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I. Lebendige Stunden

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Ein Akt.

Anton Hausdorfer, pensionierter Beamter.

Heinrich.

Borromäus, Gärtner.

Wohlgepflegter kleiner Garten in einem Vororte Wiens. Kleines Haus im Hintergrund, mit Veranda, von der drei Stufen in den Garten her abführen. Vorn zwei Sessel, sowie ein behaglicher Lehnstuhl. Frühherbst. Der Abend ist nahe. Stille. Borromäus, der Gärtner, mit Umgraben beschäftigt. Er ist ein alter Mann mit ziemlich langen grauen Haaren. Anton Hausdorfer kommt langsam von der Veranda herunter; er ist nahe an sechzig, bartlos, straffes graues, kurzgeschnittenes Haar, junge Augen; dunkler Anzug, bequem, nicht nachlässig; breiter dunkler Strohhut.

HAUSDORFER. Guten Abend, Borromäus.

BORROMÄUS. Guten Abend, gnädiger Herr. Der gnädige Herr sind wohl heut nachmittag in der Stadt drin gewesen, nicht wahr?

HAUSDORFER. Nein, nein.

BORROMÄUS. Ich hab' nur gedacht, weil der gnädige Herr nachmittag wieder nicht in der Laube den schwarzen Kaffee getrunken hat.

HAUSDORFER. Nein, nein, ich war nicht in der Stadt. Ich bin drin auf dem Sofa gelegen. Ich hab' nämlich ein bißchen Kopfweh gehabt. Na, was tun Sie denn? Wir werden ja bald den ganzen Garten umgegraben haben.

BORROMÄUS. Freilich, gnädiger Herr. Es ist auch notwendig. Über Nacht kann ein Frost da sein. Ich lass' mich von diesen milden Tagen nicht betrügen, wenn's einmal Oktober ist. Erinnern sich gnädiger Herr noch an den Herbst im Jahre 93? Am Abend ist man im Freien gesessen – ja, am 28. Oktober – und in der Früh' um drei ist der Frost dagewesen. Und 87 und 88 war ganz dieselbe Geschichte. Ah nein, mich betrügen die schönen Tage nicht.

HAUSDORFER. Sie haben schon recht, Borromäus. Schaut ihm zu. Nun, was setzen wir denn heuer ein? Er versinkt in Nachdenken, hört die Antwort kaum an.

BORROMÄUS. Ja, davon hab' ich mit dem gnädigen Herrn grad reden wollen. Ich war nämlich heut nach Tisch beim Franz drüben. –

HAUSDORFER zerstreut. Bei wem?

BORROMÄUS etwas befremdet. Beim Gärtner vom Baron Weißeneck. Er ist hochmütig, ja, aber er versteht was. Ja, er kennt sich besser aus als ich. Ich muß es schon selber sagen. Er hat's auch in Büchern studiert. Zwanzig so Bänd' stehn bei ihm oben auf'm Kasten. Na, und darum genier' ich mich gar nicht, ihn um Rat zu fragen.

HAUSDORFER hat nicht zugehört. Ja, ja, das müssen S' tun.

BORROMÄUS. Was, gnädiger Herr?

HAUSDORFER. Was er Ihnen gesagt hat. Ja; ich bin ganz einverstanden.

BORROMÄUS immer befremdeter. Aber, gnädiger Herr, ich hab' ja noch gar nichts ...

HAUSDORFER wie oben. Es wird schon das Rechte sein.

BORROMÄUS fast erschrocken. Erlauben, gnädiger Herr.

HAUSDORFER wie erwachend. Was denn?

BORROMÄUS. O, ich kann mir schon denken! Wenn ich mir erlauben darf zu fragen – gewiß geht's der Frau Hofrätin wieder schlechter? Da Hausdorfer nicht antwortet, verlegener. Na ja, ich denk' halt, weil sie schon drei Wochen nicht mehr bei uns heraußen gewesen ist.

HAUSDORFER. Lassen Sie doch. Sie ist tot. Ich dank' Ihnen für Ihre Teilnahme. Die Frau Hofrätin ist tot. Er hat sich gesetzt.

BORROMÄUS ganz erschrocken, hat die Mütze abgenommen. Oh, oh! Pause.

