Читать книгу Sarah Penrose - Priska M. Thomas Braun - Страница 9

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Sarah warf einen Blick auf die Uhr. Schon Viertel nach sieben. Sie sass in der kleinen, modern eingerichteten Küche, deren Induktionsherd und Backofen mit Dampfgarer nie gebraucht wurden. Im Kühlschrank standen nur Milch und Fruchtsäfte. Izzy Rothfuss trank hier morgens einen eiligen Kaffee aus der Kapselmaschine, und Rudi Rothfuss köpfte spätabends eine Flasche Wein aus dem Klimaschrank. Zu viel mehr wurde die Küche nicht benutzt.

Nun wartete Sarah noch auf die Brötchen, den Käse und die Salami aus der Hotelküche. Die Kinder blödelten. Jens, der Jüngste blies in seine Schokomilch. «Ich habe solchen Hunger», zwängelte er, während seine ältere Schwester Jessica mit ihren nackten Beinen baumelte und ihn mit den Zehenspitzen unermüdlich anstiess. Um acht begann die Schule.

Ich werde Mäxle und Mo mit ins Auto packen, erst Jessica in die Schule fahren und die Zwillinge danach im Kindergarten abliefern, beschloss Sarah. An den Rechtsverkehr hatte sie sich problemlos gewöhnt und steuerte ihren nicht ganz neuen SUV aus dem stattlichen Fahrzeugpark des Hotels recht flott durch den Ort. Aber mit den Kindern im Auto fuhr sie vorsichtiger. Die beiden mittleren Buben hiessen natürlich weder Mäxle noch Mo, sondern Max und Maurice. Doch Sarah und die Eltern riefen die aufgeweckten Zwillinge, ausser wenn es Schelte gab, liebevoll bei ihren Spitznamen.

Sarah hörte das Summen des Aufzugs. Endlich kam Karin, die Bedienung vom Restaurant mit den bestellten Sachen.

«Sorry, Sarah. Heute war die Hölle los am Frühstücksbuffet und Hanna ist krank. Ich habe es nicht früher geschafft.»

Sie murmelte: «Thanks. Is kain Problem», und Mäxle und Mo griffen mit ihren Fingern nach den Wurst- und Käsescheiben, anstatt wie Jessica die Gabel zu benützen. Sie wies die Kleinen kategorisch zurecht, da ausgerechnet jetzt die Mutter der Kinder auftauchte. Trotz der frühen Stunde war Izzy topp angezogen, das Haar hatte sie gekonnt zerzaust und das Augen-Make-Up vermittelte ihr einen Bambi-Look. Nur die Lippen waren blass.

Ungeschminkter Mund, damit sie ihre Sprösslinge, bevor wir das Haus verlassen, küssen kann, ohne Spuren zu hinterlassen, dachte Sarah. Sie selber machte sich bloss für den Ausgang zurecht. Jetzt lächelte sie ihrer attraktiven Chefin freundlich zu und ermahnte die Kinder, nicht zu trödeln.

Izzy Rothfuss-Jacobs war die Tochter des Inhabers einer grossen Hamburgerkette in den USA. Sie hatte den Hotelier Rudi Rothfuss knappe zehn Jahre zuvor an einer Tagung in New York kennengelernt, danach Urlaub im Schwarzwald gemacht, geheiratet und vier Kinder geboren. Wenn Sarah ehrlich war, beneidete sie Izzy ein bisschen, denn deren Leben schien ihr perfekt, hatte sie doch alles, was man sich wünschen konnte: Geld, Ansehen, eine grosse Familie und genug Personal, das ihr ein sorgenfreies Leben erlaubte. Auf die Idee, dass sich Izzy an die fremden örtlichen Gegebenheiten erst hatte gewöhnen und sich mit den allfälligen Macken ihres Mannes hatte arrangieren müssen, wäre Sarah in ihrer jugendlichen Naivität nie gekommen.

Sie freute sich wie an jedem Morgen, an dem das Wetter mitmachte, darauf, den Vormittag mit Jens auf dem Waldspielplatz zu verbringen und, sobald das Kind nicht mehr spielen wollte, zusammen Bäume zu umarmen und das blühende Dickicht des Waldbodens zu erkunden und nach Hasen, Rehen und Auerhähnen zu spähen. Ursprünglich habe der Schwarzwald aus Buchen und Tannen bestanden, die über die Jahre durch Fichten und Kiefern verdrängt wurden, hatte sie nachgelesen. Sie dachte an ihre Zugfahrt vom Flughafen Frankfurt nach Karlsruhe, an ihre Hoffnung, dass sie sich gut mit ihren Arbeitgebern verstehen würde und dass die Kinder gut erzogen waren. An ihr Herzklopfen, als sie später im überhitzten Abteil des Regionalzugs für eine Weile eingenickt war und plötzlich aufschreckte und meinte, den Bahnhof verpasst zu haben. Doch als sie auf die Uhr geblickt und realisiert hatte, dass sie erst in einer halben Stunde in Fleckenbronn ankommen würde, hatte sie fasziniert aus dem Fenster geschaut. Die märchenhafte Winterlandschaft, die sie erblickte, bestärkte ihre Vorahnung, dass sie sich hier, trotz der Vorbehalte ihres Onkels, wohl fühlen würde. Hoch und schlank, wie junge Bräute im Hochzeitskleid, hatten die Bäume die Bahnlinie gesäumt und sich später, als sie in ihrem Zimmer im Personalhaus die Koffer auspackte, in der tintenblauen Dämmerung vor ihrem Fenster, als gezackte Silhouetten vom orangen Westhimmel abgehoben. Sarah war vom ersten Moment an von der Schönheit der Natur überwältigt gewesen. Sie erinnerte sich noch genau, wie ihre Chefin Izzy sie ein paar Tage später zu einer Pferdeschlittenfahrt eingeladen hatte.

«Es ist zwar absolutely freezing. Das Thermometer hat in der Früh minus 18 Grad angezeigt», hatte Izzy, die gerne zeitig aufstand, an Sarahs erstem Sonntag im Schwarzwald gesagt. «Dazu kommt der Wind chill factor. Doch da die Sonne scheint, gehen wir trotz der Kälte raus. Die frische Luft wird uns und den Kindern gut tun. Rudi kommt nicht mit. Er muss heute im Restaurant nach dem Rechten sehen, denn unser Geschäftsleiter hat seinen freien Sonntag.»

Nach dem Mittagessen hatten Sarah und Izzy mit den in Daunenjacken verpackten Kindern unter Schichten von Wolldecken gesessen, die dicken Stiefel vergraben im Stroh, das der Kutscher in mehreren Schichten auf den hölzernen Boden gestreut hatte. Genau wie die Pferde, zwei Schwarzwälder Braune, so hauchten auch die Menschen weisse Dampfwolken aus. Sarah war froh um ihren Montgomery Dufflecoat und ihre Wollmütze, die sie sich über die Ohren ziehen konnte. Trotzdem reichte ihr Izzy, die einen karamellfarbenen Lammfellmantel trug, ein Halstuch aus feinster Kaschmirwolle und gebot ihr, sich dieses gleich mehrmals um den Kopf zu schlingen. «Keine Sorge, ich habe ein zweites mit, damit keine von uns beiden frieren muss.»

Tatsächlich hatte Sarah einen unvergesslichen Tag erlebt und – nach rasanter Fahrt durch tief verschneite Wälder und über eine gefrorene Hochebene – bei Kaffee und Schnaps, und heisser Schokolade und Kuchen für die Kinder, erstmals die Grosszügigkeit ihrer Arbeitgeberin erfahren.

Sarah hatte sich überglücklich gefühlt, diesen tollen Job mit einer ebenso tollen Chefin ergattert zu haben.

Jetzt, Mitte Juni, war purer Sonnenschein prognostiziert, mit Gewittern, die sich, wenn überhaupt, erst gegen Abend entladen würden. Sarah konnte sich die bittere Januarkälte im Schwarzwald kaum mehr vorstellen. Längst sassen keine Schneebäuschchen mehr auf den Tannen und Gartenzäunen. Im Sommer sorgten weisse Pelargonien für helle Tupfer in den Blumenkästen am Balkongeländer und auf der Brüstung der Sonnenterasse des Tannwald, das sich dadurch von den Hausfassaden im Dorf abhob. Gewöhnlich sah man im Schwarzwald rote und rosarote Geranien, doch Izzy liebte weisse Blumen.

Heute wollte Sarah mit Jens Waldkräuter sammeln, diese später für Jessicas Album pressen und deren Namen, Verwendungszwecke und Heilkräfte gelegentlich in ihrem botanischen Lehrbuch nachschlagen. Obwohl sie Nässe und Wind von Cornwall her gewohnt war und dies auch bei schlechtem Wetter getan hätte, musste sie sich dann für Jens etwas anderes einfallen lassen. Er schrie wie am Spiess, wenn sie versuchte, ihm seine Windjacke und Gummistiefelchen anzuziehen. Sobald die ersten Tropfen fielen, wollte er lieber im Zwergenhort, dem für den Nachwuchs der Hotelgäste eingerichteten Baumhaus, spielen. Sie gab dem Zwängen des Kleinen für gewöhnlich nach und lieferte ihn bei der Kindergärtnerin ab. In der dadurch gewonnenen Freizeit studierte sie die deutsche Grammatik oder las ein deutsches Buch.

Überhaupt war der Hotelbetrieb mit seinen vielen Angestellten ein Glück, das sie erst seitdem sie den Job inne hatte, richtig einzuordnen vermochte. Sie und die Kinder assen mittags am Stammtisch in der alten Gaststube, wo sich die Kleinen für gewöhnlich vorbildlich benahmen. Gäste gab es dort zu dieser Zeit nur wenige. Das Frühstück und Abendessen der Kinder wurden in die Wohnung hochgebracht, die auf der obersten Etage im Hauptgebäude lag und von der Putzequipe des Hotels aufgeräumt und sauber gehalten wurde. Mit einem Online-Lehrgang und dank ihrer Schützlinge, die einzig mit ihrer Mutter Englisch sprachen, lernte sie schnell Deutsch. Schon nach wenigen Wochen las sie den Kleinen Grimms Märchen und Legenden aus dem Schwarzwald vor und überwachte Jessicas Hausaufgaben. Nach dem abendlichen Baderitual folgten Gutenachtgeschichten, ein kurzes Gebet, und dann war Schlafenszeit und Sarah konnte tun und lassen, was sie wollte. Meist las sie oder schrieb begeisterte Mails nach Cornwall.

«Mmmhhh», machte Hannes, der mit Sarah auf der Terrasse des Café Frey sass und plötzlich Izzy und die Kinder erblickte. Es war ein heisser Samstagnachmittag im Juli und der auffallend leicht gekleideten Mutter war der Rocksaum hochgerutscht, als sie aus ihrem SUV stieg.

«Schön, dass sie sich heute um die Kleinen kümmert», stichelte Sarah. «Ich habe nicht den Dunst einer Idee, was sie sonst mit ihrer vielen Zeit anstellt.»

«Mmmhhh, was wohlhabende Frauen halt so tun. Sie spielt regelmässig Golf. Sie hat ein respektables Handicap, habe ich gehört …»

«Stimmt, und sie fährt zum Friseur und zum Shoppen nach Baden-Baden», unterbrach Sarah und provozierte Hannes schon wieder: «Du musst nicht ‘mmmhhhen’. Vielleicht weisst du ja, wen sie ausser ihren Freundinnen dort noch so trifft. Du scheinst gut informiert zu sein.»

«Och, komm schon. Möchtest du noch etwas trinken?»

«Danke, ich habe noch. Jetzt lenke mal nicht vom Thema ab. Die Heinzelmännchen vom Hotel, auf die sie sich blind verlassen kann, meinen, die liebe Izzy dürfte sich öfter um ihre Familie kümmern. Einige munkeln: Nicht bloss um die Kinder. Auch um ihren Ehemann.»

«Aber das tut sie doch! Rudi beklagt sich jedenfalls nicht.»

«Nun. Er turtelt ganz flott mit seiner Assistentin, legt ihr den Arm um die Schultern, wenn er sich unbeobachtet fühlt. Ich habe die beiden auch nach Dienstschluss öfter die Köpfe zusammenstecken sehen.»

«Er turtelt mit Susanne? Dieser Bohnenstange im Dirndl?»

«Ja, genau mit ihr», präzisierte Sarah und fühlte sich gemein dabei. Rudi war stets freundlich. Sie hatte keinen Grund, schlecht über ihn zu reden.

«Eigentlich geht es uns ja nichts an», lenkte sie ein.

«Richtig. Mein Vater lässt fragen, ob wir ihm morgen bei der Vorbereitung des Frühstückbuffets helfen könnten. Ich habe zugesagt, für mich jedenfalls. Machst du mit?»

Sarah nickte. Hannes Eltern, Gustav und Emma Frey, führten eine Bäckerei mit einem florierenden kleinen Café, wo sich Sarah gerne mit Hannes traf. Anders als in ihrem Edelhotel begegnete sie im Café Frey neben Touristen auch Einheimischen.

«Übernachtest du hier?», fragte er. «Morgen sollten wir um sechs aus den Federn.»

«Warum nicht? Wenn das Frühaufstehen nicht der einzige Grund ist», witzelte sie.

«Ist es nicht», sagte Hannes und fragte, ob sie am Nachmittag Zeit und Lust habe, mit ihm auf den Kniebis zu radeln.

«Machen wir. Ich habe immer Lust», feixte sie und freute sich auf das freie Wochenende, das sonnig und trocken vor ihnen lag.

Sarah und Hannes hatten ihre Räder an einen Baum gelehnt und ruhten sich an einem der grossartigsten Aussichtpunkte aus. Sie dachte über Izzy und Rudi Rothfuss nach.

«Weisst du, wie eine perfekte Ehe funktioniert?», fragte sie, als Hannes und sie auf den verlandenden Ellbachsee hinunter und über die endlosen Tannenwälder blickten. «Ich habe nämlich keine Ahnung. Nach dem Unglück meines Vaters, damals, als er von einem Tag auf den anderen aus unserem Leben verschwand, hat Mum niemanden mehr kennengelernt. Sie und meine Schwester, und natürlich auch Onkel Finlay und Tante Claire, waren meine Familie», sagte sie, und da Hannes sich nicht dazu äusserte, doppelte sie nach: «Ich spüre, dass in der Beziehung von Izzy und Rudi etwas nicht stimmt. Die beiden sind mir ein Rätsel. Ich frage mich, ob sie zusammen schlafen. Obwohl. Sie haben vier Kinder.»

«Sie sieht jedenfalls sehr sexy aus», schwärmte Hannes. «Um fit zu bleiben, rennt sie in enger pinker oder mintfarbener Jogginghose, und bei Regen mit farblich passender Badekappe, durch den Wald.»

«Woher weisst du das?», fragte Sarah, bevor Hannes noch mehr Details aufzählen konnte. Er zog seine Schultern hoch. «Ach, ich hab’ es halt so gehört. Rudi sei vergleichsweise träge und bieder, sagt man.»

«Im Gegensatz zu Izzy gehe ich im Schlabberlook joggen», sagte sie.

