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Einleitung: Zum Vorgehen des Kommentars

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„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwänglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz.“1

Mit dieser berühmten Reflexion beschließt Kant seine Kritik der praktischen Vernunft. Für die hier vorzulegende Kommentierung der Grundlegung ist die Verortung des moralischen Gesetzes – um dessen Auffindung und Entwicklung es Kant in der Grundlegung geht – ebenfalls ein guter Anhaltspunkt für das Vorgehen der Interpretation. Was also bedeutet Kants Rede von einem moralischen Gesetz „in mir“? Inwiefern hat selbst die „gemeine Menschenvernunft in ihrer praktischen Beurteilung […] [dieses] gedachte Prinzip jederzeit vor Augen“ (AA IV, 402)? Wie kann der moralische Mensch ein nicht expliziertes Prinzip „zum Richtmaße [aller] Beurteilung brauch[en]“ (AA IV, 403)?

Zunächst verweist Kant damit auf ein analytisches Vorgehen der Untersuchung: „Es wäre […] leicht zu zeigen, wie [die gemeine Vernunft] mit diesem Kompasse [bzw. dem Prinzip] in der Hand in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig oder pflichtwidrig sei, wenn man, ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates es tat, auf ihr eigenes Prinzip aufmerksam machte“ (AA IV, 404). In der Grundlegung soll also analog zur maieutischen Dialogführung des Sokrates vorgegangen werden; dabei geht es um ein kritisches Ausreizen derjenigen Vorstellungen, die ganz selbstverständlich als wahr oder gut anerkannt sind. Durch gezieltes Fragen lenkt der Sokrates der platonischen Dialoge seinen Gegenüber zur Einsicht in die zugrunde liegenden Voraussetzungen der von diesem erhobenen Wissensansprüche. Der sokratische Schüler wird demnach weder von einer äußeren Autorität belehrt, noch erfährt er etwas vollkommen Neues. Vielmehr lernt er etwas über sich selbst, d.h. über seine eigene Art des Denkens, Fürwahrhaltens und Urteilens. Insofern kann metaphorisch gesagt werden, dass die erworbene Einsicht bereits im Dialogpartner des Sokrates vorhanden gewesen sei, da dieser sie selbständig – sozusagen aus sich selbst heraus – entwickeln konnte.

Dieses Vorgehen greift Kant auf; allerdings bezieht er die Verortung des moralischen Gesetzes („in mir“) auf den subjektiven Aspekt des moralischen Handelns, wobei „subjektiv“ jedoch nichts bloß individuell Eigentümliches bezeichnen soll. Kants oben zitierte Erklärung zum Ort des moralischen Gesetzes kann also in erster Annäherung so aufgefasst werden, dass der prinzipielle Maßstab des Guten dem Handeln des praktisch-vernünftigen Subjekts in noch zu klärender Weise immanent ist.

Wie die oben zitierten Ausführungen Kants sowie deren Analogie zur sokratischen Maieutik nahe legen, scheint das moralische Gesetz dem vernünftigen Menschen immer schon bekannt. Mit Heidegger lässt sich sagen, Kant spreche hier im Modus des apriorischen Perfekt, d.h. das moralische Gesetz ist in keinem empirisch-zeitlichen, sondern in einem logischen Sinne ‚immer schon‘ in maßgebender Verwendung.2 Kants Argumentation nähert sich dem moralischen Gesetz über das, was modern als das „gewöhnliche moralische Bewusstsein“ (Common Sense) angesprochen wird.3 Das ist freilich noch unscharf und bedarf weiterer Klärung; was hier zunächst durch eine Charakterisierung der Methode der Grundlegung erreicht werden kann.

