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Heimische Feuer

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An einem Spätsommertag, im Schatten eines Kirschbaumes, saß ein Mann. Es war ein alter Mann, sehr alt. Er dachte darüber nach, wie es sich anfühlen würde, wenn das Ende käme und dies sein letzter Sommer wäre.

Die Erde um ihn war von faulenden Früchten übersät und die Luft angefüllt vom Surren trunkener Wespen. Dem Alten war es dennoch ein angenehmer Platz. Die Insekten ließen ihn in Frieden. Sonnenstrahlen tänzelten, von den Blättern gebrochen, über die Falten und Furchen seines Gesichts. Er hatte die Augen geschlossen und lauschte dem Lachen im Spiel zweier Kinder. Der alte Mann mochte Kinder, diese Tatsache allein hätte ihn vermutlich schon zum Lehrer des kleinen Dorfes gemacht, in dem er bereits die dritte Generation hatte aufwachsen sehen. Die Geschichten, die er jeden Vormittag erzählte, waren aus so grauer Vorzeit, dass niemand glauben konnte, er habe sie tatsächlich erlebt. Dennoch bildete sich nicht selten ein Kreis um ihn, der eine gewisse Zahl auch der erwachsenen Gemeinschaft mit einschloss. Lag viel Arbeit an, war es zur Gewohnheit einiger Familien geworden, wenigstens einen der Ihren zu ihm zu schicken, der später beim Nachtmahl eine Zusammenfassung vorzutragen hatte.

Als der Mann die Augen öffnete, fiel sein Blick auf einen Vogel, dessen Klauen sich erbarmungslos um ein winziges Geschöpf schlossen. Schon erhob der Jäger sich wieder in die Lüfte, einen gebrechlichen Alten zurücklassend. Bilder der Erinnerung fanden ihren Weg in sein Bewusstsein und riefen den Geschmack von Nostalgie, aber auch von Reue und Schuld hervor.

Allmählich gruppierte sich eine kleine Schar Heranwachsender im Halbkreis um ihn. Fried, der vorwitzigste Junge im Dorf, wurde bereits unruhig, was sich darin äußerte, dass er, nicht wissend was er sonst mit den Händen anfangen sollte, eine Rangelei mit zweien seiner Spielgefährten begann.

Die rot gelockte Kaila nahm wie üblich direkt links neben dem Greis Platz. Sie hatte die Fähigkeit, jeden Anwesenden mit ihrem sommersprossigen Lachen anzustecken. Bei besonders spannenden Stellen seiner Geschichten pflegte sie die langen, weißen Haare des Erzählers immer wieder durch ihre Hände gleiten zu lassen, bis kleine Locken entstanden.

Alles war wie jeden Morgen, alles war gut. Der alte Mann schmunzelte.

»Ihr seid gekommen, eine Geschichte zu hören?«, fragte er in alter Tradition.

»Jaaa«, antwortete der Kanon.

»Nun gut«, sagte er und räusperte sich, »ich erzähle euch die Geschichte von Lars und wie er den Bären von Hornstein bezwang …«

»Nein!«, unterbrach ihn Fried, der mittlerweile von seinen Sitznachbarn abgelassen hatte.

»Wir wollen viel lieber von der Kriegskrähe und der großen Schlacht gegen die Gorka-Orks hören. Du hast es versprochen, schon letzten Herbst.«

Einige nickten beipflichtend.

Für einen kurzen Augenblick schien sich seine Miene zu verfinstern, doch sie hellte sich sofort wieder auf, als er in den Kreis freundlich neugieriger Augenpaare blickte.

»Ich bin mir nicht sicher, ob einige von euch nicht etwas zu jung dafür sind. Außerdem ist die Gerissenheit von Lars wirklich nicht zu unterschätzen, mit der er schließlich Groll die Pranke überlistete«, versuchte er, sich herauszuwinden.

»Du hast es aber versprochen, Ohm«, beharrte der Junge trotzig. Da die meisten aufgrund der harten Lebensbedingungen nicht das höhere Alter erreichten und daher kaum eines der Kinder die Möglichkeit gehabt hatte, seine Großeltern kennenzulernen, hatte es sich eingebürgert, ihm jene Rolle zuzuschreiben, doch um ihn nicht zu beleidigen, nannten ihn alle nur den Ohm.

Ohne Zweifel war der Großteil seiner Zuhörerschaft nicht reif für jene Geschichte, andererseits konnte er sie nicht ewig hinhalten, und ein Jahr mehr oder weniger machte für eine Seele schließlich kaum einen Unterschied.

Jeder im Dorf kannte das Grab des Helden, von dessen Taten er berichten sollte. Jedes Jahr zum Totenfest wurden Kränze und Blumen unter das schlichte Holzkreuz gelegt und aufgelesene Krähenfedern in die Erde darum gesteckt. Sie hatten ein Recht darauf zu erfahren, wie der Schutzpatron ihrer Heimat gelebt hatte. Ein Recht auch, wie ihm schien, die ganze Geschichte am Stück zu hören und nicht aus dem Zusammenhang gerissene und dadurch verzerrte Ausschnitte.

Trotz dieser Überlegung zögerte er noch einen Moment, bevor er nachgab.

»Also gut. Aber ich möchte keine Beschwerden von euren Eltern hören, wenn euch hinterher Albträume plagen.

Und davon könnt ihr ausgehen«, fügte er unheilvoll hinzu.

Schmale Hände gruben sich vorsorglich in sein Haar. Frieds Augen leuchteten in gespannter Erwartung.

***

In den überfluteten Auen am östlichen Flussufer des Rheins kämpften sich zwei in Felle und Leder gekleidete Männer einen Weg durch das dichte Unterholz. Ihre Pferde führten sie an den Zügeln. Es wurde bereits Abend und der Führer, den sie in der letzten Siedlung angeheuert hatten, war unauffällig verschwunden, nicht ohne seine volle Bezahlung eingestrichen zu haben.

Die Stiefel der beiden waren durchnässt, und erbarmungslose Kälte fraß sich nach oben, bis sie ihre Körper gänzlich durchdrungen hatte.

Der Frühling ließ auf sich warten in diesem Jahr. Noch immer waren Stellen, die vor Lichteinstrahlung verborgen waren, von Raureif bedeckt. Schwäne, die darauf eingestellt waren, das bittere Wetter besser zu ertragen, boten die einzige Abwechslung für die zwei Krieger.

Der eine sah grimmig aus seinen graublauen Augen auf die eleganten Tiere und spitzte unnatürlich große Ohren, während der andere gähnend einen Schopf schlohweißen Haares in den Nacken warf.

***

»Die Kriegskrähe!«, schrie eines der Kinder, die sich um den Alten versammelt hatten.

Er bedachte das Mädchen, das vielleicht gerade mal sieben Sommer zählte, mit einem strengen Blick, ließ es aber dabei bewenden – obwohl er wenig mehr verabscheute, als unterbrochen zu werden – und fuhr in leicht gereiztem Ton fort.

»Es war tatsächlich die Kriegskrähe, auch wenn man den jungen Mann damals noch nicht so, sondern schlicht Kraeh nannte. Der Name seines Begleiters dürfte ebenfalls ein Begriff sein: Sedain, Tausendtod. Schon damals Freund und Kampfgefährte der Kriegskrähe.«

***

»Gchchcht« machte ein Schwan und reckte dabei drohend seinen Hals, als Sedain das Schweigen brach. »Wir hätten diesen Bastard nicht bezahlen sollen. Das habe ich doch gleich gesagt. Diese Sumpfbewohner sind alles Lügner und Verbrecher.«

»So wie wir«, gab Kraeh zu bedenken. Das Fürstentum Brisak trug seit Jahren eine Fehde mit seinem Nachbarn Rhodum aus. Davon profitierten nicht nur die Orks, die auf der anderen Seite des Flusses erstarkten, sondern auch die beiden Freunde, die gerade eine Waffenladung an den eigentlichen Feind ihres Herrn, den selbsternannten König von Rhodum, verkauft hatten.

»Wir müssen das Gold verstecken«, sagte Sedain und deutete auf den Sack, der klimpernd am Sattel seines Pferds baumelte.

»Versuchen wir erst einmal, einen Weg aus diesem Schlamassel zu finden.«

»Solange der Fluss links von uns ist, können wir uns gar nicht verlaufen«, gab Sedain zurück.

Kraeh balancierte über einen umgekippten Baum. Das morsche Holz gab ächzende Laute von sich als er antwortete: »Du weißt genau, dass ich nicht diesen Spaziergang meinte. Was, glaubst du, passiert wohl, wenn ein Bote Brisak vor uns erreicht?«

Sie versuchten zwar, Kapital aus dem Krieg zu schlagen, aber es wäre nicht nur gegen ihre Ehre gewesen – deren Auslegung sie nach eigenem Ermessen der jeweiligen Situation anpassten –, den Feind mit tauglichen Waffen zu versorgen; es hätte vor allem als Dummheit gelten müssen, sich in einem späteren Kampf den eigenen Waffen gegenüberzusehen. Daher hatten sie Schwerter, Piken und anderes Kriegsgerät aus minderwertigem Stahl an die Grenze gebracht. Die wenigen tauglichen Waffen waren obenauf gelegen, doch der Schwindel war aufgeflogen und so hatte das Geschäft in einem Gemetzel geendet, das keinen der kleinen Gesandtschaft des Gegners am Leben gelassen hatte.

Nach einer Weile der Stille, nur unterbrochen von den Geräuschen der Tiere und ihren eigenen Schritten auf morastigem Grund, setzte Kraeh noch einmal an.

»Weshalb hast du sofort mit dem Töten angefangen? Wir hätten versuchen sollen zu verhandeln.«

»Verhandeln?!«, Sedain, der Größere von beiden, spuckte aus. »Dieser Wurm hat mich einen Betrüger genannt. Du bist einfach zu weich, Kraeh.«

Kraeh blieb kurz stehen, fuhr in alter Gewohnheit mit der freien Hand über den Knauf seines Schwertes, das über seine rechte Schulter ragte, und schmunzelte. Die Klinge auf seinem Rücken hatte einen Tag zuvor vier Männern die Seele aus dem Leib gerissen, etliche Lieder füllten überall im Land die Hallen mit seine Heldentaten, aber Sedain ließ keine Gelegenheit aus, sich über die moralischen Bedenken seines Freundes, die er als Schwäche auslegte, lustig zu machen.

Sedain dachte laut nach. »Mal ehrlich, unser lieber Fürst Bran weiß ganz genau, was er an dir hat. Wenn es nicht anders geht, erzählen wir ihm einfach, dass die Waffen sowieso Schrott waren.«

Kraeh zog an den Zügeln, um sein Tier aus einem Sumpfloch zu ziehen. Mit einem Ruck kamen die Vorderläufe frei und der junge Krieger fiel rückwärts in den Morast. Sein Freund lachte laut auf.

»Manchmal denke ich, zwischen deinen langen Ohren befindet sich nichts als Dreck! Willst du Bran vielleicht erklären, warum wir ihm erst einmal diese bescheuerte Lügengeschichte von Heimaturlaub und so aufgetischt haben?«

Umständlich rieb er den Schmutz von seinem Fellumhang. »Manchmal glaube ich, ihr Halbelfenstricher seid genauso dämlich wie Orks.«

Sedain lehnte an seinem Schimmel. »Du bist nur ärgerlich, weil du im Matsch gelandet bist.«

»Und stinken tut ihr auch wie sie«, grollte Kraeh.

Das Sterben des Tages kündigte sich in den Auen stets mit einem Knistern an. Abergläubische Männer behaupteten, es läge an den Kobolden und anderen Wesen aus dem Feenreich, die sich in ihren Hügeln und Astlöchern anschickten, die Welt der Menschen zu betreten. Sedain und Kraeh neigten dazu, nur an das zu glauben, was sie sehen und anfassen konnten, doch es gab unleugbare Fakten, die die Existenz von Zwischenwelten nahelegten. Wie die Irrlichter, die jetzt in einem für sterbliche Wesen fast unhörbaren Ton summend ihren Weg erleuchteten.

