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1.3. Katholische Verflechtungsgeschichte: Entwurf eines integrativen Erklärungsmodells

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Katholische Verflechtungen sollen in der vorliegenden Arbeit jene Beziehungen von einer gewissen Dauer und Verbindlichkeit heißen, die mittels typisch katholischer Ressourcen die verschiedenen lokalen Glieder der römisch-katholischen Kirche zu einem erkennbaren Zusammengehörenden verbanden. Art und Intensität dieser Beziehungen lassen sich zunächst durchaus mit dem von Wolfgang Reinhard für den Kirchenstaat entwickelten Verflechtungsmodell beschreiben.68 Verflechtungen stellten sich demnach ein über personale Bindungen wie Verwandtschaft, Freundschaft, Patronage oder Landsmannschaft und verfestigten sich über materiellen und immateriellen Austausch innerhalb dieser Beziehungsnetze. Nimmt man aber das Papsttum nicht nur als Herrschaftsverband, sondern als weit über Italien hinausreichende religiöse Kultgemeinschaft in den Blick, so muss dieser personale Verflechtungsansatz um zwei wesentliche Aspekte ergänzt werden.69 Erstens muss der Bindungstyp der Patronage auch auf Institutionen ausgedehnt werden, denn auch Kurienkongregationen wie die Propaganda Fide konnten gegenüber untergeordneten Akteuren oder lokalen Kultgemeinschaften als Patron auftreten.70 Zweitens ist zu bedenken, dass die durch Einzelpersonen oder Gruppen hergestellten Verflechtungen auf der symbolischen Ebene auch über die effektive Dauer des anfänglichen Beziehungsverhältnisses hinaus wirksam bleiben konnten:71 Während personale Beziehungskanäle an die Kurie etwa für die Beschaffung von Reliquien aus den römischen Katakomben oder für die vom Papst gewährten Ablässe und Bruderschaftsprivilegien zweifelsohne unabdingbar waren, traten diese personalen Verflechtungen in der kultischen Handlung mit ebendiesen Reliquien und Ablässen in den Hintergrund. Was dabei auf lange Sicht jedoch evident blieb, war der symbolische Aspekt der Rombindung: Gerade die Ablässe machten den Einfluss Roms auch in der entferntesten Provinz deutlich, denn die Gnade des Sündenstrafennachlasses konnte nur der Papst gewähren, entsprechende Ablässe ausstellen nur die von ihm dazu eingesetzten Kirchengremien.72 Diesbezüglich haben wir es also mit spezifisch katholischen Formen der Verflechtung zu tun, die im ekklesiologisch-theologischen Profil der tridentinisch erneuerten Kirche73 begründet lagen: In ihrer heilsvermittelnden Position bestätigt, verfügte die nachtridentinische Kirche über einen reichen Schatz an Gnadenmitteln (Thesaurus ecclesiae), mit dessen Hilfe sie in der Lage war, die verstreuten Kultgemeinschaften in die katholische Gesamtkirche einzubinden. Diese Vorgänge der Verflechtung, die daran beteiligten Akteure sowie die Auswirkungen dieser Verflechtungsprozesse auf die lokalen Kultgemeinschaften werden in der vorliegenden Studie untersucht.

Eine katholische Verflechtungsgeschichte, wie sie mit der vorliegenden Arbeit geschrieben werden soll, kommt dem Versuch gleich, die in der neueren Forschung vor allem in ihren lokalen Zusammenhängen untersuchten »Frömmigkeitskulturen«74, verstanden als Ensemble von Glaubensvorstellungen, Glaubenspraktiken und materieller Kultur, in ein integratives Erklärungsmodell einzupassen. Integrativ soll das Erklärungsmodell aus zwei Gründen heißen:75 Auf der analytischen Ebene sollen erstens kulturgeschichtliche Betrachtungen zur lebensweltlichen Bedingtheit von Religiosität zusammengeführt werden mit bisher an Außen- und Herrschaftsbeziehungen erprobten Beschreibungen von grenzüberschreitenden »Interdependenzgeflechten«76 (Integrativ I). Zweitens wird auf einer inhaltlichen Ebene von einer sich durchaus auch räumlich manifestierenden Integration lokaler Kultgemeinschaften in ein von Rom ausgehendes, gesamtkatholisches System der Heilsvermittlung ausgegangen (Integrativ II). Aus dieser doppelten Fokussierung ergeben sich Konsequenzen für die Anlage der Studie, die es in den nachfolgenden Abschnitten zu erläutern gilt.

