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Kapitel 2
ОглавлениеKaum geboren, schon auf der Flucht
Ich wurde 1939 mit Ausbruch des 2. Weltkriegs geboren. Im Juni 1941 begann der deutsche Einmarsch in die Sowjetunion. Mit dem schnellen Vorstoß der Wehrmacht befanden wir uns plötzlich unter NS-Herrschaft. Als die Rote Armee die besetzten Gebiete zurückerobern konnte, wurden wir in den Warthegau, im besetzten Polen, umgesiedelt und dort unter dem Manifest „Heim ins Reich“ als Deutsche eingebürgert.
Mit der deutschen Niederlage gerieten wir wieder in den Machtbereich der Sowjetunion und unsere Mutter mit uns zwei Kindern und unsere anderen Verwandten flüchteten vom Warthegau nach Thüringen.
Der Vater indes war als Dolmetscher in die deutsche Wehrmacht eingezogen worden, er geriet später in Österreich in amerikanische Gefangenschaft und kam in Süddeutschland in ein amerikanisches Internierungslager. Im Internierungslager wurde er von den Amerikanern im Schuhhandwerk angelernt und in der Schuhmacherei eingesetzt. Nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft war er Jahre später in Nordrhein-Westfalen wieder als Lehrer tätig.
In Thüringen wurden wir in den geräumten Baracken eines Kindergartens untergebracht. Unser bevorzugtes Spielgerät war ein Drehkreuz am Bahnübergang auf dem Weg in den Ort. Zudem waren wir Kinder damit beschäftigt, eine hölzerne Flussbrücke mit einer provisorischen Gießkanne aus Konservenbüchsen vollständig mit Wasser zu benetzen. Bei diesem Spiel bin ich aus Unachtsamkeit fast in dem Fluss ertrunken und wurde quasi in der letzten Sekunde aus dem Wasser gerettet.
In bleibender Erinnerung ist mir auch das mit Zucker bestreute Brot, das unsere Mutter meinem Bruder zum Geburtstag zubereitete.
Im April 1945 erfolgten noch Bombenangriffe der Amerikaner. Die Zivilbevölkerung wurde darüber rechtzeitig vorgewarnt. Unsere Großmutter, an deren Schürze wir stets hingen, flüchtete mit uns fünf Enkelkindern zum Schutz in den nahe liegenden Bergwerkstollen.
Eine echte Bombardierung ist mir nicht in Erinnerung. Im Mai 1945 fielen anstatt Bomben kleine erleuchtete Weihnachtsbäume an Fallschirmen aus einem Flugzeug als Zeichen des Kriegsendes.
Als an der Herzgut Molkerei amerikanische Militärfahrzeuge mit Verpflegung für die amerikanischen Soldaten eintrafen, waren ein Cousin und ich als sechsjährige anwesend.
Ein Karton mit amerikanischer Militärschokolade, der bereits geöffnet war, flog direkt vor unsere kleinen Füße. Wir versuchten heimlich einen Riegel davon zu stibitzen und wurden dabei von einem der amerikanischen Soldaten fotografiert. Wir hatten Angst; erhielten aber von den Soldaten anstatt der befürchteten Rüge, die Arme voller Süßigkeiten und anderer Esswaren.
Im Juli 1945 rückte die sowjetische Besatzung an. Sie belegten sofort das Pförtnerhaus der Zellwollfabrik. Zur Mittagszeit tummelten wir Kinder uns vor dem Pförtnerhaus. Manchmal wurden wir durch das offen stehende Fenster hinein gehoben, auf jeden Fall erhielten wir immer einen Anteil von ihrer Mittagsration.
Im August 1945 fand die Demontage einiger Fabriken durch die Sowjets in Thüringen statt und die Verladung der demontierten Maschinen nach Russland wurde im November begonnen. Es ist anzunehmen, dass die Soldaten das Pförtnerhaus besetzten, um sicherzustellen, dass keine Maschinen von den deutschen Besitzern aus der Zellwollfabrik entfernt wurden.
Unsere Mütter und unsere Großmutter, die alle fließend russisch sprechen und verstehen konnten, das aber vor den Russen verbergen mussten, um nicht wie andere Frauen mit ihren Kindern zurückgeholt und nach Sibirien verbannt zu werden, wurde die Situation zu heikel. Nachdem eine Tante die Möglichkeiten der Umsiedlung von Thüringen nach Norddeutschland geprüft hatte, zogen wir um.
Ein Dorf am Fluss
Die Turbulenzen der Umsiedlung in den Westen sind vorbei und Vater ist aus der Internierungshaft zurück.
Da macht man sich halt schon Gedanken, wie dieser Fleck der Erde, auf dem man jetzt gerade steht, wohl im 9. Jahrhundert ausgesehen hat. Denn vor einigen Jahren feierte das Dorf sein über 1.200-jähriges Bestehen. Da es Menschen von jeher ans Wasser zog, war es gewiss der am Dorfrand sich durch die Wiesen schlängelnde Fluss, der das Dorf entstehen ließ. In der Dorfchronik ist vermerkt, dass der Fluss in ganz alten Zeiten über eine Furt überquert wurde, was auf eine nahe liegende Besiedelung schließen lässt.
