Ermittlungen müsse man davon ausgehen, dass Jasper sehr unglücklich gestolpert oder ausgerutscht sei und dann das Gleichgewicht verloren habe. Fremdeinwirkung könne praktisch ausgeschlossen werden. Ob Jasper ein gesundheitliches Problem gehabt habe, könne noch nicht gesagt werden.

Danach folgte eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse. Aufgemacht war der Text mit Fotos der Unglücksstelle von oben, die offenbar ein Agenturfotograf aus einem Helikopter geschossen hatte.

Ein zweites Foto zeigte Alfred Jasper. Emma Lemmovski klickte darauf und wurde zu einer Diashow geführt, die 15 Bilder aus Jaspers Leben zeigte.

Neben dem Hauptartikel war ein zweiter Bericht.

Titel: «Wege sind sehr sicher»

Text: «‹Aktuell›-Reporter schritten den Weg, den Alfred Jasper am Sonntag wohl zuletzt gegangen war, heute ab. Sie konnten sich davon überzeugen, dass die Bergwege zwar schmal und steil, aber in bestem Zustand sind. ‹Es müssen wirklich sehr unglückliche Zufälle zusammengekommen sein, die zu diesem schrecklichen Sturz geführt haben›, berichtet Reporter Alexander Gaster exklusiv von der Unfallstelle. ‹Die Wanderung ist als schwierig gekennzeichnet, doch Jasper war gut ausgerüstet und ein sehr erfahrener Berggänger.›»

Emma Lemmovski fand diesen Text in Ordnung, obwohl er für sie rein sprachlich keine Meisterleistung darstellte. Aber mit den Online-Texten war sie nachsichtig, diese mussten vor allem schnell aufgeschaltet werden.

Bebildert war dieser Artikel mit den Fotos von Henry Tussot. Auch das betrachtete Verlegerin Emma Lemmovski als gelungen.

Weniger Freude hatte sie an einer Box beziehungsweise einem Link, der zu einem kurzen Film führte.

Titel: «So volksnah war Alfred ‹Fredu› Jasper»

Der Clip zeigte Alfred Jasper ausgelassen in einer Gartenwirtschaft, wie er ein Bier trank und mit anderen Gästen schwatzte und lachte. Das Filmchen war offenbar ein Ausschnitt aus einem längeren Fernsehfilm, der gedreht worden war, als Alfred Jasper zum Nationalratspräsidenten gewählt wurde. Das war vor fünf Jahren gewesen, Emma erinnerte sich daran. Denn sie und ihr Ehemann David waren damals zur Feier in Jaspers Wohnort Bönigen eingeladen. Jasper war, wie in der Schweiz üblich, nur ein Jahr lang Präsident. Ein fleissiger Web-Redakteur hatte wohl diesen TV-Beitrag ausgegraben, eine Sequenz ausgeschnitten und ins Netz gehängt.

Na ja, dachte Emma, Online-Journalismus.

Ein weiterer Artikel befasste sich mit Jaspers politischem Schaffen. Dieser Text stammte nicht von Politik-Chef Haberer, sondern war ein Bericht der Schweizerischen Depeschenagentur, was Emma erstaunte, aber nicht weiter beschäftigte. Dann kam ihr in den Sinn, dass Haberer schon an der Morgenkonferenz nicht anwesend gewesen war. Dies war zwar nicht aussergewöhnlich, sie nahm sich trotzdem vor, sich später bei Chefredakteur Muller über Haberer zu erkundigen.

Zum Schluss wollte sie noch die Schlagzeilen der anderen Themen lesen, doch plötzlich schrien die Kinder.

Sie rannte sofort zum Pool.

Kein Kind war mehr im Wasser. Mehrere weinten, die andern plapperten durcheinander. Jana versuchte, die Kinderschar zu beruhigen.

Als Jana Emma erblickte, rief sie: «Im Wasser liegt eine tote Ratte!»

Tatsächlich, Emma sah sie nun auch. Das Tier lag mitten im Becken auf dem Grund.

«Geh mit den Kindern ins Haus», sagte Emma zu Jana. «Sie sollen sich abtrocknen und anziehen. Danach kannst du ihnen Tee oder Schokolade geben.»

Die Kinder folgten Jana und beruhigten sich.

Emma Lemmovski zog ihre Schuhe, den Hosenanzug und die Bluse aus. Nur mit ihrem weissen BH mit Blumenmuster und dem dazu passenden String bekleidet, stieg sie in den Pool, tauchte unter und kletterte wenige Sekunden später aus dem Becken. In der rechten Hand hielt sie die Ratte am Schwanz. Jemand hatte dem Tier eine Schnur um den Hals gebunden und einen kleinen Stein daran befestigt. Mit schnellen Schritten lief Emma zu den Blumen- und Gemüsebeeten, warf die Ratte auf den Kompost, holte sich danach ihre Kleider und verschwand im Haus.