«Jetzt schnapp nicht gleich ein. Es geht nichts über den Kontrast deiner dunklen Löckchen zu deinen hellen, wachen Augen», antwortete Hannes. Besänftigend verstrubbelte er ihr vom Radeln verschwitztes kurzes Haar und drückte ihr einen Kuss auf die feuchte Stirn. Er war einen guten Kopf grösser als sie und vermittelte Sarah stets ein Gefühl von Geborgenheit.

«Danke. Doch im Moment mache ich mir Gedanken über meine Chefin», sagte Sarah. Sie fragte sich, warum Izzy nicht nur nach Baden-Baden, sondern oft auch nach Frankfurt fuhr. Einmal, als Sarah gelauscht hatte, wie Izzy mit ihrer Oma telefonierte, erkundigte sie sich, nachdem Izzy das Gespräch mit einem tiefen Seufzer beendet hatte, vorsichtig nach dem Befinden der alten Frau.

«Wie viele alte Menschen lebt sie in der Vergangenheit», antworte Izzy. «Doch für meine Oma ist dies schrecklich. Sie wurde in Frankfurt als Kind jüdischer Eltern geboren und verliess Deutschland 1939 mit einem der letzten Kindertransporte. Ihre Erinnerungen holen sie jetzt, im hohen Alter, ein.»

«Oh Gott», entfuhr es Sarah.

«Ja. Während des Nazi-Terrors hat sie ihre Eltern und die gesamte Verwandtschaft verloren. Ihr einziges Glück war die englische Familie, von der sie aufgenommen wurde, und dass sie schliesslich mit ihrer Entschädigung für erlittenes Leid in die USA auswandern konnte.»

«Und wurde sie dort wenigstens glücklich?», hatte Sarah scheu gefragt.

«Nun, sie hat zum Christentum konvertiert und geheiratet.»

Sarah hatte geschwiegen. Sie wusste nur wenig über das Dritte Reich. Im Geschichtsunterricht hatte sie geschlafen, und sie wollte sich vor Izzy nicht blamieren. Nun berichtete sie Hannes von diesem Gespräch.

«Dass sie dir das alles so erzählt hat», staunte er.

«Hat sie aber. Wenn sie Englisch spricht, ist sie immer sehr offen. Wie Amerikaner so sind», nickte Sarah. «Sie muss sich hier oft sehr einsam fühlen.»

Hannes zog die Augenbrauen hoch.

In der Hotelhalle lag die «Frankfurter Allgemeine» auf. Sarah warf einen Blick in die Zeitung. Es war beinahe einundzwanzig Uhr. Sie wartete auf ihre Freundin Brigitte, die als Rezeptionistin im Tannwald arbeitete und jeden Moment ihren Dienst beenden, eine Wolljacke über das spitzenbesetzte Dekolleté ihres grünen Dirndls ziehen und die Schuhe wechseln würde.

Sarah hatte Brigitte zum ersten Mal beim winterlichen Joggen getroffen. Die grossgewachsene Deutsche hatte mit einem übertretenen Fuss im Schnee am Wegesrand gesessen, und wie sie ihr später erzählte, festgestellt, dass sie ohne ihr Telefon unterwegs war. Als Sarah grüssend vorbeilaufen wollte, hatte die Frau laut aufgestöhnt. Sarah erkannte, dass sie helfen musste, stellte sich vor, beugte sich über die Verunfallte, und nachdem sie das Problem erkannt hatte, stopfte sie kurzerhand Schnee in Brigittes Socken. Schliesslich half sie ihr aufzustehen und, gemeinsam humpelnd schafften die Frauen die zwei Kilometer in den Ort, wo sie feststellten, dass sie im selben Personalhaus wohnten und Arbeitskolleginnen waren.

Als Brigitte am gleichen Abend mit hochgelagertem Fuss in ihrem Zimmer mutmasste, wann sie ihr umgeknicktes Sprunglenk wieder belasten dürfe, bot Sarah an, in der Hotelküche Quark zum Kühlen zu holen.

«It helps», hatte sie gesagt, und obwohl sie noch kaum Deutsch und Brigitte nur das für den Hotelbetrieb notwendige Englisch sprach, hatten sich die beiden auf Anhieb verstanden.

Nun wollten sie noch ausgehen, Pizza essen und ein paar Bekannte treffen, die in den umliegenden Hotels ihre Ausbildung oder ein Praktikum absolvierten. Sarah verkürzte sich das Warten auf ihre Freundin, indem sie die Kurzmeldungen in der Zeitung überflog.

Landstreicher findet Leiche im Park

Vermisster 98-Jähriger aus Frankfurt tot aufgefunden

Frankfurt am Main. Die Leiche des 98-jährigen Mannes, der am Dienstag aus einem Seniorenheim in Sachsenhausen verschwunden war, wurde noch gleichentags von einem Obdachlosen gefunden.

Der seit Dienstagvormittag vermisste Senior wurde am späten Abend in einem Frankfurter Park aufgefunden. Das bestätigte die Polizei am Mittwochmorgen. Er habe den gut gekleideten, leblosen Körper unter einer Trauerweide entdeckt, als er sich dort sein Nachtlager habe aufschlagen wollen und umgehend die Polizei verständigt, erzählte der Obdachlose. Vermutlich war der Verstorbene erst wenige Stunden tot gewesen. Bislang haben die Ermittlungen nach Angaben der Polizei keinen Hinweis auf ein Verbrechen ergeben.

Als Sarah am nächsten Morgen zusammen mit den Kindern auf das Frühstück warten musste, griff sie nach einem von Izzys Modemagazinen, die sich auf der Küchenablage türmten. Dabei fand sie die herausgerissene Zeitungsseite mit jener Kurznachricht, die sie am Vorabend in der Hotelhalle gelesen hatte. Sarah drehte die Seite um und warf einen Blick auf den Wetterbericht auf der Rückseite. Es würde schön bleiben.

«Wer will am Nachmittag ins Schwimmbad im Ort gehen?», fragte sie die Kinder. «Ich! Super!», rief Jessica, und die anderen drei nickten eifrig. Sie alle mochten das öffentliche Gartenbad lieber als jenes im Hotel. Während Sarah noch überlegte, ob sie sich Lunchpakete packen lassen oder über Mittag besser etwas Kleines in der Gaststube essen sollten, kam auch schon Karin mit dem reichlich gefüllten Frühstückskorb vom Restaurant hoch. Sie stöhnte wie beinahe jeden Tag: «Sorry, Sarah. Entschuldige die Verspätung.»

Sarah nickte und bestellte bei Karin die Lunchpakete. Dann legte sie den Kindern je ein Vollkornbrötchen und eine Wurst- und eine dünne Käsescheibe auf die Teller und platzierte die Joghurts und Früchte in der Tischmitte. Sie selbst genehmigte sich ein Hörnchen und dazu einen Kaffee.

Izzy erschien an jenem Morgen nicht in der Küche des Apartments. Vermutlich war sie schon früh zum Joggen gegangen. Auch Sarah wollte den Vormittag, während Jessica in der Schule und die Zwillinge im Kindergarten waren, für sich nutzen. Sie würde Jens im Zwergenhort abgeben und im Wald radeln gehen. Bald begannen die Schulferien und damit eine Zeit intensiver Kinderbetreuung. Die Familie Rothfuss machte im Sommer keinen Urlaub, und vom Au-Pair wurde erwartet, dass sie den ihren erst im November bezog.

Zwei Stunden später legte Sarah ihr Rad am Wegrand ins Gebüsch, stieg zur Himmelsliege hoch und blickte, bevor sie sich darauf legte, zur anderen Talseite. Der Priorstein war ihr liebster Aussichtspunkt. Sie beobachtete die harmlos dahinziehenden Schäfchenwölkchen, dachte ans Petermännle und wie sie den Kindern seine Legende erzählen würde. Besonders Jessica wollte immer wieder aufs Neue hören, wie Peter, der Jäger im Dienst der Reichenbacher Mönche, abends auf seinem Stein sass und welche Tricks er sich überlegte, um die einfachen Leute, welche die Tiere des Waldes verscheuchten, vom Beerensammeln abzuhalten.

Sarah, die im Wald wochentags für gewöhnlich keiner Menschenseele begegnete, hörte eine Frau sprechen. Es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, dass es Izzys wohlklingende Stimme war.

«He’s gone. Dead and gone.»

Dann war Stille. Sarah ahnte, dass Izzy auf einer Holzbank sass, bloss einen Steinwurf entfernt und telefonierte. Gebüsch trennte den Picknickplatz von der Himmelsliege. Sie konnte Izzy nicht sehen, doch jedes ihrer Worte verstehen.

«Don’t fret. Nobody suspects anything. He trusted me. He adored my little cakes. Gobbled them in the park. No, don’t. Please. Don’t fret. Nobody saw us. Gran, he did harm you. He deserved it all right.»

Sarah schlich sich davon, stieg auf ihr Rad und sauste den steilen Weg hinunter ins Tal. Während der Fahrtwind ihre heissen Wangen kühlte und ihr durchs feuchte Haar strich, fragte sie sich, warum Izzy ausgerechnet auf dem Priorstein eine Pause eingelegt und wessen Geschichte sie ihrer Oma erzählt hatte. Izzy hatte von einem Mann gesprochen, der etwas verdient habe. Auch von Keksen, die er verschlungen, und von Vertrauen, das er ihr entgegengebracht habe. Zudem hatte Izzy einen Park erwähnt. Sarah war verwirrt, ihr Hirn stellte eine Verbindung her, doch sie hatte jetzt nicht die Zeit, diese zu Ende zu denken. Sie musste die Kinder von der Schule abholen.

«Du hast genau zwei Möglichkeiten, deine doch sehr gewagte Vermutung zu überprüfen», sagte Hannes, als er Sarah am folgenden Samstag traf und sie ihm bei einer Tasse Kaffee von ihrem diffusen Verdacht berichtete, den sie aufgrund der merkwürdigen Konversation auf dem Priorstein geschöpft hatte.

«Ob Izzy tatsächlich mit New York telefoniert hat? Bedenke den Zeitunterschied. Aber du kannst sie ja darauf ansprechen … oder der Frankfurter Polizei einen Hinweis übermitteln», foppte Hannes und streckte seine Hand nach Sarahs aus.

«Alte Menschen schlafen schlecht. Vielleicht ist Izzys Oma schon in aller Herrgottsfrüh munter. Oder die beiden wollten in einem ruhigen Moment telefonieren», murmelte Sarah und zog ihre Hand zurück. «Zudem ist Izzy an besagtem Dienstag, als der Senior angeblich umkam, irgendwo unterwegs gewesen.»

«Genau deshalb wäre ich vorsichtig», schlussfolgerte Hannes.

Sarah wusste nicht, was sie von seiner Bemerkung halten sollte. Sie wagte einen letzten Versuch, ihn zu überzeugen.

«So überlege doch», flüsterte sie: «Izzys Oma ist in Frankfurt geboren. Ein jüdisches Mädchen, das, als sie mit einem Kindertransport nach England gebracht wurde, zwischen zehn und fünfzehn Jahre alt gewesen sein musste. Der Frankfurter Tote war 98.»

«Zeitlich mag es ja hinkommen», gab Hannes zu, «doch der Rest ist reine Fantasie. Deine Fantasie.»

Als Sarah schwieg, fragte er sie: «Warum vergisst du die Geschichte nicht einfach? Du bildest dir den Zusammenhang bloss ein.»

Doch Sarah glaubte sowohl an Zufälle wie auch an ihr Bauchgefühl.

Mitte August war es heiss und gewittrig. Die Kinder hatten Ferien, und alle vier spielten an jenem schwülen Vormittag im Zwergenhort. Izzy schlich mit verweinten Augen durchs Hotel und schliesslich in Rudis Büro. Sarah dachte als erstes an einen Ehekrach. Doch Izzy und Rudi stritten sich nie. Wenigstens nicht vor ihren Angestellten oder den Kindern. Zudem war Rudi an jenem Vormittag mit seinen F&B Manager unterwegs auf Schloss Eberstein, um regionalen Wein zu kosten. Es musste etwas anderes sein. Sarah hatte Zeit. Sie setzte sich vors Büro und wartete. Als Izzy eine Stunde später heraustrat und Sarah erblickte, schien sie gefasster.

«Das trifft sich gut, dass du hier bist, Sarah. Komm, ich brauche dich. Meine Oma ist gestorben», sagte sie. «Ich habe für mich und die Zwillinge für morgen einen Flug nach New York gebucht.»

Sarah kondolierte und fragte, was mit Jessica und Jens passiere.

«Sie bleiben bei Rudi und dir. Ich kann nicht alle vier mitnehmen. Und die Zwillinge kann ich nicht trennen. Rudi kann nicht weg vom Hotel. Das Haus ist zu 90 Prozent belegt. Es ist der ungünstigste Zeitpunkt.»

«Könnte ich dich nicht begleiten? Damit du alle vier mitnehmen könntest.»

«Nein, danke, Sarah, das ist lieb von dir. Aber wir machen es so, wie ich sagte. Ich habe es mir hin und her überlegt. Jens und Jessica sind hier im Hotel, bei dir und bei ihrem Vater, besser aufgehoben.» Sarah fand es etwas seltsam, dass Izzy ihren Jüngsten zurücklassen wollte. Doch es war ja nicht für lange, und tatsächlich wurden der kleine Jens, mit seinen goldenen Löckchen und strahlend blauen Augen, und die für ihre acht Jahre schon sehr vernünftige Jessica von den Hotelangestellten mehr verwöhnt als die lebhaften Zwillinge.

«Darf ich dir wenigstens beim Packen helfen?», fragte Sarah. «Max und Maurice brauchen Kleider und ihre Plüschtiere.»

Während Izzy und die Zwillinge in Manhattan und Jessica und Jens in Sarahs Obhut waren, arbeiteten Rudi und Susanne beinahe Tag und Nacht. Die Bohnenstange im Dirndl, wie Hannes die Hotelsekretärin heimlich nannte, hatte an Gewicht zugelegt. Von einem Tag auf den anderen ging im Haus das Gerücht um, sie sei schwanger.

«Der Chef de Service meint, dass Rudi der Vater wäre», raunte Brigitte Sarah zu, als die beiden wieder einmal beim Pizzaessen waren.

«Ich weiss nicht, ob das stimmt», wandte Sarah ein. Sie wollte nicht zu dem Geschwätz beitragen. «Er ist Susannes Chef und zudem verheiratet.»

«Eben», sagte Brigitte und wechselte das Thema, als zwei Azubis vom zweitbesten Hotel am Ort das Lokal betraten und auf ihren Tisch zusteuerten.

Als Izzy zum Schulbeginn ihrer Kinder noch immer bei ihren Eltern in Manhattan weilte und keiner wusste, für wie lange noch, fasste sich Sarah ein Herz und fragte Rudi, wann genau er sie zurückerwarte.

«Ich weiss es nicht», sagte er. «Ich hoffe, bald. Aber Izzy hängt extrem an ihren Eltern und Brüdern, und dieser Todesfall hat der gesamten Familie zugesetzt. Ihre Oma war eine aussergewöhnliche Frau.»

«Aber …» setzte Sarah an. Sie sah noch immer Izzy vor sich, wie sie am Tag vor ihrer Abreise mit rotgeränderten Augen und zitternden Händen ein paar wenige Kindersachen packte. Wie sie ihr dabei erzählt hatte, dass ihre Oma als Mädchen in Frankfurt missbraucht worden war, und nun ihre Erlösung gefunden habe. So schrecklich diese Geschichte auch war, so hatte Sarah doch gespürt, dass die Niedergeschlagenheit ihrer Chefin nicht nur darauf zurückzuführen war. Doch sie hatte nicht nachgefragt.

