Читать книгу Der Sumpf des Bösen - Pseudonym Fronlacher - Страница 4
TAG 1 Sonntag
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Verdammt lang her! Er war seit fünf Jahren nicht mehr da gewesen. Dabei strahlte der Ort eine vollkommene Ruhe aus. Die kleine Kapelle mitten im Wald, daneben der Weg zu der Hütte, in der sie damals viele Feste gefeiert hatten. Er war fast immer dabei gewesen, bis auf das letzte Mal, bis auf die letzte Fete, die in einer Tragödie geendet hatte. Und das war wohl auch der Grund, warum er an jenen Ort, an dem er als Teenager oft Trost gesucht hatte, nur noch ganz selten zurückkehrte. Während er rauchte und nachdachte, spürte er den Regen kaum, der immer stärker wurde.
Aber trotz der Gelassenheit des Ortes, die mit dem leisen Vogelgezwitscher perfekt harmonierte, spürte er heute eine steigende Unruhe. Nur noch wenige Minuten bis zum vereinbarten Termin an der Bank am Waldrand. Warum ein Treffen nach so vielen Jahren an so einem verwunschenen Ort? Warum die Heimlichtuerei? Gab es wirklich ein Geheimnis, von dem er all die Jahre nichts geahnt hatte?
Den nächsten Moment würde er sein Leben lang nicht vergessen. Die Vögel hatten offenbar ein besseres Gehör als er. Ihr Singsang stoppte, mit Getöse nahmen sie Reißaus und flogen davon. Dann hörte auch er den Knall. Vor Schreck hätte er fast die Zigarette fallen lassen. Er warf sie achtlos in die nassen Sträucher und rannte zu seinem Auto. Beim Anfahren verwechselte er den 1. Gang und den Rückwärtsgang und hätte fast den Baum vor ihm gerammt. Er fluchte laut, parkte mit quietschenden Reifen aus und gab Vollgas.
Eine innere Stimme raunte ihm zu; „Du kommst doch eh' zu spät. Sei vorsichtig!“ Er wischte den Gedanken beiseite, ging dann aber doch vom Gas. Der Waldweg war schmal und feucht. Wem nutzte es, wenn er im Graben landete oder den Wagen gegen einen Baum fuhr? Endlich wurde der Baumbestand dünner, dann hatte er den Wald hinter sich gelassen. Jetzt noch in zwei großen Kehren hinauf zum höchsten Punkt, dann hatte er den Treffpunkt erreicht.
Was würde ihn erwarten? Mit höchster Anspannung blickte er voraus. Aber da war nichts – kein Wagen, keine Menschenseele. Er stoppte sein Auto an der kleinen Bank, achtete immerhin darauf, die Handbremse fest anzuziehen, dann stürzte er aus dem Wagen und sprintete zur Böschung.
Gab es ein Déjà-vu-Erlebnis, obwohl man bei der Premiere nicht dabei gewesen war? So hatte es sich vor 20 Jahren abgespielt: Ein Wagen mit drei Schulkameraden, die als Letzte am frühen Morgen das letzte Abifest verlassen hatten, kam von der Straße ab und stürzte in die steilste Schlucht des Landkreises. Noch bevor das Auto unten aufprallte, fing es Feuer. Später konnten nur noch verkohlte, entstellte Leichen geborgen werden.
Als er jetzt nach unten blickte, sah er tief unten ein Auto lichterloh brennen. Der Fahrer, der mehr als 12.000 Kilometer zurückgelegt hatte, um an diesen Ort zurückzukehren, hatte sein Geheimnis mit ins Grab genommen.
ZWEI
„Fidschi, Du siehst aus wie eine lebendige Leiche“, sagte Polizeiinspektor Karl Adam, der den Lokalchef der hiesigen Tageszeitung, Bernhard Fritsch, seit ewigen Zeiten kannte. Der Spruch war nicht witzig gemeint, sondern eher eine Feststellung. „Hier, nimm einen Schluck Kaffee zum Aufwärmen.“
„Kann ich endlich nach Hause fahren?“, fragte Fritsch zurück, bibbernd, frierend, verdreckt von oben bis unten. Er hatte mit seinem Handy den Notruf gewählt und war dann die Böschung hinuntergeklettert, hatte sich im nassen Gras überschlagen und stand am Ende ohnmächtig und hilflos vor dem brennenden Wagen.
