Читать книгу Super reich - Polly Horvath - Страница 7

DIE SPIELE

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Kurz darauf versammelten sich alle im Esszimmer.

«Also ehrlich», sagte Onkel Moffat, als sie Platz nahmen. «Es wird von Jahr zu Jahr lächerlicher, wann wir mit dem Essen anfangen.»

«Ja, wieso essen wir so früh?», fragte Turgids jüngere Schwester Sippy.

«Die Frage ist, ob es sich um ein zeitiges Abendessen oder ums Frühstück handelt, zu dem es heute Braten gibt», sagte Onkel Henry, ein magerer Mann mit Hakennase und einem widerspenstigen weißen Haarschopf.

«Soll ich dir erklären, wer wer ist?», fragte Turgid Rupert, als Billingston ein weiteres Gedeck für ihn auflegte.

«Ich werde mich nie an alle erinnern können», sagte Rupert, der nur Her mit dem Essen, her mit dem Essen dachte.

«Ach, aber bestimmt. Das sind mein Bruder Rollin und meine Schwester Sippy. Meine Mutter ist die korpulente blonde Frau neben dir am Kopf des Tisches. Mit ihrer komischen Brille sieht sie aus, als würde sie ständig die Augen zusammenkneifen», erwiderte Turgid so leise, dass sie ihn nicht hören konnte. «Am anderen Ende des Tisches sitzt mein Vater und das da ist Onkel Moffat – der Dicke mit den roten Bäckchen. Er wohnt mit meinen Cousins und meiner Cousine hier, die allesamt schrecklich sind. Sie heißen William, Melanie und Turgid. Mit denen gibst du dich am besten gar nicht erst ab, sie streiten sich ohnehin die ganze Zeit. Ihre Mutter, meine Tante Anne, ist auf einen Milchbauernhof in Wisconsin abgehauen – frag nicht, warum. Mein Onkel Henry sitzt mit seinem violetten Smoking am Kamin und die sehnige, sehr weiß gepuderte Dame mit den roten Locken neben ihm ist Tante Hazelnut. Sie kann man sich leicht merken, weil sie außer meiner Mutter die einzige Frau hier ist.»

«Hast du gesagt, es gibt noch einen Turgid? Ist das ein alter Familienname?»

«Nein, und es gab mächtig Ärger, als Onkel Moffat und Tante Anne verkündeten, sie würden ihren Sohn ebenfalls Turgid taufen. Oh, und da ist die Bibliothekarin, von der ich eben gesprochen habe. Sie steht hinter dem Vorhang und beobachtet uns. Ich hatte vergessen, dass außer Mutter und Tante Hazelnut doch noch eine Frau hier wohnt. Beim Abendessen habe ich sie nie auf dem Schirm, weil sie so still ist. Wir wissen nur wenig über ihr Leben und stehen ihr nicht nah genug, um sie auszufragen. Aber nach allem anderen kannst du sie fragen, sie weiß es mit Sicherheit. Versuch es nur, los, trau dich. Mutter hält sie für eine Auskunftsbibliothekarin.»

«Später vielleicht», sagte Rupert.

Er war verschüchtert und überwältigt. Mittlerweile redeten alle laut durcheinander. Mrs Cook war mit einer Terrine hereingekommen und füllte am Kopf des Tisches mit einer Kelle die Suppenteller, die Billingston einzeln servierte.

Als die Suppe bei dem anderen Turgid angekommen war, griff er zum Löffel und begann zu essen, als Onkel Henry rief: «DIE KNALLBONBONS!»

«Leg den Löffel hin, Turgid», sagte Tante Hazelnut.

«So ein Blödsinn», sagte Mrs Rivers.

«Blödsinn? Alle lieben Knallbonbons», widersprach Onkel Henry und hob etwas hoch, das in Ruperts Augen aussah wie ein Zylinder in Geschenkpapier, das sich an beiden Enden rüschte.

Zunächst sah er nur zu, doch dann probierte er es selbst mit Turgid, während jeweils eine Person an einem Ende des Riesenbonbons zog und ihr Tischnachbar am anderen. Leise Explosionen ertönten, bevor die Zylinder aufgerissen wurden und jeweils eine Papierkrone, ein Witz und ein kleines Partygeschenk herausfielen.