Im Bad schnappte sie sich ein Frotteetuch, wickelte es um ihre Taille und ging in die grosse Küche, wo die Kinder Tee und Schokolade tranken und Feingebäck verschlangen.

«Hi Kids!», rief Emma. Aus ihren Haaren tropfte das Wasser und klatschte auf den weissen Küchenboden. «Na, habt ihr den Schock verkraftet?»

«Das war nicht so schlimm!», rief Emmas Sohn Marcel.

«Ist die Ratte tot?», fragte ihr jüngerer Bub Rudolf.

«Ja, keine Angst, die kommt nicht wieder», sagte Emma.

Die anderen Kinder schwiegen, sie schauten Emma bloss an.

«Nun, was wisst ihr denn über die Ratte?», fragte Emma. «Habt ihr gesehen, wie sie ins Schwimmbad gefallen ist?»

«Nein», riefen alle.

Bis auf Marcel, den Emma im Auge behielt.

«Tja, die hatte wohl auch heiss, konnte aber nicht schwimmen», sagte Emma. Die Kinder lachten.

Bis auf Marcel.

Um 16.45 Uhr schickte Emma Lemmovski die Nachbarskinder nach Hause. Marcel und Rudolf mussten auf ihre Zimmer gehen, um die Hausaufgaben zu machen.

Emma Lemmovski wechselte die Unterwäsche, zog Jeans und ein T-Shirt an und rief danach von der Küche aus die «Aktuell»-Redaktion an. Da Chefredakteur Muller nach zweimal Klingeln nicht abnahm, was Emma fürchterlich nervte, wählte sie die Nummer des stellvertretenden Chefredakteurs Christian Reich. Dieser nahm sofort ab.

«Ja, Frau Lemmovski?»

«Ist der Artikel über Jasper schon fertig?», fragte Emma.

«Nein, das dürfte schon 19 Uhr werden.»

«Gut. Mailen Sie ihn mir bitte.»

«Natürlich.»

«Und sagen Sie Renner nichts davon.»

«Natürlich.»

«Ist Haberer mittlerweile aufgekreuzt?»

«Nein. Soll ich ihm etwas ausrichten?»

«Nein, danke.»

Wenig später klopfte Emma an die Türe ihres Sohnes Marcel.

«Geht es mit den Aufgaben?»

«Ja, schon fertig, waren ganz einfach», sagte Marcel triumphierend.

«Ist schon merkwürdig, Marcel. Heute morgen bei meinem Training im Wasser lag noch keine Ratte im Pool.»

«Die ist wohl reingefallen, als du weg warst», argumentierte Marcel.

«Einfach so reingefallen?»

«Hast du vorhin selbst gesagt.»

«Ja, vor deinen Freunden.»

«Na, und jetzt?»

«An ihrem Bauch war ein Stein festgebunden.»

«Wäh!», machte Marcel nur.

«Wenn du die Ratte nicht da reingeschmissen hast, um die anderen zu erschrecken, dann müssen wir der Sache nachgehen.»

«Ich habe sie aber nicht reingeschmissen.»

«Bist du dir da ganz sicher?»

«Ja, ganz.»

Emma nahm ihren Sohn in die Arme. Sie hatte plötzlich ein ungutes Gefühl.

REDAKTION «AKTUELL», WANKDORF, BERN

Punkt 17 Uhr versammelten sich die Abteilungsleiter der «Aktuell»-Redaktion im Konferenzzimmer. Mit dabei war auch Sandra Bosone. Sie war von News-Chef Peter Renner aufgeboten worden, weil sie nach der Sitzung die verschiedenen Recherchen von Alex Gaster und Flo Arber sowie ihre eigenen Erkundigungen nach den Vorgaben der Chefredaktion zu einem süffigen Artikel zusammenbauen sollte.

Geleitet wurde das Meeting von Christian Reich, dem stellvertretenden Chefredakteur.

«Don Muller hat eine Verlagsverpflichtung», sagte Reich und kam dann gleich zur Sache. «Die morgige Ausgabe haben wir schon im Verlauf der letzten Stunden recht gut planen können. Gibt es noch News?»

«Es gab einige Reaktionen auf Sandras Spendengeschichte in der heutigen Ausgabe», meldete Peter Renner. «Aber nichts Berauschendes. Das übliche Blabla einiger Politiker und Experten. Ich schlage vor, wir machen daraus eine etwas längere Kurznachricht.»

«Einverstanden. News aus den anderen Abteilungen?»

Die angesprochenen Redakteure schüttelten den Kopf.

«Kommen wir also zu Jasper.»