Integrativ I

Der Rahmen der Untersuchung ist insofern eng gesteckt, als letztlich die Grundtendenzen des kirchlich-religiösen Lebens und Erlebens in einem geographisch kleinräumigen Gemeinwesen im Alpenraum im Zentrum stehen. Um diese lokale Glaubenswelt besser zu verstehen, genügt es jedoch nicht, nur nach den lokalspezifischen Traditionen und den lebensweltlichen Kontexten zu fragen: Studien insbesondere aus dem Forschungsfeld der neueren Missionsgeschichte haben nämlich gezeigt, dass katholische Glaubensformen in der Frühen Neuzeit stets sowohl von lokalen Kultpraktiken als auch von den innovativen Frömmigkeitsstilen der tridentinisch erneuerten Kirche geprägt waren. Über die lokalen Zutaten dieser Mischformen weiß die historische Forschung recht viel, zumal mehrfach schon rekonstruiert wurde, an welche lokalen religiösen Weltbilder sich Jesuiten, Kapuziner oder andere katholische Reformakteure anpassten.77 Demgegenüber möchte die vorliegende Arbeit stärker auch die universal-katholischen Elemente in den Fokus rücken und fragen, wie diese die lokalen Frömmigkeitskulturen mitformten. Interessieren soll einerseits der Versuch kirchlicher Akteure, die religiöse Kultur im rätischen Alpenraum mittels Symbolressourcen der Papstkirche an das römische Kultverständnis anzugleichen. Andererseits sollen die Handlungsspielräume lokaler Akteure, die analog zu weltlichen auch in kirchlichen Zentrum-Peripherie-Konstellationen bestanden, Beachtung finden. Konkret ist zu fragen, inwiefern es vonseiten der lokalen Kultgemeinschaften nicht auch ganz bewusst zu einer Übernahme von nachtridentinischen Frömmigkeitsstilen kam. Hierfür muss geklärt werden, welchen Mehrwert die kultische wie institutionelle Anbindung an die römische Kirche mit sich bringen konnte: Welchen Nutzen vermochten die Bündner und Veltliner Katholiken aus ihrer Zugehörigkeit zu einer sich als universal verstehenden und von Rom maßgeblich mitbestimmten Kultgemeinschaft zu ziehen? Inwiefern fanden sie darin Mittel und Wege, um ihre Heils- und Heilungsbedürfnisse zu befriedigen, für die es auf engstem Raum auch alternative Angebote aus Medizin, »Volksmagie«78 und nicht zuletzt vonseiten der protestantischen Kirche gab? Was mit solchen Fragen zur Diskussion steht, ist die von verschiedenen – nicht bloß von kirchlichen oder obrigkeitlichen – Akteursgruppen angestrebte Einbindung in eine konfessionell definierte Kirchlichkeit, womit gleichzeitig die Frage aufgeworfen wird, ob Phänomene der kulturell-religiösen Grenzziehung in der Frühen Neuzeit womöglich nicht doch wichtiger und tiefgreifender waren, als dies die neuere Forschung zur »Interkonfessionalität« und »Transkonfessionalität«79 behauptet hat – auch und gerade in einem bikonfessionellen Gemeinwesen wie den Drei Bünden.