Nach 20 Minuten war die erste Polizeistreife zur Stelle, kurz darauf der Notarztwagen und etwas später die Feuerwehr. Bis die Spurensicherung aus Waldham und der Kommissar aus der Kreisstadt Gondorf gekommen waren, verging eine weitere Stunde. Jetzt war der Unfallort – oder war es ein Tatort? – mit einem Polizeiband gesichert, ein provisorisches Zelt diente als Unterschlupf vor dem prasselnden Regen.
Fritsch hatte den Streifenpolizisten gesagt, was er wusste. Jetzt stand er patschnass im Regen, nur die Digicam lag wohlbehalten und trocken im Rucksack. Zumindest um den Aufmacher für die morgige Ausgabe brauchte er sich keine Gedanken zu machen. Trotzdem wollte er weg von hier, so schnell wie möglich.
„Der Kommissar will noch mit Dir sprechen“, meinte Adam entschuldigend. „Aber es kann nicht mehr lang dauern.“
Kurz darauf kam tatsächlich Hauptkommissar Kurt Lange, ein kleiner Mann mit schütterem Haar auf sie zu. „Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen, Herr Fritsch?“, fragte der Kripochef, mit dem Fritsch bislang kaum zu tun gehabt hatte. Mord und Totschlag waren in Gondorf nicht gerade an der Tagesordnung.
„Es freut mich ja, dass der zuständige Mann mit der Presse spricht“, entgegnete Fritsch mit einem schwachen Lächeln. „Was soll denn der ganze Aufzug: Gehen Sie von Mord aus?“
„Die Fragen stelle ich, werter Lokalchef“, entgegnete Lange kurz angebunden. „Sie haben laut Polizeifunk um 8.03 Uhr einen Unfall gemeldet. Was haben Sie denn so früh am Morgen an dieser gottverlassenen Stelle gemacht?“
„Das hab' ich Ihren Kollegen bereits erzählt. Ich hatte am 8 Uhr oben an der Straße eine Verabredung. Weil ich zu früh dran war, hab ich bei der Kapelle im Wald noch eine Zigarette geraucht und plötzlich einen lauten Knall gehört. Dann bin ich sofort hierher gefahren und hab' das brennende Auto in der Schlucht gesehen. Den Rest kennen Sie.“
„Mit wem waren Sie denn verabredet?“
„Mit meinem alten Schulfreund Hans Schneider, der vor 20 Jahren nach Südamerika ausgewandert ist. Der wollte mich dringend sprechen und hat diesen Treffpunkt vorgeschlagen.“
„Fanden Sie das nicht seltsam?“
„Doch, aber bei einem Ferngespräch aus Buenos Aires bleibt nicht viel Zeit zum Diskutieren.“
„Und ist Ihr Freund gekommen?“
„Machen Sie Witze?“
„Haben Sie irgendetwas gehört oder gesehen, etwa ein anderes Auto, als Sie von der Kapelle zum Unfallort gefahren sind?“, hakte Lange nach.
„Nein, nichts.“
„Und Ihnen ist auch kein Fahrzeug entgegen gekommen?“
„Ich kann mich nur wiederholen: Ich habe nichts gesehen.“
Lange gab es auf: „Danke, das wär's fürs Erste. Fahren Sie erst mal heim zum Duschen und Umziehen. Ich möchte Sie aber bitten, heute Nachmittag aufs Revier zu kommen.“
„Vor 18 Uhr wird das nicht gehen, ich muss schließlich noch meine Arbeit machen“, wandte Fritsch ein. Lange nickte nur. „Ah, Herr Kommissar, noch eine Frage: Wissen Sie, wer im Wagen war?“, rief ihm Fritsch nach.