HAUSDORFER. Ja. Sie wird nimmer zu uns kommen, die Frau Hofrätin.

BORROMÄUS. Ja, ist es denn möglich! O Gott! Ich hab' ja gar keine Ahnung gehabt, daß die Frau Hofrätin so krank war. Schüttelt den Kopf. Und war doch noch eine jüngere Frau sozusagen.

HAUSDORFER. Na, lieber Borromäus, jung ... Allerdings, sieben Jahre jünger als ich; aber ich bin halt auch schon sechzig.

BORROMÄUS. Ja, freilich! ...

HAUSDORFER. Man kann auch älter werden als die Frau Hofrätin, das ist schon wahr.

BORROMÄUS. Ja, sehn Sie, gnädiger Herr, es mag auch daher kommen, daß ich die Frau Hofrätin doch beinah Tag für Tag gesehn hab' in diesen fünfzehn oder zwanzig Jahren, – also damals –

HAUSDORFER. Ja, vor zwanzig Jahren waren wir alle jünger.

BORROMÄUS. Aber auch in der allerletzten Zeit hat doch die Frau Hofrätin nicht einer alten Frau gleichgeschaut! Und grad heuer im Sommer, wie sie so blaß und mager worden ist, da hätt' man geschworen ... Ja, einmal wie ich spät am Abend aus der Allee dort herausgekommen bin und die Frau Hofrätin ist da gesessen – meiner Seel', ich hab' gemeint, es ist eine jüngere Schwester von der Frau Hofrätin – entschuldigen der gnädige Herr.

HAUSDORFER nach einer kleinen Pause. Also, Borromäus, was hat er denn eigentlich gesagt, dieser arrogante Franz vom Baron?

BORROMÄUS. O nein, gbädiger Herr, o nein! Ich will jetzt nicht mehr von so gleichgültigen Sachen reden. Er küßt ihm die Hand. Ich weiß, was das heißt – ich hab' auch einmal eine Frau gehabt und – begraben. Er erschrickt gleich wieder über seine eigene Bemerkung. O, ich meine nur ...

HAUSDORFER. Es ist schon gut, Borromäus. Kleine Pause.

BORROMÄUS. Und der junge Herr? ...

HAUSDORFER. Was? Wie?

BORROMÄUS. Ich meine, der junge Herr Heinrich – es ist doch schrecklich! O Gott, o Gott! Wenn ich daran denk', wie er die Frau Hofrätin in der letzten Zeit immer herausbegleitet hat und abgeholt am Abend ...

HAUSDORFER. Ja, er ist sehr zu beklagen.

BORROMÄUS. Er ist gewiß selber krank worden, daß er nicht kommt.

HAUSDORFER. Nein, nein. Ich erwarte ihn jeden Tag. Er ist nämlich fort – er ist abgereist. Aber er muß jeden Tag zurückkommen. Er erholt sich halt ein wenig. Na ja, er muß doch wieder arbeiten können.

BORROMÄUS. Ja, ja, wenn man einen Beruf hat ...

HAUSDORFER. Und gar einen solchen! – Ein Dichter! Steht auf. Ein Dichter! Wissen Sie, was das heißt?

BORROMÄUS. Aber gnädiger Herr! –

HAUSDORFER. Nichts wissen Sie, gar nichts. Wir wissen das alle nicht, wir gewöhnlichen Menschen, die nichts weiter können als ihre Gärten bepflanzen ...

BORROMÄUS. O, der gnädige Herr hat –

HAUSDORFER. Na ja, Borromäus, Sie meinen, ich hab' früher auch noch was anderes getan – ja, ja. Aber doch nichts besseres als jetzt. In einem Bureau bin ich gesessen drin in der Stadt, tagtäglich von acht bis zwei, manchmal ist auch drei oder gar vier worden.

BORROMÄUS. Es muß doch eine Plag' sein, täglich auf einem Fleck sitzen sechs Stunden lang. – Ich hab' den gnädigen Herrn oft bedauert in früherer Zeit, wenn er erst so spät am Abend aufs Land herausgekommen ist. Und gar im Winter –

HAUSDORFER. Was soll man machen, Borromäus? Jetzt sitzt ein anderer auf meinem Platz, und wenn's der erlebt wie ich, kriegt er auch einmal seine Pension, und drin im Bureau sitzt wieder ein anderer! – Aber wer da drin auf meinem Platz sitzt, das ist ganz egal, das kann bald einer. Aber ein Dichter – das ist schon eine andere Art von Mensch wie unsereiner, Borromäus. Wenn so einer in Pension geht, kann's passieren, daß die Stelle recht lang unbesetzt bleibt. Ja, so einer muß auf sich schauen, das ist er der Welt schuldig – verstehen S', Borromäus?