Was ihre eigene Sterblichkeit betraf, waren sie sich beide in Ermangelung eines Beweises nicht sicher. Die Andersartigkeit Kraehs spiegelte sich nicht nur in seinen weißen Haaren, sondern auch in der schnellen Genesung von Wunden wider. Außerdem war niemandem bekannt, wer ihn als Säugling damals vor so vielen Jahren in einen Binsenkorb gelegt hatte. Wenige Tagesreisen von ihrem derzeitigen Standort entfernt war er von einer Fischerfamilie aufgenommen und großgezogen worden. Dort hatte er eine harte und einsame Kindheit erlebt. Als die anderen Kinder in der Siedlung gemerkt hatten, dass es besser war, ihn nicht mit seinen Haaren und seiner Fremdheit ausstrahlenden Art aufzuziehen, waren sie dazu übergegangen, ihn zu ignorieren. Die etwa zwei Sommer ältere Tochter seines Ziehvaters war lange Zeit die einzige Spielgefährtin für den Heranwachsenden gewesen. Schnell hatte Kraeh gelernt, dem guten, aber einfältigen Mann, der sich seiner angenommen hatte, unter die Arme zu greifen. Er holte die schweren Netze ein und nahm Fische aus, aber dem Mann wurde bald klar, dass dem Jungen eine andere Bestimmung als die eines Fischers in die Wiege gelegt worden war. Nach dem Tagewerk übte er sich im Kampf. Mit einem Stock bewaffnet, besiegte er Legionen aus Gestrüpp bestehender Feinde und bewies darin wesentlich mehr Geschick und Leidenschaft als in den handwerklichen Tätigkeiten. Als der erste Saum von Barthaaren sich in seinem blassen Gesicht zeigte, nahm sich der Dorfvorstand, der einzige Mann des kleinen Ortes, der ein Schwert besaß, seiner an. Ein Jahr darauf waren sie unter dem Banner Brisaks zum ersten Mal in die Schlacht gegen die Orks gezogen, die damals in Kriegsbanden über den Rhein kamen. Inmitten der Grausamkeiten der Schlachtfelder wuchs er, begleitet von den Schreien der Sterbenden, zum Mann heran. Als der einzige Krieger seines Dorfes fiel, nahm er dessen Platz ein. Stück um Stück arbeitete er sich fortan in der Hierarchie der brisakschen Armee nach oben. Es war nicht so, als ob ihm das Töten Spaß bereitete, vielmehr stellte sich heraus, dass es schlichtweg das war, was er am besten konnte. Mittlerweile hatte seine Schwester selbst zwei erwachsene Kinder, und der Vater war nicht weit vom Alterstod entfernt. Da Kraeh, den zweithöchsten Rang der Armee bekleidend, ein stattliches Einkommen zustand, hatte das abgelegene Fischerdorf es zu einem relativen Wohlstand gebracht. Nicht bloß Dankbarkeit verband Kraeh mit den Menschen, die ihn aus den Fluten des Flusses gerettet und bei sich aufgenommen hatten, sondern auch Liebe, und wann immer es sich einrichten ließ, besuchte er sie, die Satteltaschen voller Geschenke.

Sedains einzige Leidenschaften hingegen waren der scharfe Stahl an seiner Seite, die zwei Armbrüste, deren filigran verzierte Wurfarme unter seiner Fellweste hervorlugten, und die Freundschaft, die sein Schicksal mit dem Kraehs verflocht. Nach den großen Orkkriegen war immer mehr das angrenzende Rhodum, mit dessen Soldaten man zuvor gemeinsam im Schildwall gestanden hatte, zum Rivalen geworden. Sedain hatte zu jener Zeit als Söldner unter der Standarte des Feindes gedient.

Er entstammte einem Volk mystischer Krieger, die an der Quelle des Rheins herrschten. Man nannte sie Gaesen. Sie waren leicht an den Runentätowierungen zu erkennen, die die größten Teile ihrer Körper schmückten. Niemand wusste, weshalb Sedain seinen Stamm verlassen hatte, aber das bizarre Muster, das sich verästelnd von der rechten Schläfe an seinen Hals hinunterzog, ließ keinen Zweifel an seiner Herkunft.

Nach einem Schlagabtausch beider Mächte war es Kraeh gewesen, der ihn auf dem Feld, auf dem die Schlacht ausgetragen worden war, halb verblutet gefunden hatte. Er hatte seine Wunden versorgt und später behauptet, ihn abgeworben zu haben. Zuerst war es seitens Kraeh Berechnung gewesen, den todbringenden Halbelfen auf seine Seite zu ziehen, nachdem er ihn im Kampf mehrere seiner Männer hatte niedermachen sehen. Im Laufe der Zeit aber hatte sich eine Verbundenheit entwickelt, wie er sie einzig zu seiner Stiefschwester in den Tagen seiner Kindheit empfunden hatte.

Auf einer moosbewachsenen Lichtung machte Kraeh halt. Der Mondschein tauchte den Platz in milchiges Grau.

»Wir bleiben hier bis zum Morgengrauen.«

Die beiden Freunde luden die Pferde ab und richteten sich eine behelfsmäßige Schlafstätte auf dem feuchten Untergrund. Eine Weile lauschten sie noch dem Heulen eines Wolfsrudels. Als es sich entfernt hatte, ließen sie sich vom Schlaf übermannen.

***

Am Morgen brachte ein halber Tagesmarsch Kraeh und Sedain aus dem Sumpfland auf eine weite Ebene. Sie bestiegen ihre Pferde. Im Trab hielten sie auf die in der Ferne bereits zu erkennende Feste Brisaks zu.

Die Spätwintersonne lag matt auf den strahlenförmig angelegten Wehrgängen, als die Hufe der Tiere hart auf Pflasterstein schlugen. Sie hatten das Weideland verlassen und befanden sich nun auf der großen Straße, die nach Südosten folgend das Feindesland Rhodum, die Auen umgehend, mit dem Hauptsitz ihres Herrn verband.

Eine Gewitterfront drängte sich von den jenseitigen Ufern des Rheins in ihr Sichtfeld.

»Es könnte heikel werden, wenn Bran von unsrem kleinen Geschäft erfahren hat«, sagte Kraeh düster.

»Mir schlottern die Knie«, antwortete Sedain ironisch, kniff aber die Augen zusammen, während er an dem höchsten Turm der Festung hochsah, hinter dessen Mauern Fürst Brans Gemächer lagen.

Eigentlich hätten Sträucher und Wiesen allmählich wieder an Farbe gewinnen müssen, doch von vereinzelten Schneeglöckchen abgesehen, lag das Land noch kahl und trostlos im Winterschlaf. Ostara, die Festlichkeit zur Tag- und Nachtgleiche stand in weniger als einem Mond an. Es würde traurig ausfallen, dachte Kraeh, wenn der Frost nicht bald seinen erbarmungslosen Griff lockerte. Zwar gab Kraeh wenig auf die Anbetung von Göttern, dennoch begrüßte er die freie Wahl der Bräuche und Kulte, die Bran seinem Volk zubilligte. Über etliche Generationen hinweg war eine Mischform aus zahlreichen Vielgott-Religionen entstanden. Germanische Gottheiten wurden gleichberechtigt neben keltischen, schamanistischen und anderen verehrt. Auf Brans Standarte, die über der Stadt im Wind flatterte, war zwar der Hammer Donars abgebildet, doch der Grund dafür lag schlicht darin, dass die meisten seiner Krieger sich eben diesem Gott verschrieben hatten.

Die Feindschaft mit dem benachbarten Reich war wohl nicht zuletzt auf den religiösen Konflikt zurückzuführen. Theodosus, der Herr von Rhodum, hatte eine Verschmelzung der, wie man sagte, ehemals die Welt beherrschenden, Eingott-Glaubensvorstellungen zur Staatsreligion bestimmt. Sein Gott hatte keinen Namen. Er wurde als Allvater, König der Könige oder einfach nur als Der Eine angerufen. In alter Tradition des Eingott-Glaubens verdammte Theodosus’ Priesterschaft alle, die andere Gebete sprachen.

Kraeh ließ seinen Schimmel steigen; erst jetzt bemerkte er die beiden anderen Banner links und rechts neben Donars Hammer: die Lilie von Mont und etwas erhöht den roten Bullen des Königs. Maet, der Fürst vom nördlich gelegenen Mont, war regelmäßig Gast in Brisak; nichts Besonderes für Kraeh, auch wenn er den verschlagenen Politiker verachtete – eine Antipathie, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Die Anwesenheit des alten Königs allerdings konnte nur eines bedeuten: Krieg.

Die Armee des Königs war so schwach und ausrangiert wie dieser selbst. Kraeh vermutete, Bran sei es an einer symbolischen Zustimmung gelegen, um eine groß angelegte Offensive gegen Rhodum zu rechtfertigen.

Im Galopp preschten die beiden Freunde auf die Feste zu. Eine Fanfare kündigte ihr Kommen an. Die schweren Flügel des Südtors öffneten sich gerade so weit, dass die Pferde ihr Tempo nicht verlangsamen mussten. Erst nachdem sie den dritten Verteidigungsring durchquert hatten, zügelten sie die Tiere. Zwischen dem dritten und fünften war die eigentliche Stadt angelegt. Frauen und Kinder öffneten Läden und liefen auf die Gassen, die Neuankömmlinge zu begrüßen. Trotz ihrer verwaschenen und abgetragenen Kleider und den Schlammkrusten an den Flanken ihrer Tiere, nickten sie dem einen oder anderen bekannten Gesicht in der vollen Selbstsicherheit und Arroganz ihres Ranges heiter zu. Die Einwohner Brisaks liebten Kraeh, eine Tatsache, die er vor allem der Unbeliebtheit des Generals der Armee und zugleich strengen Stadthalters Berbast zu verdanken hatte. Doch es ziemte sich nicht, öffentlich Anteilnahme an den Sorgen des einfachen Volkes zu zeigen, daher bekundete er sein Wohlwollen nur nachts in den Schenken, wenn ausgeschlossen war, dass einer der hohen Herren zugegen war.

Vor dem Tor des sechsten Ringes banden sie ihre Pferde an und gingen die letzten Schritte zu dem Haupthaus der Festung, an das sich der Bergfried anschloss, zu Fuß.

Sedain ließ zweimal einen stählernen, an der Pforte angebrachten Hammer gegen das Eichenholz schlagen, woraufhin ein Augenpaar sie durch einen Sichtschlitz musterte, bevor ächzend ein Riegel weggeschoben wurde.

Sie betraten eine Halle, in deren Mitte sich eine lange Tafel erstreckte. An ihrem Kopf saß der greise König flankiert von seinen Fürsten Maet und Bran, der in dem Moment, da er die beiden erblickte, aufstand und ein Lächeln aufsetzte. Am Tisch saßen außerdem General Berbast in sein typisches Schwarzbärenfell gehüllt und eine Person, deren Gesicht, wie auch der ganze restliche Körper, von einem schwarzen Kapuzenmantel verdeckt wurde. Da er neben Maet, dem Regenten von Mont, Platz genommen hatte, hielt Kraeh ihn für einen seiner Berater. Abseits standen zwölf Männer in voller Rüstung, jeweils drei aus der Leibgarde der Fürsten und sechs aus der des Königs, die sich aufgrund ihrer gezwirbelten Bärte und scharlachroten Umhänge von den anderen Kriegern abhoben.

Kraeh und Sedain verbeugten sich zuerst vor dem König und schritten dann auf Bran zu. Er war von allen Adligen am schlichtesten gekleidet. Über einer blauen Tunika diente ihm ein Fuchsfell als Schal, nur ein goldener Siegelring zeugte von seiner Stellung.

»Mit Freude kehren wir an deinen Hof zurück«, sprach Kraeh für sie beide.

Bran machte eine wegwerfende Handbewegung. »Warum so förmlich?«

Sie umarmten sich, wobei Sedain der missbilligende Blick Berbasts nicht entging. »Ich bin froh, meine besten Krieger um mich versammelt zu sehen.« Sedain schüttelte er die Hand im Kriegergruß.

»Fahren wir also fort …«, setzte Bran an, doch Berbast unterbrach ihn. »Verzeiht, Herr, aber diese Besprechung ist nichts für Männer von niederem Rang.« Der Hausherr sah erst Berbast, dann Sedain und schließlich den König an. Jener winkte müde ab. Ihm schien die Unterhaltung schon viel zu lange anzudauern.

»General Berbast hat recht«, sagte Sedain ruhig und wandte sich an seinen Freund. »Wir sehen uns später.« Er verbeugte sich noch einmal vor dem König und verließ die Halle, nicht ohne dem General einen Blick zu schenken, der den meisten Menschen nächtelang den Schlaf geraubt hätte. Berbast aber galt neben Kraeh als der beste Schwertkämpfer im ganzen Land, dieser Ruf wurde nur noch von dem seiner Grausamkeit übertroffen. Mühsam verbarg er ein gehässiges Lächeln hinter seinem dunklen Vollbart.

Nachdem die Tür hinter Sedain von einem Diener geschlossen worden war, ergriff Bran erneut das Wort.

»Wie du weißt, Kraeh, hat Theodosus alle, die nicht seinem eifersüchtigen Gott opfern, zu Heiden erklärt. Wir müssen diesen Wurm ein für alle Mal von seinem gestohlenen Thron werfen. Gemeinsam mit unsren Brüdern im Süden«, er deutete auf Maet, »und dem Segen unsres Königs Gunther können wir ein Heer aufstellen, stark genug, Rhodum in Schutt und Asche zu legen.«

Maet räusperte sich und begann, seine Bedenken zu äußern, wobei sein roter Schnurrbart auf und ab tanzte.

Kraeh lehnte sich zurück, Ränkeschmiedereien langweilten ihn. In Gedanken war er bei dem letzten Freudenmädchen, das er gehabt hatte.