„Das sage ich Ihnen jetzt nicht als Reporter, sondern als Zeugen, der mit einem alten Bekannten verabredet war“, antworte Lange. Und nach einer Kunstpause fuhr er fort: „Wir haben im Wagen eine Leiche gefunden, total verkohlt und entstellt. Unsere Techniker konnten aber wenigstens das Nummernschild des Wagens rekonstruieren. Die Ermittlungen sind bereits angelaufen. Ich gehe davon aus, dass wir sehr bald sagen können, ob es sich bei dem Toten um Hans Schneider handelt.“
Fritsch sagte mehr zu sich selbst: „Hans Schneider und ich waren während der Schulzeit nicht gerade die besten Freunde. Wir hatten die letzten 20 Jahre keinerlei Kontakt. Aber dass jemand so endet, das wünscht man nicht mal seinem schlimmsten Feind.“
Jetzt wollte Lange doch noch etwas wissen: „Haben Sie irgendeine Ahnung, warum Schneider gerade Sie treffen wollte?“
„Nein, er hat mich nur um eines gebeten: Ich sollte keinem Menschen etwas sagen von dem Treffen. So, aber jetzt muss ich los.“
„Klingt interessant, was sie sagen“, rief ihm der Kripochef nach. „Denn wenn es kein Unfall war, dann sind Sie wohl der Hauptverdächtige.“
DREI
Beim Heimfahren erwachte der journalistische Jagdinstinkt von Fritsch. Was für eine Story, damit konnte er bei seinen Chefs in Waldham punkten und vermutlich auch Texte an die befreundete Boulevardzeitung in München verkaufen. Er sah die Schlagzeilen schon vor sich: „Tragödie wiederholt sich 20 Jahre später.“
Im selben Moment verfluchte er sich für seinen Egoismus. Was er im Laufe der Jahre zu einem Zyniker geworden, der nur noch an sein berufliches Fortkommen und an tolle Schlagzeilen dachte? Immerhin war gerade ein Mensch gestorben, vermutlich jemand, den er persönlich gekannt hatte, mit dem er gemeinsam zur Schule gegangen war. Spürte er keine Trauer?
Fritsch stellte überrascht fest, dass für dieses Gefühl offenbar kein Platz war. Er spürte vor allem Ärger. Ärger auf sich selbst, weil er zu spät gekommen war. Hätte er den Mord, den Unfall, den Selbstmord verhindern können, wenn er nicht geraucht hätte, wenn er fünf Minuten früher am Treffpunkt gewesen wäre? Dieser Gedanke nagte an ihm. Aber zu seiner Verblüffung spürte er auch leisen Ärger auf Hans Schneider. Hatte dieser ihm die Rolle als billigem Claqueur bei seinem Selbstmord zugedacht? War er nur als Zeuge vorgesehen, der darüber berichten konnte, dass Hans Schneider sich auf melodramatische Weise das Leben genommen hatte?
Als guter Journalist hatte Fritsch gelernt, Fakten herauszuarbeiten und die richtigen Fragen zu stellen. Die Fakten hatte er schnell durch. Hans Schneider – wer sonst sollte an einem regnerischen Sonntagmorgen an diesen gottverlassenen Ort gekommen sein? – lag tot in seinem Wagen in der Schlucht. Viel wichtiger waren die Fragen: Warum war Schneider nach 20 Jahren zum ersten Mal aus Südamerika zurückgekehrt? War wirklich nur das Klassentreffen, zu dem er ihn eingeladen hatte, der Grund? Warum hatte er ausgerechnet ihn treffen wollen? Und warum lag er jetzt tot in der Schlucht? Wer es ein Unfall, Selbstmord oder Mord?
Auf der Straße Richtung Kreisstadt ging er die Topographie des Tatorts im Geiste durch. Es gab zwei Wege zu der Stelle, an der der Unfall – oder das Verbrechen – passiert war. Den einen Weg, runter von der Kreisstraße, durch den Wald und an der Kapelle vorbei bis zum höchsten Punkt, an dem der Wald aufhörte, hatte er genommen. Der andere Weg führte durch mehrere Dörfer, das letzte davon Hinkofen, und schließlich durch eine S-Kurve steil hinauf zu der Bank.
Nachdem er bei der Rauchpause an der Kapelle keine Autos gehört hatte, musste Schneider entweder vor ihm gekommen sein oder den anderen Weg genommen haben. Dafür sprach auch, dass dies die kürzere Strecke von der Autobahn aus war. Auf diesem Weg kam man auf dem Steilstück an einem verlassenen Gehöft vorbei, das vor 20 Jahren noch bewohnt war. Weil dieser Bauernhof aber in einer Senke lag, hatten die Bewohner damals nichts gehört von dem Unfall und hätten auch dieses Mal nichts gehört. Aber es lebte eh niemand mehr auf dem Hof.