BORROMÄUS. Freilich.

HAUSDORFER. Nichts verstehen S', gar nichts. Haben Sie denn gar nichts bemerkt am Heinrich? Haben Sie denn nie den Schein um seinen Kopf bemerkt? Na, sehn Sie!

BORROMÄUS lacht zuerst, dann wird er wieder ernst.

HAUSDORFER. Haben S' keine Angst, Borromäus, – ich bin nicht verrückt. Ich red' von keinem wirklichen Schein, nur von einem figürlichen. Sie können ihn nicht sehen, Borromäus, – ich auch nicht; – aber die Frau Hofrätin hat ihn gesehen.

BORROMÄUS. Ah, ich weiß schon, was der gnädige Herr meint. Ja, weil der Herr Heinrich, so jung als er ist, schon so viel in der Zeitung steht und die Leut' von ihm reden – ja, ja, das ist – Geste, als wollte er den Schein um den Kopf bezeichnen.

HEINRICH schwarz gekleidet, geht am Gartengitter vorbei. Er grüßt und verschwindet wieder.

BORROMÄUS ist dem Blick des Hausdorfer gefolgt.

HAUSDORFER. Ja, da kommt er. Sitzt schweigend.

BORROMÄUS. Erlauben der gnädige Herr – ich hab' ja noch gar keine Gelegenheit gehabt, dem Herrn Heinrich mein Beileid auszusprechen ...

HEINRICH tritt eben aus dem Innern des Hauses auf die Terrasse.

HAUSDORFER. Na, gehn Sie nur, gehn Sie nur, sprechen Sie ihm Ihr Beileid aus.

BORROMÄUS geht dem Heinrich entgegen.

HEINRICH von der Veranda herunterkommend, ergreift die Hand des Borromäus. Ich danke Ihnen, lieber Borromäus – ich weiß ja – ich danke Ihnen sehr.

BORROMÄUS ab.

HEINRICH nach vorn.

HAUSDORFER steht jetzt erst auf, geht ihm einen Schritt entgegen. Händedruck. Na, bist du wieder zurück?

HEINRICH. Ja; früher als ich gedacht habe. Es ist doch noch besser daheim,

HAUSDORFER nickt. Du bist also noch am selben Abend abgereist?

HEINRICH. Ja. Ich bin vom Friedhof nach Hause, habe gepackt und bin fort. Ich hätte die Nacht zu Hause nicht mehr ertragen.

HAUSDORFER. Das begreif' ich. Wo bist du denn eigentlich gewesen?

HEINRICH. Zuerst bin ich nach Salzburg gefahren. –

HAUSDORFER. So?

HEINRICH. Das ist nämlich ein Ort, wo ich mich sonst immer wohl gefühlt habe. Eine Stadt des Trostes, wahrhaftig.

HAUSDORFER. So? Gibt's solche Städte? Das wär' ja großartig.

HEINRICH. Ja, unter gewissen Umständen gibt es solche Orte, und ich bin wirklich nicht aufs Geratewohl nach Salzburg gereist. Ich habe nämlich einmal etwas sehr Schweres oder wenigstens Trübseliges erlebt – vor sieben oder acht Jahren ... Wissen Sie, Herr Hausdorfer, so eine Geschichte, daß ich dachte, es wird überhaupt nie wieder gut ... Ja, und da bin ich fortgereist, eben nach Salzburg. Und schon am ersten Nachmittag, während eines einsamen Spazierganges in Hellbrunn, in dem reizenden Rokokogarten, linderte sich mein Schmerz und am Morgen daraufhin ich wie gesundet aufgewacht, habe sogar wieder arbeiten können.

HAUSDORFER. Geh!

HEINRICH. Allerdings war ich damals kaum zwanzig – überdies war Frühling; das muß man auch in Betracht ziehen.