Bildchef Sébastien Constantin drückte einige Knöpfe. Das Licht ging langsam aus, von der Decke schwebte der riesige Bildschirm, worauf in kurzen Abständen die Fotos von Henry Tussot erschienen. Danach das Bild von Jaspers Hund Rolf.

«Jö», machte Unterhaltungschefin Jeannette Kohli, hielt aber sofort die Hand vor den Mund.

Schliesslich zeigte Sébastien Constantin noch die Agenturfotos aus dem Helikopter. Danach drückte er wieder die Knöpfe, das Licht ging an, und der Bildschirm wurde an die Decke gezogen.

«Wir haben also keine aktuellen Fotos der Familie?», fragte Christian Reich.

«Nein», antwortete Renner knapp.

«Warum nicht?»

«Weil die Familie nicht wollte.»

«Ach ja?» Dies klang ziemlich vorwurfsvoll, was Sandra fürchterlich nervte.

«Wir haben Zitate des Sohnes und die Story mit Jaspers Hund», sagte Renner ruhig.

«War denn jemand bei Jaspers?», insistierte Reich.

«Nein. Wir konnten nur telefonieren.»

«So», sagte Reich. Dann holte er Luft und fügte süffisant hinzu: «Wir haben es also gar nicht versucht, bei Jaspers ein Interview und ein paar Fotos zu machen?»

Sandra kochte vor Wut. Doch Renners Blick sagte ihr: Halt die Schnauze, Mädchen!

«Doch, am Telefon», sagte Renner. «Es lag nicht mehr drin. Die Hunde-Story ist prima, herzerweichend, aber nicht reisserisch. Wir helfen Jaspers, in der Tragödie ihren Liebling zu finden.»

Renners Coolness war nur gespielt. Er hasste dieses Getue. Reich führte sich auf, als sei er die Lemmovski höchstpersönlich, fand Renner. Liegt wohl daran, dass beide Deutsche sind, sagte er sich. Aber er würde sich nicht provozieren lassen. Er war zu lange Journalist und wusste genau, woher der Wind wehte. Chefredakteur Muller war wegbefördert worden, das war für Renner klar. Die Lemmovski wollte mehr Kontrolle und mehr Einfluss aufs Blatt nehmen. Also schob sie Muller, mit dem sie sowieso nie richtig warm geworden war, nach oben, damit sie ihren Liebling Reich besser steuern konnte. So hatte sie ohne Aufruhr alles viel besser im Griff. Vor allem hatte sie ihn, Renner, besser im Griff. Aber da würde sie sich noch täuschen. Noch halb in Gedanken versunken, hörte Renner plötzlich ganz erstaunt, wie Reich sagte: «Gut, Peter, das ist eigentlich wahr. Also los, machen wir das Layout.»

Falsche Ratte, dachte Renner.

Wieder drückte der Bildchef einige Tasten, das Licht ging erneut aus, und auf dem hinuntergefahrenen Bildschirm erschien die Titelseite des «Aktuell».

Das grosse Foto stammte von Henry und zeigte die Unfallstelle. Ins Bild montiert waren ein roter Pfeil, der auf den Ort von Jaspers Sturz zeigte, und ein kleines Foto von Jasper. Darunter, freigestellt, Hund Rolf. Titel und Texte waren noch mit Blindtext aufgefüllt, also mit zusammenhangslosen Wörtern und Buchstaben.

«Das ist meine Idee für die Geschichte», sagte Chefgrafiker Alphonse Crevoisier. «Mit diesem Layout erzählen wir im Prinzip die ganze Story, wie sie mir Renner vor dem Meeting geschildert hat.»

«Nein, nein, nein», mischte sich Reich sofort ein. «Die Hundestory bringen wir auf Seite 3.»

Grafiker Alphonse schnitt den Hund raus und ordnete die anderen Bilder neu.

«Viel besser», sagte Reich.

«Nun, ich finde, die Seite ist sehr fad», gab Alphonse zu bedenken. «Ohne Hund ist das alles sehr düster.»

«Ist ja eine düstere Geschichte.»

«Aber wir wollen die Leser nicht erschrecken.»

«Wir machen das so», beendete Reich die Diskussion.

Er blickte zu Renner: «Schreibst du die Story?»

«Nein, Sandra.»

«Okay, dann sind wir mal gespannt.»

«Wie meinen Sie das?», fragte Sandra, die sich gleich wieder aufregte.

«Wie ich es sagte, Frau Bosone.»