Vor 20 Jahren hatte es viel Geschrei um die Sicherheit auf der „Todesstrecke“ gegeben. Man hatte verlangt, die Stecke in der steilen S-Kurve und oben auf dem kleinen Hochplateau durch dicke Leitplanken zu sichern. Fritsch hatte damals die Diskussion genau verfolgt. Schließlich ließ die Polizei sogar durch Studenten eine Verkehrszählung durchführen. 14 Fahrten pro Woche wurden gezählt, an einem Tag waren 4 Autos unterwegs, das war Rekord. An zwei Tagen war überhaupt kein Verkehr. Deshalb beließ es die Polizei dabei, ein großes Gefahrenschild aufzustellen und Tempo 30 rund um die gefährliche S-Kurve zu verhängen.
Auf der Anhöhe, bevor es die S-Kurve hinunterging, gab es seit 20 Jahren einen kleinen Parkplatz, eine Bank und ein Kreuz. Die Bank und das Kreuz hatten die Eltern der drei tödlich Verunglückten vor 20 Jahren gestiftet. An dieser Stelle hätte das Treffen zwischen Fritsch und Schneider stattfinden sollen,
Nach dem schrecklichen Unfall wurde die Hütte im Wald für einige Jahre von den Einheimischen gemieden. Für kurze Zeit kam sie dann in der Gothic-Szene in Mode, die dort so eine Art Schwarze Messen feierten. Durch strenge Kontrollen der Polizei wurde den Punks aber der Spaß an diesen Festen genommen.
Als Fritsch zum 15. Jubiläum eine Geschichte über die damaligen Ereignisse schrieb, hatte er die Hütte durch ein dickes Schloss gesichert vorgefunden. Das Ganze machte einen unbenutzten und leicht verfallenen Eindruck. Daran dürfte sich in den letzten fünf Jahren nichts geändert haben. Als Fritsch all diese Punkte in seinem Kopf durch ging, spürte er plötzlich einen gewaltigen Adrenalinstoß: Alles sprach für Mord – zumindest dieses Mal. Der Anruf bei Clarissa musste wohl noch einen Tag warten.
VIER
Eine halbe Stunde später fuhr Kommissar Lange dieselbe Strecke. Er war guter Laune, ihm gefiel, was er sah – hügeliges Land, dünn besiedelt, viel Wald, wenige Verbrechen. Er hatte die Stelle in Gondorf erst vor einem Monat angetreten. Davor hatte er bei der Mordkommission in München gearbeitet, kein leichter Job, bei dem er am Ende zwei Mal in Lebensgefahr geraten war. Außerdem hatte es Ärger mit der internen Aufsicht gegeben, weil er eine junge Drogenabhängige recht hart angefasst hatte. Der Vorwurf der sexuellen Belästigung war aber schnell fallen gelassen und nicht in seine Akte aufgenommen worden.
Seine Frau hatte ihm klar gemacht, dass sie die Scheidung einreichen würde, wenn keine entscheidende Veränderung in ihrem Leben eintreten würde. Also hatte er sich für die frei gewordene Stelle als Kripochef in Gondorf beworben und zu seiner Überraschung diesen Posten auch bekommen. Er machte sich aber nichts vor: Die Stelle in der Provinz hatte vermutlich kaum Bewerber angelockt.
Aber er und seine Frau hatten sich den Ort angesehen. Da gab es ein schmuckes Gymnasium für seine beiden Töchter, die Preise für Häuser und Grundstücke waren ein Scherz im Vergleich zu München. Auch ohne Zulagen kamen sie in Gondorf mit seinem Gehalt deutlich besser zurecht. Und die kriminelle Szene war ebenfalls eher provinziell.
Pro Jahr passierten im Schnitt 2 bis 3 Morde, in der Regel Raubmorde oder Eifersuchtsdramen, die schnell aufzuklären waren. Die meisten Toten waren im Straßenverkehr zu beklagen. Probleme bereiten die ca. 150 Russlandaussiedler, speziell deren arbeitslose Söhne, und die Bewohner der drei Asylbewerberheime. Die Zahl der schweren Körperverletzungen war in den letzten Jahren deutlich angestiegen, aber auch hier war die Aufklärungsquote hoch. Die Drogenszene spielte sich im Umkreis von zwei, drei Lokalen ab. Wer an harte Sachen rankommen wollte, machte sich auf den Weg nach München. Dazu gab es noch zwei Bordelle und einige Nachtclubs im Landkreis. Die Prostituierten stammten meist aus Tschechien, aber so ganz genau wollte Lange das gar nicht wissen. Solange es in diesem Bereich keine Anzeigen oder ernsthafte Delikte gab, sah er keinen Grund zum Einschreiten oder für Razzien.