HAUSDORFER. Ja freilich, das muß man auch in Betracht ziehen.

HEINRICH. Und diesmal nichts, keine Spur von Erleichterung. Im Gegenteil.

HAUSDORFER. Also es gibt Fälle, wo Hellbrunn nicht wirkt. Wie lang bist du denn in Salzburg geblieben?

HEINRICH. Am nächsten Tag bin ich fort. Nach München. Ich hoffte nämlich auf die beruhigende Wirkung der alten Bilder. Ich bin in die Pinakothek, in die alte, wo meine geliebten Dürer und Holbein hängen. Und wahrhaftig, dort hab' ich zum ersten Mal nach langer, nach sehr langer Zeit wieder aufgeatmet. Pause. Sie erlauben doch, daß ich Ihnen das alles erzähle. Ich habe ein wahres Bedürfnis, mich Ihnen gegenüber auszusprechen.

HAUSDORFER. Tu's nur, tu's nur. Wird freundlicher, gibt ihm die Hand.

HEINRICH. Ich danke Ihnen. Sitzt. Sehen Sie, Herr Hausdorfer, ich hab' es einigermaßen schmerzlich empfunden, daß wir einander im Lauf der letzten Jahre ... ich kann's nicht anders sagen – ein wenig fremder geworden sind.

HAUSDORFER. Fremder – wieso denn?

HEINRICH. Ja. Ich habe sehr gut gespürt, daß Sie mich nicht mehr so gern hatten, wie früher einmal, wie zu der Zeit, da ich ein Bub' war und hier auf der Wiese gespielt habe.

HAUSDORFER. Gott, mein lieber Heinrich, das ist freilich schon recht lange her. Und schließlich wirst du ja auch zugestehen, daß du eigentlich derjenige warst – na ja, ich mein' nur so ... es ist doch natürlich, daß du deine eigenen Wege gegangen bist. Ein junger Mensch! Es war ja nicht sehr amüsant bei mir heraußen. Du hast deinen Kreis. Ich hab' dir doch mein Lebtag keinen Vorwurf gemacht – oder ja?

HEINRICH. Aber! – Ich wollte Ihnen nur sagen, wie tief ich gerade jetzt, nach dieser mißglückten Reise – oder Flucht, empfunden habe, daß ich mit keinem Menschen so stark zusammenhänge als mit Ihnen. Sie werden mich verstehen. Wie dankbar muß ich Ihnen sein! Was sind Sie meiner armen Mutter gewesen! Wie haben Sie ihre letzten Lebensjahre verschönt!

HAUSDORFER wehrt ab. Ja, ja ... Erzähl' doch weiter. Also in München bist du gewesen, die Bilder hast du dir angeschaut. Und da hast du Trost gefunden.

HEINRICH. Solang ich eben in den kühlen, stillen Sälen war. Kaum bin ich auf die Straße hinausgetreten, so war alles vorbei. Und gar die Abende, diese endlosen einsamen Abende. Ich versuchte zu arbeiten, zu denken – unmöglich! Als wäre alles in mir vernichtet. Pause. Ist aufgestanden. Wie lange wird das noch dauern!

HAUSDORFER. Es muß schrecklich sein, wenn man eine Beschäftigung so gewöhnt ist ...

HEINRICH. Gewöhnt? Ich bin's ja längst nicht mehr. Das ist es eben. Seit zwei, drei Jahren kann ich nichts mehr zustande bringen. Sie wissen ja ...

HAUSDORFER. Ich weiß – freilich.

HEINRICH. Aber es war auch eine vollkommene Unmöglichkeit. Ein geliebtes Wesen, eine Mutter leiden sehen, so leiden, und wissen, daß sie dem Tod entgegensiecht, – und daß sie es ahnt! – Ja, das war das Furchtbarste. Diese Ahnung, die ich in ihren Augen schimmern sah, nachts, wenn ich an ihrem Bette saß und ihr vorlas. Große Pause. Die Wohnung hab' ich aufgegeben.

HAUSDORFER. So? Die wär' ja auch zu groß für dich allein.