Erst als Bran ihn direkt ansprach, wachte er aus seinen Fantasien auf. »… Also, wie viel Mann brauchen wir, Kraeh?«

»Wie viel Mann?«

»Bei Donar! Für die Wutachburg.« Er war offensichtlich verärgert, besann sich aber sofort auf die Verdienste seines zweiten Kriegers. Geduldiger wiederholte er: »Wie viel Mann, um die Burg einzunehmen?« Sie war der nördlichste Außenposten des Feindes und damit nicht weit entfernt von dem Fischerdorf, in dem er herangewachsen war.

»Wie war es eigentlich bei der Familie?«, mischte sich Berbast bissig ein.

Bran überging die Zwischenfrage. »Also?«

Kraeh dachte kurz nach. »Fünfzig Bogenschützen, fünfzig Reiter und hundert Speere.«

Jetzt sprach der König, und seine Stimme klang als sei sie bereits halb aus der nächsten Welt. »Wenn die Wutach gefallen ist, zieht der Bulle in den Krieg, aber ich bin nicht überzeugt, dass dies unsre letzte Möglichkeit ist.« Ein Hustenanfall schüttelte seinen ausgemergelten Körper, woraufhin ihm einer seiner Leibgardisten half, sich aufrechter hinzusetzen.

Der in schwarzen Stoff Gehüllte drehte seinen Kopf zu dem alten König, die Falten, die sein Gewand warf, schienen wie Schatten zu fließen, und Kraeh wunderte sich, dass er der merkwürdigen Gestalt nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Von seinem Gesicht war nichts zu erkennen außer einem schmallippigen Mund und einem gelb funkelnden Auge. Der Ton, in dem er sprach, war überaus angenehm und erinnerte an das Gurgeln eines Flusses vor einer Stromschnelle. »Ihr«, sagte er und breitete seine behandschuhten Hände aus, »seid die Herren des Rheins. Nicht die Orks oder die Zauberin jenseits der Fluten, auch nicht der verblendete Emporkömmling von Rhodum. Ihr seid es! Doch eure Dörfer werden geplündert, eure Frauen und euer Vieh werden geraubt. Wenn ihr jetzt Schwäche zeigt, werden sie bald mit Booten über den Fluss kommen und eure Reiche werden zerfallen. Es ist Zeit für Eisen und Blut.«

Bran nickte, während Maets machthungriger Blick das Funkeln der unheimlichen Augen des Redners angenommen zu haben schien. Nur Gunther wirkte immer noch skeptisch.

Kein Anzeichen von Gebrechlichkeit war mehr an ihm auszumachen, als er sagte: »Fällt die Wutach, haben wir einen Krieg. Niemand«, er fixierte ein gelbes Auge, hielt dem Blick jedoch nicht stand, »entscheidet in diesen Landen außer mir!«

Dies war natürlich eine Fehleinschätzung, wie Kraeh wusste.

Seit jeher regierte derjenige mit den meisten Speeren, doch niemand würde es wagen, offen gegen die Krone vorzugehen. Dies war normalerweise auch kaum möglich, da sich der König, seiner militärischen Schwäche bewusst, in den Rangeleien unter seinen Fürsten stets neutral gab. Just als Kraeh dies dachte, machte Gunther eine Gebärde, die seine vorangegangenen Worte zurücknahm und die endgültige Entscheidung seinen Fürsten überließ. Auf dem Gesicht von Maet zeigte sich Feindseligkeit, in den Zügen Brans Verachtung. »So sei es«, sagte er. »Berbast und Kraeh werden noch diesen Mond Rhodums älteste Festung einnehmen.«

»Gemeinsam mit meinem Heerführer und hundert Männern von Mont«, pflichtete Maet bei. Er fürchtete wohl um das Ansehen, das ihm bei einem siegreichen Alleingang Brisaks verloren ginge.

»Entschieden«, schloss der König die Zusammenkunft. »Seid euch jedoch im Klaren darüber, dass ihr nicht mit meinem öffentlichen Zuspruch handelt.« Gemeinsam mit den sechs Mann seiner Wache verließ er Haltung wahrend die Halle durch eine Hintertür.

»Alter, sturer Esel«, brummte Bran.

Maet kratzte sich an der Stirn. »Und zu allem Unglück hat sein Weib schon wieder geworfen.«

Irinis war die dritte Frau des Königs. Sie war jung, eitel und schön, allerdings etwas einfältig, von niederster Geburt und harmlos ausgedrückt, verschwenderisch mit ihren Reizen. Vor dreißig Jahren hätte der alte Bulle ihren Hunger womöglich stillen können, aber heute, da er kaum sein Schwert aus Stahl halten konnte … Kraeh lachte.

»Du findest das lustig«, giftete der Fürst von Mont ihn an. »Sein ganzer Hof spricht von ihrem neuen Liebhaber, einem rohen Stallburschen, der nicht bis drei zählen kann. Aber solange der alte Narr die Brut als legitim anerkennt …«

»Genug!«, brachte Bran ihn zum Schweigen. »Wir sind alle Brüder und Gunther ist unser König.«

Maet widersprach nicht. Auch wenn er den gleichen Titel wie Bran trug, war er sich seiner Abhängigkeit von dem stärkeren Nachbarn allzu bewusst. Seine eigenen Grenzen waren seit Jahren Angriffen von den im Norden und Osten lebenden wilden Stämmen ausgesetzt. Fast jedes Jahr musste Brisak Truppen schicken, um sie zu halten.

»Lass mich die Burg alleine einnehmen«, forderte Berbast, »ich brauche keine Hilfe von einem Fischerjungen.« Aber Bran schüttelte den Kopf und damit war das Thema für ihn erledigt.

Kraeh sprang auf, dass sein Stuhl zu Boden fiel. Instinktiv griff er über die Schulter. Als er jedoch in die Augen Brans sah, seines Gönners und vielleicht sogar Freundes, hielt er inne. Der General war ebenfalls aufgestanden, die Hand am Griff seines mächtigen Krummschwerts. Kraeh winkte ab, hob seinen Stuhl auf und ließ den Mann, der ihn um einen Kopf überragte, allein stehen, während er sich seufzend wieder setzte. Berbasts Brustpanzer glitzerte im Schein des von Fackeln erleuchteten Raumes.

»Mit deinem legendären Listenreichtum verlören wir zu viele gute Männer«, sagte Kraeh mit schneidender Ironie, ohne seinen daraufhin vor Wut schäumenden Vorgesetzten eines Blickes zu würdigen.

»Ihr beginnt sofort mit der Planung«, sprach Bran betont gelassen. »Sollte einer von euch alleine zurückkehren, werde ich ihn seiner Stellung entheben. Passt gut auf euch auf.« Er lächelte.

Kraeh hätte ihn gerne unter vier Augen gesprochen, um ihn nach der Rolle des Vermummten zu fragen, doch wollte er Sedain nicht länger allein vor dem Tor stehen lassen. Im Gehen wandte er sich an Berbast: »Bei Sonnenuntergang an der Ostmauer. Diesmal nur, um unser Vorgehen zu planen.«

Berbast nickte mürrisch.

Draußen wartete sein Freund mit gereizter Miene. »Na, wie war eure geheime Besprechung?«, fragte er, das Wort geheim strapazierend.

Kraeh ging nicht auf den Vorwurf ein. »Nichts, was wir nicht schon geahnt hätten. Politiker eben«, sagte er schlicht.

»Ja, Rattenpack!«, zischte Sedain und sah sich um, ob sie beobachtet wurden. Als er sich sicher war, dass dem nicht so war, drang er weiter auf Kraeh ein.

»Und unser kleines Geschäft?«

»Sie wissen davon.«

»Was?!«, entfuhr es dem Halbelfen.

»Mach dir keine Sorgen. Bran braucht jeden Mann, der ein Schwert halten kann. Vergiss es einfach.«

Sedain beruhigte sich. »Schon passiert.«

Sie begaben sich in die Offiziersschenke. Bereits nach einem Humpen Met verabschiedete Kraeh sich von den zechenden Soldaten.

***

Kraeh war absichtlich früher an der verabredeten Stelle als ausgemacht. Es war ihm zu kalt, sich auf einer der Zinnen niederzulassen, so stand er auf die Unterarme gestützt und überblickte das weite Tal, das sich hinter dem äußersten Wall erstreckte. Im Schimmer des letzten Lichtes lag das Land, für das er kämpfte, in warmes Orange getaucht da. Unter ihm balgten die Söhne und Töchter Brans in einem Innengarten mit denen des Königs. Ihr Lachen verstummte, als die Kindermädchen versuchten, sie mit erhobenen Zeigefingern einzusammeln, und damit ihr Spiel störten.

Etwas stimmte ihn nachdenklich, aber er konnte nicht genau ausmachen, was es war. Auch wenn in der ganzen Stadt großes Aufheben um die Aussicht eines neuen Krieges gemacht wurde, war das eigentlich nichts Neues. Das Wort Frieden kannte er der Bedeutung nach, es hatte für ihn jedoch nicht mehr Wirklichkeitscharakter als für einen Fisch die Gemütlichkeit einer Feuerstelle.

Es musste etwas anderes sein, das seine Instinkte alarmierte. Er ging die Situation des Reiches systematisch durch. Zuerst einmal gab es da ihren Nachbarn Theodosus. Sein Bruder, der eigentliche Thronerbe Rhodums, war bei einem dubiosen Jagdunfall ums Leben gekommen, fast ebenso merkwürdig war der Tod seines Vaters Marc gewesen. Aber was bedeutete das schon? Auch Bran war nicht zimperlich, wenn es um den Erhalt seiner Macht ging. Theodosus war nicht mehr als ein Machthungriger mit einer selbst gebastelten Krone auf dem Haupt, der von seinen Priestern schlecht beraten wurde und bald in seine Schranken verwiesen würde.

Die Orks brauchten noch Jahre, bis sie an eine Überquerung des Flusses denken könnten, zumal sich in ihrer Flanke der Wald der Zauberin befand. Kein Mann, und das galt auch für Orks, sagte man, sei jemals aus ihrem Reich zurückgekehrt. Ihre Kriegerinnen wurden Druden genannt und ihre Unbarmherzigkeit war legendär. Aus den Schädeln ihrer Opfer hatten sie einen Grenzzaun errichtet. Kraeh hatte ihn einst mit eigenen Augen gesehen. Menschen, Orks, Trolle – jede Rasse schien ihren Blutzoll gezahlt zu haben. Ein Schauer jagte ihm über den Rücken. Doch da sie nie ihren Wald verließen, stellten die Druden keine Gefahr dar, zumindest keine erkennbare. Dann gab es noch die Fersen. So wurden all die Landstriche genannt, in denen wilde Stämme lebten. Mit ihnen gab es keinen Handel. Von gelegentlichen Überfällen abgesehen, verhielten sie sich ruhig. Da sie aufgrund ihrer großen Zahl und kaum ausgeprägten Organisationsform nicht zu befrieden waren, hatte es sich eingebürgert, ihre Gebiete schlicht zu umgehen. Sie waren wie unwegsame Natur und machtpolitisch daher zu vernachlässigen.

Was also war es, das ihn beunruhigte? Welches Detail hatte er übersehen? – Wer war vorhin bei der Besprechung alles zugegen gewesen?

Hier unterbrach ihn das Geräusch von Lederstiefeln auf Steinboden in seinen Überlegungen. Berbast stieg die Stufen der Treppe hinauf, die auf den Wehrgang führte. Er war älter als Kraeh und hätte schwerfällig auf ihn gewirkt, wenn er diesen Muskelberg nicht schon hätte kämpfen sehen. Er war zwar aufbrausend und leicht zu reizen, verlor aber nie die Kontrolle über sich. Ein Wolf im Bärenpelz, dachte Kraeh.

Der General trat neben ihn. »Schaust du dir an, was du mit deinem Meuchelfreund verraten hast?«

»Es ist ein schöner Abend«, sagte Kraeh unbekümmert, wohl wissend, dass es keinen Sinn hatte, mit dem ausschließlich schwarz-weiß denkenden Berbast zu diskutieren.

Weit unter ihnen öffnete sich ein Tor einem Tross von Wagen, die mit frischem Fisch beladen waren.

»Also gut, wir haben sowieso keine Wahl. Diesmal kämpfen wir noch Seite an Seite. Aber irgendwann, Kraeh, das verspreche ich dir, werde ich dich töten.«

»Irgendwann«, Kraeh sah ihm tief in die Augen, »werde ich dein Leben bei dem Versuch beenden.«

Berbast rümpfte die Nase. »Hast du einen Plan?«

»Vielleicht …«

***

Auf der Kuppe eines Hohlweges lagen Kraeh, Sedain und neben ihnen zwanzig Speerträger in den frühen Morgenstunden flach auf dem Bauch. Die Streitkraft Brisaks war vor sechs Tagen ausgerückt. Sie waren bei Nacht geritten und hatten tags geschlafen. Zwei Sonnenläufe zuvor hatte sich die Truppe Kraehs, deren andere Hälfte sich auf der gegenüberliegenden Seite des Hohlweges leicht versetzt verborgen hielt, von der Hauptstreitkraft unter der Führung Berbasts getrennt. Wenn alles nach Plan verlief, würden sie sich bald wieder vereinen.