Nein, was er sah, gefiel ihm. Er hatte den Ortsrand von Gondorf erreicht, einer liebenswerten Kleinstadt mit rund 15.000 braven Bürgern. So sah es zumindest bislang aus. Dass der neue Fall Schlagzeilen machte würde, war Lange klar. Und er erkannte seine Chance. Wenn er den Fall aufklären und möglicherweise neues Licht in die Ereignisse von vor über 20 Jahren bringen konnte, würde sein Prestige in der Dienststelle und bei seinen Vorgesetzten gewaltig steigen. Von diesen Lorbeeren könnte er lange zehren. Diese Chance wollte sich Lange nicht entgehen lassen und vor allem keine Fehler machen. Voller Tatendrang sprang er aus dem Wagen und ging energisch Richtung Polizeirevier
FÜNF
„Hey Chef, Sie sollen dringend in der Zentrale anrufen. Und überhaupt, wie sehen Sie denn aus?“, so begrüßte seine Sekretärin Monika Meier Fritsch in der Redaktion.
„Die Körperpflege kann warten, machen wir schnell eine Mini-Konferenz in meinem Büro“, entgegnete er. Fünf Minuten später warteten die Mitarbeiter des Gondorfer Tagblatts gespannt auf den Bericht ihres manchmal doch recht sonderbaren Chefs. Nachdem sie Tipps von der Feuerwehr und der Polizei über das Unglück bei Hinkofen bekommen hatte, in das der Redaktionsleiter offenbar höchstpersönlich verwickelt war, hatte die Sekretärin die gesamte Mannschaft des Tagblatts in die Redaktion gerufen.
„Schön, dass Ihr alle da seid. Wir haben einiges zu besprechen. Die ganze erste Seite übernehme ich“, so eröffnete Fritsch die Runde. „Bei Hinkofen hat es einen Toten gegeben, der in seinem Auto verbrannt ist. Ob es sich um einen Unfall, um Selbstmord oder Mord handelt, ist noch ungeklärt. Ich habe klasse Fotos von der Geschichte und dann gibt’s da noch den Sidekick mit der Tragödie vor 20 Jahren. Irgendwie könnten die beiden Fälle sogar zusammenhängen. In der Story steckt so viel Brisanz, dass sie auch für die nächsten Tage noch einiges hergibt. Karl, könntest Du meine Termine für diese Woche übernehmen? Susi und Anne sollen Dich dafür bei Deinen Sachen entlasten.“
Karl hieß mit vollem Namen Karl Anderl und war Fritsch' Stellvertreter. Ansonsten gab es in der Redaktion noch Tim Schlachta, der hauptsächlich für Sport zuständig war, sowie jede Menge freie Mitarbeiter und Praktikanten. Zu denen zählten Susi und Anne, die gerade ihr Abitur gemacht hatten und derzeit mit viel Geschick in der Redaktion mithalfen. Die Redaktionssekretärin Monika Meier war ebenfalls in die tägliche Redaktionsarbeit eingebunden, vor allem jetzt, da der Volontär Urlaub hatte.
„Was für eine Geschichte“, seufzte Karl Anderl, der seit mehr als 30 Jahren für das Tagblatt arbeitete und äußerst zuverlässig war. Außerdem war er – was noch wichtiger war – loyal gegenüber seinem deutlichen jüngeren Chef Fritsch. Vor dessen Berufung hatte Anderl kommissarisch einige Zeit die Redaktion geleitet und dabei mitbekommen, wieviel Druck und Ärger die Zentrale in Waldham machen konnte, wenn aus deren Sicht ein Fehler passiert war oder eine Geschichte verschlafen worden war.
Immer mehr Seiten täglich produzieren mit immer weniger Mitarbeiter – diese Devise des Verlegers war nicht Anderls Sache. Die Rolle als stellvertretender Lokalchef, die zumindest einigermaßen geregelte Arbeitszeiten bot, reichte für seinen Ehrgeiz vollkommen. Er gönnte seinem Chef das Prestige und das höhere Gehalt, die mit einer Vielzahl von Überstunden und zermürbenden Scharmützel mit der Zentralredaktion in Waldham erkauft waren.