HEINRICH. Abgesehen davon; ich könnte in diesen Räumen doch nie wieder eine Zeile schreiben. Ich würde doch Nacht für Nacht das Stöhnen aus dem Zimmer nebenan zu hören glauben, das mir ins Herz geschnitten und mir jede Fähigkeit, jede Lust zu schaffen, ja zu leben zu Grund gerichtet hat. O Gott! Pause. Und wissen Sie, was mir Doktor Heusser noch am Sonntag vor ihrem Tode gesagt hat?

HAUSDORFER. Was denn?

HEINRICH. Es könnte auch noch zwei bis drei Jahre dauern.

HAUSDORFER beinahe auffahrend. Noch zwei bis drei Jahre? So? Absichtlich ruhiger. Noch zwei bis drei Jahre hätte es dauern können?

HEINRICH. Ja. Und die schlimmste Zeit wäre erst gekommen. Sie hätte das Zimmer nicht verlassen, hätte nicht einmal mehr die paar Stunden in der Woche haben dürfen – hier im Garten, wo ihr immer so wohl gewesen ist. Blick auf den leeren Lehnstuhl.

HAUSDORFER. Vielleicht hätt' ich mich doch zuweilen entschlossen, hineinzufahren, glaubst du nicht?

HEINRICH wie beschämt. Mein verehrter Herr Hausdorfer, ich rede da immer von mir, und ich bin noch jung, und es liegt doch noch irgendwas wie eine Zukunft vor mir. Was haben Sie verloren!

HAUSDORFER. Viel, viel.

HEINRICH. Ich weiß, was Ihnen meine Mutter bedeutet hat; ich hab' es immer gewußt, auch schon damals.

HAUSDORFER. Damals?

HEINRICH. Ich war ja kein kleines Kind mehr, als der, der mein Vater war, uns verließ.

HAUSDORFER. Ja, ja.

HEINRICH. Ich erinnere mich noch an den Tag, da mir die Mutter sagte, der Papa sei abgereist. Und als er nicht zurückkam, hab' ich mir eine Zeit lang eingebildet, daß er gestorben sei, und in der Nacht hab' ich manchmal bitterlich geweint. Aber kurz darauf bin ich ihm auf der Straße begegnet, und zwar mit jener andern, um derentwillen er meine Mutter verlassen hatte. Ich habe mich in ein Haustor versteckt, damit er mich nicht sieht, als ob ich kleiner Bub' mich vor ihm schämen müßte. Ja, ich hab' es früh verstanden, daß meine Mutter vollkommen frei war, so frei, als wenn sie verwitwet wäre.

HAUSDORFER. Du hast uns also verziehen, scheint es.

HEINRICH leicht verletzt. Entschuldigen Sie, ich habe mich wahrscheinlich ungeschickt ausgedrückt. Wieder wärmer. Aber soll man denn nicht über einfache und natürliche Dinge einfach und natürlich reden können, besonders in einem solchen Augenblick? Es drängt mich, Ihnen wie einem Vater die Hand zu drücken, denn ich weiß, wie sehr meine Mutter Sie geliebt hat. Es wird immer dunkler. Auf der Straße jenseits des Gitters werden Laternen angezündet.

HAUSDORFER. Geliebt – das war' schon was besonderes. Was hebt sich nicht alles auf der Welt, wenn's jung ist. Freunde sind wir gewesen, Heinrich, alte Leute und Freunde. Verstehst du das? Oder hat das Wort für so junge Ohren noch keinen Klang? Aber wie sollt ihr das verstehn, ihr jungen Leute, vor denen noch die Zukunft liegt, denen die Welt offensteht, – und gar ein Mensch wie du, mit solchen Aussichten. Es ist ja kein Wunder.

HEINRICH. Sie irren sich, Herr Hausdorfer: ich begreife das sehr gut. Wenn ich Ihnen ... uns meine arme Mutter wieder zurückrufen könnte – o Gott! Wenn ich sie nur noch einmal, nur für einen Abend wieder hier sitzen sähe, wie vieles gab' ich dafür hin!

HAUSDORFER. Vieles? Bitterer. Was?

HEINRICH zögernd. Es ist mir, als wenn ich meine ganze Zukunft, als wenn ich alles, was ich noch leisten, alles, was ich noch erreichen will, dafür hingeben könnte.

HAUSDORFER. Sei nicht bös', Heinrich, das glaubst du selber nicht.

HEINRICH. Wenn ich die Möglichkeit hätte, wenn es in meiner Macht stünde ...