«Vor dem Essen muss jeder seinen Witz laut vorlesen», befahl Onkel Henry.

«Was sagt ein Schneemann zum anderen?», rief Sippy.

«Riecht es bei dir auch nach Möhren?», kreischte Tante Hazelnut und schüttete sich aus vor Lachen.

«Was sagt ein Elch zum anderen?», las Onkel Henry vor.

«Keine Ahnung», sagte Onkel Moffat.

«Nichts. Elche können nicht reden», las Onkel Henry vor.

Einer nach dem anderen kam an die Reihe. Als Rupert dran war, entfaltete er nervös den Zettel mit seinem Witz, als Onkel Henry fragte: «Moment. Wer bist du

«R-R-R-Rupert», stammelte Rupert.

«Viel mehr sagt uns das auch nicht», sagte Onkel Moffat.

«Er lag im Vorgarten auf dem Rasen, halb erfroren und bewusstlos», erklärte Turgid.

«Du lieber Himmel, noch ein Bibliothekar?», fragte Onkel Henry.

«Mach dich nicht lächerlich!», dröhnte Onkel Moffat. «Er ist höchstens neun Jahre alt.»

«Zehn, fast elf», flüsterte Rupert.

«In letzter Zeit tauchen hier plötzlich andauernd Leute auf und ziehen ein», sagte Mr Rivers, der nie darüber unterrichtet worden war, was es mit der Bibliothekarin auf sich hatte. Er arbeitete bis in den Abend hinein und war häufig nicht auf dem Laufenden, was die Familie anging.

«Was ist denn mit seiner Stimme los?», fragte William.

«Nichts, also halt den Mund und lies deinen Witz vor», sagte Turgid.

«Es könnte sich doch um einen Bibliothekarlehrling handeln», sagte Onkel Henry, ohne die anderen zu beachten. «Das würde sein Flüstern erklären. In Bibliotheken wird man immer aufgefordert zu flüstern. Wetten, dass ich recht habe? Habe ich recht, mein Junge?»

«Nein», flüsterte Rupert.

«HA!», sagte Onkel Moffat.

«Ich hoffe, du bist wieder aufgetaut», sagte Mrs Rivers freundlich.

«Ja, vielen Dank», wisperte Rupert.

«Moment mal!», schrie Mrs Cook, die gerade mit Oliven und Selleriestangen hereinkam. «Bist du nicht der Junge, den ich vom Tor herunterschocken wollte?»

«Das war nicht meine Schuld», erklärte Rupert hektisch. «Ich ging vorbei und das Tor hat sich in mein Sweatshirt gebohrt.»

«Oh, Mrs Cook, Sie haben doch nicht wieder gebrutzelt?», fragte Mrs Rivers vorwurfsvoll.

«Ich kann mich nur wiederholen», erwiderte Mrs Cook. «Mir macht es auch nicht mehr Spaß als anderen, Leute zu verbrutzeln. Ich verscheuche nur die Bettler. Sie sollten dafür mein Gehalt erhöhen.»

«Ach, kommen Sie, ein bisschen gefällt es Ihnen schon, geben Sie es ruhig zu», sagte Onkel Henry.

«Na ja, ein bisschen. Jeder schaut gern zu, wenn die Leute ein bisschen brutzeln», sagte Mrs Cook abwehrend.

«Ich sehe jetzt aber keine Löcher in deinem Sweatshirt, mein Junge», sagte Mr Rivers, der sich über seiner Suppenschüssel den Kopf verrenkte, um Rupert prüfend anzusehen.

«Ich habe ihm eins von meinen gegeben, Vater», sagte Turgid. «Lasst ihr ihn jetzt bitte in Ruhe? Rupert, lies deinen Witz vor.»

«Was sagt ein Elch zum anderen?», las Rupert vor.

«Den hatten wir schon!», rief Onkel Moffat vorwurfsvoll.

«Wie du weißt, gibt es immer Wiederholungen», sagte Onkel Henry. «Das reicht mit den Knallbonbons. Jetzt wird die Suppe gegessen.»