Er betonte ihren Nachnamen. Damit signalisierte er, dass er mit ihr nicht per Du war und dass dies wohl noch länger so bleiben würde. Unter den Journalisten war eigentlich das Du üblich. Ausser bei Nachwuchskräften, diese wurden von den Chefs lange gesiezt. Das hatte Tradition und stammte aus der Zeit, als «Aktuell» noch eine Kaufzeitung war und sich die damaligen Chefredakteure gerne mit den Machern sogenannter Qualitätszeitungen wie der Neuen Zürcher Zeitung verglichen. News-Chef Renner und Unterhaltungschefin Jeannette Kohli hielten nichts davon und stellten sich immer gleich mit Vornamen vor.

Der stellvertretende Chefredakteur Reich hatte ausserdem die Angewohnheit, dass er seine Artikel mit «Dr. Christian Reich» unter- oder überschrieb. Worin er den Doktor gemacht hatte, wusste niemand und interessierte auch niemanden. Die meisten Redakteure hielten es für altmodisch und peinlich.

Plötzlich platzte Jonas Haberer mit einem lauten «Sorry» in den Raum. Er stapfte in seinen Cowboystiefeln, die ziemlich staubig waren, durch das ganze Konferenzzimmer. Klack – klack – klack. Dann liess er seinen schweren Körper in einen Stuhl fallen und strich sich die Haare, die noch ungepflegter waren als sonst, aus dem Gesicht.

«Ich bin zu spät. Aber ich habe News!»

«Toll, was für welche?», fragte Reich.

Sandra kam es so vor, als sei Reich beim Auftritt des Politik-Chefs ein gutes Stück kleiner geworden. Kotzbrocken gegen Wichtigtuer, dachte sie und blickte zu Peter Renner, der immer noch wie in Gips gegossen dasass, nun aber lächelte.

Haberer kramte aus seiner Westentasche ein gefaltetes Papier hervor und warf es auf den Tisch.

«Da ist der Knaller», sagte Haberer mit klangvoller Stimme. Und zu Renner meinte er: «Sorry, Peter, ich konnte dich nicht mehr vorinformieren. Habe den Wisch soeben von meinem Informanten gemailt bekommen.»

«Wir planen gerade die Jasper-Story», sagte Reich. «Wenn du also eine Story hast, die wir nicht auf morgen verschieben können, muss sie schon umwerfend sein. Denn die Jasper-Story ist wirklich …»

«Das hat mit Jasper nichts zu tun», warf Haberer ein. «Das ist besser! Und schieben kann man diesen Brüller auf keinen Fall, denn andere Journalisten sind ebenfalls daran. Aber ich habe sie natürlich als Erster.»

Sandra konnte sich nicht vorstellen, was am heutigen Tag die Jasper-Story noch toppen könnte. Trotzdem machte sie sich Sorgen um ihren Aufmacher. Falls Haberer tatsächlich einen Knaller hatte, wäre sie mit ihrem Jasper-Artikel weg von Seite 1.

«Ist das die Sache, die du mal kürzlich erwähnt hast?», fragte Peter Renner. «Hast du sie jetzt hart?»

«Nein, das ist eine andere. Aber diese hier ist knallhart!», prahlte Haberer.

«Na, dann schiess endlich los.» Reich versuchte, Haberers Show ein bisschen zu beschleunigen.

«Okay», setzte Haberer an. «Stellt euch vor, unsere Armee, das Fundament unserer Demokratie, anerkannt vom Volk und von der ganzen Welt, diese Armee also, die uns durch den 2. Weltkrieg, durch den Kalten Krieg …»

«Mach einen Punkt», unterbrach Unterhaltungschefin Jeannette Kohli den Politik-Chef. «Dein Pathos ist völlig daneben. Die Armee steckt seit Jahren in der Krise und sucht nach irgendwelchen Feinden und Aufgaben. Und auch das Volk ist gespalten und steht überhaupt nicht dahin …»

«Kommt zur Sache», mahnte Reich noch einmal.

«Gut», sagte Haberer, lehnte sich zurück und schrieb mit der rechten Hand grosse Buchstaben in die Luft.

«Die Schlagzeile lautet», sagte er endlich, «Armee plant, sich selbst abzuschaffen!»

BERGHOTEL FAULHORN

Auf 2681 Metern über Meer herrschte reger Betrieb. Zwar waren die Asiaten und die anderen Tagestouristen längst gegangen, doch nun bevölkerten Wanderer, Bergsteiger, Mountainbiker und Gleitschirmflieger das Faulhorn. Sie waren heraufgekommen, um hier oben zu übernachten. Sie kamen im Berghotel an, deponierten in einem separaten Raum ihre Sportgeräte – Walking-Stöcke, Rucksäcke, Bikes, Gleitschirme –, zogen die Schuhe aus und schlüpften in Hüttenfinken. Danach gingen sie ins Massenlager oder tranken auf der Terrasse einen Tee, manche auch ein Bier oder einen Weisswein.