«Jens und Jessica vermissen ihre Mutter», murmelte sie mehr zu sich als zu Rudi. Beim Frühstück hatte sich Jessica mit dem Messer, das sie abschleckte, in die Zunge geschnitten, und Jens war, als er das Blut sah, vor Aufregung aus seinem Hochstuhl gerutscht. Rudi wusste nichts davon, und sie wollte ihm ihre momentane Überforderung auch nicht eingestehen. Ihre Aufgabe hatte sich schliesslich nicht geändert. Rudi hatte Karin zum sporadischen Kinderhüten vom Service freigestellt, damit Sarah ihre Ruhezeiten einhalten konnte. Er hatte scheinbar alles im Griff.

«Lass uns abwarten. Sie wird sich melden», sagte er. «Bitte rufe sie nicht an. Wenn du Probleme mit den Kindern hast, wendest du dich an mich.»

Eine Woche nach dem Gespräch flog Rudi nach New York zu einem Gastronomentreffen. Sarah vermutete, dass das Meeting ein Vorwand war. Er wollte seine Frau zurückholen. Sarah war derweil alleine mit den Kindern. Schon am ersten Tag stürzte Jens unglücklich vom Klettergerüst, und sie fragte sich, ob sie ihn tagsüber nicht besser im Zwergenhort abgeben sollte, damit die Kindergärtnerin die Verantwortung für ihn trug. Ein Hotelangestellter hatte sie mit Jens zum Arzt gefahren, der die Platzwunde nähte. Nun, mit zum Teil abrasierten Haaren und seinem runden, roten Kinderpflaster auf dem Kopf, sah das Kind aus wie ein kleiner Punk. Doch seit dem Sturz wollte er sich nicht mehr von Sarah trennen. Er klebte förmlich an ihr, hatte plötzlich begonnen, zu fremdeln. Sogar bei Karin, die ihn mit Süssigkeiten zu trösten versuchte.

Sarah hatte sich immer über die Offenheit der Kinder gefreut; über ihre Unbefangenheit, mit der sie auf Fremde zugingen und auch über die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich von den Angestellten und den Gästen verwöhnen liessen. Hier gab es eine Zärtlichkeit oder gar ein Eis von einem Mitarbeiter; dort ein Plüschtier oder ein Holzspielzeug von einem Stammgast.

Die Welt der Kinder war solange in Ordnung gewesen, wie sich Sarah in der Nähe aufgehalten hatte und die Eltern regelmässig nach ihnen schauten. Doch das war vorbei. Ende Woche kam Rudi Rothfuss alleine zurück, mit der Nachricht, dass er und Izzy sich scheiden lassen würden.

«Unglaublich. Izzy wird mit Mäxle und Mo in Amerika bleiben», rapportierte Sarah Hannes’ Eltern. Sie konnte die Nachricht nicht für sich behalten bis sie Hannes wieder sah. Doch anrufen wollte sie ihn auch nicht.

Ihr Chef hatte sie gestern Abend zu sich ins Wohnzimmer des Apartments gebeten und ihr ein Glas von seinem teuren Rotwein angeboten.

«Es tut mir leid, Sarah. Meine Frau kommt nicht zurück. Weder sie noch die Zwillinge. Die drei bleiben in New York, bei den Jacobs, ihrer Familie.»

«Aber, das kann doch nicht sein!», hatte sie erschrocken erwidert und Rudi gefragt, ob dies denn legal sei. Kinder vorübergehend mit ins Ausland zu nehmen und sie nicht zurückbringen.

«Izzy und ich haben es so vereinbart. Susanne wird zu mir ziehen. Sie erwartet mein Kind und wird auch Jessica und Jens eine gute Mutter sein.»

Sarah hatte der Mund offen gestanden. «Aber …», hatte sie erneut angesetzt, doch nichts einzuwenden gewagt. Ihr war gewesen, als hätte Rudi sie geschlagen. Doch der grosse, selbstsichere Mann sass vornübergebeugt, so, als trage er das ganze Elend dieser Welt auf seinen breiten Schultern.

Dafür war er es gewesen, der die neue, in Sarahs Augen folgenschwere Situation ausgelöst hatte. Sie dachte an seine Flirts mit Susanne, daran, wie unglücklich Izzy gewesen war. Bisher hatte Sarah alles verdrängt. Sie war nach den langen Tagen mit den Kindern zum Nachdenken zu müde gewesen. Lieber hatte sie ihre Nase in ein Buch gesteckt oder einen Film angeschaut.

Jetzt sass sie mit Gustav und Emma in deren Wohnung und vertraute sich ihnen an. Sie fühlte sich elend.

«Rudi Rothfuss wird Jens und Jessica hier behalten und sie zusammen mit seinem neuen Kind erziehen. Susanne ist also tatsächlich in Erwartung. Die Geburt sei im Dezember fällig, sagt Brigitte. Ist das nicht verrückt?»

Emma, Hannes’ Mutter, nickte bedächtig und servierte Sarah einen Cappuccino, während ihr Mann Gustav allerlei andere, ähnlich wilde, Familiengeschichten vom Ort erzählte.

«Ich will nicht für Susanne arbeiten. Obwohl Rudi mir versichert hat, dass mein Vertrag weiterläuft. Er schätze mein Verantwortungsbewusstsein. Über Jens’ hässlichen Kurzhaarschnitt hat er nur gelächelt und gemeint, kleine Jungs fielen von Zeit zu Zeit auf die Nase. Das sei normal. Ich solle mir keine Vorwürfe machen, sondern mich weiterhin gut um die Kinder kümmern.»

«Ja, sie brauchen dich jetzt mehr als zuvor. Bis diese Susanne ihr Baby kriegt, dauert es noch. Überstürze nichts. Warte einmal ab, was Hannes am Wochenende dazu meint», beruhigte Gustav sie, und Emma nickte erneut. Sarah vermutete, dass Gustav an seinem Stammtisch im Ochsen noch einiges mehr zum Thema erfahren würde.

Hannes verbrachte das Wochenende im Schwarzwald, und zwischen ihm und Sarah gab es kein Thema ausser Rudi und Izzys bevorstehende Scheidung.

«Es weiss es schon halb Fleckenbronn. Manchmal habe ich den Eindruck, die tratschen hier alle», sagte sie abschätzig.

«Nun, der Ort hat jedenfalls seinen Skandal, die Vögel pfeifen es von den Dächern, und du navigierst im Auge des Taifuns», lachte Hannes.

«Ich finde es überhaupt nicht lustig, mitten drin zu stehen. Ich frage mich, was in den Personalräumen des Hotels, im Café Frey und an den Stammtischen alles gemunkelt wird.»

«Da musst du durch. Wenn es dir zu viel wird, kannst du jederzeit zu meinem Eltern flüchten.»

«Stimmt. Emma und Gustav sind so etwas wie ein ruhender Pol. Doch ich kann nicht verstehen, wie Rudi die Kinder so auseinander reissen kann. Jessica bekommt einiges mit. Jens gottlob noch nicht.»

«Es braucht immer beide Eltern dazu», wandte Hannes ein. «Izzy muss einverstanden sein. Sonst ginge das nicht. Jedenfalls nicht so einfach.»

«Hör mal. Er ist schuld. Er hatte diese Affäre mit Susanne. Und die blöde Gans packt die Gelegenheit und wird schwanger.»

«Sarah, das kann passieren. Was hast du gegen Susanne?»

«Nichts. Ich habe nichts gegen sie. Doch sie hat mir von Anfang an zu verstehen gegeben, das ich nur das Kindermädchen bin. Dazu eine Ausländerin, leicht bedeppert, weil ich ihren schwäbischen Dialekt nicht auf Anhieb verstand. Sie behandelt mich von oben herab.»

«Nun denn. Bald ist sie nicht mehr Rudis Sekretärin, sondern Frau Direktor Rothfuss», hob Hannes Susannes sozialen Aufstieg hervor.

Sie wurde wütend. «Genau. Und was soll ich nun tun?»

«Du kannst nicht viel ändern. Sobald etwas Gras über die Sache gewachsen ist, wird es besser werden. Es gibt viele Patchwork-Familien, die funktionieren. Am Ende wird oft alles gut.»

«Für Männer ist es so einfach. Neue Frau, neues Kind. Alles gut.»

«Sarah, du darfst das so nicht verallgemeinern. Es gibt durchaus treue und fürsorgliche Männer. Genauso wie wortbrüchige Frauen.»

«Wortbrüchig? Bin ich etwa auch wortbrüchig, wenn ich jetzt vom Tannwald weg will?»

«Nein, die Rothfussens sind nicht deine Familie. Wenn du Susanne nicht magst, kannst du das Arbeitsverhältnis auflösen.»

«Ja, und dann stehe ich auf der Strasse.»

«Du kannst dich neu orientieren. Nichts ist für die Ewigkeit.»

«Ich will mich aber nicht neu orientieren. Sie waren eine perfekte Familie», trotzte sie.

«Aber nicht deine Familie, mein Herz. Jede zweite Ehe wird geschieden …»

«Am besten kehre ich gleich nach England zurück. Krieche bei Finlay zu Kreuze und bitte ihn um ein Stipendium.»

«Nein, Sarah. Meine Eltern würden dich schon morgen als Bedienung im Café oder als Hilfe in der Backstube einstellen. Sie mögen dich beide. Oder du kommst zu mir in die Schweiz», besänftigte sie Hannes. Sarah tat es plötzlich leid, dass sie den Streit mit ihm gesucht hatte.

Als Sarah Brigitte das nächste Mal in deren Personalzimmer abholte, übergab diese ihr einen Brief aus Frankreich.

«Er ist heute gekommen. Ich habe ihn zufällig gesehen und an mich genommen», sagte sie und fragte: «Wer schreibt dir denn per Schneckenpost?»

«Danke. Keine Ahnung», sagte sie, griff nach einer Schere, die auf Brigittes Tisch lag und schlitzte damit den Umschlag auf. Ihre Freundin musste sich noch umziehen, so konnte Sarah den Inhalt in Ruhe lesen.

Der kurzen Mitteilung ihrer Tante Claire war eine Einladungskarte zu einer Vernissage einer Frankfurter Galerie beigelegt. Der Termin war zwar bereits vorüber, doch die Ausstellung dauerte noch weitere zwei Monate. Sie zeigte einen Teil von John-Pierres Nachlass. Sarah beschloss, hinzufahren.

«Komm, lass uns zu Pino gehen», schlug sie vor, nachdem Brigitte nach ihrer Jacke, Tasche und ihrem Schlüsselbund gegriffen und ihre Zimmertür im Personalhaus zugesperrt hatte. «Bei ihm können wir uns eine Pizza teilen.»

«Wer hat dir geschrieben?», fragte Brigitte während sie in der Pizzeria auf den gemischten Salat als Vorspeise warteten.

«Meine Tante Claire. Schau, die Karte sieht super aus.»

«So schön», sagte Brigitte.

«Ja, es ist eines von John-Pierres schönsten Bildern. Es hing im Haus, er wollte es nie verkaufen.»

«In welchem Haus?», fragte Brigitte.

«In seinem, in Cancale. Claire und er lebten bis zu seinem Tod vor einem Jahr dort. Seither pendelt sie zwischen Frankreich und England.»

«Woran ist er gestorben? Du hast mir nie von ihm erzählt», sagte Brigitte und lächelte Pino an, der ihnen, da sie lange warten mussten, einen Drink spendierte.

«Herzstillstand. Er war 21 Jahre älter als meine Tante Claire. Und sie wiederum ist neun Jahre älter als meine Mum. Ich habe seine Beerdigung verpasst, da ich letzten Sommer in Florenz lebte und weder die Zeit noch das Geld hatte, nach Frankreich zu fahren. Zudem war ich in jener Woche krank. Aber ich mochte ihn. Sehr sogar. Er war sehr einfühlsam und sehr charmant.»

«Wie alt war er nun wirklich, als er starb?»

«Über 80. Claire ist dieses Jahr 62. Sie verkauft alles. Sie braucht das Geld, um zu leben. Daher die Ausstellung in Frankfurt.»

«Fährst du hin?», fragte Brigitte.

«Nach dem Drama im Tannwald brauche ich einen Szenenwechsel.»

«Aber dein Abgang ging ja sehr gesittet über die Bühne. Ich hatte nicht den Eindruck, dass du im Streit gegangen bist.»

«Nein, natürlich nicht. Die Kinder waren traurig, und Rudi hat mir eine anständige Abfindung bezahlt», nickte sie. «Aber mit Susanne hatte ich ganz zum Schluss noch einen heftigen Zusammenstoss.»

«Aua. Erzähl schon. Davon weiss ich gar nichts.»

«Umso besser», seufzte Sarah. «Ich möchte nicht darüber reden. Wichtiger ist Izzy. Sie hat mir ein sehr nettes Dankes-E-Mail aus New York geschickt.»

«Und nun kannst du erst einmal Urlaub machen», sagte Brigitte.

Sarah überlegte, dass Claires Einladung genau zum richtigen Zeitpunkt eingetroffen war. Eigentlich hatte sie nun, da sie keine Arbeit mehr hatte und seit Ende Oktober bei Gustav und Emma Frey wohnte, für eine Woche nach Berlin reisen wollen. Doch da diese Galerie nun John-Pierres Werke ausstellte, würde sie stattdessen nach Frankfurt fahren.

Brigitte seufzte: «Ich käme fürs Leben gerne mit. Meine Eltern wohnen zwar mittlerweile nicht mehr in Frankfurt, aber meine Oma väterlicherseits lebt immer noch dort, in der Goldenen Abendsonne, einer Seniorenresidenz in Sachsenhausen …»

Sachsenhausen, sann Sarah, rings a bell …

Brigitte plauderte weiter « … und sie ist auch über 80. Sie hat aber gottlob ein starkes Herz und fühlt sich wohl ….»

Sarah blinzelte ihrer Freundin zu, die in Jeans und Karohemd, mit ihrem kurzen, weizenblonden Haar androgyn auftrat. Sarah mochte die feinen hellen Strähnchen. Brigitte sah in ihrer Freizeit-kleidung ganz anders aus als im Dirndl, das sie bei der Arbeit trug. Dort bewunderte Sarah jeweils den mit Spitzen besetzten Ausschnitt. Wann immer Brigitte sich vornüberbeugte, fragte sich Sarah, wie das milchige Dekolleté auf Männer wirken mochte. Zudem zeigte Brigitte mit ihrer links der Taille gebundenen Dirndlschleife, dass sie single war. Jedenfalls jenen, die sich auskannten.

Eine Woche später, an einem strahlenden Novembernachmittag, stand Sarah mit Pralinen am Empfang einer gepflegten Seniorenresidenz in Frankfurt Sachsenhausen und fragte nach Frau Bohnert.

«Adele Bohnert. Zimmer 417, vierte Etage. Wen darf ich melden?»

Sarah nahm den Lift in den vierten Stock und folgte auf dem Gang den Zimmernummern. Die Tür zum Zimmer 417 stand bereits offen und eine gebückte Frau mit schlohweissen Haaren schaute ihr erwartungsvoll entgegen.