Und das taten alle. Als Rupert merkte, dass sie ihre Papierhüte aus den Knallbonbons aufgesetzt hatten, stülpte er sich seinen ebenfalls über den Kopf und löffelte seine Suppe. So etwas Köstliches hatte er noch nie im Leben gegessen. Sie bestand aus viel Sahne, Kartoffeln und anderen unbekannten Zutaten und er schlang sie still in sich hinein. Rupert war als Erster fertig. Er wünschte, es gäbe noch mehr, doch Billingston räumte seinen Teller sofort ab.

Während Rupert wartete, dass die anderen aufaßen, betrachtete er sein Partygeschenk, ein kleines Kartenspiel in einer durchsichtigen Plastikverpackung.

«Was soll ich damit machen?», flüsterte er Turgid zu, obwohl er gar nicht hätte flüstern müssen, da ja nun alle aßen, sich unterhielten und Wein (die Erwachsenen) oder Shirley Temples tranken (die Kinder). Das Esszimmer war von fröhlichem Festtagslärm erfüllt.

«Keine Ahnung», murmelte Turgid.

«Was machst du denn mit deinem Partygeschenk? Was ist es überhaupt?»

«Hmmm, sieht wie ein Schlüsselanhänger aus», antwortete Turgid. «Wir legen sie normalerweise zu dem anderen Weihnachtskram und was dann damit passiert, weiß ich nicht. Vermutlich werden sie weggeworfen. Eigentlich kann mit dem Zeug aus den Knallbonbons keiner etwas anfangen. Jedes Jahr der gleiche langweilige Quatsch. Aber so ist das eben, es gehört zu Weihnachten dazu. Gibt es in deiner Familie keine Knallbonbons?»

Rupert hätte beinahe gesagt, bei ihnen gebe es nicht einmal etwas zu essen, was allerdings wegen des Weihnachtstruthahnkorbs auch nicht ganz stimmte. Obwohl das Hähnchen nie für alle reichte, bekam jeder etwas aus dem Korb. Die übrigen Lebensmittel im Korb kamen von der Tafel und stammten größtenteils aus den Küchenschränken der Spender, die beim Kauf daneben gegriffen hatten und die Sachen deshalb abgaben. Häufig gab es etwas in der Art von geräuchertem Tintenfisch oder Chipotle-Kichererbsen, was den Browns weiß Gott nichts ausmachte. Sie hatten rein gar nichts dagegen, die Fehlkäufe von Steelville aufzuessen.

«Nein, Knallbonbons hat es bei uns noch nie gegeben», sagte Rupert.

Wenn Turgid sich nicht zusammenreimen konnte, dass jemand, der sich keine Winterstiefel oder einen Mantel leisten konnte, wahrscheinlich auch kein Geld für Weihnachts-Knallbonbons hatte, wollte Rupert nicht so unfreundlich sein, ihn darauf hinzuweisen. Rupert war nicht einmal sicher, ob Turgid bemerkt hatte, dass er keine Stiefel und keinen Mantel trug. Als er das kleine Kartenspiel unter seinem Brotteller verbergen wollte, fiel ihm auf, dass darauf ein Brötchen lag. Er aß es und entdeckte dann das Butterstückchen, das er ganz in den Mund steckte. Ein erstaunliches Geschmackswunder, das auf seiner Zunge schmolz. Butter hatte er noch nie gegessen. Das einzige Fett, das die Browns je zu Gesicht bekamen, war Schmalz. Er mochte Schmalz, aber Butter kam einfach aus einer anderen Welt. Außerdem dachte er die ganze Zeit, dass es wohl in Ordnung sein würde, wenn er sein Partygeschenk behielt, da die Rivers ihre wegwerfen würden. Möglicherweise konnte er sogar auch die anderen mitnehmen, bevor sie im Müll landeten. Er hatte noch nie ein Spielzeug besessen, genauso wenig wie seine Brüder und Schwestern. Deshalb legte er still die Hand auf das Kartenspiel, ließ sie an die Tischkante und weiter über sein Bein gleiten. Dann steckte er die Karten in Turgids Jogginghose, von wo er sie später in seine eigene befördern wollte.