Alex und Henry fielen allein schon deshalb auf, weil sie nicht wie Bergsportler gekleidet waren. Alex trug Jeans, statt einer Windjacke oder einem Pullover hatte er nur eine schwarze Jeansjacke dabei, die er sich wegen der Hitze um die Hüften gebunden hatte. Er hatte nicht mit einem längeren Aufenthalt in den Bergen gerechnet und sich deshalb am Morgen für ein Outfit entschieden, in dem er durchaus zu einem Interview im Büro hätte erscheinen können. Henry trug Marken-Jeans und ein weisses Hemd. Die Bügelfalten waren zwar noch erkennbar, das Hemd jedoch war zerknittert und durchgeschwitzt. Jacke hatte er keine dabei, denn das edle Veston hatte er im Auto gelassen. Henry hatte eine kurze Nacht hinter sich, da er an einer Party für die «Aktuell»-Unterhaltungsabteilung einige Prominente hatte fotografieren müssen. Weil er im Laufe des Abends ziemlich viel getrunken hatte, schlief er einige Stunden im Auto. Danach wollte er nach Hause, aber sein Chef Sébastien Constantin hatte ihn vorher geweckt und mit dem Ausflug in die Berge überrascht.

Die beiden Reporter fielen aber vor allem auf, weil Henry einen Wutanfall bekam, als Berghotelwirt und Hüttenwart Balmer ihnen nun mitteilte, dass es erstens keine Einzelzimmer gebe und zweitens die wenigen Zwei- und Dreibettzimmer bereits belegt seien.

«Das heisst, wir sollen im Massenlager bei diesen stinkenden Bergfuzzis pennen?», schnaubte Henry.

«Tut mir leid, ich habe es Peter gesagt, als er mich vorhin angerufen hat», sagte Balmer.

«Was, der Renner, der hat das gewusst? Und wir Idioten kraxeln da hinauf? Und jetzt müssen wir alles wieder hinunter, und bis wir an der Bergstation sind, fährt diese Scheissbahn nicht mehr.»

«Genau, die macht Schluss», sagte Balmer. «Es ist bald 18 Uhr.»

«Das darf nicht wahr sein!»

«Wir sind in den Bergen, nicht in Zürich.»

«Diese Scheisse, oh Mann, ich reiss dem Renner den Kopf ab.»

Henry liess seine Fototasche und seinen Rucksack mit dem Laptop einfach stehen und ging hinaus.

Alex wollte sich bei Balmer entschuldigen.

«Vergiss es, dein Fotograf ist eben ein Stadtmensch», sagte Balmer. «Also willkommen, ich bin Fritz. Kenne Peter Renner von früher.» Er lachte kurz, fuhr mit der Hand erst über seinen dunklen Dreitagebart, danach durch die halblangen, schwarzen, gelockten Haare. Dann sagte er: «Damals war er noch Sportreporter und ich ein irrer Skifahrer.»

«Oh, hoffentlich erfolgreich», sagte Alex.

«Ja, im Training und bei den Zwischenzeiten der Rennen. Dann bin ich dummer Hund meistens entweder an einem Tor vorbeigerast, oder ich habe mich mit einem Salto mortale von der Piste verabschiedet. Na ja, irgendwann hatte ich die Verletzungen satt, übernahm das Sportgeschäft meiner Eltern, verdiente ganz gut und kaufte dann dieses Berghaus.»

«Tja, und Renner ist News-Chef bei ‹Aktuell› geworden.»

Ja, ja, der Peter, auch ein verrückter Kerl. Hatten es immer lustig. Ich trank abends eben gerne ein, zwei, drei Biere. Die anderen Jungtalente gingen ins Krafttraining oder ins Bett. Ich machte Party. Oft sogar mit Peter.»

Fritz Balmer steckte seine grossen Hände in die Taschen seiner beigen Cargo-Hose und schwieg einen Moment.

Er träumt wohl von alten Zeiten, dachte Alex.

Dann sagte Balmer: «Renner erzählte mir, ihr sucht Jaspers Hund.»

«Ja, aber ich weiss nicht, wie wir das anstellen sollen.»

«Wir gehen morgen in aller Frühe los. Ich komme mit euch. Im Herbst gehe ich jeweils auf die Jagd, ich kenne hier oben jeden Winkel. Den finden wir schon.»

«Super. Hast du heute die Schüsse auch gehört?»

«Nein, ich war im Keller und habe Leitungen repariert. Aber ein Wanderer hat mich schon danach gefragt.»

«Was könnten diese Schüsse bedeuten, ist das normal?»

«Nein, ich wundere mich auch.»

«Na ja …»

«Du meinst doch nicht, Jaspers Hund wurde erschossen?», fragte Balmer.

«Renner denkt das wohl.»

«Dann sollten wir das auch denken.»