Sie hatten es geschafft, sich unbemerkt hinter die feindlichen Linien zu bewegen. Seit der Mond hinter den hohen Bergen im Westen verschwunden war, lagen sie nun schon auf dem kalt-feuchten Boden und warteten.

»Du solltest dich in Acht nehmen, wenn wir erst einmal die Wutach eingenommen haben«, flüsterte Sedain Kraeh zu, »Berbast hasst dich.«

»Er hasst jeden. Außerdem wird er kaum etwas unternehmen, bevor wir heil zurückgekehrt sind. Ich habe dir doch erzählt, was Bran gesagt hat.«

Sedain drehte sich auf die Seite, womit er näher an das Ohr seines Freundes rutschte.

»Glaubst du, Bran kann auf beide seiner Heerführer verzichten?«

Kraeh wurde ärgerlich. »Hör zu, es ist mir gleich, was Berbast vorhat. Greift er mich an, hole ich mir seinen Kopf.«

Sedain schwieg, was ihn noch mehr reizte.

»Was?! Glaubst du, er würde gegen mich gewinnen?«

»Er hat noch nie einen Zweikampf verloren. Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher … Ich könnte mich um ihn kümmern, noch ehe er die Gelegenheit bekommt, dich herauszufordern.«

»Ochsenpisse!«, keifte Kraeh.

»Pst!«, zischte der Speerträger neben ihm. Sein Name war Hentrik. Ein fähiger Bursche, der nach Kraehs Auffassung nur etwas zu ernst für sein Alter war.

Dort wo der Hohlweg eine Biegung machte, waren Reiter aufgetaucht. Es waren Hauptmänner Rhodums, leicht zu erkennen an ihren plattenverstärkten Lederrüstungen und den Kreuzen auf den großen Schilden. Bran, der einen nicht geringen Teil seiner freien Zeit in der selbst angelegten Bibliothek verbrachte, hatte ihnen einmal erzählt, Theodosus habe seine Armee nach römischem Vorbild organisiert, aufgrund der meist leeren Kriegskasse allerdings nur einen traurigen Abklatsch jener Hochkultur erreicht.

Dann erschienen auch die ersten Karren und mit ihnen das Gesinde. Langsam bewegte sich der Kampfverband auf den Hinterhalt zu. Doch Kraeh ließ nicht locker. »Kennst du jemanden, der einen Zweikampf verloren hat und noch am Leben ist?«

»Reg dich nicht auf«, mahnte Sedain.

»Nein – mal ehrlich –, kennst du jemanden? Nein, natürlich kennst du keinen, denn wer im Zweikampf unterliegt, stirbt. So ist das nun einmal. Also, was für ein mieser Verdienst ist das schon?«

Sedain legte den Zeigefinger an die Lippen.

Mittlerweile waren acht von Ackergäulen gezogene Wagen auszumachen. Eine Nachhut von Kriegern bog gerade in ihr Sichtfeld.

In dem Moment fiel Kraeh ein, was ihn die ganze Zeit über nachdenklich gestimmt hatte: der Verhüllte bei der Beratung! Wer war er, welche Position hatte er inne? Wie hatte er den nur vergessen können? Bei dem Gedanken an ihn sträubten sich seine Nackenhaare. Es war merkwürdig … Wie man sich am Morgen vergeblich bemüht, die Bilder eines Traumes wiederzubeleben, ging es ihm mit dem Kapuzenmann in Brans hoher Halle.

»Sedain …«

Die Nachhut war jetzt auf der Höhe, wo einige Schritt über ihnen die anderen Männer Brisaks auf ein Zeichen warteten.

Kraeh sprang auf und riss sein Schwert aus dem Schultergurt. »Angriff!«

Schon surrte ein Bolzen aus Sedains Armbrust und warf den ersten Reiter Rhodums aus dem Sattel. Im Lauf schoss der Halbelf den zweiten ab, der sich in die Schulter eines weiteren Mannes grub. Dann war Kraeh und mit ihm fünfzehn Elitekrieger unter den überrumpelten Feinden. Die Falle schnappte zu. Überrascht, in ihrem eigenen Land in einen Hinterhalt zu geraten, gefangen zwischen Hammer und Amboss, wehrten sie sich ebenso verzweifelt wie aussichtslos.

In Todesangst klammerte sich der letzte Mann Rhodums, der noch am Leben war, an einem Strauch fest, im Versuch, den blutgetränkten Hohlweg kletternd zu verlassen, bis Kraehs Klinge ihm tief in den Rücken fuhr.

Mit dem Ärmel seiner Fellweste wischte Kraeh sich das Blut aus dem Gesicht. Reue zeichnete seine Züge, als er auf die Leichen der Bauern hinabsah, die sie geschlachtet hatten wie jene das Vieh, deren getrocknetes Fleisch die Wagen füllte. Er verabscheute es zutiefst, Unschuldige zu töten, doch ein einziger Überlebender hätte gereicht, sein und das Leben seiner Männer in Gefahr zu bringen – ein Risiko, das er nicht bereit war einzugehen. Sedain sah die Bitternis im starren Blick seines Freundes und übernahm das Kommando. Er wies an, die Leichen aus dem Weg zu räumen. Es kostete sie den restlichen Morgen und den halben Tag, die Körper zu entkleiden, den Hang hochzuschaffen und sie notdürftig zu verscharren. Ihre eigenen Toten, drei an der Zahl, wurden abseits der anderen begraben. Alle drei waren Anhänger Donars und hätten daher eigentlich verbrannt werden müssen, doch es stand nicht zur Debatte, ein Feuer zu entzünden. So falteten sie ihre Hände um die Schwertgriffe, sprachen kurze Worte des Abschieds und bedeckten sie mit Erde.

Alsdann befahl Kraeh, der seine Fassung zurückgewonnen hatte, die Wagen zu leeren, worin sich unter Decken zehn der Krieger versteckten. Hinzu wurden Vasen mit Lampenöl, das sie mitgebracht hatten, geladen. Die beiden Verletzten, die sie zu beklagen hatten, wies er an, sich nach Hause durchzuschlagen. Der Rest zog die Gewänder der Toten über ihre eigenen. Obwohl auf einigen Blutspritzer zu sehen waren, schätzten sie die Maskerade als ausreichend ein. Kraeh wählte die Verkleidung eines Bauern. Da die einfachen berittenen Soldaten keine Helme getragen hatten, wäre sein weißes Haar verräterisch gewesen, das er nun unter einer Wollmütze verbarg. Ihre Waffen versteckten sie zwischen den Ölbehältern.

Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Nach einem halben Tagesmarsch konnten sie in der Ferne bereits die Wutachfeste ausmachen. Ihre Mauern bildeten einen ungefähr acht Mann hohen Halbkreis, dessen Enden in einen Felsen wuchsen. Die ganze Feste bestand nur aus einem riesenhaften Turm und dem ihn umgebenden Mauerwerk. Sie galt gemeinhin als uneinnehmbar. Kraeh erinnerte sich daran, wie sein Ziehvater ihm einst erzählt hatte, Riesen hätten die zentnerschweren Steinbrocken von den Rheinufern hergeschleppt, mit bloßen Händen zurechtgeschlagen und dort als Bollwerk gegen die Götter aufgetürmt. Kraeh lächelte innerlich; es würde eine Handvoll Menschen, nicht Götter sein, die jenen Koloss aus Fels und behauenem Stein zu Fall bringen würde.

Es wurde bereits dunkel, als das mächtige Fallgitter hochgezogen wurde. Im Wald zu ihrer Linken reflektierte etwas einen der letzten Sonnenstrahlen. Sedain, der in einer der gestohlenen Rüstungen und dem roten Umhang der Hauptmänner Rhodums den Zug anführte, hoffte, dass es oben auf der Mauer unbemerkt geblieben war.

»Heil dem einzig Wahren!«, schallte eine Stimme weit über ihnen.

»Und König Theodosus!«, rief Sedain zurück.

Kraeh atmete auf, als er unter dem Gitter hindurch war. Die List schien aufzugehen.

Im Innenhof erwartete sie ein hünenhafter Mann in rotem Mantel, gleich dem Sedains. Hinter ihm standen gut zwanzig Mann in Waffen. Kraehs Augen suchten die Mauern ab, überall standen kampfbereite Soldaten; mindestens ein Drittel, schätzte er, trug Bögen. Katapulte und Speerschleudern standen bereit, schnell gespannt zu werden. Die ganze Besatzung der Feste hatte sich auf einen Angriff vorbereitet. Sedains Blick traf den Kraehs.

»Ihr kommt spät, Leodinis«, sagte der Hüne an Sedain gewandt. »Unsre Späher haben berichtet, dass die Armee Brisaks ausgezogen sei.« Er stieß ein dröhnendes Lachen aus, dem sich einige der Männer hinter ihm anschlossen. »Diese Narren dachten wohl, wir würden sie nicht bemerken. Gab’s Probleme unterwegs?«

Sedain schüttelte den Kopf.

»Bringt die Wagen in die Ställe.«

Der Halbelf winkte, woraufhin die verkleideten Krieger die Gäule antrieben. Auf Kraeh wirkten ihre Bewegungen zu nervös und sie zögerten ein wenig zu lange, ehe sie den richtigen Weg einschlugen. Die Sache würde schiefgehen. Oben auf den Zinnen gähnte ein Bogenschütze, zwei unterhielten sich auf ihre Piken gelehnt hinter vorgehaltener Hand über die Regeln eines Würfelspiels. Das Gefühl von Lebendigkeit durchströmte Kraehs Adern.

Sedain war mit der Vorhut stehen geblieben. Den Kopf gesenkt vermied er einen jeglichen Augenkontakt. Der erste von den acht Wagen hatte die Stallungen erreicht und verschwand nun im Inneren. Ein Spion hatte ihnen berichtet, es gäbe einen Weg, der den Stall mit dem Überbau des Tores verband, von dem aus das Fallgitter heruntergelassen und hochgezogen wurde.

Kraeh hatte sich zurückfallen lassen und stand seitlich vor dem feindlichen Hauptmann.

»Hey, Leodinis, du hast da Blut an …«, sagte dieser gerade. – Sie waren aufgeflogen.

Kraeh machte einen Satz vorwärts aus der Reihe heraus, zog ein Schwert unter einer Decke hervor und ließ es durch die Luft sausen. Knapp vor der Kehle des Hauptmannes kam es zum Stehen. Mit der anderen Hand packte er ihn an der Schulter. Für einen Moment regte sich nichts, dann rief Kraehs Gefangener. »Macht sie nieder!«

Plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Die Männer auf den Zinnen wandten sich um spannten ihre Bögen, während die unten stehenden Krieger beider Seiten ihre Schwerter aus den Scheiden rissen. »Vorwärts!«, schrie Kraeh, den Hauptmann als lebendes Schutzschild vor sich haltend. Dann surrten Pfeile durch die Luft. Den Männern Brisaks gelang es, vier der Wagen unter das Dach der Stallungen zu schaffen, die übrigen wurden mit Pfeilen gespickt. Schmerzensschreie füllten den Innenhof, als die durchbohrt wurden, die es nicht rechtzeitig aus ihren Verstecken auf den Wagen geschafft hatten. Kaum war der Kampf entbrannt, war er auch schon vorüber. Nur wenige hatten die Klingen gekreuzt, jeder war, so schnell er konnte, unter das schützende Dach gerannt. Sedain war von einem Pfeil aus dem Sattel geworfen worden, woraufhin Kraeh – den leblosen, mit Pfeilen übersäten Körper des Hauptmannes beiseiteschleudernd – und ein weiterer Mann ihm zu Hilfe geeilt waren. Die feindlichen Soldaten waren unter dem Beschuss ihrer eigenen Kameraden zurückgewichen. Sedain stützend war es den dreien mit letzter Kraft gelungen, sich in den Stall zu retten.

Mehr als die Hälfte der Eindringlinge war bereits tot oder wurde im Moment aufgespießt. Auf Kraehs Anweisung hin wurde die Tür, die sie von den mordenden Soldaten trennte, zugestoßen und mit allem, was sie an Inventar finden konnten, verrammelt. An einen Balken gelehnt verschnauften Sedain und Kraeh einige Atemzüge lang, während draußen Rufe nach einem Rammbock erklangen.

»Ein hervorragender Plan«, stöhnte Sedain und brach den Pfeil ab, der ihm in der Schulter steckte.

»Danke Leodinis«, sagte Kraeh, auf gleiche Weise mit einem Pfeil in seinem Oberschenkel verfahrend, »aber das Beste kommt jetzt.« Keuchend richtete er sich auf. Kein Wort der Klage kam über die Lippen des Dutzends grimmig dreinblickender Krieger. Sie warteten still, einige mit bloßen Händen damit beschäftigt, die Blutungen ihrer Wunden zu stoppen. »Holt das Öl. Und ihr« Kraeh deutete auf die wenigen Unverletzten, »sucht einen Weg, der uns hier herausbringt.«

Obwohl nur vier Wagenladungen zur Verfügung standen und einige der Tonamphoren in Scherben lagen, würde es ausreichen, dachte Kraeh. Als einer der Krieger Kraehs Schwert fand und es ihm reichte, nickte er erleichtert. Es war ein Geschenk Brans, ein gut geschmiedeter Anderthalbhänder, bestens ausbalanciert und mit einem für seine Länge außergewöhnlich geringen Gewicht.