Als er nach seiner heimlichen Tat aufschaute, merkte er, dass Onkel Henry ihn nachdenklich beobachtete. Rupert wurde so rot, dass er glaubte, die Farbe einer Aubergine anzunehmen. Er wurde rot, bis er zu explodieren glaubte. Rasch senkte er den Blick auf seinen Teller und als er schließlich den Kopf hob, hatte Onkel Henry eine andere Miene aufgesetzt. Er zwinkerte Rupert zu und unterhielt sich weiter mit Sippy.

Es war schrecklich, dass er ihn auf frischer Tat ertappt hatte. Rupert war davon überzeugt, gerade genau das getan zu haben, was sie von einem Jungen erwarteten, der auf der falschen Seite der Stadt wohnte. Es war ihm peinlich und er bereute es zutiefst, doch als nun die übrigen Suppenteller abgeräumt wurden und Mrs Cook eine Vielfalt von Terrinen und Platten servierte, wich seine Verlegenheit neuer Aufregung. Schon für jemanden, der gutes Essen gewohnt war, wäre dies ein außergewöhnliches Mahl gewesen, aber als jemand, der von dünnem Haferbrei und Küchenabfällen lebte, traute er seinen Augen nicht. Es gab Braten, Kartoffelpüree, Röstkartoffeln und Yorkshire-Pudding, dazu salzige Küchlein mit Bratensoße, Möhren und Mais, Bohnen und Füllung. Es gab Cranberry-Soße, Multbeerengelee, gemischtes Essiggemüse, Teufelsgurken und Schokoladengurken. Es gab Käsesoufflé und Spinatsoufflé und Löffelbrot. Bergeweise Essen, die unterschiedlichsten Speisen, die nun in Windeseile herumgereicht wurden. Und ehe Rupert es sich versah, häufte es sich auf seinem Teller.

Während des restlichen Abendessens aß er stumm und sehr konzentriert immer weiter. Er fühlte sich wie ein Bär vor dem Winterschlaf, der sich das gesamte Gewicht für den Winter anfressen musste. Das ist für Januar, dachte er und nahm Kartoffeln nach. Das ist für Februar, dachte er und lud sich noch mehr Braten auf den Teller, den er mit weiterer Soße beträufelte.

Mittlerweile war ihm fast ein bisschen schlecht, aber kaum hatte er den letzten Bissen verspeist, wurde auch bereits der Teller abgeräumt und Kuchen aufgetischt, Mince Pie und Torten mit Äpfeln und Kürbis, Kirsche, Schokolade und Banane. Dazu gab es Plätzchen und Vanillesoße, Liebesknochen und Törtchen. Es gab Pudding. Es gab Obst. Es gab Käse.

Leider war Rupert zu seiner tiefen Enttäuschung bewusst, dass er keinen Bissen mehr essen konnte. Er war bis oben voll und spürte buchstäblich, wie das Essen auf seine Speiseröhre drückte und drohte, ihm wieder hochzukommen. Da war kein Platz mehr, beim besten Willen nicht.

«Oh, aber du musst ein bisschen Nachtisch essen, Rupert», sagte Mrs Rivers, als sie nach einer Weile merkte, dass er sich im Gegensatz zu der Familie nicht an den frei verfügbaren Süßigkeiten bediente.

«Ich kann nicht mehr», sagte Rupert.

«Du hättest dich vorher nicht so vollfressen dürfen», sagte Melanie, die den Mund voll Kuchen hatte. «Ich habe dich gesehen.»

«Halt die Klappe», sagte Turgid.

«Ich meine ja nur», sagte Melanie.

«Rupert kann seinen Nachtisch nach den Spielen essen, wenn die anderen zum zweiten oder dritten Mal zugreifen», sagte Mrs Rivers. «Ich habe auch keinen Hunger mehr. Billingston, räumen Sie ab.»

Auf ihren Befehl hin befreite Billingston den Tisch von den Tellern mit Resten von Kuchen, Plätzchen und Pudding. Auch die Bonbonpapiere, Witze und Partygeschenke verschwanden. Billingston sammelte sogar die Papierkronen ein. Rupert gab seine nur ungern her, weil er sie für Elise aufbewahrt hatte. Sie landete mit den anderen im Kamin. Schließlich standen nur noch die Gläser auf dem Tisch.