Aber heute hatten die Schnösel in Waldham nichts zu meckern. „Habt's was für uns?“, hatten die lieben Kollegen bereits dreimal gefragt. Und bei jedem Anruf hatten sie unfreundlicher geklungen. Gleich würde der Chef zurückrufen und einen Knaller für den überregionalen Teil ankündigen, vermutlich den Aufmacher für den Bayern-Teil samt Meldung auf Seite 1: Mord oder Unfall? – Todesstrecke fordert nach 20 Jahren weiteres Todesopfer!
„Bleib Du an der Sache dran, ich erledige den Rest“, sagte Anderl zu Fritsch. „Ich hab' die Woche eh' nichts besonders vor. Und mit den beiden klasse Nachwuchstalenten Susi und Anne macht die Sache ja richtig Spaß.“ Bei diesem Lob erröteten die beiden 19-jährigen Praktikantinnen und bekräftigten, dass sie ihrem Chef in den nächsten Tagen gern alle Routinearbeiten abnehmen würden.
„Danke, Ihr seid ein tolles Team“, freute sich Fritsch. „Wenn der Fall geklärt ist, lade ich Euch alle zu einem Arbeits-Abendessen ein. Damit ist alles klar: Karl übernimmt für die nächsten Tage die Leitung der Redaktion, ich bin so eine Art Sonderermittler. Lasst uns an die Arbeit gehen. Ich mache noch einige Anrufe, danach brauche ich zwei Stunden ohne Störungen, um den Aufmacher für morgen zu schreiben. Und danach muss ich noch zum Verhör beim Kripochef.“
Ganz oben auf der Liste von Fritsch standen Anrufe in der Zentrale, die wie erwartet einen großen Bericht für den überregionalen Teil bestellte, und bei der tz in München, die ebenfalls einen Bericht samt 2 Fotos wollte – gegen gutes Honorar versteht sich.
Danach rief Fritsch bei der Gondorfer Polizei an, um die Version der Kripo zu dem Fall zu erfahren. Die Gespräche mit Georg Grundner, dem offiziellen Sprecher der Polizei im Landkreis, gehörten zur täglichen Routine der Pressearbeit. Grundner gab sich dieses Mal aber recht zugeknöpft. Die offizielle Sprachregelung, Stand Sonntag, 14.30 Uhr, lautete: „Unfall bei Hinkofen mit Todesfolge, Identität des Opfers noch nicht geklärt, Kripo hat Ermittlungen aufgenommen.“ Etwas anderes hatte Fritsch zu diesem Zeitpunkt auch nicht erwartet.
Bevor er sich ans Schreiben machte, wollte er noch etwas in privater Sache erledigen. Renate oder Gerti? Beide – Renate Amter und Gerti Grünthaler – waren ehemaligen Schulfreundinnen, mit denen Fritsch eine Freundschaft und ab und an auch mehr pflegte. Das Läuten des Telefons ersparte ihm weitere Überlegungen. „Stimmt das mit dem Unfall in Hinkofen?“, frage eine aufgeregte Renate Amter. Die Kunde von dem tragischen Ereignis hatte in Gondorf offenbar schon die Runde gemacht.
„Ja, und wie es aussieht, saß Hans Schneider in dem Auto, das von der Straße abgekommen und verbrannt ist. Du Renate, hör zu: Ich bin gerade erst in die Redaktion zurückgekommen und hab einen Haufen Arbeit vor mir. Hättest Du Lust, dass wir uns heute Abend im Venezia treffen und die ganze Sache in Ruhe besprechen?“
„Das ist ja der Hammer. Ja, das mit heute Abend passt mir gut. Ich wollte die Kids eh' zur Oma bringen.“
Bei diesen Worten spürte Fritsch ein leichtes, wohliges Ziehen zwischen den Beinen. Sein letzter Sex war schon eine ganze Weile her. Auch wenn seine alte Schulkameradin die Geschichte mit der Oma ganz geschäftsmäßig erzählt hatte: Sie waren beide keine Kinder mehr, das war zwischen den Zeilen eine versteckte Einladung. Sie würden über den Fall diskutieren, von alten Zeiten reden, gut essen und trinken. Und hinterher hatte Fritsch nicht vor, allein in seinem Bett zu schlafen.
„Klasse Renate. Ich muss noch um 18 Uhr zur Polizei. Passt Dir 20 Uhr in der Pizzeria?“
„Geht klar, bis heut Abend“, sagte Renate und legte auf. Und Fritsch öffnete gut gelaunt das Redaktionssystem auf seinem PC und haute in die Tasten.