Alex packte Henrys Sachen und ging auf die Terrasse. Dort sass Henry an einem Tisch und strahlte über das ganze Gesicht.

«Was ist denn mit dir los?», fragte Alex. «Nicht mehr sauer?»

«Oh, nein, alles bestens», meinte Henry und grinste.

«Und warum dieser Sinneswandel?»

«Das wirst du gleich sehen.»

Eine halbe Minute später kam eine junge Frau aus der Küche, auf dem Serviertablett balancierte sie eine Flasche Bier und ein Glas. Mit jedem Schritt, den die junge Frau näher kam, verstand Alex den Grund für Henrys Strahlen besser. Die Frau war sehr hübsch, gross, ungeschminkt, hatte dunkle Locken und leuchtend blaue Augen.

«Danke, Tina», sagte Henry. «Das ist Alex, unser Starreporter.»

«Hi, freut mich. Was möchtest du?»

«Dasselbe», sagte Alex und fühlte sich gerade so, als hätte er zum ersten Mal in seinem Leben mit einem Mädchen geredet.

«Guck dir das an», flüsterte Henry zu Alex, als Tina zurück ins Haus ging. «Dieser knackige Po, Alex, ich verliebe mich gerade.»

«Du spinnst total», sagte Alex. «Ein hübsches Mädchen, und du bist hin und weg.»

«Puuuuh», machte Henry nur.

«Kennst du sie denn?»

«Non, gerade erst kennengelernt! Die ist tausendmal hübscher als Cordula.»

«Cordula Hahne? Unsere Assistentin?»

«Klar. Cordula ist verdammt sexy, okay, da kommt man schon mal auf gewisse Gedanken. Schliesslich habe ich sie einmal im Studio fotografiert.»

«Bitte, was?», sagte Alex. Er konnte es kaum glauben.

«Natürlich, Alex.» Henry lachte und fügte dann hinzu: «Im Bikini vor einem Truck. Sieht scharf aus, die Kleine.»

«Gibt es ja nicht.»

Da piepste Alex’ Handy. Sandra hatte ihm eine SMS geschickt: «hi du, habe unseren artikel geschrieben. kein hit. aber renner findet ihn gut. schade hatte ich nicht mehr platz. aber morgen schlagen wir richtig zu, wenn du den hund findest. dann schreiben wir zusammen, ok? k sandra».

Alex kapierte nicht ganz, was Sandra meinte. Zu wenig Platz, zu wenig Text? Bei einem Aufmacher?

Er simste ihr zurück, bei ihm sei alles bestens, ausser dass Henry ein wenig schwierig tue. Auf Sandras Probleme mit der Textlänge ging er nicht ein, da Tina soeben mit seinem Bier kam.

«Was macht ihr zwei eigentlich hier oben?», fragte sie Alex, nachdem sie eingeschenkt hatte.

«Diesen toten Politiker abfeiern», sagte Henry schnell. Er liess Alex gar nicht zu Wort kommen.

«Was heisst denn das, ‹abfeiern›?», fragte Tina.

«Henry meint, dass wir versuchen, Alfred Jaspers letzte Stunden zu rekonstruieren und dass wir ausserdem seinen Hund suchen», erklärte Alex.

«Rolf?»

«Ja. Du kennst Jaspers Hund?»

«Klar. Jasper war oft hier oben. Dann spielte Rolf immer mit meiner Anouschka.»

«Das ist dein …»

«Mein Hund, also Hündin. Die streift wohl gerade durch ihr Revier.»

«Ach so», sagte Alex. «Die läuft auch einfach so weg, wie Rolf?»

«Nein. Die kommt immer brav zurück. Ich denke, Rolf hat einen Schock. Aber er kommt sicher zurück. Und wenn ihn jemand findet, weiss man schnell, zu wem er gehört. Rolf trägt ein Halsband mit einer kleinen Tasche, in der eine Plakette mit der Adresse seines Herrchens drinsteckt.»

«Praktisch.»

«Ein Hund mit Tasche», mischte sich Henry nun wieder ins Gespräch ein. «Das hab ich noch nie gesehen. Muss ich fotografieren.»

«War so eine Idee von Jasper», erzählte Tina weiter. «In der Tasche verstaute Jasper auch seinen Haus- und seinen Autoschlüssel und Kleingeld und was weiss ich noch alles für Kleinkram.»

«Hammer», sagte Henry. «Wär mal eine lustige Tierreportage! Hunde als Lastesel ihrer Meister.»

Tina wurde von anderen Gästen gerufen.

«Ist sie nicht eine Göttin?», sagte Henry, kurz nachdem Tina gegangen war.

Weil Alex nicht antwortete, fragte ihn Henry, ob er sich auch gerade verliebt habe.

«Was? Nein. Aber …» Alex stockte.