Erst jetzt merkte Rupert, dass er sein Shirley-Temple-Getränk nicht angerührt hatte. Obwohl er großen Durst hatte, war nur für ein kleines Schlückchen Platz. Es schmeckte köstlich. Das sprudelige Getränk war rot und mit einer Maraschinokirsche verziert. Wie alles, was er heute verzehrt hatte, war es auch das Beste, was er je getrunken hatte, die erstaunlichste Ausgabe eines Getränks, die ihm je untergekommen war. Er war so entzückt, dass ihm nach Weinen zumute war. Doch dafür war keine Zeit, denn Billingston trug einen Haufen eingepackter Gewinne herbei, die er auf dem Tisch ausbreitete.

Dann kam Mrs Cook ins Esszimmer, um sich zu verabschieden. Sie war in Mantel, Hut und Handschuhe gekleidet, auf dem Sprung, um mit ihrer eigenen Familie Weihnachten zu feiern.

«Oh, Mrs Cook», sagte Mrs Rivers. «Ihre Geschenke liegen auf der Anrichte.»

«Danke», erwiderte Mrs Cook unterkühlt. Wie in jedem Jahr fand sie, dass die Rivers zu lange getafelt hatten. Sie war sicher, dass sie es nur taten, um sie zu ärgern. Sie hatte bereits eine große Tragetasche und zwei Müllsäcke in den Händen, die sie öffnete, um die Geschenke der Familie Rivers hereinzuschaufeln.

«Hoffentlich haben wir Ihren Geschmack getroffen», sagte Mrs Rivers, wandte sich an Rupert und flüsterte: «Ihr gefällt eigentlich nie etwas davon. Tja.»

Rupert fiel keine Entgegnung ein. Mrs Rivers schien ihn zu mögen und allein das war in seinen Augen bereits außergewöhnlich. Es war nicht so, dass die Leute ihn persönlich nicht leiden konnten. Die einen mochten ihn wegen seiner Lebenssituation nicht, weil er so heruntergekommen aussah und, wie er befürchtete, nicht gut roch – obwohl er so oft zu baden versuchte, wie es in dem überfüllten Haus ging – und die anderen mochten ihn nicht, weil seine Brüder Katzen klauten. Da damit ungefähr alle Einwohner der Stadt abgedeckt waren, war er freundliche Blicke nicht gewohnt.

Mrs Cook stolzierte aus dem Esszimmer und zog die Müllsäcke hinter sich her.

«Oh, und Mrs Cook», rief Mrs Rivers ihr nach. «Falls jemand am Tor schaukelt, lassen Sie ihn in Ruhe, ja? Schließlich ist Weihnachten.»

Ohne stehenzubleiben oder sich umzudrehen, nickte Mrs Cook und ging.

«So», sagte Onkel Moffat und rieb sich fröhlich die Hände. «Reichen wir erst einmal den Zylinder herum?»

«Ich weiß nicht, wie man das spielt», flüsterte Rupert Turgid zu.

«Ach, das ist ganz einfach», sagte Turgid. «Alle nehmen einen gefalteten Zettel mit einer Zahl aus einem Hut, den wir herumgehen lassen. Derjenige mit der Nummer Eins nimmt einen Gewinn vom Tisch und packt ihn aus. Dann geschieht das Gleiche mit der Nummer Zwei, aber Nummer Zwei kann nun entscheiden, ob er seinen Gewinn behalten oder gegen den ersten tauschen möchte. Nummer Drei kann seinen Gewinn behalten oder gegen den von Nummer Eins oder Zwei eintauschen. Nachdem man einmal an der Reihe war, kann man nicht mehr auswählen. Die beste Zahl ist natürlich die letzte, weil man seinen Gewinn gegen den aller anderen tauschen kann. Es gibt tolle Gewinne, aber auch ganz schreckliche.»

«Es geht darum, mehrere Leute richtig unglücklich zu machen», ergänzte Onkel Henry. «Am Ende bricht immer jemand zusammen und heult.»

«Oh nein», sagte Rupert.

«Das ist das Beste daran, mein Junge!», rief Onkel Henry. «Nimm auf niemandes Gefühle Rücksicht. Wenn einer etwas gezogen hat, das er oder sie unbedingt haben will, tausche, wenn du an der Reihe bist. Nimm es ihm weg, mach ihn unglücklich. Das ist im Kern der Unterhaltungswert dieses Spiels.»