«Frau Bohnert?», fragte sie, plötzlich etwas schüchtern. «Ich bin Sarah Penrose und bringe Ihnen schöne Grüsse von Brigitte.»

«Ja, das bin ich», erwiderte die alte Frau. «Aber kommen Sie doch herein.»

Sarah bemerkte erst jetzt, dass sich Adele Bohnert auf einen Gehstock stützte. Brigitte hatte ihr erzählt, dass ihre Oma nicht nur zusehends schwerhörig, sondern auch etwas vergesslich geworden sei. Doch auf Sarah machte die alte Dame einen aufgeweckten Eindruck.

«Wie geht es meiner Brigitte?», erkundigte sich Frau Bohnert als Erstes.

«Danke, gut, sie arbeitet sehr gerne im Tannwald», antwortete Sarah und stellte ihr rosa Schächtelchen auf den kleinen Tisch im Zimmer.

«Ist das etwa für mich?», fragte die alte Frau, und als Sarah bejahte, strahlte sie. «Sie sind ein echter Goldschatz. Ich danke Ihnen sehr herzlich.»

Nachdem sich Sarah gesetzt hatte, wollte Adele Bohnert wissen, wie und wo genau Sarah Brigitte kennengelernt habe, ob sie auch an der Rezeption arbeite, und so weiter und so fort.

«Ich war übrigens einmal in Cornwall. Das war vor mehr als 40 Jahren mit meinem Mann selig. Ich erinnere mich noch an die Blumen und die Palmen, die ich dort so nicht erwartet hätte», plauderte sie weiter. Plötzlich schien ihr etwas einzufallen. Sie klingelte nach einer Pflegerin und bestellte ein Kännchen Schwarztee für Sarah und einen Kaffee Latte für sich. Schliesslich öffnete sie die Pralinenschachtel.

«Ich las im Sommer einen Kurzbericht in der FAZ», wechselte Sarah das Thema. «Ein alter Mann aus einem Frankfurter Seniorenheim wurde vermisst und später tot in einem Park aufgefunden.»

«Vermisst?», höhnte Adele und steckte sich eine weisse Trüffelpraline in den Mund. «Kein Mensch hat den Alten vermisst.»

«Wirklich? Kannten Sie den Mann?», fragte Sarah höflich.

«Ja, der Adolf Müller, der wohnte hier im Erdgeschoss. Brüstete sich noch immer mit Weibergeschichten. Soll glauben, wer es will. Ich bin jedenfalls nicht auf ihn eingegangen», sagte Adele und kicherte: «Wenn es früher bloss Männer wie ihn gegeben hätte, wäre ich ledig geblieben. Sie wissen schon, er war einer, dem keine Frau nachts hätte alleine über den Weg laufen wollen.»

«Ist es denkbar, dass er keines natürlichen Todes starb?», fragte Sarah.

«Wie denn sonst? Mit beinahe 100!»

Nach ihrer Rückkehr aus Frankfurt traf Sarah Brigitte zufällig im Zentrum von Fleckenbronn.

«Super, dich zu sehen», rief Sarah. Sie bedauerte, dass Brigitte keine Zeit für einen Kaffee und einen Schwatz hatte und rasselte die Neuigkeiten im Stehen herunter.

«Du glaubst es nicht! Die Kunstgalerie mit John-Pierres Bildern lag in Sachsenhausen, bloss ein paar Meter entfernt von der Seniorenresidenz deiner Oma. So kaufte ich spontan Pralinen und ging deine Oma besuchen. Sie lässt dich herzlich grüssen»

«Oh, das ist so lieb von dir. Sie hat sich bestimmt gefreut. Sie hat ja kaum je Besuch», antwortete Brigitte und fragte «Ist sie gesund und munter?»

«Ziemlich. Unglaublich wach und an allem interessiert schien sie mir. Da war meine Granny, die Mutter meiner Mutter, ganz anders. Sie hat sich nach dem Tod meines Grossvaters in ihre eigene Welt zurückgezogen …»

«Ja, erzähl ein anderes Mal. Jetzt muss ich sausen, sonst komme ich zu spät zum Dienst», drängte Brigitte und als Nachgedanke: «Ich fahre übrigens nach Hamburg, zu meinen Eltern. Ich muss Urlaubstage einziehen und Überstunden kompensieren. Im Hotel herrscht Flaute. Ich melde mich.»

Sarah hätte gerne mehr vom Tannwald erfahren. Sie wohnte nun im Haus von Hannes’ Eltern und fühlte sich abgeschnitten vom Hotelbetrieb und der Gemeinschaft der Angestellten. Brigitte fehlte ihr. Die beiden hatten früher zwar nicht jede freie Stunde zusammen verbracht, doch sie hatten sich täglich im Vorbeigehen zugewinkt und sich dabei verbunden gefühlt.

Seit Mitte November half Sarah Gustav morgens in der Backstube und Emma nachmittags im Café. Ihre Arbeit begann in aller Herrgottsfrühe, bei tiefster Dunkelheit. Das einzig Angenehme waren der Duft und die wohlige Wärme der Backstube und der frühe Arbeitsschluss. Sie war nicht zufrieden mit dieser Lösung, in die sie hineingerutscht war. Doch der Dezember war der strengste Monat in der Bäckerei, und Gustav war froh um jede Hilfe. Sarah schuldete ihm und Emma einen guten Dienst. Die beiden hatten ihr ein möbliertes Zimmer neben ihrer Wohnung angeboten, als Sarah Ende Oktober nicht länger im Personalhaus des Tannwald wohnen konnte.

Sarah begann, abends zu joggen, dem Tonbach entlang bis zum Pudelstein, von dort hoch zur Kanzel und auf breiten Wegen zurück zum Ort. Jetzt, wo es schon um 17 Uhr dunkel wurde, trug sie dabei eine Stirnlampe und achtete auf Geräusche, die sie am Tag nicht hörte. Einmal, als sie sich auf einem abschüssigen Pfad auf die Wurzeln konzentrierte, stand ein Mann am Wegesrand. Ohne Taschenlampe an einem Baum gelehnt. Sarah sah ihn erst im letzten Moment, stoppte und fragte, ob er Hilfe brauche.

«Nein, ich habe bloss Seitenstechen. Verklemmter Furz. Geht schon», brummte der Typ, und sie lief schnell weiter. Dabei fiel ihr Izzys Oma ein, die als Kind vor über 70 Jahren missbraucht worden war und als alte Frau in New York frühmorgens wach gelegen und auf einen Anruf ihrer Enkelin aus Deutschland gewartet hatte. Was, wenn der Typ hier auch …

Während Sarah in Gedanken versunken weiter joggte, meinte sie, Schritte hinter sich zu hören. Doch dann herrschte wieder Stille. Eine Winterstille, die man sich im Frühling und Sommer nicht vorstellen konnte, wenn Kinder spielten, der Wind durch die Bäume strich, ein Bach plätscherte und die Vögel den frühen Morgen und den Abend lobten. Sie bemühte sich, ihrem Instinkt, sich umzudrehen, zu widerstehen und rannte in gemässigtem Tempo weiter. Vermutlich war es doch ein Tier, oder bloss ein dürrer Ast, der gebrochen war. Trotzdem nahm sie sich vor, ihre Laufstrecke künftig zu variieren und zu unterschiedlichen Zeiten zu starten. Sie wollte keine Gewohnheiten etablieren. Während sie auf die schimmernden Lichter im Tal zu rannte, fragte sie sich, warum sie sich hier im Wald plötzlich fürchtete, und ob es nicht doch besser wäre, nach England zurückzukehren. Seit Izzy weg war, hatte sie hier niemanden mehr, mit dem sie sich in ihrer Muttersprache unterhalten konnte. Nicht zuletzt vermisste sie die Kinder.

Sarah hatte es bis jetzt unterlassen, Finlay und ihre Mum über den Wechsel vom Hotel Tannwald ins Café Frey zu informieren. Sobald sie eine Ahnung davon hatte, wie ihr Leben weitergehen würde, würde sie ihnen schreiben. Sie lernte schon seit Wochen auf das Goethe-C1 hin, ein Deutsch-Zertifikat, von dem sie sich einen besseren Job oder einen erleichterten Zugang zu einer Universität im deutschsprachigen Raum erhoffte. Ausser Brigitte wusste niemand davon, denn Sarah fürchtete die Blamage, falls sie durch die Prüfung fallen sollte. Es bestand kein Grund, viel Wirbel um ungelegte Eier zu machen.

Sarah konnte an jenem Abend lange nicht einschlafen. Anders als im Tannwald, wo sie nach den langen Arbeitstagen erschöpft ins Bett gefallen war, und bis ihr die Augen zufielen, ein paar Seiten in einem Buch gelesen hatte, drehte sie sich jetzt von links nach rechts, von rechts nach links. Dabei dachte sie daran, wie früh sie am nächsten Morgen wieder raus musste, wie wenige Stunden Schlaf ihr blieben. Sollte sie nicht doch besser studieren, oder einen Job in Basel finden, zu Hannes ziehen und so leben wie andere junge Paare? Sie konnte sich nicht entscheiden. Kinder wollte sie keine. Nicht, nachdem sie erlebt hatte, wie unerwartet Rudi und Izzy Rothfuss die Scheidung beschlossen und ihre Familie auseinandergerissen hatten. Hier im Schwarzwald, fern von Hannes zu wohnen und zu arbeiten und sich zwischendurch zu treffen, schien ihr für den Moment der bessere Weg. Doch die Frage nach der grossen Liebe hing in der Luft. Als Sarah Hannes kennenlernte, war sie mit Moira zusammen gewesen, einer wunderschönen, gross gewachsenen Schottin. Sie hatte sie in einem Italienischkurs in Florenz getroffen, bewundert und sich Hals über Kopf in sie verliebt. Sie hatte den Sex mit ihr mehr genossen als je zuvor oder danach mit Männern. Trotzdem hatten sie sich nach ihren gemeinsamen Ferien in Kenia getrennt. Ob sich Moira noch immer in Afrika in einem Hilfsprojekt nützlich machte? Sarah erwog, ihr zu Weihnachten eine Karte an die alte Adresse, jene von Moiras Eltern in Schottland zu schicken. Kurz vor Mitternacht schlief sie endlich ein.

Am folgenden Wochenende war Sarah noch immer verunsichert über ihre Zukunft und ihre Beziehung zu Hannes. Doch sie beschloss, ihm nicht von ihren Zweifeln zu erzählen. Während sie duschte, summte sie ein Weihnachtslied, das sie in der Backstube immer wieder am Radio gehört hatte. Sie verstand sich gut mit Gustav, und auch mit Emma und den Angestellten. Die Bedienungen im Café waren langjährige Kräfte und freundlich. Natürlich überliessen sie Sarah die mühsamen Arbeiten und die unangenehmen Gäste und tuschelten hinter ihrem Rücken, wenn sie Fehler machte. Doch Sarah betrachtete den Job in der Bäckerei als Übergangslösung. Dass hier niemand Englisch konnte, kam ihr entgegen. So sprach sie ausschliesslich Deutsch und lernte umso schneller. Butterbrezel und Schwarzwälder Kirschtorten waren ihr inzwischen so vertraut wie Scones und Cakes oder jene französischen Patisserien, die sie und Claire an ihren Plaudernachmittagen in der Bretagne gegessen hatten.

«Sarah, kommst du?», rief Hannes, der längst aufgestanden war.

«Moment noch. Ich muss meine Haare föhnen, sonst erkälte ich mich.»

Sie liess sich Zeit, verteilte reichlich Feuchtigkeitscreme auf Arme und Beine. Sie dachte an Frankreich, fragte sich, wie es Claire ohne John-Pierre ergehen mochte. Ihre Tante hatte nie jemanden anderen gekannt. Er war ihre einzige Liebe gewesen. Seinetwegen hatte sie in Frankreich gelebt. Nun war Claire frei, sich ein neues Zuhause zu suchen. Wie mochte sich das anfühlen?

Sarah schlüpfte in ihre Cordhose und zog einen warmen Pullover über.

«Endlich», rief Hannes, der alleine am Frühstückstisch sass und seit einer halben Stunde auf sie wartete. Seine Eltern beschäftigten sich irgendwo in der Wohnung. Wahrscheinlich wollten sie nicht stören.

«Sorry», sagte sie. «Ich mag mich am Sonntagmorgen nicht beeilen. Ich muss die ganze Woche über früh raus.»

«Da hast du recht. Eine Bäckerei ist nicht der passende Arbeitsort für Langschläfer.»

Sie schnitt eine Grimasse, sagte jedoch nichts.

«Ich meine es ernst. Was würdest du am liebsten tun, wenn du alle Möglichkeiten in Betracht ziehst?»

«Nach Afrika reisen, dort eine Crew begleiten, die DOK-Filme dreht. Ich wäre Mädchen für alles; ich würde Kaffee kochen, den Jeep steuern, Zelte aufstellen und in meiner Freizeit Löwen bändigen.»

«Und das wäre dein Traumjob?», fragte er.

«War nicht so ernst gemeint.»

«Also, dann realistisch. Warum ziehst du nicht zu mir in die Schweiz? In Basel gibt es Museen und Galerien zuhauf, und Roche und Novartis und auch all die vielen anderen, kleineren Pharmafirmen suchen Arbeitskräfte mit englischer Muttersprache.»

«Ich habe keine Büroerfahrung.»

«Aber du sprichst vier Sprachen. Zudem hast du Claire und John-Pierre in ihrer Galerie in der Bretagne geholfen und weisst, wie man mit Kunden und mit einem PC umgeht.»

«Ja, schon. Ich denke übrigens, seit ich an John-Pierres Retrospektive in Frankfurt war, oft an die beiden», sagte Sarah. Ihre Erinnerung, wie sie John-Pierre für seine Akte Modell gesessen hatte, behielt sie geflissentlich für sich. Sie konnte sich das von der Sonne aufgeheizte Atelier unter dem Dach ohne seine Staffeleien, bar seiner Präsenz und aufmerksamen Augen genauso wenig vorstellen wie die Tatsache, dass er nun auf einem bretonischen Friedhof lag.

«Und?», drängte Hannes.

«Ich weiss nicht. Lass mir noch etwas Zeit.»

«Meine Oma hat uns eingeladen», überraschte Brigitte ihre Freundin Sarah Anfang Dezember. «Zur Weihnachtsfeier in der Seniorenresidenz. Die Feier findet wie jedes Jahr am zweiten Freitag im Dezember statt. Vermutlich, damit die Familien an Heiligabend und über Weihnachten frei sind», seufzte sie.

«Warum lädt sie ausgerechnet mich dazu ein?», fragte Sarah.

«Vermutlich hast du auf sie einen guten Eindruck gemacht», sagte Brigitte. «Mich hat sie natürlich auch eingeladen. Sie hat das Anrecht auf zwei Gäste. Meine Eltern sind verhindert. Sie gehen dafür über die Feiertage hin.»

«Es könnte zu spät werden, um noch am Abend heimzukehren.»

«Nein! Das Essen beginnt früh und ist um 20 Uhr vorbei. Alte Menschen gehen mit den Hühnern schlafen. Bitte komm mit», bat Brigitte. «Wenn nötig können wir in Frankfurt übernachten. Meine Eltern besitzen ganz in der Nähe eine kleine unbenutzte Wohnung. Genau für solche Fälle.»