Die hölzernen Wände und Balken wurden mit dem Öl übergossen, während es im Takt gegen die Tür donnerte. Nicht mehr lange und die Barrikade würde nachgeben, schon flogen Späne und Splitter umher, Pferde wieherten in ihren Boxen und bäumten sich auf.

Da hatte Sedain einen Einfall. Er riss ein Stück Stoff von seinem Umhang und tränkte es in der Flüssigkeit, deren Geruch den Raum schwängerte. Eilig knotete er den Fetzen um einen aufgelegten Bolzen. Er suchte einen Spalt in der Wand, entzündete den Stoff mit einem Feuerstein und schoss auf eine Lache, die sich unter einem der Wagen im Innenhof gebildet hatte. Die Soldaten ließen von der Tür ab, als sich der Wagen zischend in Brand setzte.

Kurze Zeit später kamen die, die Kraeh ausgeschickt hatte, zurück. »Weiter hinten gibt es eine Treppe, die ins Innere der Mauer zu führen scheint.«

»Also los«, sagte Kraeh, »bevor die Narren da draußen auf die gleiche Idee kommen.« Blut rann ihm von seinem Streifschuss den Hals hinab. Er wartete, bis Sedain, den zwei Männer stützen mussten, an ihm vorbei war, und holte Zunderbüchse und Feuerstein aus einer Tasche. Als der Zunder brannte, ließ er ihn fallen. Ohne sich umzuschauen, rannte er, ungeachtet der Schmerzen in seinem Bein, den anderen hinterher. Hitze breitete sich hinter ihnen aus, als sie die Treppe hinter sich hatten und in einen engen Gang einbogen. Wegen der niedrigen Decke mussten sie geduckt laufen. Wo Sedain die Wände streifte, hinterließ er Blutspuren.

Beißender Rauch fraß sich in ihre Lungen. Schließlich erreichten sie mehr tot als lebendig eine eisenbeschlagene Tür. Gegen seine Gewohnheit dankte Kraeh den Göttern, dass sich die Tür als unverriegelt erwies. Er hatte jedoch nicht viel Zeit dafür, denn in dem engen Raum wurden sie von drei Männern erwartet, die sofort zu ihren Waffen griffen. Bis Kraeh über die Schwelle trat, war die Besatzung ebenso wie ein weiterer seiner Kämpfer bereits in die nächste Welt befördert worden.

Er schloss die Tür hinter sich, schob den Riegel vor und machte sich unverzüglich an dem Seilzug zu schaffen. Mit vereinten Kräften gelang es den Überlebenden schließlich, das schwere Fallgitter ächzend hochzuziehen.

Sedain war zu schwach, um ihnen zu helfen. Er lehnte an einer Wand und sah durch eine Schießscharte. »Sie kommen«, brachte er schmerzverzerrt hervor.

Das gerodete Land vor der Feste war auf einmal in hektischer Bewegung. Die Feuersbrunst hatte bereits die oberen Wehrgänge erreicht und arbeitete sich nun an der Balustrade des großen Turms hoch. Die Flammen, die an allem, was ihnen als Nahrung diente, leckten, spiegelten sich in den Waffen und Rüstungen der kleinen Armee, die aus den Wäldern auf die Ebene sprengte. An ihrer Spitze ritten Berbast und Maet. Zum ersten Mal war Kraeh erfreut über den Anblick des verschlagenen Nachbarfürsten, der offensichtlich Wort gehalten hatte.

Vereinzelte Pfeile durchschnitten die Luft, doch sie konnten den Angriff nicht mehr aufhalten. In dem Augenblick, da Berbasts Streitross unter ihnen hindurchdonnerte, traten Kraeh und seine verbleibenden Männer die Tür zu den Zinnen auf und das Schlachten begann.

Kurze Zeit später war die Wutach in Blut und Feuer gefallen.

***

Zur gleichen Zeit, viele Tagesmärsche südwestlich, saß Rhoderik, ein in die Jahre gekommener Krieger, an einem Teich. Gedankenverloren starrte er ins trübe Wasser und wieder einmal erschrak er über das Grau an seinen Schläfen. Der Teich war angelegt, ebenso wie der zu dieser Jahreszeit wenig erfreuliche Rosengarten um ihn herum. Er befand sich in Triberkh, seit Gründung des Reiches der Sitz der Könige. All die letzten Jahre hatte er sich gewünscht, noch einmal für seinen König Gunther in die Schlacht zu ziehen, und jetzt, da die Zeit gekommen schien, spürte er die Müdigkeit in seinen Knochen. Den ganzen Vormittag hatte er mit Schwertübungen verbracht und war erschrocken gewesen, wie viel an Kraft und Schnelligkeit er eingebüßt hatte.

Seine Aufgabe war es, die zwei jüngsten Kinder Gunthers zu beschützen. Eine Ehre, wie der König dem alten Freund stets beteuerte, doch die Kriege waren weit entfernt, und es hatte keine Gefahr bestanden, vor der er Heikhe und den kleinen Gunther hätte bewahren müssen. Über Nacht hatte sich das geändert. Oder war es nur die Fantasterei eines alten Mannes, geboren aus Erinnerungen an bewegtere und ruhmreichere Tage?

Nein. Die Stimme, die letzte Nacht im Traum zu ihm gesprochen hatte, war real gewesen. Er war nicht alt, sondern erfahren und sein König brauchte ihn, disziplinierte er sich. Er verkrampfte die Rechte zur Faust und begutachtete die weiß hervortretenden Knöchel.

Im Stillen verabschiedete er sich von dem Garten, in dem er so viele ruhige Tage verbracht hatte, und machte sich auf den Weg in seine Kammer. Die Zeit drängte.

Seine Miene war eisern, als er Orgflaed gürtete, was in der Sprache der Godi Orktod bedeutete. Unter Protest hatte er die breite Klinge von Gunther angenommen, mit dem Versprechen, sie einst jenem seiner Söhne zu geben, der König werden würde. Es kostete ihn Mühe, die Riemen seines Lederharnisches festzuziehen. Wenn die Frau in seinem Traum recht behielt, würde er seinen Freund und König niemals wiedersehen. Er verbot sich jedes Gefühl der Trauer, während er, schon im Gehen, einen abgetragenen Umhang überwarf.

Er packte Tasche und Rucksack, die er bereits nach der Mittagsmahlzeit mit Proviant und einigen anderen nützlichen Dingen gefüllt hatte, und machte sich auf zu den Gemächern seiner Schützlinge.

Die langen Gänge hindurcheilend überlegte er sich erneut, die Bediensteten und Krieger in der Burg zu warnen, schüttelte den Gedanken jedoch ab. Wer würde ihm Glauben schenken? Es würde zu nichts als Witzeleien über die Geilheit eines einsamen Mannes führen, dem eine halb nackte Frau im Traum erschienen war.

In der Kammer angekommen, fand er die Kinder schlafend vor. Er lud den gerade mal sieben Sommer alten Knaben auf die Schulter, wovon die vier Jahre ältere Schwester erwachte. Die Augen weit aufgerissen, legte sie ohne Fragen ihre zierliche Hand in die entgegengestreckte des alten Kriegers.

Wortlos huschten sie durch den beim Bau der Burg angelegten Fluchttunnel. An seinem Ende schob Rhoderik einen Busch beiseite.

»Mir ist kalt«, greinte Heikhe, deren bloße Füße über den Waldboden tapsten. Über ihnen war Hufgetrappel zu hören. Hektisch kramte er zwei Wolldecken aus den Halterungen des Rucksacks. Auch Gunther war erwacht und hatte zu weinen begonnen. Doch sein Klagen ging unter in Kampfeslärm und Schmerzensschreien. Nachdem er die Kinder in die Decken gewickelt hatte, wies er sie an, sich festzuhalten. Den Knaben auf den Schultern, das Mädchen vor der Brust trugen seine schweren Beine sie in den dunklen Wald.

»Wohin gehen wir?«, wollte Heikhe ängstlich wissen, wobei sich ihre Fingernägel in den Stiernacken ihres Entführers gruben.

»An den Rhein. Dort werden wir einen Mann zu jung für sein weißes Haar finden«, wiederholte Rhoderik die Prophezeiung aus seinem Traum.

***

Hinter dem Thronsaal Brisaks befand sich ein Beratungsraum. Das einzige Möbelstück war ein Tisch mit vier Stühlen. Die übermannshohen Fenster tauchten die Wandmalereien neben und über der schmalen Tür in das dunkle Rot der Abendsonne. Beinahe schienen die Fabelwesen aus den Jagdszenen zum Leben zu erwachen. Bran stand vor den Bildern, seine Fürstenkrone lag schwerer als sonst in seiner Hand. Schon seit Stunden hatte er kein Wort gesprochen und doch war er nicht allein. Im einzigen Winkel des Raumes, in den kein Licht fiel, stand der Seher. Mit verschränkten Armen harrte er düster auf eine Reaktion des Fürsten. Er hatte ihm mitgeteilt, wie der König gefallen war und auf welche Weise weiter vorzugehen war. Seiner Miene war die Verachtung für all jene menschlichen Schwächen abzulesen, die Bran wie hunderttausend Nadelstiche quälten. Treue, Mitgefühl, Ehre – alles Zeichen der Mittelmäßigkeit, und gerade gefährdeten sie seinen Plan.

Die Krone fiel zu Boden.

Bestürzt trat der Seher aus dem Halbdunkel und hob sie auf.

Er lehnte sich an die marmorne Tischplatte und schnaubte missgelaunt. Er verspürte den Drang, Leid zuzufügen, zwang sich aber, seine Lust später auszuleben. Tief unter den Mauern der Stadt wartete ein ganzer Käfig voller Waisenkinder auf seine Zuneigung; sie würden sich gedulden müssen, Bran durfte jetzt nicht umkippen.

»Mein Fürst«, begann er unterwürfig, »all unsre Wünsche sind in Erfüllung gegangen: Eure Armee war siegreich, Theodosus ist geschwächt.« Den Zynismus jedoch konnte er sich nicht verkneifen, als er fortfuhr: »Nach dem ach so tragischen Tod des Königs seid Ihr nun der mächtigste Mann in diesen Landen. War es nicht das, was Ihr immer wolltet?«

Bran kämpfte innerlich mit sich selbst, er war zu weit gegangen, um umzukehren.

»Und die Orks?«, sann er. »Sie würden lieber zu Hunderten vor unsren Mauern sterben, als einen neuen Hochkönig auf dem Thron zu sehen.« Sein Blick glitt über ein Gemälde, auf dem ein Ritter mit seiner Lanze nach einem geflügelten Dämon stieß. »Und was ist mit Kraeh? Er ist anders als Berbast. Es wird nicht leicht, ihn von unsrer Sache zu überzeugen …«

»Ich kenne sein Schicksal«, warf der Schwarzgekleidete ein. »Kein Wort zu ihm«, setzte er mahnend hinzu.

Bran fröstelte. »Er ist wie ein Sohn für mich.«

Langsam kam sein Gesprächspartner auf ihn zu. Die Bewegungen wirkten bedrohlich. Kurz vor ihm blieb er stehen und warf seine Kapuze zurück. »Wir alle bringen Opfer, um das große Ziel zu erreichen.« Der Fürst wusste nicht, was ihn mehr beunruhigte: das reptilienhafte, gelb schimmernde rechte Auge oder die leere Höhle in der linken Gesichtshälfte.

»Kraeh wird schon bald zu uns stoßen. Er braucht Zeit, sein wahres Wesen zu entdecken. Sorgt Euch nicht um ihn, ich werde mich seiner annehmen, wenn es so weit ist. Doch zuerst wird er uns darin nützlich sein, den Stein der Macht zu beschaffen.« Wie bitterer Honig träufelten seine Worte in Brans Gewissen. »Ihr müsst jetzt stark sein, König Bran.«

Brans Gesichtsausdruck fand bei der bloßen Erwähnung des sagenumwobenen Relikts beinahe seine gewohnte Entschlossenheit wieder.

Es klopfte an der Tür. Als der Fürst sich nicht regte, rief der Seher ärgerlich: »Herein!«

Zwei wie Jäger gekleidete Männer betraten mit gesenktem Haupt den Raum.

Der jüngere von beiden ergriff das Wort: »In Triberkh ist niemand mehr am Leben außer …«

»Außer?«, hakte der Seher mit gefährlichem Unterton nach.

Dem Angesprochenen wurde zusehends unwohl. »Zwei Kinder«, stammelte er, »die jüngsten Gunthers, sie waren nicht dort.«

Jetzt nahm auch Bran Anteil an der Unterredung.

»Jemand muss sie gewarnt haben …«

Der Seher war neben die Kundschafter getreten. Etwas, das einer Hand nur entfernt ähnlich sah, huschte blitzschnell aus der Kutte hervor und rammte sich bis zum Gelenk in die Magengegend des bisher Schweigenden.