Rupert hatte nicht vor, das zu tun. Er würde sich schätzungsweise über jeden beliebigen Gewinn freuen. Bisher war er durchs Leben gekommen, indem er nicht auffiel, kein Theater machte und sich keine Feinde schuf. – Billingston brachte den Hut mit den Zetteln herein, der anschließend herumging. Rupert nahm ein Stück Papier und entfaltete es. Er hatte die Vier gezogen.

«Das ist nicht gerade die beste Zahl», sagte Melanie wissend.

«Vielleicht sogar die schlechteste», sagte der andere Turgid.

Als alle eine Zahl vor sich liegen hatten, nahm Mrs Rivers, die die Eins gezogen hatte, einen Gewinn und packte ihn aus. Es war eine Apfelsine.

«Tja, ich bin geliefert», sagte sie verdrossen. «Die will bestimmt niemand eintauschen. Wieso ziehe ich immer so eine niedrige Zahl? Wieso habe ich in all den Jahren, die ich dieses Spiel schon spiele, noch nie eine gute Zahl gezogen? Ich glaube, die sind gezinkt.»

«Das sagst du jedes Jahr», meinte Mr Rivers, der die Zwei gezogen hatte. Er bekam eine Reihe Nancy-Drew-Bücher.

«Großartig», sagte er. «Die habe ich noch nie gelesen. Ich sehe eine herrliche Woche vor mir.»

«Falls du sie behalten darfst», flötete William.

«Was nicht der Fall ist», sagte Melanie entschlossen. Sie hatte die Drei und packte bereits ihren Gewinn aus – eine Pralinenschachtel. «Perfekt. Ich tausche sie gegen deine Nancy-Drew-Bücher, vielen Dank.» Dann lief sie um den Tisch zu Mr Rivers, schnappte ihm die Bücher weg und warf ihm ihre Pralinenschachtel zu.

«Dabei mag ich die nicht mal», sagte Mr Rivers traurig.

«Hättest du lieber eine Apfelsine?», fragte Mrs Rivers.

«Das hättest du wohl gerne», entgegnete Mr Rivers und blickte schmollend aus dem Fenster.

«Ich mag Pralinen», sagte Sippy hoffnungsvoll.

«Du kannst jetzt nicht tauschen», schnaubte Onkel Henry. «Ihr wart beide schon dran und du kannst Sippy nicht einfach die Pralinen geben. Sie weiß genau, dass es gegen die Regeln verstößt! Ihr seid mit eurem Gewinn geschlagen, hier wird nicht geschummelt!»

Jetzt war Rupert an der Reihe. Er wählte einen kleinen Gewinn und öffnete ihn. Es war ein Kazoo.

«Oh, vielen Dank», wisperte er, ohne im Entferntesten zu wissen, was es war.

«Bei wem bedankst du dich?», spottete William.

«Das ist ein beschissener Gewinn», sagte der andere Turgid.

«Stimmt, aber meine Nancy-Drew-Bücher bekommst du nicht. Denk gar nicht erst drüber nach.»

«Er kann alles haben, was er möchte!», sagte Onkel Henry.

«Er wohnt nicht einmal hier», beschwerte sich Melanie.

«Das ist nicht vorgeschrieben», entgegnete Onkel Henry. «Wenn du eine neue Regel aufstellen willst, musst du dich an das Regelkomitee wenden. Man kann nicht einfach mit einer neuen Regel ankommen, zum Beispiel, dass man hier wohnen muss, um einen Gewinn abzustauben.»

«Es gibt kein Regelkomitee», sagte Melanie. «Das hast du dir ausgedacht.»

«Selbstverständlich gibt es ein Regelkomitee», sagte Onkel Henry. «Wie hätten wir die Regeln sonst aufstellen sollen? Bist du dümmer als ein Pantoffeltierchen? Bist du völlig deiner Sinne beraubt?»

«Herrje», sagte Mrs Rivers. «Jetzt hast du sie zum Weinen gebracht.»