SECHS
Kripochef Lange hatte keine Zeit verloren. Nach einem kurzen Gespräch mit Dienststellenleiter Josef Steininger berief er seine wichtigsten Mitarbeiter zu einer Sitzung ein. Neben Lange und Steininger nahmen sein Stellvertreter Johann Hirtreiter, der Kripoinspektor Karl Adam, Georg Grundner, der den Kontakt zu den Medien halten sollte, sowie der Polizeitechniker Timo Manzinger an dem Treffen teil.
„Bevor ich das Wort an Hauptkommissar Lange übergebe, möchte ich klarstellen, dass dieser Fall bis auf weiteres oberste Priorität genießt“, eröffnete Dienststellenleiter Steininger das Treffen. „Für jeden, der an dieser Sitzung teilnimmt gilt, dass alle anderen Fälle abgegeben werden bzw. später behandelt werden. Außerdem gehe ich davon aus, dass wir aus München Verstärkung bekommen und dann eine SOKO Hinkofen bilden werden.“
Kripochef Lange hatte einen Notizzettel, auf dem er die wichtigsten Punkte der Ermittlungen notiert hatte, in seinen Händen. Ganz oben auf der Liste stand mit Großbuchstaben: WER IST DER TOTE?
Er räusperte sich kurz, dann ergriff er das Wort: „Liebe Kollegen, im Frühstadium einer Ermittlung ist es entscheidend, die Fakten lückenlos zu ermitteln. Für Vermutungen und Hypothesen ist später Zeit. Die wichtigste Frage ist: Wer ist der Tote? Handelt es sich wirklich um Hans Schneider, der nach 20 Jahren nach Gondorf zurückgekehrt ist? Aufgrund des Zustands der Leiche brauchen wir so schnell wie möglich alle Informationen, die uns bei der Identifizierung weiterhelfen können: besondere Merkmale, Operationen, Aufnahmen des Zahnarztes vom Gebiss, etc. Daraus ergibt sich die Frage: Wer könnte sonst das Opfer sein? Gibt es Personen, die im Landkreis Gondorf oder in ganz Bayern als vermisst gemeldet worden sind? Nach den ersten Angaben des Arztes handelt es sich um eine männliche Leiche, eher schlank, ca. 1,80 m groß, im Alter zwischen 30 und 50 Jahren. Zum 1. Punkt, Identifikation der Leiche, noch Fragen oder Anmerkungen?
Karl Adam hakte ein: „Die Vermisstenliste für Bayern habe ich gerade durchgesehen. Da herrscht Fehlanzeige bis auf drei weibliche Jugendliche, die ja wohl nicht in Frage kommen.“
„Danke, Herr Kollege“, kommentierte Lange. „Um nicht wichtige Zeit zu verlieren, sollten wir also bei den Ermittlungen davon ausgehen, dass es sich bei der Leiche um Hans Schneider handelt. Das wirft eine Unmenge von weiteren Fragen auf. Fangen wir mit den Punkten an, die wir abhaken können: Wann ist Hans Schneider in Deutschland angekommen? Ist er vom Zoll / von der Polizei bei der Einreise kontrolliert worden? Was hat er gemacht zwischen seiner Ankunft und Sonntag, 8 Uhr morgens, der ungefähren Tatzeit? Hatte er ein Handy? Hat er mit jemanden gesprochen, hat er jemanden getroffen? Wie ist da der Stand, Kollege Hirtreiter?“
„Ich hab mich gleich nach Ihrem Anruf vom Tatort an die Sache drangesetzt. Nach Auskunft der Lufthansa ist ein Hans Schneider am Samstagabend um 19.35 Uhr am Flughafen München angekommen, mit dem Flug LH 9369 von Buenos Aires nach München. Die Kollegen vom Grenzschutz und vom Zoll haben keine besonderen Vorkommnisse mit den Passagieren dieses Fluges gemeldet. Ich habe die Kollegen am Flughafen aber gebeten, mit den Beamten, die die Personenkontrolle der Passagiere übernommen hatten, zu sprechen, ob ihnen etwas aufgefallen ist.