Kants Argumentation, der es um die Explikation dessen, was im einzigen und eigentlichen Sinne „gut“ genannt werden kann, geht, bewegt sich zwischen zwei methodischen Extremen, die wie folgt typisiert werden können. Der eine Argumentationstyp mag großen oder einzigen Wert darauf legen, das bereits in einer Gemeinschaft als moralisch richtig anerkannte Verhalten zu fundieren; es geht also darum, die bestehende Auffassung dessen, was moralisch sei, zu rechtfertigen. Dieses Vorgehen führt allerdings in den Relativismus, da das moralische Verhalten, das als Ausgangsbasis der Verallgemeinerung dient, selbst willkürlich bestimmt ist; obschon dies freilich unter der Behauptung geschehen mag, dies gelte nun mal allen Mitgliedern der Gemeinschaft unzweifelhaft als gut und richtig. Dabei wird jedoch nicht bedacht, dass eine andere Ausgangsbasis der Verallgemeinerung zu einem anderen Prinzip des Guten führen würde – und zwar insofern als die verallgemeinernde Sammlung moralisch guter Verhaltensweisen eben schon eine Bestimmung dessen, was gut ist, voraussetzt. Andernfalls ließen sich die aufgesammelten Fälle nicht als solche bestimmen und von den verwerflichen unterscheiden. Ein solcher Begründungsanspruch kommt also über eine zirkuläre Bestimmung des Guten nicht hinaus.

Dagegen tritt der andere Argumentationstyp im Sinne einer Korrektur des moralischen Common Sense auf; hier würde ein gleichsam übersinnliches Vermögen des Philosophen unterstellt, der eben besser als alle Welt wüsste, was moralisch ist. Dieser Argumentationstyp kann als ideologischer Dogmatismus bezeichnet werden, da die Bestimmung des Guten unabhängig vom gängigen Moralverständnis gesetzt und vorgeschrieben würde.

Kants Argumentation bewegt sich zwischen diesen beiden Extremen, insofern sie das moralische Gesetz auffinden und festsetzen soll (vgl. AA IV, 392). Das gesuchte Prinzip ist also einerseits schon vorhanden, da es entdeckt werden soll, wobei der Relativismus willkürlicher Vorannahmen zu vermeiden ist. Andererseits wird das moralische Gesetz im Zuge einer Setzung allererst normiert, was jedoch nicht im Sinne eines weltfremden Dogmatismus geschehen darf.

Was demnach innerhalb der Grundlegung als „moralische Intuition“ o.ä. bezeichnet werden kann, darf also weder auf einen z.B. kulturrelativen Wissensbestand (Relativismus) – gleich einem Katalog zeitgenössischer Meinungen über das moralisch Gute –, noch auf eine übersinnlich-prophetische Gabe (Dogmatismus) reduziert werden. Vielmehr handelt es sich um die antrainierte Fähigkeit, die praktische Urteilskraft heißen mag, zwischen gut und böse zu unterscheiden. Dieses Vermögen wird freilich vor allem durch Erziehung ausgebildet (AA IV, 391), sodass seine beispielhaften Anwendungen in Einzelfällen, was ihren Inhalt betrifft durchaus als kultur-und gemeinschaftsrelativ zu bezeichnen sind. Dass dieses Vermögen aber die Kategorien des Guten und Schlechten überhaupt zur Verfügung hat, ist dessen Voraussetzung und kann selbst nicht nur kulturrelativ erworben sein; denn das Erwerben der Unterscheidungsfähigkeit von guten und bösen Taten im Einzelnen, setzt die apriorische Bekanntschaft mit ebendiesem allgemeinen Unterschied vor der Bewertung von Einzelfällen voraus. Kant befragt also die „moralische Intuition“ auf das maßgebende Prinzip, anhand dessen gängiger Weise zwischen „gut“ und „schlecht“ unterschieden wird.