«Ja, was denn?»

«Ein verschwundener Hund mit Tasche.»

«Und?»

«Was ist in der Tasche?»

«Na, hast ja gehört, so Kleinkram eben.»

«Kleinkram? Okay. Dann noch diese Schüsse.»

«Alex, was ist los, drehen deine Hormone im roten Bereich?»

«Wetten, dass Rolf tot und sein Halsband weg ist?!»

BUONAS, GEMEINDE RISCH AM ZUGERSEE

Um 19.14 Uhr piepste Emma Lemmovskis Handy und zeigte ihr an, dass sie von der Redaktion eine Mail erhalten hatte. Emma war gerade frisch geduscht und kämmte ihre langen, blonden Haare. In ihrem Ankleideraum streifte sie sich ein enges, ärmelloses T-Shirt über und schlüpfte in einen kurzen Jeansrock. Barfuss ging sie in ihr Büro.

In der Mail informierte sie der stellvertretende Chefredakteur Christian Reich über den neuen Aufmacher, die Exklusivgeschichte von Jonas Haberer über die Abschaffung der Armee und über weitere wichtige Artikel der morgigen Ausgabe. Er hatte Sandra Bosones Beitrag über Jasper als Attachement angehängt. Emma las den Text genau durch.

Sie las ihn ein zweites und ein drittes Mal.

«Das ist verdammt gut», sagte sie schliesslich laut vor sich hin. «Diese Sandra kann tatsächlich etwas. Renner hat schon einen Riecher für Jungtalente.»

Sie mailte Reich, dass sie mit dem Artikel einverstanden sei. Sie schrieb explizit «einverstanden». Beliebte Journalisten-Wörter wie «super», «top» oder «mega» mied Emma Lemmovski. Sie war der Ansicht, ein Lob sollte nur dann ausgesprochen werden, wenn wirklich etwas Ausserordentliches geleistet worden war. Die inflationäre Lobhudelei war ihr zuwider. Sie fügte ausserdem hinzu, dass sie sich sehr über Haberers Primeur freue.

Eine zweite Mail schrieb sie an Renner: «Geht doch, Zecke. Grüsse.»

Dann zappte sie auf die «Aktuell-Online»-Page. Dort hatten die Journalisten die Jasper-Story mittlerweile nach unten verschoben und den Nachzug auf Sandra Bosones Artikel in der heutigen «Aktuell»-Ausgabe über die Spendenaffäre im Hilfswerk «Sonnenaufgang» aufgemacht.

Titel: «Empörung über Spendenskandal – Massnahmen gefordert»

Im Text kamen dann etliche Politiker von rechts bis links zu Wort, die sich zu den veruntreuten Spendengeldern äusserten und schärfere Kontrollen durch staatliche Instanzen forderten. Emma Lemmovski war äusserst zufrieden. Was sie immer verlangte, wurde tatsächlich umgesetzt: Themen, die in der Zeitung angerissen wurden, sollten wenn immer möglich in der Online-Ausgabe aufgegriffen und weitergezogen werden.

Ein Zwischentitel ärgerte sie allerdings: «Sonnenuntergang bei ‹Sonnenaufgang›?»

Na ja, dachte sie, ein solcher Titel über ein Hilfswerk mit dem Namen «Sonnenaufgang», das möglicherweise bald schliessen muss, liegt natürlich auf der Hand. Trotzdem hielt Emma Lemmovski solche Wortspiele weder für originell noch für journalistisch korrekt, sie fand sie einfach nur blöd.

Sie fuhr den Computer herunter und ging zu ihren Söhnen in den Garten. Die beiden hatten bereits zu Abend gegessen, TV geschaut und spielten nun noch eine Runde Tischtennis.

Jana, die sowohl Kindermädchen als auch Hausangestellte war, bereitete in der Küche das Essen für die Eltern Lemmovski zu. Da David Lemmovski meistens erst um 20 Uhr nach Hause kam, war es bei der Familie üblich, dass die Kinder nicht mit den Eltern, sondern mit Jana das Abendbrot einnahmen.

«Hallo zusammen, ich bin da», rief David Lemmovski, als er von der Tiefgarage ins Haus hinaufkam.

Die Kinder unterbrachen sofort den Match und begrüssten ihren Vater. Der 10jährige Rudolf erzählte aufgeregt von der toten Ratte im Pool, sein zwei Jahre älterer Bruder ergänzte, dass die Mama das Tier heldenhaft aus dem Wasser geholt habe.

David Lemmovski schaute seine Frau Emma fragend an, gab ihr einen flüchtigen Kuss und rannte danach mit den Kindern in den Garten.