«Okay!», nickte Sarah und dachte dabei an den Toten im Park.

Von der Decke des Speisesaals hingen gigantische Weihnachtskugeln. Auf den Tischen leuchteten Mandarinen zwischen duftenden Tannenzweigen. Daneben lagen Liedertexte in grosser Schrift, flackerten Kerzenimitationen ohne Brandgefahr. Die lässige Ehefrau des Altenheimpfarrers klimperte auf dem Flügel Weihnachtsmelodien. Das Pflegepersonal eilte an jenem Abend in festlicher Kleidung hin und her; half einem Gehbehinderten mit Rollator oder einer Rollstuhlpatientin an ihre reservierten Plätze, während die Stationsverantwortlichen die Angehörigen begrüssten.

Adele Bohnerts graues Seidenkleid und ihre schlichte Zuchtperlenkette passten zum festlichen Rahmen. Ihre goldgeränderte Brille hatte sie in die ondulierten, noch vollen weissen Haare hochgeschoben. Sie brauchte die Sehhilfe bloss zum Lesen, und nun, da sie sich gegenüber Brigitte und Sarah an den Tisch gesetzt hatte, spähte sie in die Ferne, zum Eingang hin. Plötzlich nickte sie zufrieden.

«Schön, mit euch Mädels zu feiern. Das Essen hier ist ausgezeichnet», sagte sie und eröffnete Brigitte und Sarah, dass das vierte Gedeck für einen mit ihr befreundeten Senior vorgesehen sei.

«Da kommt er», erklärte sie und winkte einem distinguierten Herrn, der leicht vornübergebeugt auf ihren Tisch zukam.

«Alf, darf ich dir meine Enkelin Brigitte und ihre Freundin vorstellen?», und zu den Mädchen gewandt: «Alf Arendt wohnt seit einem Jahr hier. Wir drehen täglich eine Runde im Garten und spielen zusammen Klugscheisser.»

Sarah runzelte fragend die Stirn, und Brigitte lachte: «Klugscheisser ist der Name eines Quiz. Es ist witzig. Bloss wer es zweimal gespielt hat, kennt die Antworten. Dann muss man sich neue Mitspieler suchen.»

«Nicht in unserem Alter. Für uns sind die Fragen täglich wieder neu», kicherte Adele.

«Nun übertreib deine Vergesslichkeit mal nicht», wandte Alf ein. «Brigitte hat recht. Ich jedenfalls spiele lieber Binokel. Binokel ist eindeutig besser.»

«Ja, aber wir haben auch Spass gehabt mit Klugscheissern», bemerkte Adele mit einem ironischen Lächeln. «Mit jenem Adolf Müller zum Beispiel. Der war ja der schlimmste Besserwisser weit und breit.»

Alf schaute die Mädchen vielsagend an. «Adolf Müller hat mir oft von diesen – entschuldigt den Ausdruck – sauteuren Hotels im Schwarzwald erzählt, wo er anscheinend ein- und ausgegangen ist», sagte er und grinste dabei. «Seine Erinnerungen schienen mir ziemlich akkurat. Doch ich kann es schlecht beurteilen. Ich machte mein Leben lang einen Bogen um die Sterne-Gastronomie. Meine verstorbene Frau und ich mochten es einfacher.»

Am nächsten Tag im Regionalzug von Karlsruhe, der sich das Tal hoch schlängelte und an jeder Station hielt, fragte Sarah: «Brigitte, hast du Einsicht in die alten Gästelisten? Jene der vergangenen Jahre?»

«Sicher. Ich muss nächste Woche die Weihnachtsgrüsse des Hotels verschicken. Rudi Rothfuss schreibt auf die Festtage hin immer alle vormaligen Gäste an. Warum fragst du?»

«Mich interessiert, ob jenes Hotel, in dem dieser Adolf Müller gemäss Alf ein- und ausgegangen ist, das unsrige war. Könnte ja sein.»

«Der Hundertjährige, der im Park verstarb?», fragte Brigitte.

«Ja, der knapp Hundertjährige, stand in der Zeitung», antwortete Sarah.

Eine Woche später erfuhr Sarah, dass Adolf Müller tatsächlich mehrmals im Hotel Tannwald übernachtet hatte.

«Er hat 2010 auch seinen 95. Geburtstag hier gefeiert», bestätigte Brigitte und dankte Sarah für den Tipp. «So muss ich schon einen weniger anschreiben. Oder ich könnte ihm die Weihnachtswünsche direkt in den Himmel schicken.»

«Oder in die Hölle.»

«Wieso denn das?»

«Och, bloss so. Er scheint nicht besonders beliebt gewesen zu sein.»

«Warum interessiert dich der Alte?», hakte Brigitte nach.

«Er interessiert mich nicht wirklich», wehrte Sarah ab und überlegte, ob Izzy diesen Adolf Müller 2010 im Hotel getroffen hatte.

«Sag einmal Brigitte, glaubst du an Intuition?», fragte sie.

«Sicher. Ich lebe davon. Ich kann dir schon beim Einchecken sagen, ob ein Gast nett oder kompliziert sein wird. Und es stimmt immer.»

«Hannes widerspricht. Er glaubt nicht daran. Muss immer alles prüfen, zweifach und dreifach, um sicher zu gehen.»

«Ja, so sind Männer. Frag einmal meine Oma. Sie würde meinen, er könne sich seine Mehrfachprüfungen sparen. Es gibt Dinge, die spürt man einfach.»

«Gustav, glaubst du an Intuition? Und an Telepathie?»

Der Duft von Anis, Ingwer, Muskat und Nelken hing in der Backstube, wo Gustav und Sarah Hand in Hand arbeiteten. Zusammen stachen sie im Advent an vier Wochentagen jeweils 500 Kilogramm Weihnachtsgebäck aus. Sarah staunte über Bezeichnungen wie Spitzbuben oder Springerle. Sie konnte sich keine zur Jahreszeit passendere Arbeit vorstellen, als hier mit Gustav Weihnachtsgutzle zu backen. Ausser vielleicht, Tännchen zu fällen. Das Radio spielte Weihnachtslieder, unterbrochen von penetranter Werbung für irgendwelche Schnäppchen. Berta, die älteste der Bedienungen im Café Frey, brachte eine Papierrolle mit roter Schleife in die Backstube.

«Für dich, Sarah. Das wurde vor etwa einer Stunde abgegeben», sagte sie.

Sie wusch und trocknete sich die Hände, bevor sie nach der Rolle griff, das Band löste und die Zeichnung betrachtete. Jessica hatte einen Christbaum und ein grosses rotes Herz gemalt und darunter ALLES LIIBE VON JESSICA + JENS gekritzelt».

Sarah hatte längst Geschenklein für die beiden Kinder gekauft, diese hübsch eingepackt und sie im Tannwald vorbeibringen wollen. Nun war ihr Jessica zuvorgekommen. Sarah musste plötzlich gegen Tränen ankämpfen. Gustav beobachtete sie.

«Frauen glauben an Intuition. Aber Männer?», murmelte sie und zeigte ihm die Zeichnung, bevor sie sie wieder aufrollte und die Schleife neu band.

«Das kommt auf den Mann an. Du kannst das nicht verallgemeinern.»

«Glaubst du daran?», fragte sie, nahm ihre Blechform erneut zur Hand und stach damit flink weiter Weihnachtssterne aus.

«An Telepathie nicht so recht. An Intuition hingegen schon. Das gibt es.»

«Zum Beispiel?», fragte sie und war froh, sich mit Gustav unterhalten zu können, während sie Seite an Seite arbeiteten.

«Als Jäger. Auf der Jagd spürst du das Tier, bevor du es siehst. Weisst, woher es kommen und in welche Richtung es fliehen wird. Da stellt sich ein Bauchgefühl ein, wenn alle Sinne involviert sind. Der Kopf allein macht es nicht.»

«Ich meinte eigentlich nicht die Jagd», sagte Sarah, die seit kurzem vegetarisch ass, «sondern Zufälle und Vermutungen im Alltag. Ganz gewöhnliche Dinge, die du ableitest. Du erfährst und kombinierst die unterschiedlichsten Sachen, spekulierst und ziehst deine Schlüsse daraus.»

«Sicher, auch das ist möglich. Das ist dann wie Rätselraten», stimmte Gustav zu. «Wir beide, wir könnten zum Beispiel verwandt sein.»

«Wie denn das?», fragte sie.

«Nun. Du hast mir erzählt, dein verstorbener Vater sei Mitte der 50er Jahre in Leeds geboren. Seine Mutter sei bei seiner Geburt sehr jung gewesen. Mein Vater war in jener Zeit in London. Dort traf er ein Girl aus Leeds. Blaue Augen, dunkle Locken. Später verlor er sie aus den Augen. Jene wunderhübsche 15-Jährige könnte deine Oma gewesen sein.»

«Das ist mir zu kompliziert», wiegelte Sarah ab.

«Nein», sagte Gustav. «Dein Vater war unehelich, hast du mir erzählt. Falls seine Mutter die Freundin meines Vaters gewesen wäre, und er mit ihr damals in London diesen Sohn – nämlich deinen Vater – gezeugt hätte, so wäre das möglich. Solche Dinge kommen vor.»

«Dann wären wir ja wirklich verwandt!», rief sie.

«Genauso wäre es. Aber meine Eltern sind inzwischen tot. Mein Vater kann uns keine Auskunft mehr geben. Er hinterliess weder Fotos noch Briefe aus jener Zeit. Meine Story beruht also auf Spekulation. Sie ist ein Hirngespinst, wie wir solche Luftschlösser auf Deutsch auch nennen.»

«‘Hirngespinst’ und ‘Luftschlösser’ sind wunderbare Ausdrücke», sagte Sarah und überlegte laut: «Doch inzwischen kann man DNA-Tests machen lassen. Damit würden wir Klarheit schaffen.» Aber dann fiel ihr ein, dass sie Gustavs Meinung zu ihren eigenen Spekulationen hatte herausfinden wollen. Rasch schob sie nach: «Meine Grossmutter hätte die Liebesgeschichte deines Vaters geglaubt. Sie hat auch immer gemutmasst, dass mein Vater noch lebe.»

«Es gibt solche Menschen und andere», sagte Gustav diskret.

«Ich habe ebenfalls etwas schier Unglaubliches erlebt», setzte Sarah zu ihrer Erzählung über Izzy und Adolf Müller an. «Ich weiss gar nicht, ob ich es dir berichten soll. Du hältst mich bestimmt für verrückt. Es ist hier passiert.»

«Jetzt machst du mich aber neugierig», lachte Gustav, während er neuen Teig anrührte. «Erzähl schon.»

«Also», begann sie und berichtete, wie sie im Sommer in der FAZ zufällig diese Kurzmeldungen über den verstorbenen Senior entdeckt hatte und am nächsten Vormittag, wiederum zufällig, ein Telefongespräch zwischen Izzy und ihrer Oma mithörte, in dem es um diesen Todesfall ging.

«So, wie sie es ihrer Oma berichtet hat, war ich sicher, Izzy sei die Mörderin.»

«Na hör mal!», rief Gustav und liess die Knetmaschine laufen.

«Was hat sie denn genau gesagt, deine Izzy?»

«Sie sprach von einem, der den Tod verdient hatte. Und von Küchlein, über die er sich freute und über das Vertrauen, das er ihr entgegenbrachte», zählte Sarah auf. «Alles Dinge, die so nicht in der Zeitung standen.»

Gustav rieb sich die Hände.

«Das ergibt keinen Sinn. Du weisst ja nicht, woran dieser Alte starb.»

«Richtig, Adele Bohnert meinte auch, dass er einfach alt war, beinahe 100.»

«Und wer ist Adele Bohnert?»

«Brigitte Bohnerts Oma. Der Verstorbene lebte bis zu seinem Tod im gleichen Seniorenheim in Sachsenhausen. Angeblich war er ein … a dirty old man

«Ein Dreckskerl», erriet Gustav. «Wie so viele. Noch kein Grund, ihn abzumurksen. Ich sehe auch keinen Zusammenhang mit Frau Rothfuss.»

«Ja, ich sah ihn auch erst, oder meinte, ihn zu sehen, weil ich weiss, dass Izzys Oma eine Frankfurter Jüdin war und, weil die besagte FAZ schon am Folgetag entsorgt wurde und ich den Zeitungsausschnitt zwischen Izzys Modejournalen fand. Zudem sagte mir Brigitte, dass der Tote zweimal Gast im Tannwald gewesen war. Izzy muss ihn gekannt haben. Und das Wichtigste», schloss sie: «Izzy war an jenem Tag, als der Alte starb, in Frankfurt.»

«Nun kommen wir der Sache näher», fand Gustav und stellte ein paar weitere Fragen, die Sarah, so fand sie wenigstens, schlüssig beantworten konnte. «Was soll ich nun tun?», fragte sie.

«Hast du Brigitte oder ihrer Grossmutter davon erzählt?»

«Nein, nur Hannes und jetzt auch dir.»

«Dann vergiss es rasch wieder.»

«Glaubst du mir etwa nicht?», fragte Sarah enttäuscht.

«Natürlich glaube ich dir. Jedes Wort», versicherte ihr Gustav. «Aber ich glaube auch, dass du keine schlafenden Hunde wecken solltest.»

«Still dreaming of a white Christmas?», fragte Gustav, ein Bing Crosby-Fan, nachdem Sarah die ganze Woche über gejammert hatte, wie enttäuscht sie über den nassen und warmen Dezember sei.

«Nein», antwortete sie. «Aber es wäre schön gewesen. In Cornwall schneit es nur alle zehn Jahre einmal. Und nie an Weihnachten. Doch jetzt kommt hier auch kein Schnee mehr.»

«So müssen wir wenigstens nicht schippen. Warte es ab. Im Januar wird es schneien. Mehr als uns lieb ist.»

«Genauso wie bei meiner Ankunft. Jene Pferdeschlittenfahrt mit Izzy und ihren Kindern, von der ich dir erzählt habe, war filmreif.»

«Ja. Wenn du magst, fährt Hannes morgen bestimmt mit dir auf den Ruhestein. Im Auto halt, und nicht im Schlitten. Doch dort oben hat es reichlich Schnee», tröstete Gustav sie und begann die Arbeitsflächen aus Edelstahl zu reinigen.

Es war kurz vor Mittag. Sarah war dabei, den Boden der Backstube feucht aufzunehmen. An Heiligabend schloss die Bäckerei um 13 Uhr. Anders als in England, wo die Geschenke am 25. Dezember geöffnet wurden, war hier schon heute Bescherung. Zuvor wollte Emma mit ein paar Nachbarn und Sarah in den Heiligabend-Gottesdienst gehen. Sarah hoffte, es gebe auf der Autobahn Basel-Karlsruhe keinen Stau, und Hannes sei rechtzeitig in Fleckenbronn, um sie in die nahe Kirche zu begleiten.

«Genug für heute», riss Gustav sie aus ihren Gedanken und warf die Schmutzwäsche in den grossen Korb, der zu diesem Zweck in einer Ecke der Backstube stand. «Ich lege mich nach dem Essen für ein Stündchen aufs Ohr.»

«Perfekt», sagte sie. «Ich ruhe mich auch ein wenig aus.»