Das Interesse an diesem Prinzip ist im Übrigen kein rein theoretisches (AA IV, 389), vielmehr geht es der Grundlegung um die Begründung und Explikation der Möglichkeit einer moralisch reflektierten Lebensform, die durch beständige Aufmerksamkeit auf das moralische Gesetz (AA IV, 404) die eigene Lebensorientierung unaufhörlich ideologie- und relativismuskritisch befragen kann. Die Grundlegung grenzt sich daher von einer Ethik der verallgemeinerten Üblichkeiten („populäre Ethik“) ab, die bei Pseudo-Begründungen des ohnehin schon Anerkannten stehen bleibt und methodisch gesehen relativistisch ist. Vielmehr hält Kant an den „transtheoretischen Zielen“ der praktischen Philosophie fest (AA IV, 389f.); ähnlich der antiken Lebensformphilosophie geht es auch dem Verfasser der Grundlegung letztlich darum, den Adressaten seiner Überlegungen – salopp gesagt – ‚besser‘ zu machen.4 Dabei erweist sich gerade Kants Ethik-Argumentation als prinzipiell offen für die seit der Moderne augenscheinlich gegebene Pluralität von Lebensentwürfen und Werten, da sie deren Vielfalt im Konzept der reflexiven Maximen-Prüfung erhält und eben gerade keine inhaltliche Orientierung – im Sinne einer Ausrichtung des Lebens auf lohnenswerte oder löbliche Ziele – vorschreibt; was z.B. von Hegel als weltfremder Formalismus denunziert wurde. Aufforderungen zu einem asketischen Leben in rigoroser Pflicht-Erfüllung sind entgegen dem gängigen Vorurteil nirgends im Text zu finden – obschon Kant in argumentativer Hinsicht rigoros verfährt, vollkommen in dem Bewusstsein, so nicht den „Geschmack des Publikums“ zu treffen (AA IV, 388; vgl. 409). Im Gegensatz zu einer späteren Popularisierung geht es Kant aber gerade darum, die Plausibilisierung seiner Argumentation soweit wie möglich von deren begrifflicher Strenge und Stringenz zu unterscheiden. Demnach arbeitet er bewusst mit wenig inhaltlichen Beispielen der Anwendung des Moralprinzips, „weil die Leichtigkeit im Gebrauche […] eine gewisse Parteilichkeit erweckt, es nicht für sich selbst, ohne alle Rücksicht auf die Folge, nach aller Strenge zu untersuchen und zu wägen“ (AA IV, 398).

Kants Vorgehen ist dabei auch in der Grundlegung das der transzendentalen Reflexion, deren Funktion im Amphibolie-Kapitel (B 316ff.) der Kritik der reinen Vernunft thematisiert wird. Die hier nun in praktischer Absicht vorgenommene transzendentale Reflexion ist gerade darauf bedacht, den handelnden Umgang mit der alltäglichen Welt nicht zu Gunsten einer besser verstandenen Wirklichkeit aufzuheben und zu verwerfen; andernfalls wäre Kant in der Tat als Dogmatiker zu bezeichnen. Demnach ist die Fähigkeit, moralisch zu urteilen und zu handeln, für die Kantische Argumentation eine Tatsache. Diese Tatsache ist gleichsam der ‚Anker‘ der transzendentalen Reflexion, der ein Abgleiten der Reflexion ins „Überschwängliche“ (AA V, 161), prinzipiell Unbegründbare, verhindern soll. Die transzendental-praktische Reflexion5 der Grundlegung ist somit keine Wesensanalyse, deren Resultat ja in der Tat eine besser verstandene Wirklichkeit (das wesentliche Sein) jenseits des alltäglichen Sittenverfalls (der bloße Schein) behaupten würde.6 Es wird für die Argumentation zudem kein gegenüber der Welt isoliertes Subjekt vorausgesetzt, das dann ohne Rücksicht auf die Bedingungen innerweltlicher Moralität nach dem Geschmack des pietistisch erzogenen Kant auf die vorgeblich eigentliche Moralität hin normiert würde. Gerade das wäre ja nichts anderes als metaphysische Ontologie (bzw. Ideologie), der zu folgen mancher sicher bereit wäre, ohne dass dabei allerdings weiter nach dem Grund der Auszeichnung gerade dieser Ordnung des Seins vor anderen gefragt würde. Kant geht es aber gerade hier um Klarheit: Was kann ohne Einschränkung „gut“ genannt werden, wohingegen alles andere nur im Verhältnis zu diesem Prinzip bzw. daran Maß nehmend als relativ gut gelten darf? In der Tat wendet sich Kants dabei dem allgemeinen Begriff des vernünftig Handelnden zu, aber nicht so, dass hier ein verdinglichtes Subjekt auf seine wesentliche Vernünftigkeit befragt würde, die sich womöglich nirgends innerweltlich ausweisen ließe. Die transzendental-praktische Argumentation betrachtet das „Subjekt“ gerade nicht von einem externen Standpunkt als ausgezeichnetes Objekt unter Objekten. Vielmehr wird das Handeln in subjektiv-notwendige und objektiv-beiläufige Momente unterschieden. Die subjektiven Momente sind dabei Ergebnisse der Selbstbeschreibung des Handelnden, wohingegen die objektiven Momente des Vollzugs auch fehlen oder anders sein könnten, ohne die Selbstbeschreibung zu beeinflussen. Die transzendental-praktische Reflexion geht dabei der Subjektivität auf den Grund: Was ist notwendig an der Selbstbeschreibung des Subjekts, insofern es als handelndes auftritt? Der Argumentation geht es also nicht um die dogmatische Setzung eines neuen Moralprinzips: „Wer wollte […] auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen, und diese gleichsam zuerst erfinden? Gleich als ob vor ihm die Welt, in dem, was Pflicht sei, unwissend, oder in durchgängigem Irrtum gewesen wäre“ (AA V, 8, FN 1), erklärt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft.