»Sprich weiter«, sagte er ruhig zu dem anderen, die Zuckungen des Körpers vor ihm musternd, während er tiefer in die Gedärme vorstieß.

»Ich … Ich … werde sie finden.«

Der Gepeinigte röchelte qualvoll, nur die Kraft des Armes, mit dem er auf groteske Weise verbunden war, hielt ihn aufrecht.

»Das wirst du«, lautete die gnädige Antwort. »Wähle dreißig Mann aus und reite sofort los.«

So schnell, wie sie gekommen war, verschwand die Klaue wieder. Leblos sackte der Körper in sich zusammen.

Der junge Soldat erschrak vor dem grauenvollen Anblick, besann sich dann aber auf sein eigenes Wohl, beugte sein Haupt vor dem Fürsten und verließ überstürzt den Raum und die dahinterliegende Halle.

Bran zitterte ob des Gräuels, dessen Zeuge er eben geworden war, und ebenso wegen der überbrachten Nachricht.

»Was machen wir jetzt?«, fragte er beklommen.

»Wir fahren fort wie geplant. Ich reise zu Theodosus, jetzt wird er mir Gehör schenken. Und Ihr habt besser Eure Sinne zusammen, wenn ich zurückkehre.«

Wie ein Schatten bewegte sich der Seher zum Gehen.

»Was ist mit deinem Auge geschehen?«, traute sich Bran doch noch zu fragen.

Das Wesen drehte sich um, seine kahlen Lippen nahmen einen beinahe schelmischen Ausdruck an. »Wie gesagt, wir alle bringen unsre Opfer.«

***

Kraeh ritt neben dem immer noch angeschlagenen Sedain an der Spitze des heimkehrenden Heereszuges. Über einen Mond hatten sie in der eroberten Burg verbracht, ihre Wunden geleckt und der neuen Besatzung Instruktionen erteilt.

Über feuchte Ebenen, begrenzt von Bäumen und Sträuchern, die sich an die harten Bedingungen gewöhnt hatten, führte sie ihr Weg. Es war still, bis auf ein gelegentliches Stöhnen am Ende des Zuges, wo die Gefangenen durch ein langes Seil aneinandergekettet hinter den Siegern hertrotteten.

Die Stimmung der beiden war wie immer gelassen.

»Vielleicht statte ich der kleinen Roten diesmal einen Besuch ab«, versuchte Sedain seinen Freund zu reizen.

Kraeh stieß einen Pfiff aus. »Du kannst es ja mal versuchen. Aber ich muss dich warnen: Sie ist wählerisch.«

»Ganz offensichtlich nicht … Könnte doch sein, dass sie die Nase voll hat von Nekrophilie.« Aufreizend strich er sein dichtes, schwarzes Haar aus der Stirn.

Kraeh lächelte. »Wenn du sie erst einmal von den Vorzügen deiner Ohren …« Er kam nicht dazu, seine Neckerei auszuführen, Berbast hatte zu ihnen aufgeschlossen. Sein Streitross warf den Kopf zurück, als er an seinen Zügeln zerrte.

»Ihr seid eine Schande«, sagte er barsch, da er das Ende des Gesprächs der beiden mitbekommen hatte, »in der nächsten Welt wartet ein Platz als Hofnarren auf euch. Dort werdet ihr eure Zeit damit verbringen, echten Kriegern ein Schmunzeln abzuringen. Und glaubt mir, die Pforten stehen bereits offen.«

Kraehs Augen hatten sich zu Schlitzen verengt.

Üblicherweise fiel es Kraeh zu, das Temperament seines Freundes zu bändigen; in dieser Situation bemerkte Sedain jedoch, dass es diesmal an ihm war. Er legte eine Hand auf Kraehs Arm. »Siehst du den Angstschweiß auf meiner Stirn, Bärenmann?«, fragte er betont lässig an Berbast gewandt.

Der hünenhafte Krieger ignorierte ihn und ließ sich wieder zurückfallen.

»Was, meinst du, hält unsre Freundin wohl von Sodomie?«

Die Spannung fiel von Kraeh ab und beide lachten, laut genug, um sicherzugehen, auch in den Reihen hinter ihnen gehört zu werden.

Nicht weit entfernt hockte eine Familie von Gnomen beim Mittagstisch. Kaum mehr als einen halben Mann messende, bucklige Gestalten. Als Behausung dienten ihnen offensichtlich die weit ausladenden Wurzeln eines Baumes. In dem Moment, da sich einer der Soldaten aus dem Zug löste und sich ihnen näherte, nahmen sie Reißaus. Fremde Arten, Erwachte oder Mutanten, wie einige sie nannten – je nachdem, wie man zu ihnen stand –, wurden seit Langem weder von Gunther noch von Theodosus in ihren Reichen geduldet. Die einzige Ausnahme bildete Sedain, und das auch nur, weil Kraeh sich damals bereit erklärt hatte, für ihn zu bürgen.

Ähnlich unwillkommen im eigenen Land fühlte sich der weißhaarige Krieger zwei Tage später bei ihrer Rückkehr. Es erwarteten sie keine Festlichkeiten, wie es nach einem derart großen Sieg üblich war. In der ersten Nacht gab es zwar eine Zecherei der Soldaten in der großen Halle, aber niemand, weder vom Adel noch aus dem einfachen Volk, war anwesend. Bran bekamen sie nur einmal bei einer Ansprache kurz zu Gesicht, in der er halbherzig Floskeln über den Ruhm Brisaks und die Tüchtigkeit seiner Streitkräfte verlor.

Überhaupt schien es Kraeh, als läge ein dunkles Geheimnis über der Stadt. Eine böse Ahnung schien sich in den Gesichtern der Menschen eingenistet zu haben, eine Ahnung ohne greifbaren Grund, der die Abgeschlagenheit und die Verbitterung der Gemüter rechtfertigen würde.

Sedain und Kraeh saßen in einer Schenke, als sich eine offensichtlich bestürzende Neuigkeit wie ein Lauffeuer verbreitete, es wurde getuschelt und gemunkelt. Sie bestellten den Wirt zu sich, der ihnen unter vorgehaltener Hand zuraunte, dass der König und mit ihm seine ganze Familie umgekommen sei. Die Stimmen wurden lauter. Verschwörungstheorien wurden geäußert und verworfen. Am Nachbartisch war man sich bald einig, es müsse Maet, der intrigante Fürst von Mont, gewesen sein, der die Krone für sich haben wolle.

»Aber«, warf ein Junge, dessen fliehendes Kinn stolz die ersten Barthaare zur Schau stellte, altklug ein, »wer sagt, dass nicht Bran den Mord befohlen hat?«

Die flache Hand Kraehs schlug auf den Tisch, bedrohlich langsam stand er auf. Im Wirtshaus herrschte plötzlich Ruhe. Alle kannten, mochten und respektierten ihn und seinen Begleiter, schon dafür, dass sie sich nicht, wie all die anderen Offiziere, zu fein waren, Luft und Ale mit ihnen zu teilen.

»Steh auf«, sagte er in einem Tonfall, den niemand der Anwesenden von ihm gewohnt war.

Der Junge tat wie ihm geheißen. Seine Tunika war ihm ebenso zu weit wie der bronzene Armring an seinem Handgelenk.

»Wie ist dein Name, Soldat?«

Der Stolz eines Heranwachsenden ließ ihn Haltung bewahren, doch er musste seine Hände im Rücken verschränken, um ihr Zittern zu verbergen.

»Frederik, Sohn von Friedmund.« Seine Augen suchten die seiner Kameraden, die ein Stück von ihm weggerückt waren.

Sedain gähnte.

»Ich kannte deinen Vater, Frederik. Er war ein guter Krieger, besser, als du je sein wirst. Und weißt du auch warum?«

Die Frage blieb einige Wimpernschläge lang im Raum stehen. Augenblicke, die dem jungen Mann wie Tage vorkommen mussten.

»Weil er wusste, wofür er kämpfte.« Er wendete sich an alle im Raum. »Bran ist unser Fürst. Er ist ein großer Feldherr und aufrechter Herrscher. Hat einer unter euch jemals Hunger gelitten? Wer sorgt sich um Heim und Kind und wessen Mauern schützen euch tagein, tagaus vor den Bestien, die auf der anderen Seite des Flusses lauern?« Wieder eine Kunstpause. »Jeder hier kennt die Antwort. Überlegt euch wohl, mit wem ihr trinkt.« Er strafte Frederik mit einem letzten Blick und ging durch die volle Gaststube, wobei Stühle und Beine eilig weggezogen wurden, um ihm Platz zu machen.

»Aber …«, setzte der Belehrte an, Verschämtheit und Trotz rangen in seinen Zügen um die Vorherrschaft, doch ein Kopfschütteln Sedains brachte ihn davon ab, Einspruch zu erheben. Er ließ einige Kupferstücke auf den Tisch fallen und folgte dann seinem Freund vor die Tür.

»Großartig, du Held. Hier brauchen wir nicht mehr herzukommen.«

Kraeh winkte ab. »Es gibt genug Kaschemmen in Brisak.«

»Was sollte das überhaupt und woher wusstest du, dass sein Vater tot ist?«

»Nur so eine Vermutung …«

Sie schlenderten gemächlich von dannen, bis Kraeh seinen Freund am Arm packte und in eine Seitenstraße zog. Zuerst verstand Sedain nicht, aber dann lugten sie beide um die Ecke auf die Tür des Wirtshauses. Und tatsächlich, es dauerte nicht lange, da stahl sich eine vermummte Gestalt aus dem Eingang und entfernte sich raschen Schrittes.

»Irgendetwas ist hier faul. Und ich meine nicht nur das sonderbare Ableben unsres alten Königs.«

Sedain nickte zustimmend. »Glaubst du, der Junge hatte recht?«

»Nein, aber Bran verhält sich eindeutig merkwürdig.«

Kraeh lag auf dem Bett eines Gasthauszimmers, das sich in einem der äußeren Ringe der Stadt an einen Hügel schmiegte. Sedain und er hatten das Angebot Brans, in einem der Gemächer der Burg zu wohnen, vor einigen Jahren abgelehnt. Das Gasthaus war für beide ein Ort der Zuflucht und Ruhe vor dem politischen Treiben. Sie nutzten den Ort, um sich zu erholen. Meist sprachen sie Abende lang kein Wort. Die Schlichtheit der Stube, deren Einrichtung aus zwei Betten, einem Schrank und einem Schreibtisch mit einem darüber hängenden Spiegel bestand, ließ sie die Turbulenzen der Außenwelt vergessen. Zumindest normalerweise, in dieser Nacht jedoch fand Kraeh keine Ruhe. Ein Diener hatte ihn für den morgigen Tag zu Bran bestellt. Er starrte an die Decke und seine Gedanken drehten sich im Kreis, untermalt von dem altbekannten Ton, der in vollkommener Regelmäßigkeit entstand, wenn Sedain einen Schleifstein über die Klinge seiner Axt zog. Er beneidete den Freund um seine Gelassenheit; ihm war es einerlei, für wen und unter welchen Umständen er seinem blutigen Handwerk nachging.

»Ich gehe noch mal raus«, sagte er schließlich.

Sedain sah auf, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.

»Sag liebe Grüße.« Doch Kraeh hatte schon die Tür hinter sich geschlossen.

Er wanderte weniger ziellos, als er sich eingestehen wollte, durch die engen Gassen der Stadt. Passierte er ein Tor, grüßte er die vertrauten Wachen, die gelangweilt auf ihre Hellebarden gestützt ihren Dienst verrichteten.

Der Schein des Sichelmondes wurde ständig von Wolkenschwaden unterbrochen, weit entfernt grollte Donner, als er vor einem mehrstöckigen Gebäude, von dessen Giebeln dämonische Fratzen lachten und wo in schiefen roten Lettern Magdalena geschrieben stand, haltmachte. Erleichtert stellte er fest, dass in dem Eckfenster im zweiten Stock eine Kerze brannte; die kleine Rote hatte demnach keinen Kunden. Wie jedes Mal versuchte er, sich an ihren richtigen Namen zu erinnern, und wie jedes Mal gab er es nach kurzer Zeit auf. Bei ihrem ersten Treffen vor drei Jahren hatte sie sich vorgestellt, beim zweiten Mal war es ihm peinlich, sie erneut zu fragen, und mittlerweile war es ihm unmöglich, sein Unwissen einzugestehen und sie damit vor den Kopf zu stoßen. Er klopfte an und ein bulliger Glatzkopf öffnete.

»Du weißt ja, wo’s langgeht.«

Kraeh schob sich an ihm vorbei, stieg eine muffige Treppe hoch, klopfte erneut und betrat das vertraut schäbige Zimmer.

Die Hälfte des Raums nahm eine mit bunt gemischten Fellen hergerichtete Schlafstätte ein, auf der eine spärlich verhüllte Frau saß; sofort nahm sie eine aufreizende Pose ein.

»Welch hoher Besuch«, sagte sie in ihrer flötenden Stimme, reckte sich und löschte die Kerze am Fenster mit den Fingern.