Als Sarah, Emma und Hannes nach der Andacht ins Haus zurückkehrten, verbreitete der Kachelofen Wärme und ein Rottännchen den Duft von Wald.

«Hast du den Baum schon gestern gefällt?», fragte Hannes seinen Vater, der nickte und zwei oder drei Scheite Holz in den Ofen nachlegte.

Sarah bemerkte die echten Kerzen auf ihren Haltern sowie die filigranen Strohsterne und die Nüsse und Tannzapfen, die das leicht krumme Tännchen schmückten. Im Vergleich dazu war der ausladende Weihnachtsbaum, der in der Halle von Finlays Wohnung in London prangte, ein gut gewachsener Riese, dessen Engel auf der Spitze die hohe Decke touchierte. Finlays Weisstanne war jeweils vollbehangen mit roten und goldenen Kugeln, mit Engelshaar, Lametta sowie feinen elektrischen Lichterketten, die den Baumschmuck zum Glitzern brachten. Keiner hätte es dort gewagt, richtige Kerzen am Baum anzuzünden. Sarah stellte sich ihre Mutter vor, die vermutlich bereits in London war und dort am Nachmittag letzte Einkäufe erledigt hatte. Sie schluckte die aufsteigenden Tränen, die sie sich nicht erklären konnte, hinunter. Es war wirklich schön hier. Emma hatte einen Kartoffelsalat vorbereitet. Dazu gab es Saitenwürstle und für Sarah ein Tofu-Schnitzel. Hannes erzählte von der Schweiz, und Gustav lobte Sarah dafür, wie gut sie sich im Betrieb eingearbeitet hatte. Alles war bestens. Trotzdem wusste Sarah, dass dies nicht das Leben war, das sie sich auf Dauer für sich vorstellte.

Als der Abend voranschritt und Hannes und seine Eltern über verschiedene Nachbarn und Bekannte und entfernte Verwandte redeten, dachte Sarah schon wieder an ihre Familie in England. Sie fragte sich, ob Claire in der Bretagne und Rebecca und Tom in Cornwall mit Toms Eltern feierten.

Sarah würde sie am nächsten Tag alle anrufen, ihnen frohe Weihnachten wünschen und hören, ob ihnen die Bücher gefielen, die Sarah über Amazon für sie bestellt hatte.

«Wie hast du Weihnachten verbracht?», fragte Brigitte, als sie Sarah im neuen Jahr zufällig auf der Post traf.

«Mit Hannes und seinen Eltern. Und du?»

«Ich habe gearbeitet und meine Freizeit verschlafen. Ich war todmüde. Es war so viel los.»

«Waren Rudi Rothfuss und die Kinder über Weihnachten im Hotel?»

«Ja, Herr Rothfuss hat rund um die Uhr gearbeitet. Susanne ist im Mutterschaftsurlaub. Sie hat sich in der Wohnung verschanzt und zu den Kindern geschaut.»

«Muss schön für sie sein. Ein Kind zu Weihnachten», nickte Sarah.

«Ja, sicher. Aber sie sieht schlecht aus. Und Jessica und Jens sind ein bisschen eifersüchtig auf das Baby», sagte Brigitte. «Sie haben sich jedoch sehr über deine Geschenke gefreut.»

Sarah nahm sich vor, bald im Tannwald vorbei zu schauen.

«Im Grunde bin ich froh über den Januar», seufzte Brigitte. «Weniger los, und es herrscht rundum wieder emotionaler Normalbetrieb. Die Festtage mit dem ganzen Drumherum sind nicht so mein Ding.»

«Früher, als ich mit Mum und meiner Sis in London bei Finlay und Lance feierte, war es immer okay. Aber dieses Jahr hatte ich einen kurzen Festtagskoller. Zum ersten Mal in meinem Leben.»

Mitte Januar wurde es kalt, zudem schneite es aus tief hängenden Wolken. Ausser in den Hotels war im Ort nichts los. Brigitte und Sarah trafen sich wieder wöchentlich zum Pizzaessen. Hie und da setzten sie sich spät abends zusammen mit anderen jungen Leuten an eine Bar. Zwischendurch fuhren sie nach Freudenstadt. Dort zeigte das Kultkino im Kurhaus prämierte Filme im Originalton. Während sich Sarah und Brigitte auf Sofas räkelten und Getränke aus dem Weltladen schlürften, wähnten sie sich während der Dauer des Films in einer Grossstadt. Oder in einer beliebigen Ecke dieser Welt.

«Einen zweiten Winter hier überlebe ich nicht», klagte Sarah.

Die Wochenenden, die Hannes im Schwarzwald verbrachte, verflogen im Nu. Doch die Werktage zogen sich in die Länge. Hin und wieder überlegte sie, ob sie für ein Weekend nach Basel fahren wollte. Doch sie war auf den Zug angewiesen, und für Hannes war es mit dem Auto bequemer, nach Fleckenbronn zu kommen. Seit sie in der Backstube arbeitete, blieb er bis montagmorgens, stand mit ihr zusammen auf und machte sich nach einem schnellen Kaffee auf in die Schweiz. Emma sah es nicht gerne, dass ihr Sohn bei Dunkelheit losfuhr. Die Strasse über den Ruhestein war in der Früh eisig, Hannes meistens in Eile und Emma beständig in Sorge um ihn …

Brigitte riss Sarah aus ihren Gedanken.

«Solange du einen Job hast, ist es okay. Mir jedenfalls wird es an der Rezeption nicht langweilig. Schon bald ist Frühling, und wir können draussen zusammen Tennis spielen.»

«Ich weiss nicht. Hier dauert es ewig, bis es einigermassen warm wird.»

«Stimmt», antwortete Brigitte, «ich überlege mir ernsthaft, auszuwandern.»

An einem Donnerstagabend im April meldete der Südwestfunk den Absturz eines in Deutschland registrierten Kleinflugzeugs in den Vogesen. Nach Angaben der französischen Polizei starben der Pilot sowie beide Passagiere. Der Hergang des Unfalls, der sich um 16 Uhr ereignet habe, sei noch Gegenstand der Untersuchung. Rettungskräfte, Polizei und Feuerwehr seien vor Ort. Sarah war gerade dabei, ihre Laufschuhe zu binden und hörte nur mit einem Ohr hin. Dann, im Laufe des Freitagvormittags, meldete der SWR, dass es sich bei den Opfern des Flugzeugabsturzes um einen Baden-Württembergischen Hotelier mit Familie handle.

Am Nachmittag schliesslich wurde sie von der total aufgelösten Brigitte angerufen, die fragte: «Hast du vom Flugzeugabsturz gehört? Es ist mein Chef. Herr Rothfuss flog in seiner Sportmaschine an eine Gastronomen-Konferenz im Elsass. Weil es so prächtiges Wetter und die Tagung übers Wochenende war, nahm er Susanne und den Kleinen mit.»

Als Sarah nicht antwortete, schluchzte Brigitte: «So hör doch! Jessica und Jens sind hier. Herr Rothfuss war auf der Stelle tot. Ich darf es noch niemandem sagen. Aber du, du bist sicher eine Ausnahme. Zudem weiss es innert Kürze bestimmt jeder im Ort. So etwas sickert durch. Das kann man nicht geheim halten! Gleichwohl hat unser Geschäftsleiter verfügt, dass die offizielle Meldung an die Presse erst morgen rausgeht.»

Sarah antwortete noch immer nicht. In ihrem Kopf hämmerte es: Rudi Rothfuss, dieser stattliche, vitale Mann kann nicht tot sein. Genauso wenig wie Susanne und das Baby. Das musste ein Irrtum, eine Falschmeldung sein.

«Sarah? Bist du noch da? So sage doch etwas! Oder komm bitte nach Feierabend zu mir ins Personalhaus. Ich will jetzt nicht allein sein.»

Endlich antwortete sie. «Ja, mache ich. Ich warte um 21 Uhr an der Rezeption auf dich.»

«Und was ist mit Hannes?», fragte Brigitte.

«Oh!», rief Sarah. Sie hatte Hannes komplett vergessen. «Er ist auf Geschäftsreise. Er besucht in Portugal Kunden und bleibt übers Wochenende in Lissabon.»

Die holzgetäfelte Hotellobby, normalerweise einer der gemütlichsten Räume im Tannwald, fühlte sich anders an. Sarah fror, obwohl im Kamin ein Feuer knisterte. Sie beobachtete, wie das Personal und einige Gäste tuschelten und fragte sich, ob die Leute informiert wurden. Sie musste sich gedulden und auf Brigitte warten, die hinter dem Tresen auf ihren Bildschirm starrte.

Da tauchte Karin auf. Sarah erkannte auf einen Blick, dass sie Bescheid wusste. Zusammen eilten sie in einen Lagerraum. Überall standen Bierkästen, Mineralwasser und Softdrinks. Zudem war der Raum düster und eiskalt. Karin hängte sich wie eine Ertrinkende an Sarah, schluchzte und brachte kein Wort hervor. «Schscht», machte Sarah, «ich weiss es. Brigitte hat mich angerufen.»

Karin nickte, und Sarah fragte sie: «Hast du Jens und Jessica gehütet, als es passierte?» Karin nickte erneut.

«Seit wann weisst du es?», fragte Sarah.

«Ich habe es soeben mitbekommen. Gäste aus Frankreich haben mit zuhause telefoniert. Dort ist anscheinend der Name durchgesickert.»

«Wie denn das?», fragte Sarah.

«Ich weiss es nicht. Vielleicht hat dort jemand Polizeifunk gehört. Jedenfalls reden die Elsässer jetzt darüber.»

«Schlafen die Kinder?», fragte Sarah, und Karin nickte zum dritten Mal.

Zusammen schlichen sie in die Personaltoiletten, wo sich Karin Wasser ins Gesicht spritzte und die Augen kühlte. Dann kehrten sie zurück in die Lobby und zu Brigitte, die verloren hinter ihrem Tresen an der Rezeption stand.

Als am nächsten Morgen der Manager vom Tannwald persönlich anrief, um Sarah anzufragen, ob sie unter diesen aussergewöhnlichen Umständen bereit sei, sich temporär um Jens und Jessica zu kümmern, sagte sie zu.

Dann eilte sie zu Gustav und Emma.

«Es tut mir leid, dass ich euch im Stich lassen muss», sagte sie, nachdem sie die beiden über den gestrigen Absturz informiert und sie gleichzeitig um eine zeitweilige Verschwiegenheit gebeten hatte.

«Ich muss unbedingt zu den Kindern. Karin schafft das nicht alleine. Herr Weisshaupt hat mich um meine Hilfe gebeten. Izzy kommt, sobald sie kann, aus den USA. Bis dann wohnen Karin und ich mit Jessica und Jens im Apartment der Familie Rothfuss im Tannwald.»

«Natürlich. Jemand muss sich um die armen Kinder kümmern», nickte Gustav, «du stehst ihnen noch immer nah.»

Er legte Sarah den Arm um die Schulter.

«Jetzt pack einmal das Nötigste. Emma und ich kümmern uns um den Rest. Wenn du uns brauchst, dann rufst du an.»

Eine Woche lang dominierten grässlichste Schlagzeilen zum Unglück die Frontseite der «Bildzeitung», während der «Blick», ein Boulevardblatt, das hier von ein paar Schweizer Gästen gekauft und gelesen wurde, neutraler titelte: Dreiköpfige Familie stirbt bei Absturz über den Vogesen.

Sarah und Karin versuchten, das Schlimmste von Jessica und Jens fernzuhalten. Doch es war schwierig. Im Hotel herrschten Ausnahmezustand und kollektive Trauer, die sich auch auf die zu dieser Jahreszeit spärlichen Kurgäste übertrugen. Das Wetter hatte glücklicherweise gedreht. Der April zeigte seine nasse und kalte Seite, und ein paar Gäste waren vorzeitig abgereist. Jens spielte im Zwergenhort. Doch Jessica wich nicht von Sarahs Seite.

«Kommen sie wieder zurück?», fragte das Kind, wenn sie alleine mit Sarah war, bedacht darauf, dass niemand sie hörte.

«Nein, das tun sie nicht, Jessica», antwortete Sarah. «Sie sind jetzt alle drei im Himmel.»

«Auch Susanne und das Baby?»

«Ja, auch Susanne und der kleine Rudi sind jetzt im Himmel.»

«Und wo sind unsere Zwillinge?», fragte Jessica, plötzlich misstrauisch geworden. «Ich will zu ihnen. Jetzt sofort. Und zu Mummy.»

«Sie fliegen mit deiner Mummy aus Amerika zu uns. Sie kommen schon übermorgen an. Du musst jetzt hierbleiben, sonst verpassen sie dich noch.»

«Versprochen?»

«Aber bestimmt. Ich würde dich nicht anschwindeln.»

Jessica runzelte die Stirn, und Sarah fand für sie einen Zeichenblock und den Farbkasten, damit sie den Sportflieger und ihren Daddy malen konnte.

«Als ich klein war, verunglückte mein Daddy mit seinem Segelboot», sagte Sarah. «Damals habe ich auch viel gezeichnet. Meistens Schiffe und das Meer.»

Am Trauergottesdienst in der evangelischen Kirche realisierte Sarah beim Anblick der beiden mit Blumen bedeckten Särge, dass das Baby in jenem der Mutter liegen musste. Sie hielt Ausschau nach Izzy, die mit ihren vier Kindern in der vordersten Reihe der Kirchenbänke sass.

Sie war froh, dass Izzy und ihre Mutter gekommen waren und sich jetzt um die Kinder kümmerten. Sie hatte den Eindruck, Izzy sei gefasst und der Situation gewachsen. Zudem schien ihre Mutter, Mrs. Jacobs, eine resolute Frau, gewohnt, Entscheidungen zu treffen und diese auch umzusetzen.

Sarah konnte die Menschen, die sie kannte, in der Menge nur schemenhaft ausmachen. Sie schluckte ihre aufsteigenden Tränen hinunter und beobachtete Brigitte, die sich in der Reihe vor ihr mit der rechten Hand laufend die Augen tupfte und mit der linken ein zweites Papiertaschentuch knetete. Noch nie zuvor hatte Sarah derart viele gesenkte Häupter und zuckende Schultern gesehen. Sogar die notorischen Klatschbasen, die im Ort noch kürzlich über Rudi Rothfuss und seine neue Lebenssituation getratscht hatten, weinten.

«Wir können keine Auskunft geben, und es ist auch niemand von der Familie Rothfuss-Jacobs zu sprechen. Sie bitten um Verständnis und darum, dass die Trauerzeit respektiert wird», sagten Brigitte und Karin sowie die restlichen Hotelangestellten und auch Sarah zu jedem, der sie nach Details auszufragen versuchte. Das Hotel-Management würde zur gegebenen Zeit informieren.

Erst eine Woche nach der Beerdigung, als Sarah und Brigitte alleine in Gustavs und Emmas Küche sassen und Kräutertee tranken, wagten die beiden, die Floskeln zu vergessen und sich endlich ehrlich zu äussern.

«Ein Glück für Izzy Rothfuss, dass sie noch nicht geschieden war, als es passierte», raunte Brigitte. «Jetzt erbt sie alles.»