Um das Spezifische dieses Zugriffs zu verdeutlichen, wird der Kommentar sich zweier Termini bedienen, die in Analogie zur Begrifflichkeit der Kritik der reinen Vernunft entwickelt werden können. Es handelt sich um Kants Unterscheidung einer Rede „im empirischen Verstande“ von einer „im transzendentalen Verstande“ – es geht dabei um die Anzeige der jeweiligen Hinsicht auf das Erkenntnisvermögen. Die in der Kritik der reinen Vernunft wenig explizierte Unterscheidung soll im Folgenden zunächst dargestellt werden.

Zunächst sei in Erinnerung gerufen, dass das Vokabular der Kritischen Philosophie Kants nur der Wortähnlichkeit nach Bezug zur alltagspsychologischen Beschreibung aufweist. Die Termini Kants dienen keiner Erklärung psychischer Vorgänge. Die Fragestellung der Kritik der reinen Vernunft hat kein primäres Interesse am erfahrungsmäßigen Erkennen im Sinne eines beschreibbaren Vorgangs. Als Beispiel für ein derartiges Missverständnis lässt sich Gerhard Vollmers Versuch einer „Evolutionären Erkenntnistheorie“ anführen, die ausdrücklich Defizite der Kantischen Argumentation beheben will.7 Vollmer will wie Kant nach den Bedingungen des sicheren Erkennens (der Welt) fragen, versteht die erkennende Beziehung zur Welt allerdings von vornherein als eine kausale zwischen zwei Objekten, wobei sich seine theoretischen Einsichten dementsprechend in der Rekonstruktion einer Stufenfolge dieses mechanischen Vorgangs erschöpfen – intentionales Vokabular wird dabei trotz eines unterstellten Blicks von nirgendwo ganz unkritisch verwendet. Aber um die vernünftige Subjektivität und ihre Befähigung zur Intentionalität geht es gerade, wenn Kant nach Erkenntnis fragt.8 Die Fragestellung der Kritik der reinen Vernunft betrifft die begrifflichen Voraussetzungen der Begründbarkeit von Erkenntnis, es geht um eine Auseinandersetzung des erkennenden Subjekts mit sich selbst unter Verwendung immer weiter geschärfter Ausdrücke zur Klärung des Erkennens, seiner Möglichkeiten und Grenzen.