Eine solche Fragestellung verlangt einen Untersuchungsgegenstand, mit dem sowohl lokale Praktiken des Sakralen als auch die römisch-katholische Kirche als heilsvermittelnde Institution ins Blickfeld geraten. Möglich wird dies mit den sogenannten »Gnadenorten«, mit jenen Kirchen und Kapellen also, »bei denen Gebetserhörungen dokumentiert sind durch Votiv- und Weihegaben oder Mirakelbilder, -bücher, -protokolle, [und] auch Ablasstermine«80. An Gnadenorten manifestieren sich individuelle Erfahrungen mit dem Sakralen, was noch etwas deutlicher aus den äquivalenten französischen und italienischen Begriffsbildungen »sanctuaire« und »santuario« hervorgeht.81 Ein »Heiligtum«, oder eben ein »santuario«, zeichnet sich demnach aus durch eine außergewöhnliche Qualität des Sakralen82, die bezeugt ist durch Wunder, die dort geschehen oder dokumentiert sind. Ein »santuario« wird von den Menschen aus freien Stücken83 und mit einem ganz bestimmten Ziel aufgesucht,84 meistens »in der Hoffnung, dass sich ein Wunder manifestiert«85, oder aus Dankbarkeit für eine bereits erfahrene Gnade.86 Die Dokumentationen von Gnadenorten geben folglich Aufschluss über die individuellen Beziehungen der Gläubigen zum Transzendenten, über die religiösen Praktiken, mit denen diese Beziehungen eingegangen, aufrechterhalten und aktualisiert wurden, und nicht zuletzt über die Heils- und Heilungsbedürfnisse der Menschen.87 Gleichzeitig werden an Gnadenorten kirchliche Umgangsformen mit dem Sakralen sichtbar. Viele Gnadenorte wurden von Ordensgeistlichen errichtet, betreut und mit Wundern beworben.88 Darüber hinaus waren die größeren unter ihnen mit von Rom gewährten geistlichen Privilegien, allen voran mit Ablässen, ferner mit Reliquien römischer Märtyrer oder mit Zweigstellen römischer Erzbruderschaften ausgestattet.89 Gnadenorte sind daher, wie Alexandra Walsham betont, nicht nur aus heutiger Sicht als Schnittstellen zwischen der vor- und der nachtridentinischen Religiosität zu betrachten, sondern sie wurden bereits von den Vorkämpfern der katholischen Reform dazu benutzt, um die instrumentellen Heilserwartungen älterer Formen von Kirchlichkeit in das reformkatholische Kultangebot zu integrieren.90 Sie eignen sich deshalb besonders gut, um die Eingebundenheit lokaler Glaubenswelten in die römisch-katholische Gesamtkirche zu untersuchen.

Es ist nicht das Ziel dieser Arbeit, eine Geschichte der Gnadenorte im rätischen Alpenraum zu schreiben. Es soll nicht um die historische Entwicklung einzelner Gnadenorte, auch nicht um ihre Stellung innerhalb der lokalen Kirchenorganisation gehen.91 Vielmehr dienen die vielen Gnadenstätten in den Drei Bünden und im Veltlin als Ausgangspunkt für die Untersuchung lokaler, aber trotzdem in weiträumige Bezugssysteme eingebundener Kultpraktiken. Was diese Kultpraktiken anbelangt, so haben die Quellenrecherchen ergeben, dass die Gnadenorte als Orte der Wunderbezeugung zwar von zentraler Bedeutung waren, darüber hinaus sich aber die Gnadenerlebnisse und die mit ihnen verbundenen religiösen Handlungen größtenteils in der alltäglichen Lebenswelt abspielten. In Anbetracht dessen muss das gehäufte Aufkommen und die »ausgesprochen dezentrale Struktur der Gnadenorte«92 im rätischen Alpenraum seit der Zeit um 1600 auch mit Veränderungen in der räumlichen Konzeption von Sakralität93 zu erklären versucht werden.

Integrativ II

Die Blütezeit der Gnaden- und Wallfahrtsorte von ca. 1600 bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert,94 die zugleich den Untersuchungszeitraum dieser Studie absteckt, fiel bezeichnenderweise mit dem »Auftreten neuer Vorstellungen der Beziehungen zwischen Himmel und Erde«95 zusammen. Dieser Wandel im religiösen Weltbild machte sich, so eine der Hauptthesen der vorliegenden Studie, in einer zunehmenden sakralen Durchdringung der Lebenswelt bemerkbar: Im Verlaufe des 17. Jahrhunderts griff die Sphäre des Sakralen96 über die Gotteshäuser hinaus, was individuelle Erfahrungen mit dem Transzendenten auch im Alltag möglich machte. Wir haben es hier mit einer räumlichen Konzeption von Sakralität zu tun, die aus der »Katholischen Reform«97 hervorging und die auf der Vorstellung beruhte, dass sich (überall) innerhalb der katholischen Einflusssphäre ein besonderes Beziehungsfeld zwischen Himmel und Erde aufspannt, in dem Gott erfahr- und erlebbar wird. Räume waren und sind, wie die neuere sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung mit Nachdruck betont, keine physischen Tatsachen, sondern sie sind als sozial generiert und praktiziert zu verstehen.98 Vorstellungen und Wahrnehmungen von Raum formieren sich nach zeittypischen Ordnungsvorstellungen und in bestimmten sozialen und kulturellen Kontexten.99 Räume können, müssen sich aber nicht entlang geographischer oder politischer Demarkationslinien entfalten. Folglich ist es naheliegend, dass auch die römische Konfessionskirche mit ihrer theologisch-dogmatischen Weltsicht und ihrer hierarchischen Ordnungsstruktur ein ihr eigenes Raumverständnis aufwies und Räume konstituierte, die sich über alle lokalen Kirchenglieder hinweg erstreckten.100 Wir werden im Verlaufe der Untersuchung sehen, dass die Sakralität, also die sicht- und erlebbare Präsenz des Göttlichen auf Erden, ein konstitutives Element dieser reformkatholischen Raumauffassung war: Nur dort, wo die heilsvermittelnde Kirche präsent war, konnte sich ihr zufolge das Eingreifen Gottes in die Welt manifestieren, sodass von Gott bewirkte Wunder implizit das Gnadenterritorium beziehungsweise den Einflussbereich der Papstkirche absteckten. Es ist daher sinnvoll, sich die in der Zeit nach dem Konzil von Trient angestrebte Einbindung »kirchlicher Peripherien«101 auch als Integration in diese Sphäre des Sakralen vorzustellen. Oder anders formuliert: Es gilt in Betracht zu ziehen, dass die Schaffung einer als sakral wahrgenommenen Lebenswelt, in der von Gott bewirkte Wunder zur religiösen Alltagserfahrung dazugehörten, von römischer Seite bewusst als Strategie der (räumlichen) Einbindung von katholisch-konfessionellen Rand- und Grenzzonen eingesetzt wurde. In diesem Sinne ist die katholische Verflechtung als räumliches Ineinandergreifen und somit als kulturell-religiöses Pendant zur »territorialen Integration«102 frühneuzeitlicher Staatsgebilde zu verstehen.