HAUSDORFER. Es ist nicht wahr, Heinrich. Auch wenn du die Macht hättest – ich kenne dich! Euch alle kenn' ich, ich weiß, wie ihr seid.

HEINRICH. »Ihr?« Ich weiß nicht, für wen außer mir ich einzustehen habe.

HAUSDORFER. Du mußt für niemanden einstehn. Wenn ich »ihr« sage, so weiß ich schon, wie ich das mein'. Da hab' ich nämlich einen jungem Kollegen im Amt gehabt, das ist eine Geschichte von ungefähr zehn Jahren, der hat sich mit der Musik beschäftigt in seinen Mußestunden; es ist auch einmal bei einer Liedertafel vom Männergesangverein etwas von ihm aufgeführt worden; Franz Thomas hat er geheißen. Und dem ist sein einziges Kind gestorben, ein Bub', sieben Jahr war er alt, bildschön und aufgeweckt. Ich hab' ihn nämlich gekannt; er ist manchmal mit seiner Mutter gekommen, den Vater vom Bureau abzuholen. Also das Kind ist gestorben, an der Diphtheritis, in einer Nacht, und ich komm' hin Kondolenzvisit machen. Und er, der Vater nämlich, sitzt beim Klavier und spielt – ja, spielt. Dabei muß ich bemerken: das tote Kind ist im selben Zimmer aufgebahrt gelegen – und er spielt und hört nicht auf, wie ich komme, sondern nickt mir zu, und wie ich hinter ihm stehe, sagt er leise: »Hören Sie, Herr Hausdorfer, das ist für mein armes Buberl. Grad ist mir die Melodie eingefallen.« Und das tote Kind liegt daneben im Sarg. – Ja. Mir ist es über den Rücken gelaufen.

HEINRICH hat mit sichtlichem Interesse und endlich mit einiger Befriedigung zugehört. Nun ja. Ich verstehe ganz gut, daß viele und gerade sehr vortreffliche Menschen solchen Dingen gegenüber eine Art Grauen empfinden mögen. –

HAUSDORFER. Grauen – ja! Das wird schon das rechte Wort sein.

HEINRICH. Aber sagen Sie selbst, Herr Hausdorfer: sind die Leute nicht eigentlich beneidenswert, denen es so schnell gelingt, sich hinauszuretten – in ihren Beruf, in ihre Kunst? die vielleicht sogar die wunderbare Fähigkeit haben, ihren Schmerz in ihrer Weise zu gestalten, statt ihn in nutzlosen Tränen hinströmen zu lassen?

HAUSDORFER. Gestalten? Weckt das die Toten wieder auf?

HEINRICH. So wenig als die Tränen. Ich sage auch nicht, daß die Freude an der Arbeit das Leid über ein entschwundenes Wesen aufwiegt. Aber ist es nicht endlich das Einzige, was uns übrig bleibt: arbeiten? Werden Sie nicht Ihren Garten pflegen wie zuvor? Und ich – ja, ich ersehne den Tag, da ich wieder fähig sein werde, etwas Ordentliches zu schaffen wie früher einmal. Ins Unabänderliche müssen wir uns fügen.

HAUSDORFER. Ins Unabänderliche, das mag ja sein.

HEINRICH. Es war unabänderlich.

HAUSDORFER. Nein, nein.

HEINRICH ein wenig befremdet. Gewiß. Mit welchen Gedanken quälen Sie sich denn? Haben Sie nicht selbst erst vor sechs Wochen den Doktor gesprochen? Er hat Ihnen damals die Wahrheit nicht verschwiegen. Es hat so kommen müssen.

HAUSDORFER. Nicht so früh! Noch nicht jetzt.

HEINRICH. Wie können Sie das behaupten, Herr Hausdorfer? Sie nehmen doch nicht an, daß irgend etwas versäumt worden ist?

HAUSDORFER. O nein, o nein, entschuldige. Nichts ist Versäumt worden.

HEINRICH. Nun also!

HAUSDORFER. Aber hast du mir nicht selbst grad erzählt, daß sie noch zwei bis drei Jahre vor sich gehabt hätte?

HEINRICH. Ach so. Das ist schon wahr. Aber der Doktor machte auch auf die Möglichkeit eines plötzlichen Todes aufmerksam, wie Ihnen sehr wohl bekannt ist.