«Ich habe nur wichtige Dinge gefragt», sagte Onkel Henry. «Fragen, die sie sich selbst stellen sollte.»

«Bin ich dümmer als ein Pantoffeltierchen?», schrie Melanie und stand auf. «Ich weiß nicht einmal, was ein Pantoffeltierchen ist!»

«Meine Rede», sagte Onkel Henry, faltete die Hände und nickte still.

«Und ich weine nicht!», schrie Melanie weiter. «Onkel Henry stellt mitten im Spiel Regeln auf und erfindet Institutionen, um damit durchzukommen.»

«Gar nicht! Das habe ich noch nie getan!», sagte Onkel Henry. Er erhob sich beleidigt und baute sich vor Melanie auf.

«Nimm ihre Bücher, mein Junge», sagte Onkel Moffat zu Rupert. «Das wird ihr eine Lehre sein.»

«Ich behalte doch lieber dieses Ding, danke», flüsterte Rupert und umklammerte sein Kazoo.

«Du weißt doch nicht mal, was das ist!», sagte der andere Turgid und krähte vor Lachen.

«Er spielt nicht richtig mit!», sagte Rollin.

«Genau!», sagte William. «Spielverderber.»

«Haltet die Schnauze», sagte Melanie. «Natürlich möchte er ein Kazoo haben. Wer würde das nicht wollen?»

«Ich bin dran», sagte Turgid und sorgte für Ablenkung, indem er seinen kleinen Gewinn auspackte.

Es war das neue Bauern-Jahrbuch von 1996. Er tauschte es gegen die Pralinen seines Vaters ein. Am liebsten hätte er die Nancy-Drew-Bücher genommen, aber er fürchtete sich vor Melanie.

«Gott sei Dank», sagte Mr Rivers und betrachtete das Kalendarium fürs nächste Jahr. «Damit kann man wenigstens etwas anfangen.» Er begann, die Wettervorhersage für Januar zu lesen.

«Hättest du nicht eigentlich lieber eine Apfelsine, Turgid, mein Schatz?», fragte seine Mutter.

«Nein, und das weißt du genau», antwortete Turgid.

«Ich weiß wirklich nicht, warum wir Apfelsinen im Haus haben», sagte Mrs Rivers düster. «Keiner mag sie.»

«Ich schon, aber ich hätte eben lieber die Pralinenschachtel», sagte Turgid.

«Aber ich habe dich auf die Welt gebracht», sagte Mrs Rivers.

«Nicht das schon wieder», sagte Turgid.

Mrs Rivers neigte dazu, diese Tatsache zu erwähnen, wenn es nicht nach ihrer Nase ging.

«Dreizehn Stunden in schrecklichen Wehen», murmelte Mrs Rivers vor sich hin, denn die anderen hörten gar nicht mehr zu.

«Früher galt eine Orange oder auch eine Banane als exotisch, ein Luxusgut», sagte die Bibliothekarin hinter dem Vorhang. Sie hatte sich beim Abendessen an kleinen Tellern vom Tisch bedient und war damit jeweils zu ihrem Platz hinter dem Vorhang zurückgekehrt. Dort hatte sie in ihrem Essen gestochert und abwechselnd gelesen oder gelauscht. «Es gab Zeiten, da hätten Kinder sich sehr gefreut, so etwas zu Essen zu bekommen.»

«Vielen Dank für die Information», sagte Onkel Moffat und verdrehte leicht die Augen.

«Und willkommen im Zeitalter moderner Kühlung», sagte Mrs Rivers. «Können wir jetzt weiterspielen?»

Es ging voran, bis William eine kleine tote Maus auspackte und sie gegen Melanies Nancy-Drew-Bücher tauschte. Daraufhin weinte sie heftig und heulte, sie würde ihre Familie hassen.

«Ha ha, Melanie hat den Scherzpreis gewonnen», sang William.

«Billingston sucht die Gewinne aus und bei Jupiter, er übertrifft sich jedes Jahr selbst mit einem abscheulichen Scherzpreis!», frohlockte Onkel Henry. «Letztes Jahr war es ein verschimmelter Käse. Tja, Melanie, auf der toten Maus wirst du wohl sitzenbleiben. Wie rasch sich doch unsere Lebensumstände wandeln. Wusch wusch ganz oben in der Welt und dann wusch wusch wieder unten. Die tauscht keiner ein, außerdem ist das Spiel sowieso zu Ende.»