Ein Kohlebecken verbreitete eine glimmende Wärme.

»Schön, dich zu sehen, du wirst von Mal zu Mal anmutiger«, gab er zurück, und zog die Tür hinter sich zu.

»Ach ja?« Eines ihrer langen, elfenbeinfarbenen Beine rekelte sich unter ihrem Kleid hervor, wodurch der Saum bis zum Schritt nach oben verrutschte. Langsam fuhren ihre Zehen seine Oberschenkel hinauf. Das Blut in seinem Körper verlagerte sich, doch er bemühte sich um Beherrschung.

»Warte«, bat er. Sie zog ihren Fuß zurück.

»Was denn«, fragte sie leicht spöttisch, »heute nicht in Stimmung?«

Er ging nicht darauf ein. »Sag, ist dir in letzter Zeit etwas Seltsames aufgefallen?«

Sie wirkte verwirrt. »Was meinst du?«

»Du hast doch sicherlich von dem Tod Gunthers gehört. Was erzählen deine Kunden?«

Sie musterte ihn abschätzend. »Um ehrlich zu sein, ich habe mich nie viel darum geschert, was die Männer alles reden, solange sie am Ende zwei Silberstücke hierlassen.« Sie erkannte die Enttäuschung in Kraehs Gesicht. »Was soll’s?«, sagte sie, rückte ein paar Felle zurecht, legte sich seitlich darauf und lud Kraeh mit einer Geste ein, sich neben sie niederzulassen. Eine Armeslänge lag zwischen ihren Köpfen. Noch ein kurzes Zögern, ein Lächeln des attraktiven Mannes, dann ließ sie sich zwinkernd auf das Spiel ein.

»Vermutlich darf ich gar nicht darüber sprechen; schwöre mir, niemandem davon zu erzählen.«

Der Krieger legte die Hand aufs Herz.

»Also, viele denken, Bran hat mit dem Mord zu tun.«

»Was?!«

Sie setzte sich halb auf und verschränkte die Arme auf einem angewinkelten Knie.

»Schon gut«, lenkte er ein.

Sie wartete einen strafenden Moment, bevor sie fortfuhr.

»Man sagt, er habe große Pläne. Außerdem geht das Gerücht über einen unheimlichen Fremden in der Stadt um.«

Kraeh war hellwach, etwas regte sich in seiner Erinnerung.

»Das Sonderbare ist, dass niemand ihn bisher beschreiben konnte. Als handle es sich um einen Geist«, fügte sie flüsternd hinzu, kicherte dann aber über die eigenen Worte. »Auch munkelt man, es verschwänden Kinder aus den Dörfern. Aber du weißt ja, wie das einfache Volk so ist. Eine Kuh gibt saure Milch und eine Woche später ist sich jeder sicher, eine Drude mit zwei Köpfen gesehen zu haben.« Erneutes Kichern.

Sie ging auf die Knie, streckte den Oberkörper, fuhr mit der Linken hinter den Nacken und streifte gekonnt das Kleid über den Kopf. Nackt saß sie nun vor ihm und lächelte ihm erwartungsvoll entgegen.

»War’s das, du wissbegierige Krähe?«

Er versuchte nachzudenken, doch ihre steifen Brustwarzen ließen seine Erregung anschwellen und seine Gedanken zerfaserten irgendwo zwischen Bauchnabel und rot gelockter Scham.

Er setzte sich auf und nahm ihren Kopf in beide Hände. »Nicht ganz. Lass es uns endlich tun.«

Am Mittag des nächsten Tages betrat Kraeh übernächtigt die Audienzhalle seines Fürsten.

Bran wirkte einsam und müde, wie er da allein an der großen Tafel seiner Vorfahren saß. Aber seine Stimme war fest und bestimmt, als er seinen zweiten Krieger ansprach.

»Ich bin froh, dich zu sehen, Kraeh. Ich bin mir im Klaren darüber, dass böse Zungen dieser Tage schlecht über mich reden. Umso wichtiger sind in solchen Zeiten loyale Männer wie du.«

Der Auftritt in der Schenke hatte allem Anschein nach Wirkung gezeigt. Bran erhob sich und legte väterlich einen Arm um Kraehs Schultern. Er hatte sein glattes, braunes Haar zu einem Zopf gebunden. Gemächlichen Schrittes führte er ihn an den Gemälden der Altvorderen vorbei, deren Augen Ehrfurcht gebietend von beiden Seiten der Halle durch die Zeiten hindurch auf sie hinabblickten.

»Wir sind in einem Zustand der Schwäche, mein junger Freund. Ohne Einigung, ohne Hochkönig sind wir gefundenes Fressen für all die Wilden und Ruchlosen, die mit Neid auf unsre Ländereien schielen. Spione berichten, unter den Orks habe sich ein Kriegsherr hervorgetan, stark genug, die Stämme unter seinem Banner zu einen.«

Bran hielt vor dem ältesten der Bilder inne. Kraeh war das Abbild vertraut. Es war das unbeugsame Antlitz Hildebrands des Eroberers, das selbst vergilbt noch immer Stärke und Lebendigkeit ausstrahlte.

»Was weißt du von dem Lia Fail?«, fragte Bran eindringlich.

Ohne nachzudenken, antwortete der Krieger, er kenne die alten Geschichten. »Der Stein der Könige. Man sagt, durch seine Kraft sei das Reich der Rheinherren errichtet worden. Hildebrand habe, so sagt man, ihn von den Nornen selbst erhalten, die Orks auf die andere Seite des Flusses getrieben und die Grenzen gesteckt, wie sie heute noch sind. Wie er den Nornen versprochen hatte, behielt er den Stein nicht für sich, sondern schenkte ihn dem, den er für den Würdigsten hielt, die Bürde des Königtums zu tragen – König Giselmund.« Kraeh fiel auf, dass dessen Abbild fehlte. Er mutmaßte es in Triberkh, dem Sitz der Könige.

»Und weiter?«, forderte der Fürst ihn auf.

»Die Nornen, betrügerisch und rachsüchtig, entsagten den Menschen. Und der Stein der Macht verschwand in den dunklen Fluten des Rheins. Seither ward er nie mehr gesehen«, zitierte er die letzten Zeilen eines beinahe in Vergessenheit geratenen Volksliedes, das sein Ziehvater ihm beim Fischen oft vorgesungen hatte.

Bran lächelte. »Aber er ist wieder aus den Fluten aufgetaucht. Weit im Norden, wo die Dänen herrschen, sitzt eine Bestie auf ihm, man nennt sie Siebenstreich und sie versklavt die umliegenden Völker.« Langsam begann Kraeh zu verstehen, während Bran fortfuhr: »Seine Macht würde uns Frieden bringen. Was meinst du? Bezwingt die Krähe Fluss, Meer und Bestie und schenkt ihrem Land Einigkeit?«

Stille folgte, das Schweigen füllte die kühle Halle mit Schicksalsschwere. Selbst die Kerzen schienen den Atem anzuhalten.

Inse, Brans Frau, betrat die Halle und reichte den Männern wortlos mit Met gefüllte Hörner. Kraeh bedankte sich, während Bran die füllige Frau, deren einzige Bestimmung er darin sah, ihm gesunde Nachfahren zu gebären, wie meist ignorierte. Trotz ihrer emsigen Versuche, dieser Erwartung nachzukommen, hatten all ihre Schwangerschaften in Totgeburten geendet. Dennoch ließ Bran keinen Zweifel daran, dass ihre Stellung an seinem Hof sicher war. Für einen Fürsten gab es genug andere Möglichkeiten, sich um Nachkommenschaft zu kümmern. Sie konnte also durchaus zufrieden sein mit ihrer Lage. Nur gelegentlich, wie jetzt gerade, schien sie unter der geringen Zuwendung ihres Ehemannes zu leiden. So unscheinbar, wie sie gekommen war, huschte sie wieder von dannen und ließ die Männer allein. Kraeh nahm einen tiefen Schluck.

»Ich diene dir, mein Fürst«, brach der Krieger die Stille, »doch sage mir, wem wird der Stein zum Ruhm verhelfen, falls ich ihn dir bringe?«

Bran winkte ab, als ob Kraeh nicht richtig verstanden hätte. »Theodosus, Maet, mir – es spielt keine Rolle. Wir müssen die alten Zwistigkeiten beilegen, wenn wir überleben wollen.«

Nachdenklich nickte der Krieger. »Ich beschaffe dir den Stein. Wann soll die Reise beginnen?«

Bran klopfte ihm auf den Rücken. »Das ist mein Mann! So schnell wie möglich. Zwei Schiffe werden bereits beladen. Berbast bringt dich bis zur See, danach bist du auf dich allein gestellt.«

»Berbast …«

Bran ließ ihn nicht aussprechen.

»Keine Widerrede. Du wirst ihn brauchen. Orks lauern an den Ufern, der Drudenzirkel hat seine Ohren und wie wir erleben mussten, auch seine Dolche überall; und die wilden Stämme lechzen nach allem, was ihre Grenzen passiert, um Beute zu machen.«

Kraehs Missfallen war nicht zu übersehen. Orks und Wilde kümmerten ihn nicht. Ebenso wenig der Spionagearm der Hexenkönigin, dem Bran wohl die Ermordung Gunthers zuschrieb. Die Aussicht hingegen, den gehassten General wieder einmal an seiner Seite zu haben, machte ihn innerlich rasend. Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, Bran von seinem Entschluss abzubringen.

»Und was ist mit dir? Wer schützt die Mauern Brisaks?«

Bran wurde ungehalten. »Ich bin nicht nur Fürst dieses Landes, weil ich gut reden und trinken kann. Ich weiß noch immer ein Schwert zu schwingen.«

»Natürlich, verzeiht«, lenkte Kraeh schnell ein. »In der Nacht von Ostera setzen wir Segel. Selbst wenn die Druden und der Zirkel wissen, was wir vorhaben, werden sie nicht erwarten, dass wir in jener Nacht aufbrechen.«

»So soll es geschehen«, stimmte Bran zu und versank in dem Abbild seines Urahns.

Die Festlichkeiten zur Sonnwende würden in zwei Tagen stattfinden; Zeit genug, ausreichende Vorbereitungen zu treffen.

Kraeh wandte sich zum Gehen.

»Eins noch.«

»Ja?«

»Pass auf dich auf. Mögen die Götter ihre schützenden Hände über dich halten.«

Kraeh beugte sein Haupt in Andeutung einer Verbeugung und verließ die Halle.

***

Zuerst hatte sich Rhoderik mit den Kindern querfeldein durch dichte Tannenwälder nach Westen bewegt. Nach mehreren Tagen hatte er jedoch beschlossen, das Wagnis einzugehen, einem Bergpfad zu folgen, der sie seiner Erinnerung nach auf die dem Rhein vorgelagerten Ebenen führen würde. In den Tagen, da er als junger Krieger diese Gebirge durchwandert hatte, war es Brauch gewesen, die in regelmäßigen Abständen unweit der Wege gelegenen Zufluchtsstätten, meist Blockhütten oder windgeschützte Verschläge, für den nächsten Reisenden mit Nahrungsmitteln und Feuerholz zurückzulassen. Er hoffte inständig, dass sich diese Sitte erhalten hatte. Ihr Proviant wurde knapp und die Kinder froren nachts, doch er wagte es nicht, jagen zu gehen, und nur selten ein Feuer zu entzünden. Es war hart für sie, tagein, tagaus zu laufen, und zehrte an den Kräften ihrer jungen Körper, die den wenig anstrengenden Alltag des Hoflebens gewöhnt waren. Obgleich sie ihn für die aufgezwungenen Strapazen hassten und ihn ihre Ablehnung bei jeder Gelegenheit spüren ließen, erfüllte es sein Herz mit Stolz, mit welcher Ausdauer sie mit ihm Schritt hielten. Gunther zählte sieben Sommer, Heikhe elf, doch sie marschierten wie junge Krieger auf dem Weg zur ersten Schlacht. Vielleicht, dachte er, lag es auch an ihm. Abends schmerzten seine Waden und am Morgen spürte er jeden Stein und jede Wurzel, auf der er gelegen hatte. Er verbot sich derlei Gedanken. Erst wenn die Kleinen in Sicherheit waren, würde er sich erlauben, die Schwächen seines Alters einzugestehen.

In der Dämmerung fanden sie eine spärlich getarnte Höhle. Es war Balsam für die Seele des Älteren, als sie dort einen Stapel Holz vor der Feuerstelle sowie gepökeltes Fleisch und sogar ein paar Kartoffeln in einer Grube unter einem markierten Stein vorfanden.

Sogleich entfachte Heikhe unter der Anleitung Rhoderiks ein Feuer, dessen Flammen bald gierig an dem trockenen Holz leckten und eine wohltuende Wärme ausstrahlten, das aufgrund der spitzen Bauart aber kaum Rauch aufsteigen ließ. Vor ihrem Unterschlupf wuchsen Brennnesseln, die sie schnitten, stampften und in einen kleinen Topf mit Wasser gaben. Die Kartoffeln stellten sich bei näherer Betrachtung als verfault heraus, so kauten sie auf dem trockenen Fleisch und spülten es mit dem bitteren Brennnesseltee hinunter.