HAUSDORFER. Plötzlich? – Das war' ja schon richtig. Zögernd, aber dann entschlossen. Aber ob's auch natürlich zugegangen ist, das wär' noch eine andere Frage.

HEINRICH betreten. Wie?! Warum diese ... Nein. Ich verstehe nicht, was Sie auf diese Vermutung bringt, zu der nicht der geringste ... Der Arzt hätte es doch merken müssen.

HAUSDORFER. Warum denn? Man trinkt das Morphiumflascherl aus, in der Früh' wird man tot im Bett gefunden; die Angehörigen sind ja vorbereitet.

HEINRICH. Sie sagen das mit einer so eigentümlichen Bestimmtheit ... Hat meine Mutter vielleicht eine Äußerung getan? ...

HAUSDORFER. Laß es dir genügen – ich irr' mich nicht.

HEINRICH. Da Sie mir so viel gesagt haben, Herr Hausdorfer, so werden Sie es wohl begreiflich finden ...

HAUSDORFER. Ich weiß es – frag' mich nicht mehr!

HEINRICH. Ach so. Der Brief auf ihrem Schreibtisch ...

HAUSDORFER nickt. Ja.

Pause.

HEINRICH betroffen. So, so ... Aber warum bin ich eigentlich erstaunt? Wie oft in diesen furchtbaren Nächten hab' ich mich gefragt – ja, ich gesteh' es Ihnen, auf die Gefahr, daß ich Ihnen wieder grauenhaft erscheine – was uns armselige Geschöpfe denn zwingt, so viel Elend, so viel Martern auf uns zu nehmen, wenn es doch in unserer Macht liegt, jeden Augenblick selbst ein Ende zu machen.

HAUSDORFER. Heinrich!

HEINRICH. Wenn meine Mutter getan hat, was Sie zu wissen behaupten, so hat sie recht getan.

HAUSDORFER. Heinrich!

HEINRICH. Das ist meine ehrliche Meinung.

HAUSDORFER. Aber du weißt ja nichts, Heinrich – du weißt ja gar nichts! Sie hätte ja weiter gelitten und weiter gelebt, solang ihr der Herrgott das Leben schenkt – für mich hätt' sie weitergelebt und für sich – für die paar Stunden hier in dem Garten, der voll Erinnerungen an unsere Jugend und an unser Glück ist – gestorben ist sie deinetwegen – deinetwegen, Heinrich, daß du's weißt – für dich!

HEINRICH immer erregter. Für mich ... für mich? ... Ich verstehe Sie absolut nicht! ... Für mich – was heißt das?

HAUSDORFER. Verstehst du's wirklich nicht? Kannst du dir's denn nicht denken? Hast du nicht selbst eben davon gesprochen?

HEINRICH. Wovon?

HAUSDORFER. Hast du mir nicht selbst erzählt, was in dir vorgegangen ist? Und du bildest dir ein, deine Mutter hat nichts gemerkt?

HEINRICH. Was hat meine Mutter gemerkt?

HAUSDORFER. Daß dich ihre Krankheit in deinem Beruf gestört hat, daß du nichts mehr hast arbeiten können – daß du Angst bekommen hast, es ist für immer aus mit deinem Talent – daß du – du! der Gequälte, der Gemarterte, der Ruinierte warst – das hat sie gesehen und darum ...

HEINRICH. Darum?! – Aber es ist ja nicht möglich!

HAUSDORFER. Nicht möglich? Es war deine Mutter, so wird's schon möglich gewesen sein.

HEINRICH. Nein, Herr Hausdorfer, Ihr Gram bringt Sie auf Vermutungen, die durch nichts gerechtfertigt sind. Ich weiß ja sehr wohl, daß meiner Mutter mein Seelenzustand kein Geheimnis bleiben konnte, so sehr ich mich bemüht habe – aber daß das der Grund gewesen sein sollte ... nein, das ist –

HAUSDORFER ihn heftig unterbrechend. Warum willst du mir denn nicht glauben? Meinst du, ich lüge dir was vor? Ja, warum denn? – Da! Nimmt einen Brief aus der Tasche. Lies! lies! da! Der Brief ist bei klarem Bewußtsein geschrieben – das ist der, der auf dem Schreibtisch gelegen ist! Am letzten Abend hat sie ihn geschrieben. Und eine halbe Stunde nachher ... Ja, lies – da drin steht's ... weil sie dich leiden gesehen hat – sie dich – sie dich – darum ist sie fortgegangen vor der Zeit – darum ist sie gestorben!