«Oh, Melanie, nimm es bitte nicht so schwer. Du kannst die Bücher in der Bibliothek ausleihen», sagte die Bibliothekarin durch den Vorhang. «Ich habe dir immer schon gesagt, dass man mit einem Ausweis der Stadtbibliothek niemals arm ist.»

«Sie wird sowieso nie arm sein», sagte Mr Rivers. «Sie ist eine Rivers.»

Doch Melanie heulte viel zu laut, um irgendetwas anderes wahrzunehmen. Soweit man es verstehen konnte, ging es recht unzusammenhängend darum, dass sie einfach gewinnen wollte.

Schließlich sagte Tante Hazelnut: «Jetzt halt den Mund, Melanie, es ist nur ein Spiel.»

Und Onkel Henry stand auf und brüllte: «WEITER!»

Sie gingen zum nächsten Spiel über. Für die körperbetonteren Spiele zogen sie ins Wohnzimmer um.

Sie spielten Scharaden. Sie spielten Ochs am Berg. Sie spielten Scattergories, Pictionary und Dictionary. In der Zwischenzeit schaffte Billingston immer mehr Gewinne aus einem scheinbar unerschöpflichen Vorrat heran. Rupert hatte einen wahren Berg davon angehäuft. Und was waren das für Preise! Er hatte ein Eisenbahnset und warme Winterstiefel, die ihm zwar zwei Nummern zu groß waren, doch das war ihm egal. Er hatte jetzt eine Schneeschaufel und war Mitglied im Keks-des-Monats-Club. Er besaß ein ferngesteuertes Flugzeug und einen Stapel warmer Pullover. Am allerbesten fand er, dass er in seiner Familie zum ersten Mal Weihnachtsgeschenke verteilen konnte. Bisher hatten die Browns höchstens von John und Dirk Geschenke erhalten – und das waren meistens, nein, immer Katzen gewesen.

Rupert saß da und überlegte fröhlich, wer was bekommen sollte. Die Eisenbahn wollte er einem seiner jüngeren Brüder geben, das ferngesteuerte Flugzeug seinem Vater. Er würde es toll finden, da war er sicher. Dann hatte er beim Fernsehen etwas zu tun. Die Pullover konnten verteilt werden, einige waren so groß, dass sie sogar seiner Mutter passen könnten. Für John und Dirk sah er einen Plüschtiger und einen Plüschlöwen vor, obwohl sie als Jugendliche dafür wahrscheinlich schon zu alt waren. Aber er hegte die Hoffnung, sie könnten sie als angemessenen Ersatz für echte Katzen betrachten. Mittlerweile waren auch die Nancy-Drew-Bücher in seinen Besitz gelangt, nachdem William sie in einem Spiel namens Pick an Melanie verloren hatte, die sie Rupert im Zuge eines Spiels ausliefern musste, das Onkel Henry erfunden hatte. Onkel Henry fand es am allertollsten und nannte es Pfand, weil jedermann seinen Lieblingsgewinn wieder verlieren konnte.

Seit Rupert die Bücher gewonnen hatte, fürchtete er sich vor Melanie, doch Onkel Henry hatte ihm versichert, Melanie sei während der Spiele immer beängstigend. Es sei aber gut für sie, Sportsgeist zu entwickeln und Rupert solle sie gar nicht beachten. Wenn Melanie sich nicht rächte, sollten die Bücher für Elise sein. Elise saß abends gern mit Rupert zusammen, der sich dann als Ablenkung von der Eiseskälte Geschichten für sie ausdachte. Aber die Geschichten waren nie besonders gut. Er hatte im Leben außer Hungern und Frieren wenig erlebt, sodass sich das in die Geschichten schlich, bis sie als Ablenkung nicht mehr wirklich gut zu gebrauchen waren. Doch jetzt konnte er ihr die Nancy-Drew-Bücher vorlesen und das machte ihn glücklicher als alles andere, was an diesem Tag geschehen war.

Am Nachmittag gelangten die Rivers schließlich zu ihrem letzten Spiel.

Super reich

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