«Stimmt, das habe ich mir so noch nicht überlegt. Aber ich bin froh, dass sie schon zwei Tage nach der Beerdigung nach New York zurückkehrte», bekannte Sarah. «Wann immer ich sie sah, wusste ich nicht, was zu ihr sagen und wie ich mich verhalten sollte. Kinder sind da einfacher.»

«Karin und mir erging es ebenso», nickte Brigitte.

«Das Blöde war, dass ich ihr am liebsten etwas gesagt hätte, das ich nicht sagen durfte», murmelte Sarah. «Nicht unter diesen Umständen.»

«Was hättest du ihr denn am liebsten gesagt?»

«Wie froh ich für die Kinder bin, dass sie nun wieder alle vier beisammen und bei ihrer Mutter sind.»

«Aber das ist doch nicht schlimm», fand Brigitte. «Oma Bohnert sagt jeweils, wenn etwas Fürchterliches passiert: Kein Unglück ist so gross, es hat ein Glück im Schoss.»

Sarah lernte zurzeit viele Redewendungen für ihr Deutschexamen. Alte Leute, hatte sie entdeckt, waren dafür eine Fundgrube. ‘Fundgrube’ war auch so ein anschauliches Wort, das sie sich gemerkt hatte. Gustav lachte jeweils über die Missverständnisse, wenn sie bei der Arbeit einen neu aufgeschnappten Ausdruck unpassend einsetzte. Doch was Gustav nicht realisierte, war, dass sie neben der Sprache auch neue Umgangsformen kennen lernte. Was in England als unhöflich galt, konnte hier zum Teil ausgesprochen – ausgedeutscht – werden. Oder bei Streit wurde im Schwarzwald ‘kein Blatt vor den Mund genommen’. Seit Sarah mit dem Gedanken spielte, in der Schweiz zu studieren, hörten sie und Gustav in der Backstube dann und wann den Schweizer Sender DRS1 übers Internet-Radio. Sie wusste, dass in der Schweiz wieder andere Regeln galten, sprachlich wie umgangsformlich. Hannes konnte ‘ein Lied davon singen’.

«Hallo, hallo, Sarah!», rief Brigitte. «Ich sagte: Kein Unglück so gross …»

«Ja, sorry», antwortete Sarah. «Mir sind soeben ein paar Redewendungen mehr eingefallen. Doch ich frage mich, ob man wirklich sagen darf: Kein Unglück sei so gross … Also ich weiss es nicht.»

«Nun, unter uns glaube ich schon. Aber vielleicht besser nicht öffentlich», fand Brigitte. «Im Tannwald sagen einige, das Unglück sei die Strafe Gottes gewesen. Das finde ich schon sehr krass.»

Sarah trank ein Schlückchen Tee und wartete. Brigitte würde ihr sicherlich auch das neueste Gerücht berichten. Tatsächlich verstrichen keine zwei Minuten, bis Brigitte murmelte: «Strafe Gottes hin oder her. Es gibt auch Leute, die sowas selber an die Hand nehmen.»

«Wie bitte?» Sarah hatte vom Verdacht gehört und blickte unwissend.

«Gewisse Leute meinen, Izzy Rothfuss habe beim Absturz nachgeholfen.»

«Wie nachgeholfen?», fragte Sarah. «Wie soll sie nachgeholfen haben?», wiederholte sie. «Das ist doch unmöglich. Sie war in Amerika, als es passierte.»

«Mechaniker Michael Müller, der für die Autoflotte im Tannwald zuständig ist, wartet auch die Privatmaschine der Rothfuss, also … er hat sie gewartet, bis zum Absturz. Jetzt sind es ja nur noch Trümmer.»

«Ja und? Was sagt er?»

«Er behauptet, er hätte Frau Rothfuss vor einem Jahr explizit auf alle Mängel am Flugzeug hingewiesen.»

«Welche Mängel?»

«Die Maschine hatte schlimme Korrosionsschäden. Und auch die Öl- und Treibstoffschläuche waren uralt.»

«Und warum hat er nicht Rudi, den Piloten, darüber informiert?»

«Weil Herr Rothfuss sich nichts sagen liess und schnell aufbrauste. Und Müller und Izzy spielten zusammen Tennis. Ich glaube, sie mochten sich ganz gut», wusste Brigitte. «Michael Müller hat selber lange in Amerika gelebt.»

«Ja und?», fragte Sarah.

«Nun. Ich weiss nicht, was ich denken soll. Vielleicht kannte Izzy ihn von dort her. Vielleicht waren sie und Müller ja einmal ein Liebespaar, und Frau Rothfuss hat ihrem Mann diese Mängel absichtlich verschwiegen.»

«Aber jetzt spinnst du!», rief Sarah. «Izzy passte doch überhaupt nicht zu diesem Mechaniker.»

«Er ist ein Eigenbrötler. Er lebt ja auch alleine und lädt nie Freunde zu sich ein. Man munkelt, er habe irgendwo einen erwachsenen Sohn», sagte Brigitte.

Als Sarah weiter schwieg, fügte Brigitte hinzu. «In seiner Freizeit bastelt er an Motoren und Apparaten. Seine ganze Garage steht voll damit.»

«Richtig. Und darum soll Michael Müller nun verdächtig sein. So im Stil klassischer Liebesromane. Darin ist immer der Gärtner der Liebhaber …»

Hannes interessierte sich an den Wochenenden, die er zuhause verbrachte, dafür, wie es mit dem Hotel Tannwald weitergehen würde. Er ging sogar mit Michael Müller Tennis spielen. Vermutlich wollte er Informationen aus erster Hand. Sarah fragte sich, ob etwas an dem Gerücht sei, von dem ihr Brigitte berichtet hatte und wie viel Hannes wusste. Hannes war in Fleckenbronn aufgewachsen. Er kannte Hinz und Kunz und hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, wie toll er Izzy fand. Sollte Izzy tatsächlich die Schuld am Tod des Seniors im Frankfurter Park tragen, konnte sie auch beim Absturz in den Vogesen ihre Finger im Spiel gehabt haben … Vielleicht war das Unglück tatsächlich ein Plot zwischen ihr und Müller gewesen …

«Was soll sie damit? Sie wird es verkaufen», hörte sie Emma wie aus weiter Ferne spekulieren. Sie riss sich zusammen, versuchte, der Konversation zu folgen. Emma hielt sich gewöhnlich zurück mit ihrer Meinung. Sie liess meistens Gustav reden. Sarah war oft befremdet und versucht, Emma zu helfen, wenn diese ausnahmsweise einmal eine eigene Ansicht äussern wollte.

Zusammen mit Sarah hatte Emma Rindfleischrouladen, viel Gemüse für Sarah, und Kartoffelstampf zubereitet. Nun sassen alle am grossen Tisch in der Küche über dem Café Frey und diskutierten das Neueste.

In diesem Moment erklärte Hannes seiner Mutter, dass sich ein Hotel nicht so leicht verkaufe. Und ein Sterne-Haus schon gar nicht.

«Vielleicht liesse sich dennoch ein Käufer finden», meinte Sarah.

«Am Stammtisch reden sie von einer interessierten Industriellenfamilie. Vermutlich Ausländer mit viel Kohle, die ein Geschäft wittern», sagte Gustav und gab zu bedenken: «Aber beim Tannwald geht es um das Lebenswerk mehrerer Generationen. Das kann Frau Rothfuss nicht mir nichts, dir nichts, an Fremde verschachern.»

«Vater, das heisst weiterreichen, nicht verschachern. Zudem erfordern ausserordentliche Situationen nun einmal ausserordentliche Massnahmen und ausserordentliche Partner. So lautet die Wortwahl.»

«Ich fände es schön, wenn Izzy das Hotel behalten und wieder herziehen würde. Bei ihr würde ich sofort wieder Kinder hüten», unterbrach Sarah.

«Aber nicht ausgerechnet jetzt!», rief Emma. «Wo wir dich hier brauchen.»

«Nein, natürlich nicht. Sorry. Gleichwohl finde ich, Izzy könnte wieder hierher ziehen. Ihre Kinder sprechen Deutsch. Sie waren so happy hier. Damals, bevor diese unglückselige Geschichte mit Susanne losging.»

Gemäss Brigitte blieb im Hotel alles beim Alten. Zwar wurde kurzfristig ein pfiffiger, stellvertretender Geschäftsleiter eingestellt. Doch Herr Weisskopf, sein Chef, betonte, der Neue sei bloss zur Entlastung gekommen, und nicht etwa, um Veränderungen einzuführen. Das Aushängeschild des Hotel Tannwald sei ohnehin das Gourmet-Restaurant mit seinen drei Michelin-Sternen. Das hohe Niveau der Küche beizubehalten sei die halbe Miete. Dabei betonte er, bei seiner kleinen Ansprache an das Personal, dass Jochen Jung, der über Deutschlands Grenzen hinaus bekannte Starkoch, dem Betrieb die Treue halten werde.

«Jochen Jung ist der Allerwichtigste», äffte Brigitte den Chef nach. «Doch Sterne-Koch hin oder her», urteilte sie. «In Wahrheit sind die Gourmet-Restaurants querfinanziert. Das Geld kommt die Treppe herunter.»

Sarah erinnerte sich, dass auch Rudi Rothfuss dieses seltsame Sprachbild verwendet und sie über dessen Bedeutung gerätselt hatte.

Brigitte erklärte: Die Infrastruktur des Hotels sei vorhanden und erfordere eine hohe Belegung der Zimmer, wenn Umsatz und Gewinn stimmen sollten.

«Darum rollt der Rubel die Treppe runter», erklärte sie. «Der Starkoch ist reine Zugabe, um zahlungskräftige Gäste anzulocken. Das Hotel Tannwald zählt immerhin zu den 1000 Places to See Before You Die

«Ich weiss. Mein Onkel Finlay hat diese Traveler’s Life List vermutlich auch konsultiert. Jedenfalls hat er seinen Besuch angemeldet. Er will im Tannwald übernachten und im Sterne-Tempel essen.»

«Wirklich? Kommt er mit seinem Partner? Falls ja, sollte ich wissen, ob die beiden ein Zimmer mit Doppelbett brauchen. Das ist immer so eine heikle Sache …», zögerte Brigitte.

«Wait and see. Vermutlich geht Lance in der Ägäis segeln. Ich bin mir fast sicher, dass mein Onkel alleine hierher kommt.»

«In der Ägäis segeln. Auch nicht schlecht. Dazu würde ich jedenfalls nicht nein sagen», lachte Brigitte.

Schon eine Woche später erhielt Brigitte eine Anfrage von einem Mr Finlay Penrose aus London und rief umgehend ihre Freundin an.

«Ist geritzt. Er kommt in der ersten Juniwoche. Ich habe für ihn das schönste Einzelzimmer im Haus und den besten Zweiertisch im Restaurant reserviert.»

«Einzelzimmer, Zweiertisch? – Kommt er nun allein oder mit Lance?», fragte Sarah ungeduldig.

«Allein, aber ich buche für ihn trotzdem den besten Zweiertisch am Fenster. Er wird ja nicht immer allein essen wollen», stichelte Brigitte.

«Ausser mir kennt er niemanden hier», vermutete Sarah. «Aber falls ich die Ehre habe, so wird er etwas besprechen wollen.»

«Was denn? Hast du eine Ahnung?»

«Nein, habe ich nicht.»

«So überleg doch. Vielleicht möchte er dich mit etwas überraschen.»

«There ain‘t no such thing as a free lunch, sagte Izzy über die Big Shots, die hier ihre Geschäftspartner zum Essen einluden, um die Big Deals, ihre grossen Transaktionen, einzufädeln», kommentierte Sarah trocken. «Wenn du es mir nicht gesagt hättest, wüsste ich nicht einmal, wann genau er kommt.»

«Und wann hast du deine E-Mails zum letzten Mal gecheckt?»

«Och. Vor zwei Tagen. Es waren bloss welche von Mum und Becs.»

«Selber schuld! Ich lese meine mehrmals am Tag! Ich wette, er hat dir den Termin längst gemailt!»

Eigentlich war das genaue Datum egal, dachte Sarah. Sie würde alles stehen und liegen lassen und ihm den Schwarzwald von seinen schönsten Seiten zeigen. Hauptsache, ihr Onkel hatte sie nicht abgeschrieben.

Finlay hatte ihr tatsächlich per E-Mail mitgeteilt, wann und wie er zu kommen gedenke. Er hatte sie sogar angefragt, ob es für sie convenient wäre und angefügt, dass er alleine sei, und falls der Zeitpunkt für sie ungünstig läge, er gerne umbuchen könne.

Und nun war er also ihretwegen von Heathrow nach Frankfurt geflogen und von dort mit dem ICE bis Karlsruhe und das letzte Stück mit dem Regionalzug das Tal hoch gefahren. Sie schwankte zwischen Bange und Freude, als sie am Fleckenbronner Bahnhof zusammen mit Hannes auf ihn wartete. Beide hatten sie eine Woche Urlaub genommen, um Finlay auf Wanderungen und Ausflügen zu begleiten. Sarahs Herz hüpfte. Sie hoffte, dass er nicht enttäuscht sein würde. Weder vom Ort noch von den Menschen.

Erst als sie Finlays schlanke Gestalt in schmal geschnittenen dunklen Jeans und weissem Polohemd aus dem Zug steigen sah, verflog ihre Nervosität. Ihr Onkel war 63, zehn Jahre älter als ihre Mum, und dort, wo er sich auskannte, gewandt, charmant und eloquent. Jetzt blickte er verloren um sich.

«Hello!», rief sie, rannte auf ihn zu und umarmte und küsste ihn – rechte Wange, linke Wange, the continental way.

«Sarah. Good to see you. Welch wunderbarer Duft! So würzig und so frisch», sagte er und schloss seine Nichte in die Arme. Dann klopfte er Hannes auf die Schulter, sog nochmals demonstrativ die gute Luft ein, und lud sein Gepäck in den Kofferraum von Hannes’ Golf.

«Morgen könnten wir einen Spaziergang durch den Wald zu einer der wunderbaren Wanderhütten machen, wenn du magst», schlug sie vom Rücksitz des Autos aus vor. «Wir würden dich gleich nach dem Frühstück abholen und vom Hotel aus zu Fuss gehen.»

«Sehr gerne! Ich bin zu allen Schandtaten bereit. Bloss jetzt, jetzt würde ich mich gerne zurückziehen. Es war ein etwas anstrengender Tag.»

Sarahs Onkel lernte in jener Juniwoche neben dem Schwarzwald auch Hannes’ Eltern kennen. Diese hatten ihn ins Café Frey zu Kaffee und Kuchen eingeladen und sich, so gut es ging, mit ihm unterhalten. Sarah stellte fest, dass sie, obwohl sie inzwischen fliessend Deutsch sprach, nur schlecht übersetzen konnte. Das Pendeln von einer Sprache in die andere strengte sie an. Und einmal, nachdem sie Finlay spät am Abend im Hotel verabschiedet und see you half past ten in the morning gesagt, im Kopf jedoch halb zehn gespeichert hatte, traf sie ihn am nächsten Morgen prompt noch beim Frühstück.

«Sorry», entschuldigte sie sich. Mein Fehler. Passiert mir immer wieder, dass ich die Zeiten verwechsle. Ist nicht schlimm. Jetzt trinke ich eine Tasse Kaffee mit dir.»

Vor ihnen lag ein unbeschwerter Tag. Sie würden vom Tonbachtal über den Überzwerchen Berg ins Schönmünztal wandern.