Emma ging in die Küche zu Jana, half ihr beim Anrichten – es gab kleine Steaks und Salat –, rief ihre drei Männer ins Haus und stieg in der Garderobe beim Entree in weisse Riemchensandalen mit hohen Bleistiftabsätzen.

Marcel und Rudolf sagten «Gute Nacht» und wurden danach von Jana in ihre Zimmer begleitet. David Lemmovski öffnete eine Flasche Wein.

«Was erwartet mich, wenn ich morgen ‹Aktuell› lese?», fragte er.

Emma erzählte von den Ereignissen des Tages. Sie informierte ihn auch darüber, dass sie Chefredakteur Don Muller zum CEO ernannt habe.

«Hoppla, du gibst aber Gas», sagte David.

«Ich musste handeln, Muller ist einfach zu weich. Die Jasper-Story in der heutigen Ausgabe hätte so nicht erscheinen dürfen. Zecke Renner hat viel zu dick aufgetragen mit seinen Mutmassungen. Mittlerweile schmilzt seine ganze aufgeblasene Vielleicht-ist-da-ein-Skandal-versteckt-Story zu einem tragischen, aber simplen Unfall zusammen. Nicht zum ersten Mal.»

«Ich wette mit dir, Renner findet garantiert noch Fleisch am Knochen. Und du hast recht, Muller ist wirklich nicht der ideale Chefredakteur. Tut mir leid, da habe ich mich getäuscht.»

Muller war noch von David Lemmovski zum Chef gemacht worden. Vor fünf Jahren. Damals war David «Aktuell»-Verleger, erst kurz darauf übergab er diesen Job seiner Frau.

«Warum hast du ihn nicht gleich entlassen?», fragte er.

«Ich finde, er repräsentiert das Blatt gegen aussen gut. Deshalb hat er nun den idealen Posten. Als Geschäftsführer und Chefredakteur kann er mit den Werbemenschen ausgehen und wichtig herumlabern, und im Büro wird er sich mit Zahlen herumschlagen müssen.»

«Oh, er wird also das machen, was du so hasst. Superidee.»

«Genau.»

«Und du bist nun die heimliche Chefredakteurin, lässt den Reich spurten und prügelst deinen lieben Renner?»

«Nicht prügeln, David, nein, was denkst du denn, ich werde die Zecke, sagen wir mal, ein bisschen besser begleiten, als dies Muller gemacht hat. Und der Reich steht sowieso auf mich.»

Das Fleisch schmeckte sehr gut, der Salat war für die Gesundheit und die schlanke Linie, der Wein für die gepflegte Stimmung. Emma und David Lemmovski genossen das abendliche Beisammensein, allzu oft kamen sie nicht dazu.

«Was war denn das mit dieser Ratte?», fragte David später.

Emma erklärte ihm die Umstände. Und vor allem ihre Sorge.

«Du meinst doch nicht, dass ein Fremder auf das Grundstück eindrang und diese Ratte im Pool versenkte?»

«Doch, genau das.»

«Ach, ein Bubenstreich.»

«Nein.»

«Emma, du übertreibst. Da will uns jemand belästigen, uns Angst einjagen?»

«Könnte doch sein.»

«Und warum? Weil wir reich sind?»

«Vielleicht.»

«Weil wir erfolgreich sind?»

«Gut möglich.»

«Wegen der Zeitung?»

«Nein, das glaube ich nicht. Einfach ein Neider, ein Irrer?»

David stand auf, stellte sich hinter ihren Stuhl, bückte sich und umarmte sie.

Anders als für ihn war Reichtum für Emma etwas Neues. Sie war in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, ihr Vater hatte am Fliessband in einem Autowerk gearbeitet, die Mutter als Kassiererin in einem Supermarkt etwas dazuverdient.

Verzicht kannte David Lemmovski nicht. Geld war in seiner Familie nie ein Thema gewesen, es war einfach da.

«Weisst du was, Emma», sagte er und drückte seine Frau nun ein wenig fester. «Kommt es noch einmal zu einem solchen Vorfall, engagieren wir einen Wachmann oder installieren eine neue Alarmanlage. Was meinst du?»

«Ja, vielleicht hast du recht, vielleicht übertreibe ich wirklich. Ich will einfach nicht, dass etwas passiert.»

«Es wird nichts passieren.»

Emma löste sich aus Davids Umarmung, stand auf und küsste ihn. Sie schlang ihr rechtes Bein um seine Beine, küsste ihn weiter, wurde dabei immer fordernder und griff dann mit der linken Hand plötzlich an seinen Po. Davids Hände glitten unter ihren Jeansrock, und als er spürte, dass sie nichts darunter trug, löste er sich schnell von seiner Frau, schloss die Türen zum Esszimmer, streifte die Kleider ab und packte Emma an den Hüften. Fest und gierig, erregt und liebevoll.

Der Storykiller

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