„Ich nenne alle Vorstellung rein (im transzendentalen Verstande), in denen nichts, was zur Empfindung gehört angetroffen wird“ (A 20/B 34).9 „Empfindung“ ist hierbei „die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben affiziert werden“ (A 19/B 33), d.h. es besteht eine Wirkungsbeziehung zwischen dem objektiven Gegenstand und der subjektiven Fähigkeit, diesen vorzustellen (‚vor sich zu haben‘). Diese Beziehung kommt im Empfinden dadurch zustande, dass der unmittelbare Gegenstandskontakt (Anschauung bzw. Anschauen) in einer Affektion10 besteht, d.h. im Erleiden eines Widerstandes gegen das subjektive Denken. Eine Vorstellung, in der nichts, „was zur Empfindung gehört, angetroffen wird“, dürfte demnach keinen affektiv-unwillkürlichen Gegenstandsbezug im eben explizierten Sinne aufweisen. Aber nur so ist doch – „uns Menschen wenigstens“ (A 19/B 33) – die Beziehung auf etwas außer unserem Denken möglich. Aber sind solche „reinen“ Vorstellungen, die keinerlei Bezug zur Erfahrung, d.h. keine gegenstandsbezüglichen Merkmale aufweisen, überhaupt denkbar? „Rein“ im Sinne von „abstrakt“ scheidet hier aus, da die abstrakten Vorstellungen eben nur von ihrer Konkretion in der Erfahrung absehen, diese aber nicht aufheben können. Obwohl es in der Tat zunächst abwegig erscheinen mag, macht die Rede von solch „reinen“ Vorstellungen dennoch Sinn, aber eben nur im transzendentalen Verstande. Einen reinen Gegenstandskontakt gibt es nicht, dann nämlich würde der Gegenstand intellektual angeschaut, d.h. über die Regel seiner Identifikation allererst gesetzt und verlöre damit seine ihn konstituierende Eigenständigkeit, die nach Kant einzig die Rezeptivität der Sinnlichkeit garantiert. Wenn nun ein empfindungsloser Bezug zum Gegenstand nicht sinnvoll denkbar ist, so kann doch relativ zum Gegenstandsbezug bzw. zum Erkennen das daran Empfindungslose, „das worinnen sich die Empfindungen allein ordnen, und in gewisse Form gestellt werden können“ (A 20/B 34), als „reine“ Vorstellung angesprochen werden. Wenn also gefragt wird: Gibt es solche reinen Vorstellungen? Lassen sie sich wie Dinge erkennen?, dann ist das zu verneinen, insofern diese Frage „im empirischen Verstande“ formuliert ist. Im empirischen Verstande, wo es einzig um die Erkenntnis von Gegenständen und Sachverhalten geht, sind die angesprochenen reinen Vorstellungen (bzw. transzendentalen Formen) tatsächlich absurd und völlig unbegreiflich, da es sich um reine Gegenstände handeln müsste, d.h. um solche, die identifiziert und zugleich nicht identifiziert werden müssten. „Reine“ Vorstellungen im transzendentalen Verstande sind dagegen indirekt gegenstandsbezüglich,11 d.h. es handelt sich um keine übersinnlichen Gegenstände (Dinge an sich), sondern um das begrifflich reine Moment an der Gegenstandsbeziehung.