»Ich möchte auch mal Feuer machen«, beschwerte sich Gunther, die winzigen Hände reibend.

»Das nächste Mal«, versprach Rhoderik.

Seine Miene war finster, was Heikhe, die für ihr Alter eine ausgeprägte Sensibilität an den Tag legte, sogleich bemerkte.

Den Tonfall einer ihrer älteren Schwestern nachahmend, fragte sie: »Was bekümmert dich?«

»Dir entgeht nichts, kleine Prinzessin, wie?«

»Nein«, sagte sie altklug.

Umständlich legte er einen Scheit Holz nach.

»Wenn wir die Berge hinter uns lassen, laufen wir Gefahr, direkt ins Netz unsrer Verfolger zu geraten. Ich weiß nicht, wem wir trauen können.«

Gunther stand der Mund offen, wie immer wenn er versuchte, einem ihrer Gespräche zu folgen. Die hohle Faust Heikhes verursachte ein klatschendes Geräusch an ihrer Stirn. »Wir müssen doch nur unsren Vater finden. Er ist zwar schon alt, noch älter als du, aber er ist immerhin der König. Der stärkste Mann auf der Welt.«

Rhoderik rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Du hast recht, das ist er.«

Die Kinder sollten nichts von seinen wenig trostreichen Ahnungen erfahren, bevor sie nicht bewiesen waren.

»Dummer, alter Mann«, setzte sie boshaft hinzu, worauf Gunther amüsiert kicherte. Heikhe äffte ihn nach und ein Gerangel entstand. Rhoderik ließ sie gewähren und dachte über ihre Möglichkeiten nach. Die Stimme in seinem Traum hatte sich vage ausgedrückt und einiges von dem, was sie gesagt hatte, befürchtete er, vergessen zu haben. Der Fluss war lang. Wo würden sie jenen Krieger mit den weißen Haaren treffen? Und sollten sie es überhaupt schaffen, wie würde er wohl reagieren? Wusste er überhaupt von seiner Bestimmung? War die Stimme auch ihm im Traum begegnet?

Winselnd bettelte der kleine Gunther im Schwitzkasten gefangen um Gnade, doch seine Schwester verstärkte den Druck noch.

»Gebt Ruhe und spart euch eure Kräfte«, mahnte er. Erst als er die Hand hob, gehorchten sie.

Es gab eigentlich nur drei Optionen. Erstens: irgendwo an den Ufern warten. Das würde immerhin zu der Ungenauigkeit jener Prophezeiung passen. Und dann die beiden Höhlen des Löwen: der Hafen von Mont, doch jeder wusste um die Korruptheit des Fürsten Maet. Und als letzte Möglichkeit: der Hafen von Brisak. Bran war seit jeher ein Unterstützer des Königs und der alten Gesetze gewesen. Aber sollte er an der Verschwörung nicht beteiligt gewesen sein, war nicht einmal sicher, ob er noch lebte. Es gab zu viele Ungewissheiten, außerdem waren sie abgeschnitten von allen Neuigkeiten.

Er bettete den Kopf auf den harten, felsigen Boden und verschob die Entscheidung auf später.

Seine Hand umschloss den Griff von Orgflaed, die Berührung der kühlen Klinge wirkte beruhigend auf seine angespannten Nerven und so sank der alte Krieger in einen leichten Schlaf.

Der nächste Morgen war frisch. Das Feuer war über Nacht ausgegangen. Heikhe räkelte sich auf ihrem Fellumhang, der ihr als Schlafstätte gedient hatte. Sie sah zu ihrem noch schlafenden Bruder hinüber, fand aber den Platz Rhoderiks verlassen vor.

Verträumt trat sie aus ihrem Unterschlupf. Wie angewurzelt blieb sie stehen, als sie den alten Krieger wenige Schritte, das Schwert in der Hand, vor der Hütte stehen sah.

Zwei in helles Leder gekleidete Männer – einer von ungewöhnlich großer Statur, selbst im Vergleich zu dem an sich schon bärigen Rhoderik – hatten ebenfalls ihre Langschwerter und Dolche in den Händen. Sie versuchten, den Älteren zu umzingeln. Lauernd suchten sie nach einer Gelegenheit, ihn zu überrumpeln. Das Mädchen wunderte sich, keine Angst zu haben. Die bösen Männer schienen ihr fast lächerlich, wie sie ihre Klingen verlagerten, von links nach rechts tänzelten, während Rhoderik einfach nur dastand. Die Spitze der Klinge in seiner Rechten zeigte auf den Boden. Regungslos wartete er ab.

Auch als Heikhe ihn ansprach, ging nicht das leiseste Zucken über seinen zur Kalksäule erstarrten Körper.

»Wirst du sie töten? «, fragte sie keck.

»Geh zu deinem Bruder«, antwortete er.

Doch diese Situation war viel zu interessant, um den Schauplatz zu verlassen. Bisher hatte sie nur langweilige Turnierkämpfe gesehen, bei denen fast nie Blut floss. Nein, sie würde bleiben und lernen. Sie schätzte die Chancen ihres Entführers eher gering ein, waren seine Gegner doch zu zweit und der eine ein Riese. Etwas aber an der Gelassenheit von Rhoderik brachte sie zum Zweifeln.

»Der ist doch ein Kopf größer als du«, kommentierte sie das Vor- und Zurücktrippeln der beiden.

In kaum wahrnehmbarer Langsamkeit bewegte sich die Spitze von Orgflaed nach oben.

»Nicht mehr lange«, gab er über den Rücken an sie zurück.

Die runenverzierte Klinge glitzerte in den frühen Strahlen der Morgensonne. In dem Moment, da sie das reflektierte Licht in das Gesicht des Riesen zu Rhoderiks Rechten warf, sprang der alte Krieger in einer Drehung nach vorne. Mit einer Schnelligkeit, die ihm niemand der drei anderen Anwesenden zugetraut hätte, führte er einen Streich durch die Deckung des linken Mannes, der ihn diesen von der Schulter bis zur Hüfte in zwei Hälften teilte. In einem Schwall von Blut vollendete er die Drehung und hieb immer noch im gleichen Schwung das Schwert des anderen beiseite, dass es ihn durch den Aufprall zurücktaumeln ließ.

Der Riese sah das Blut seines Freundes im bärtigen Gesicht des Feindes, das ihn grimmig angrinste. Rhoderik wartete wieder, Augenblicke, die sein Feind nutzte, den Schrecken in Wut umzuwandeln.

»Zeit für die andere Seite«, grollte Rhoderik; Heikhe klatschte in die Hände.

Einen Kriegsschrei ausstoßend drang sein Gegner auf ihn ein.

Eine Finte mit dem Schwert sollte die Deckung des Alten öffnen, um den Dolch ins Ziel zu bringen. Doch Rhoderik erkannte das Vorhaben, ignorierte den Stoß und parierte den eigentlichen Angriff am Handgelenk seines Gegners. Wieder spritze Blut und der Dolch fiel samt der Faust, die ihn umklammerte, zu Boden. Rhoderik machte einen Schritt zurück und beantwortete den Angriff mit einem geraden Stoß. Orgflaed grub sich tief in die Magengegend seines Opfers. Er drehte die Klinge und riss sie heraus. Der Riese sank auf die Knie, die unversehrte Hand auf die klaffende Wunde pressend. »Siehst du, Kleine«, wendete er sich dem Mädchen zu, »so fällt man einen Riesen.« Mit einem einzigen Schlag hieb er dem Mann den Kopf von den Schultern.

Als wäre nichts Ungewöhnliches vorgefallen, putzte er die Klinge an der Kleidung des Enthaupteten ab und begann, die Männer zu durchsuchen. Voller Bewunderung sah die Königstochter ihm dabei zu.

Danach wuchtete er die Leichen zu einem Gebüsch, in dem er sie notdürftig versteckte. Ihre Waffen lehnte er an die Wand in der Höhle. Ein fürstliches Geschenk für den nächsten Reisenden, dachte er befriedigt. Unter den Dingen, die er den beiden abgenommen hatte, befand sich auch ein gut geschliffenes Jagdmesser mit Horngriff, das er Heikhe reichte. Würdevoll nahm sie es entgegen und verstaute die kleine Waffe unter ihrem Rock. »Danke«, sagte sie. »Du bist gar nicht so alt.« Er tätschelte liebevoll ihren Kopf.

»Weck deinen Bruder, wir brechen auf.«

Zurück auf dem Pfad entdeckten sie die angebundenen Pferde der Verfolger. Rhoderik nahm den Jungen vor sich auf den Sattel und hielt die Zügel des zweiten Tieres, das Heikhe bestiegen hatte, damit es nicht mit ihr durchgehen konnte. Sie kamen jetzt wesentlich schneller voran, doch der alte Krieger wusste nicht einmal, ob das gut oder schlecht für sie war. Anfangs bereitete das Reiten durch den Wald den Kindern noch Freude, vergnügt jauchzten sie, wenn ihnen ein Reh begegnete. Nach zwei Tagen ununterbrochenen Reitens kannten sie die Kehrseite; sie klagten über Schmerzen in Gesäß und Oberschenkeln.

Ihr Weg führte sie durch Tannen- und Mischwälder, vorbei an klaren Gebirgsseen, über Bergpässe, Täler hinab und wieder hinauf. Die Kinder hatten ihren Beschützer lieb gewonnen, vor allem Heikhe, die ohnehin von den beiden das Sagen hatte, war seit dem Geschehnis vor der Höhle wie ausgewechselt. Nachts, wenn die Wölfe heulten, kuschelte sie sich an ihn und tags erzählte Rhoderik Geschichten, meist über ihren Vater. Über ihre Mutter, die zweite Frau des Königs, die bei Gunthers Geburt gestorben war, wusste er nicht viel zu berichten. Sie war eine stille, zurückhaltende Frau gewesen. Und so betonte er stets lediglich ihre Großherzigkeit und Treue. Auch brachte er den beiden das Fischen und Jagen bei, zeigte ihnen, wie man Fallen stellte, und erklärte ihnen, dass man Respekt vor seinem Fang haben sollte so wie auch sonst vor allem, was lebte.

Die Nähe der Häscher nicht ahnend, die oft nur wenige Steinwürfe hinter ihnen die Gegend absuchten – einmal war es allein der Gunst der Götter und Rhoderiks vorsorglicher Achtsamkeit zuzuschreiben, dass sie nicht entdeckt wurden –, verlebten sie eine unbekümmerte und harmonische Zeit. Doch wie alle glücklichen Zeiten, musste auch diese irgendwann enden.

Als Rhoderik die Menschen aus ihren Dörfern ziehen sah, wusste er, wie weiter vorzugehen war. Ostera stand vor der Tür, was bedeutete, dass alle, die konnten, in die Städte reisten, um dort das große Fest gemeinsam zu zelebrieren. Ihr Ziel hieß Brisak. Die Pferde an einem Waldrand zurücklassend schlossen sie sich einer bunten Festtagsgruppe an, die ohnehin schon viele Kinder mit sich führte. Unter ihnen dürften seine zwei Schützlinge kaum auffallen, dachte sich der Krieger. Das Schwert verbarg er, so gut es ging, unter seinem Fellumhang, Gesprächen ging er weitestgehend aus dem Weg. Schnell hatten die Geschwister mit einigen der anderen Kinder Freundschaft geschlossen.

Dem wortkargen Sonderling wurde keine nähere Beachtung geschenkt, zumal er vorgegeben hatte, seine Frau, die Mutter der beiden, sei vor Kurzem erst am Fieber gestorben. Nach drei Tagen erreichten sie gegen Nachmittag die Feste am Rhein. Es regnete heftig und ohne Nachfragen der Stadtwachen drängten sie mit dem Rest der Ankömmlinge durch das Tor. Viele führten Vieh mit sich, Kinder und Frauen hatten sich Blumen in die Haare geflochten, die ihnen wegen des Regens im Gesicht klebten. Ein heilloses Durcheinander war entstanden, in dem jeder versuchte, Schutz unter den über die Straßen ragenden Dächern zu suchen, und Mütter aufgeregt nach ihren Kindern riefen, die sie im Tumult aus den Augen verloren hatten. Sobald sie jenseits der Mauer waren, verließen sie unbemerkt ihre Reisegruppe. Heikhe war ungehalten, sich nicht von ihren neuen Freunden verabschieden zu dürfen, folgte schließlich aber doch, ohne aufzubegehren.

Heute Abend würden die Festlichkeiten beginnen. Rhoderik überfiel das übermächtige Gefühl, den Fehler begangen zu haben, genau dort zu sein, wo der gesichts- wie namenlose Feind sie haben wollte. Täuschte er sich oder hatte sich tatsächlich ein Schatten an ihre Fersen geheftet? Wäre er vom Gegenteil überzeugt gewesen, hätte er auf der Stelle kehrtgemacht. So gab es nur die Flucht nach vorn. Den engen nassen Straßen folgend fragten sie sich zum Hafen durch.

Rabenflüstern

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