Räumliche Konstellationen wie die eben bezeichnete sind nicht starr, sondern Dynamiken unterworfen, wie insbesondere Susanne Rau in ihrem methodisch-theoretischen Aufriss einer historischen Raumanalyse betont: Räume verändern sich »unter dem Einfluss von Menschen, die sich diese Räume aneignen, sie gestalten, anders anordnen, gegebenenfalls auch wieder auflösen«, wobei es »bei räumlichen Dynamiken […] immer auch um Fragen der Macht (wer ist an solchen Prozessen beteiligt?) und der Durchsetzung«103 geht. Für die Untersuchung räumlicher Verflechtungsprozesse katholischen Zuschnitts bedeutet dies, dass wir in einem ersten Schritt diejenigen Akteure identifizieren müssen, die die katholische Gesellschaft und Kultur im rätischen Alpenraum mitzubestimmen und mitzuformen in der Lage waren (2. Translokaler Katholizismus):104 Welche Rolle spielten von Rom eingesetzte Institutionen und Akteure? Inwiefern zeigten katholische Fürstenhäuser Interesse an den lokalen religiösen Verhältnissen? Und welche Handlungsmacht besaßen die örtlichen Pfarrgemeinden? Nachdem dies geklärt ist, kann in einem zweiten Schritt nachgezeichnet werden, wie im Zusammenspiel dieser Akteure materielle und symbolische Güter (Gotteshäuser, Reliquien, Gnadenbilder, Ablässe etc.) zu Räumen angeordnet wurden, in denen sich das Eingreifen Gottes in die Welt manifestieren konnte (3. Barocke Gnadenlandschaften). Zu fragen ist dabei zunächst nach der konfessionspolitischen Relevanz dieser räumlichen Aneignungs- und Gestaltungsprozesse: Inwieweit konnte die römisch-katholische Kirche so ihre heilsvermittelnde Macht inszenieren? Und inwiefern ließ sich dadurch das konfessionelle Grenzgebiet stärker in die römisch-katholische Amtskirche einbinden? Daran anschließend sollen in einem dritten und letzten Schritt die Rückwirkungen dieser derart gestalteten Räume auf die Menschen und ihr religiöses Handeln in den Mittelpunkt rücken (4. Ökonomien des [Un]Heils): Welchen Nutzen zogen die Gläubigen aus der Einbindung in die als sakral erscheinende römisch-katholischen Einflusssphäre? Wie eigneten sie sich diese sakralen Lebensräume an und inwiefern waren sie dadurch in der Lage, die barocke Gnadenlandschaft mitzugestalten? Im Verbund werden diese drei analytischen Perspektiven zu einem Gesamtbild der katholischen Gesellschaft im rätischen Alpenraum führen, das die Kirche als heilsvermittelnde Institution ebenso wie die praktizierte Laienreligiosität, nebst kirchenpolitischen Entwicklungen auch die Frömmigkeitskultur und schließlich sowohl die lokalen Kultgemeinschaften als auch externe Einflusssphären berücksichtigt.

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