Wir wohnten im Schatten der Dorfkirche. Küche mit Kohleofen, Stube mit Kachelofen, Waschraum mit Pumpe, Plumpsklo und Lagerschuppen im Anbau, großer Garten mit Sauerkirschbaum waren unser neues zu Hause.
Die Dorfkirche war, wie man sie sich vorstellt. Im 16. Jahrhundert fertig gestellt, im Zentrum des Ortes liegend, mit Holzschindeln gedeckt, Turm und Mauern weiß getüncht und einer uralten ausgehöhlten Linde davor. Der hohle Baumstamm war für uns Kinder ein beliebtes Klettergerüst. Die Uhr am Kirchturm kündigte durch Glockenschlag den Feldarbeitern um das Dorf herum die Zeit an und die Glocke im Turm rief Sonn- und Feiertags zum Kirchgang.
Doch dem Glockengeläut ging ein halsbrecherischer Aufstieg auf einer schmalen Holzstiege bis ganz nach oben in den Glockenturm voraus. Und dann, die große gusseiserne Glocke, in Schillers Gedicht in ihrer Herstellung sehr ausführlich beschrieben, mittig an einem kräftigen Eichenbalken befestigt. Auf den Enden des Eichenbalkens stehend wurde die Glocke durch Wipp- und Schaukelbewegungen von zwei Erwachsenen in Gang gesetzt. Vom Turmgang zurück verging eine lange Zeit, bis man wieder etwas hören konnte.
Warum hat es uns gerade in dieses Dorf verschlagen? Ich würde meinen, ein Ort ohne Trümmer, mit Ackerbau und Viehzucht, rund einem Dutzend Bauernhöfen und Landwirtschaftlichen Betrieben, einer Wassermühle, einem Reet gedeckten Heimathaus, einer Blaufärberei, einem Bahnhof, dem Bürgermeisteramt, einer Molkerei, einer Lederfabrik, einer Sparkasse, einer Maschinenfabrik, einer Post, einem Bierverlag, einer Sägerei, einer Lackfarbenfabrik, einer Ziegelei und einem großen Schulgebäude.
Die Landwirtschaft wurde nahezu ausschließlich von Hand betrieben. Das Getreide wurde gebunden und zum Trocknen in Hocken aufgestellt. Die spätere Weiterverarbeitung der Getreidekörner erfolgte in der über 500 Jahre alten durch Wasserkraft angetriebenen Mahlmühle.
Im Heimathaus konnte man sehen, wie die Menschen vor mehr als 100 Jahren lebten und wirtschafteten. Zur Einfahrt gab es eine große Scheunentür. Dann folgten die Stallungen mit an der Seite eingelassenen Schlafplätzen für die Mägde und Knechte. Mensch und Tier lebten und schliefen hier auf engstem Raum zusammen. Direkt angrenzend gab es eine offene Feuerstelle. Die Bauernfamilie selbst lebte in drei kleinen Stuben.
Der Blaudruck war einst das in dem Dorf ansässige Handwerk. Hier wurden nach alten überlieferten Verfahren Stoffe gedruckt. Es ist ein Färbeverfahren, bei dem ein weißes Muster auf blauem Grund entsteht. Insbesondere Tischdecken und Schürzen wurden so eingefärbt.
Der Bahnhof war mit einem langen Ladeschuppen verbunden. Der Güterverkehr lief zu jener Zeit fast ausschließlich über die Schiene. Deshalb auch die große Waage auf der Straße vor dem Ladeschuppen. Die Züge wurden von Dampfloks gezogen.
Unsere Dorfstraße war so überhaupt kein idyllischer verschlafener Weg, sondern eine Straße mit bemerkenswerter Struktur. Auf unserer Kopfstein gepflasterten Straßenseite gab es den Gedenkfriedhof an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, das kleine Gebäude der freiwilligen Feuerwehr mit dem motorlosen Schlauch- und Leiterwagen, einen Landwirtschaftlichen Betrieb und einen Krämerladen.
Weiter gab es in unserer Straße eine Bäckerei mit großer Backstube, die Praxis eines Helfers in Steuersachen, einen Malerbetrieb, einen Schneidermeister, eine Tischlerei, einen praktischen Arzt, einen Zahnarzt, einen Kolonialwarenhändler, einen Eier-Sortierbetrieb und eine Schlachterei mit Schlachthaus. Von der Oma der Schlachterei berichtete man sich, dass von ihr die Rezeptur der schmackhaften angeräucherten Dorf-Leberwurst stamme.
Zur Kirche hin befanden sich am Ende unserer Straße ein Bauernhof und ein mit der Kirche verbundenes Gasthaus. Das Gasthaus stand in Längsrichtung der Kirche. Früher diente es als Kirchenkate, einem Gebäude, in dem obdachlose Menschen wohnten. Hinter der Kirchenkate standen noch die Wirtschaftsgebäude eines ehemaligen Untervogts, einem adeligen Laien, der das Kirchengut verwaltete.