Sie erklärte Finlay, dass Hannes an jenem Tag seinen Eltern helfen müsse, die im Café Frey eine grosse Trauergemeinde erwarteten. «Emma ist nicht mehr die Jüngste. Sie ist froh um Unterstützung.»

«Gut, so können wir beide heute in Ruhe über deine Arbeit im Café Frey reden. Mir ist da einiges unklar.»

Ihre Vorfreude auf den Wandertag trübte sich.

«Es ist wunderschön hier und ich verstehe, dass es dir gefällt», nahm Finlay das Gespräch auf, sobald sie unterwegs waren. Sie schwieg erst einmal.

«Trotzdem ist es nicht der ideale Ort für dich», fügte er an.

«Es gibt viele junge Leute hier. Sie lernen die Hotellerie von der Pike auf kennen und sind stolz, sich in einem der renommierten Häuser weiterbilden zu dürfen. Das Tannwald macht sich gut als Referenz im Lebenslauf.»

«Das mag für deine Freundin Brigitte stimmen. Du hingegen hast mit dem Hotelgewerbe nichts zu tun. Es war eine glückliche Fügung, dass du hier Deutsch lernen konntest. Mehr nicht. Zudem wird das Tannwald verkauft.»

«Woher weisst du das?»

«Kurzmeldung im «Economist». Es wurden die von der Erbin Isidore Rothfuss-Jacobs gehegten Verkaufsabsichten erwähnt.»

«Eigentlich ist es gut für Izzy, dass sie noch immer mit Rudi Rothfuss verheiratet war, als er umkam», plappert sie ihrer Freundin Brigitte nach. «Die Scheidung hätte genauso gut bereits durch sein können. So bekommen nun sie und ihre Kinder alles.»

«Alles beinhaltet auch die Schulden», gab Finlay zu Bedenken.

«Ja, schon. Aber jene, die schon genug besitzen, erhalten oft noch mehr», widersprach Sarah.

«Möglich. Aber das ist jetzt nicht unser Thema. Du spricht inzwischen perfektes Deutsch. Mir geht es darum, deine Zukunft vernünftig zu planen.»

Am folgenden Tag quetschten sich Finlay und Sarah in Hannes’ alten VW Golf. Sie fuhren die 50 Kilometer zum stattlichen Munimatthof, der von einem Schweizer Ehepaar als Freilichtmuseum geführt wurde. Sarah besuchte den 400 Jahre alten Bauernhof zum ersten Mal. Beeindruckt betrachtete sie die kleinen Stuben, die imposanten Scheunen und Speicher, die Mühle und das Sägewerk, während Hannes sich mit Finlay über dies und jenes unterhielt. Die vielen jungen Familien mit kleinen Kindern verstreuten sich über das Gelände hin zum Streichelzoo mit den Tieren alter Rassen. Sarah hingegen interessierte sich für das Back- und Brennhäusle und natürlich für den Bauerngarten.

«Schaut einmal, wie wunderschön!», rief sie aus. Sie deutete auf die Beete von Rittersporn, Lupinen, Margeriten, Rosen und leuchtendem Mohn, die mit niedrigen Buchshecken eingefasst waren. Dem Gartenzaun entlang waren Wicken gezogen worden. Sie konnte sich nicht sattsehen an der Pracht und dem ganzen Gemüse und den Kräutern, die zum Kochen und Heilen dienten.

«Am liebsten würde ich von allen Pflanzen Samen mitnehmen und diese auf Emmas Balkon setzen», wandte sie sich an Hannes.

Als sie so hin und her auf Deutsch und Englisch schwärmte, erhaschte sie Finlays’ aufmunternden Blick. Verlegen schaute sie weg, denn sie wollte vermeiden, dass er das gestrige Gespräch und damit seinen Rat zu studieren, wiederaufnahm. Auf keinen Fall wollte sie mit Finlay vor Hannes über ihre Zukunft diskutieren. Seit sie mit zehn oder zwölf Jahren begonnen hatte, Blätter und Blüten zu sammeln, hatte ihr Onkel sie immer wieder ermuntert, einmal Biologie zu studieren.

Sie hatte jeweils gekontert: «Und was wäre, wenn ich Steine sammelte? Würdest du mir dann Geologie vorschlagen?»

Natürlich wusste sie, dass Finlay sich als ihr Vaterersatz fühlte. Sonst wäre er nie hierhergereist. Sie wusste auch, dass sie seine Empfehlung, die Arbeit in der Bäckerei Frey so bald als möglich gegen einen Studienplatz in Basel zu tauschen, ernsthaft mit Hannes diskutieren musste.

«Wer hat Lust auf ein Apfelschorle? Oder ein Bier? Ich habe Durst», sagte sie aus dem Nichts und steuerte Richtung Restaurant. Geduldig warteten sie erst auf einen freien Tisch und dann nochmals, bis ihnen eine junge Frau im badischen Dirndl mit Bollenhut die Getränke brachte.

Nachdem Finlay nach England zurückgekehrt war, verfolgte Sarah der Gedanke, in die Schweiz zu ziehen. Je länger sie bei der Arbeit, und vor allem beim Joggen und Radeln, darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr die Idee. Schliesslich googelte sie alles, was es über die Stadt am Rheinknie zu erfahren gab und nahm sich noch im Juni eine Woche frei. Sie wohnte bei Hannes in seiner hübschen Wohnung in einem renovierten Bauernhaus in der Nähe von Liestal und fuhr täglich, erst mit dem Bus, und dann von Liestal aus mit dem Zug, in die Stadt.

Die Universität zog sie magisch an. Sie setzte sich meistens auf eine Bank unter den Linden auf dem Petersplatz und blickte auf die Peterskirche und zum davorstehenden Denkmal für Johann Peter Hebel. Längst hatte sie das Wichtigste über diesen deutschen Dichter recherchiert, der in Basel und im Wiesental aufgewachsen war und viele alemannische Gedichte verfasst hatte. Sein Geburtshaus stand am Totentanz, direkt am Rhein. Sie hatte sich über die Adresse gewundert und sie als makaber empfunden, mit dem Universitätsspital ein paar Meter davon entfernt. Doch der Name war wohl älter als das Krankenhaus. Jedenfalls hatte sie gelesen, dass es ein Gemälde auf einer Friedhofsmauer gewesen war. Ein Tanz der Gerippe, der die Menschen des Spätmittelalters daran mahnte, dass der Sensenmann, the Grim Reaper, jeden, ungeachtet seines Standes, holt. Trifft noch heute zu, fand sie und dachte dabei an Rudi Rothfuss.

«Du musst dich so bald als möglich fürs Wintersemester immatrikulieren», drängte Hannes bereits am zweiten Tag jener Woche. «Und natürlich deine Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Als EU-Bürgerin bekommst du diese problemlos. Und wohnen kannst du bei mir. Hier ist es zwar eng, aber wir wären ja die meiste Zeit ausser Haus.»

«Ich weiss, ich bin ja daran, das alles zu erledigen», beruhigte ihn Sarah. «Doch ich würde lieber in der Stadt …», zögerte sie, «… als auf dem Land leben.»

Als sie Hannes betretenes Gesicht sah, erklärte sie: «Von hier aus würde ich mit Bus und Bahn viel Zeit verschwenden, um an die Uni zu gelangen.»

«Du findest in Basel keine billige Wohnung», sagte Hannes.

«Vielleicht doch?», hoffte sie «Ich habe mich schon etwas umgeschaut. Ich bin durch jene Viertel spaziert, die einen Park haben, und habe sie mir genau angeschaut.»

«Wirklich?»

«Ja. Es gibt da sehr schöne Häuser und ein generationenübergreifendes Wohnprojekt. ‘Mietfrei für Hilfe’ heisst es.»

«Mietfrei heisst gratis. Wie soll das denn funktionieren?», fragte Hannes.

«Man hilft sich», sagte Sarah. «Ich habe im Kollegienhaus der Uni eine Werbung dafür entdeckt. Ich werde mich morgen genauer erkundigen.»

«Jetzt mache mal den zweiten Schritt nicht vor dem ersten. Ich fände es schöner, wenn wir zusammen wohnen würden. Du müsstest halt den etwas weiteren Weg in Kauf nehmen.»

«Bitte Hannes. Ich möchte in einer Stadt leben. Basel ist wunderschön.»

«Aber …»

«Bis jetzt haben wir auch getrennt gelebt, sogar in zwei unterschiedlichen Ländern … » argumentierte sie, «wir freuten uns immer von neuem, uns zu sehen. Falls wir zusammen leben würden, wäre das ganz anders.»

«Und jetzt? Wie geht es jetzt weiter?», fragte Brigitte ihre Freundin, die ihr in der folgenden Woche in Pinos Pizzeria in Fleckenbronn gegenübersass und in ihrem gemischten Salat stocherte.

«Weiss nicht», sagte Sarah und nörgelte: «Warum müssen sie hier beständig Speck darunter mischen? Haben sie noch nie etwas von Vegetariern gehört?» Sie schob ihren Krautsalat an den Tellerrand.

«Jetzt such einmal nicht das Haar in der Suppe. Seit du beschlossen hast, wegzugehen, störst du dich plötzlich an allem», grollte Brigitte.

«Ja und? Es war Finlay, der sagte, wenn mir die Chance geboten wird, in der Schweiz zu studieren, so müsse ich diese packen.»

«Da hat er ja recht. Und soweit ich verstanden habe, machst du das auch. Sag schon: Wann geht es los?»

«Ende Woche. Aber irgendwie bin ich traurig», antwortete Sarah. «Als ich in Basel war, da freute ich mich. Aber hier im Schwarzwald denke ich immer, wie schön es im Tannwald war und wie nett die Menschen sind. Und die Arbeit in der Backstube war ja auch okay.»

«Das darf nicht wahr sein!», rief Brigitte. «Du möchtest in Fleckenbronn bleiben, weil es hier so schön ist. Denk zurück an den eisigen Winter! Und nun kannst du in der Nähe von Hannes studieren. Das ist doch wunderbar!»

«Ja», sagte Sarah kleinlaut und erinnerte sich an ein Gespräch, das sie und ihre Freundin Moira in Italien geführt hatten. Damals war Moira versucht gewesen, bei einem attraktiven Witwer, der ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte, und seinen drei süssen Kindern in Florenz zu bleiben. Sarah hatte Moira vehement davon abgeraten. Doch jetzt, wo Sarah in wenigen Tagen in die Schweiz ziehen würde, konnte sie nachempfinden, wie traurig sich Moira damals gefühlt haben musste. Abschiede schmerzen immer. Man kann die Landschaft nicht mitnehmen. Einige Menschen, die einem lieb sind, vielleicht. Aber nicht alle. Sarah seufzte.

«Könntest du denn ohne Bedauern weggehen?», fragte sie Brigitte.

«Selbstverständlich. Sobald ich genügend Erfahrung habe, suche ich mir eine neue Stelle. Am liebsten in einem Hotel an einem See in der Schweiz.»

«Wirklich?»

«Aber klar doch. Ich möchte etwas von der Welt sehen, bevor ich heirate und ein Häusle baue», sagte Brigitte. «Meine Mutter hätte jedoch gerne Enkel so lange sie und Papa noch rüstig genug sind, Oma und Opa zu spielen.»

«Und was sagt sie zu deinen Plänen?»

«Nicht viel. Ich bin ja schon jung von zuhause weggezogen.»

«Ja, ich auch. Meine Mum vertraut mir», sagte Sarah. «Sie hat mir meine Abschlusszeugnisse geschickt und Finlay hat mir gleichzeitig Geld auf mein Konto überwiesen. Er hat versprochen, während des Studiums in der Schweiz für meinen Lebensunterhalt aufzukommen.»

«Super! Da seid ihr euch ja endlich wieder gut.»

«Ja, vermutlich, weil ich meine Deutschprüfung fürs Sprachzertifikat C1 des Goethe Instituts bestanden habe. Er findet das ganz toll.»

«Und das erwähnst du so nebenbei?», rief Brigitte. «Ich gratuliere. Das müssen wir feiern, bevor du gehst. Unbedingt.»

«Ja», strahlte Sarah. «Ich bin heimlich nach Tübingen an die Prüfung gefahren. Ich hatte solche Angst, durchzufallen. Doch jetzt kann ich es ja allen erzählen.»

«Oh Sarah!», rief Brigitte und umarmte ihre Freundin. «Ich bin ja so etwas von stolz auf dich. An deiner Stelle würde ich es auch Izzy schreiben.»

Am Freitag holte Hannes sie ab. Sie fuhren noch am gleichen Abend los.

«Warum interessierst du dich eigentlich für Ethnologie?», fragte er, als sie in seinem altersschwachen Golf auf der Autobahn Karlsruhe-Basel Richtung Süden tuckerten. «Ich habe dich das nie gefragt.»

«Ich möchte fremde Kulturen kennenlernen, fremde Menschen verstehen. Ich will wissen, wie sie handeln und warum sie es so und nicht anders tun, und was ihrem Leben Sinn gibt.»

«Und was tust du mit diesem Wissen, wenn du deinen Bachelor hast?»

«Das weiss ich jetzt noch nicht. Erst möchte ich die natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen und Zusammenhänge und ihren Einfluss auf das Verhalten der Menschen studieren und verstehen.»

«Toll. So steht es vermutlich auf der Website der Uni.»

«Ja und?», fragte sie.

«Ich finde, Naturwissenschaften hätten dir danach bessere Möglichkeiten geboten. Oder vielleicht Sprachen. Da bist du überdurchschnittlich begabt. Das weisst du.»

«Ich kann im Nebenfach immer noch Sprachen studieren. Ich will später reisen und fremde Kulturen erforschen», sagte sie bestimmt. «Afrika und Ozeanien sind Schwerpunkte der Uni Basel, und mich interessiert Ostafrika. Mum hat immer wieder davon erzählt, wie es meinem Dad dort gefallen habe. Und wir beide haben uns in Kenia kennengelernt. Das war doch wirklich wunderschön.»

«Natürlich. Aber ich würde trotzdem gerne wissen, was du mit deinem Diplom zu tun gedenkst. Ausser nach Afrika zu reisen.»

«Sei nicht albern. Du nimmst mich nicht ernst.»

«Doch, natürlich: Ich frage dich ernsthaft, denn ich weiss es nicht. Vielleicht kannst du nach deinem Abschluss ja wirklich reisen.»

«Ich könnte forschen oder in die Entwicklungszusammenarbeit gehen. Da gibt es bestimmt viele interessante Projekte. Andere studieren auch Ethnologie und finden nach ihrem Abschluss eine Arbeit.»

Hannes und Sarah liebten sich an jenem Abend. Doch als er für ihre Begriffe etwas zu schwer auf ihr lag, dachte sie, so liebt sich ein altes Ehepaar.

Er hatte ihre Gedanken wohl erraten, denn, nachdem sich sein Atem beruhigt hatte, fragte er: «Welche deiner erregendsten Sex-Fantasien würdest du mir nie verraten?»

Sarah musste lachen, flüsterte irgendetwas Banales, und dann liebten sie sich von neuem. Sie dachte dabei an Moira. Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte, war, dass Moira in Kenia lebte und dort den Wassermann, Sarahs vermeintlich verstorbenen Vater, getroffen hatte.

Sarah Penrose

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