Weiter verdeutlichen lässt sich diese Hinsichtsunterscheidung am Beispiel der mehrstufigen Verwendungsweise der Begriffe „Ding an sich“ und „Erscheinung“. Kant weist in der transzendentalen Ästhetik (B 33ff.) darauf hin, dass Raum und Zeit als Formen des Erkennens zwar ihren Ort in der erkennenden Subjektivität hätten, damit aber nicht die individuell-subjektive Beliebigkeit verschiedener Vorlieben für Farben und Geschmäcker gemeint sei (vgl. A 29/B 45): „Denn in diesem Falle gilt das, was ursprünglich selbst nur Erscheinung ist, z.B. die Rose, im empirischen Verstande für ein Ding an sich selbst, welches doch jedem Auge in Ansehung der Farbe anders erscheinen kann“ (ebd.).12 Wenn es also um das direkte Erkennen von Gegenständen geht, dann ist die Rose ein eigenständiges Ding, aber ihre Farbe ist abhängig von der jeweiligen Disposition des Betrachters. Dagegen ist dieselbe Rose im transzendentalen Verstande – gemäß dem „transzendentalen Begriff der Erscheinungen im Raume“ (A 30/B 45) – kein Ding an sich selbst, sondern eine Erscheinung, d.h. ein Ding relativ zur Subjektivität und insofern gerade nicht eigenständig. Die Betonung der Hinsichtsunterscheidung soll in der transzendentalen Ästhetik helfen, die vorschnelle Annahme zweier Klassen von Entitäten – hier Erscheinungen, dort Dinge an sich – zu vermeiden. Im empirischen Verstande wird also die Perspektive des direkten Gegenstandsbezugs (Erfahrungsurteil) eingenommen, während im transzendentalen Verstande nach der Art dieser üblichen Gegenstandsbeziehung gefragt wird. Die beiden unterschiedlichen Zugriffsweisen auf das Erkennen sind dabei jeweils von Interessen geleitet: Entweder richtet sich das Interesse auf die Gegenstände, von denen es Erkenntnis gewinnen will, oder das Interesse ist reflexiv und gilt der Art des Erkennens, um dessen Zulänglichkeit zu prüfen und zu rechtfertigen.

Das Begriffspaar der objektstufigen Perspektive (im empirischen Verstande) und der subjekt-reflexiven Perspektive (im transzendentalen Verstande) soll nun auf die Grundlegung übertragen werden. Dort wird bekanntlich nicht nach dem sicheren Erkennen, sondern nach dem moralisch guten Handeln gefragt. Der Perspektive „im empirischen Verstande“ entspricht im Bereich der praktischen Philosophie das routinemäßige Verhalten und moralische Urteilen nach gemeinschaftlichen Regeln; dabei kommt zunächst eine nicht transzendental reflektierte Urteilskraft zur Anwendung. Diese Perspektive, in der die vorgefundenen und geringfügig selbst modifizierten Handlungsregeln nicht kritisiert werden, kann analog zum Terminus der Kritik der reinen Vernunft hier „im pragmatischen Verstande“ heißen. Dagegen kann die subjekt-reflexive Perspektive „im transzendental-praktischen Verstande“ genannt werden. Hier wird das moralische Urteilen und Verhalten auf seine zugrunde liegenden Voraussetzungen befragt.

Eingangs tat sich die Frage auf, wie der moralische Mensch ein nicht expliziertes Prinzip immer schon „zum Richtmaße [aller] Beurteilung brauch[en]“ könne (AA IV, 403)? Nun lässt sich sagen, dass das Prinzip („Sittengesetz“) bereits im Handlungsvollzug im pragmatischen Verstande ‚wirkt‘, jedoch sein Einfluss auf die Reflexion der moralischen Grundeinstellungen des Einzelnen nur kontingent und unsicher ist (AA IV, 405), da es noch nicht expliziert wurde. D.h. aber, dass es im transzendental-praktischen Verstande überhaupt nicht wirkt, da die „Gemäßheit“ der moralischen Einstellung zum Prinzip „nur sehr zufällig und misslich“ sein kann (AA IV, 390). Die „gemeine Menschenvernunft“ (AA IV, 403) hat also mehrere Quasi-Prinzipien zur Beurteilung des Moralischen vor sich, dabei begreift sie das eigentliche Prinzip aber nicht als das entscheidende. Wenn also „moralische Erkenntnis“ (ebd.), obschon „sehr zufällig und misslich“, stattfindet, dann nur, wenn das Urteil bzw. das Verhalten dem Prinzip der Moralität beiläufig gemäß ist.

Kants ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹

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