HEINRICH durchfliegt den Brief. Mutter! Mutter! Sinkt wie vernichtet nieder. Für mich! Um meinetwillen! Da bin ich ja ihr ... O Gott! O Gott! – Mutter! Er vergräbt den Kopf auf dem Lehnstuhl.

HAUSDORFER sieht ihn an und nickt.

Große Pause.

HEINRICH erhebt sich. Ich will nun gehen. Ich begreife, daß Ihnen mein Anblick schmerzlich sein muß. Hier ist der Brief. Er behält ihn noch in der Hand. Er ist bei klarem Bewußtsein geschrieben und enthält die Wahrheit. Ja, ich zweifle nicht mehr. Nach einigem Zögern. Erlauben Sie mir nur, Sie auf diese Stelle aufmerksam zu machen.

HAUSDORFER. Welche?

HEINRICH. Diese hier. In der meine Mutter Sie beschwört – Mit dem Finger darauf weisend. »Ich beschwöre dich ...« mir von dem Inhalt dieses Briefes nichts zu verraten und mich zeitlebens in dem Glauben zu lassen, daß sie eines natürlichen Todes gestorben sei. Dieser Brief war ausschließlich für Sie und ganz gewiß nicht für mich bestimmt.

HAUSDORFER. Ich bestimm' ihn für dich! Ich bestimm' ihn für dich! Ich erlaube mir – ich erlaube mir. Du wirst es überleben.

HEINRICH. Sie haben durch Ihre Verfügung den ganzen Sinn dieses freiwilligen, dieses Opfertodes zerstört. Ihr Wille war es nicht, daß ich mich als Mörder fühlen, als ein Verdammter auf der Welt herumgehen sollte! Und Sie werden vielleicht später selbst empfinden, daß Sie nicht nur an mir, sondern auch an ihr ein Unrecht begangen haben, das beinah das meine aufwiegt.

HAUSDORFER. Ich nehm's auf mich, Heinrich. Ich hab' es dir sagen dürfen, dir schon. Du wirst dich nicht lang als Schuldiger fühlen – nein! Du wirst dich aufraffen! leben! gestalten!

HEINRICH. Das ist mein Recht, vielleicht sogar meine Pflicht. Denn mir bleibt nicht anderes übrig als mich selbst zu töten – oder den Beweis zu versuchen, daß meine Mutter – nicht vergeblich gestorben ist.

HAUSDORFER. Heinrich! Vor einem Monat hat deine Mutter noch gelebt, und du kannst so reden? Für dich hat sie sich umgebracht, und du gehst hin und schüttelst es von dir ab? Und in ein paar Tagen nimmst du's vielleicht hin, als wär' es ihre Schuldigkeit gewesen? Hab' ich nicht recht: seid ihr, nicht einer wie der andere? Hochmütig seid ihr – das ist es: hochmütig, alle, die Großen wie die Kleinen! Was ist denn' deine ganze Schreiberei, und wenn du das größte Genie bist, was ist sie denn gegen so eine Stunde, so eine lebendige Stunde, in der deine Mutter hier auf dem Lehnstuhl gesessen ist und zu uns geredet hat, oder auch geschwiegen – aber da ist sie gewesen – da! und sie hat gelebt, gelebt!

HEINRICH. Lebendige Stunden? Sie leben doch nicht länger als der letzte, der sich ihrer erinnert. Es ist nicht der schlechteste Beruf, solchen Stunden Dauer zu verleihen, über ihre Zeit hinaus. – Leben Sie wohl, Herr Hausdorfer. Ihr Schmerz gibt Ihnen heute noch das Recht, mich mißzuverstehen. Im Frühjahr, wenn Ihr Garten aufs neue blüht, sprechen wir uns wieder. Denn auch Sie leben weiter. Er geht über die Terrasse, aus der ein breiter Lichtstrahl von der Lampe in den Garten fällt.

Vorhang.

Lebendige Stunden

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