Die Anfragen bei den Autovermietungen haben ergeben, dass ein Hans Schneider am Sixt-Stand laut Rechnung von gestern, 20.45 Uhr, einen schwarzen Ford Fiesta für eine Woche gemietet hat. Die Vermietung wurde über die Kreditkarte – einer American Express – von Schneider abgewickelt. Der Wagen war voll aufgetankt. Nach Auskunft des Betreuungspersonals von Sixt hat der Wagen die Sixt-Niederlassung um 21.05 verlassen. Die Angestellten, die am Schalter und bei der Auslieferung mit der betreffenden Person zu tun hatten, haben um 14 Uhr wieder mit ihrem Dienst begonnen.“
„Das mit dem Wagen ist eine wichtige Übereinstimmung. Ich möchte, dass Sie nach Ende der Besprechung sofort zum Münchner Flughafen fahren und mit allen sprechen, die mit Herrn Schneider zu tun hatten“, nahm Kripochef Lange den Ball auf. „Ich werde mit meinen alten Kollegen in München sprechen, damit sie Ihnen einen Zeichner zum Lufthansa-Schalter schicken. Wir brauchen ein Phantombild von Schneider. Wenn Sie dieses Bild haben, klappern sie alle Geschäfte im Flughafen ab. Wir dürfen auch die Flugbegleiter und Stewardessen nicht vergessen. Finden Sie heraus, wer auf dem Flug Dienst hatte und bestellen Sie die betreffenden Personen ebenfalls an den Flughafenschalter. Jede Information ist wichtig: Wie wirkte Herr Schneider – traurig, verzweifelt, aufgedreht? Machte er einen lebensmüden Eindruck?
Kollege Adam, nehmen Sie sich alle Hotels und Pensionen im Umkreis des Flughafens bzw. auf der Strecke nach Gondorf vor. Vielleicht hat Schneider ja die Nacht in einem Bett verbracht und gerade gefrühstückt, als wir ihn tot in der Schlucht vermutet haben. Wir müssen auf jeden Fall lückenlos klären, was Schneider nach seiner Ankunft in Deutschland gemacht hat.
Nachdem Sie in Gondorf aufgewachsen sind, können Sie uns erzählen, was Sie über Schneider wissen?“
Adam räusperte sich, blickte auf seine Aufzeichnungen und berichtete, dass Schneider vor 20 Jahren gleich nach dem Abitur nach Paraguay gegangen war, um für ein Jahr an einem Forstprojekt der Kirche mitzuarbeiten. Von diesem Aufenthalt kam Schneider all die Jahre nie zurück. Nach dem freiwilligen Jahr nahm er eine Stelle bei einem großen Forstunternehmen an, dessen Besitzer deutschstämmig war. Das waren die Geschichten, die ehemalige Klassenkameraden von Schneider in Gondorf erzählten. Was Schneider die letzten Jahre gemacht hatte, darüber hatte Adam keine Informationen.
Lange übernahm wieder: „Aus meiner Kripozeit in München kenne ich einen Kollegen, der für ein Jahr im Austausch in Buenos Aires gearbeitet hat. Diesen spanisch sprechenden Kollegen habe ich gebeten, über die Polizei in Asuncion und wenn nötig mit Hilfe von Interpol Kontakt zu den Angehörigen von Schneider in Paraguay aufzunehmen. Ich hoffe, dass wir so schnell wie möglich Informationen über Schneider bekommen und seine Krankenakte, vor allem die Unterlagen von seinem Zahnarzt. Das könnte bei der Identifizierung unserer Leiche sehr hilfreich sind. Und falls Schneider verheiratet war, dann hoffe ich, dass seine Frau so schnell wie möglich herüberkommt.
Damit sind wir bei der 2. entscheidenden Frage: Unfall, Selbstmord, Mord? Erste Auskünfte gibt hoffentlich der vorläufige Bericht der Spurensicherung, den wir bis heute Abend bekommen. Noch steht nicht fest, ob es Mord war und ob dieser Mord mit Vorkommnissen in der Vergangenheit zu tun hat.
Wir dürfen im Frühstadium der Ermittlungen andere Alternativen nicht ausschließen. Eine Möglichkeit wäre, dass die Ehefrau hinter der Tat steckt und deshalb ihrem Mann einen Killer nachgeschickt hat. Es könnte natürlich auch sein, dass Schneider berufliche Probleme hatte. Man hört da ja einiges von so einer Art Holzmafia im südamerikanischen Dschungel. Vielleicht war die Rückkehr nach Deutschland eine Art Flucht. Wichtig ist deshalb, dass wir alle Personen überprüfen, die mit Schneider nach Deutschland geflogen sind. Ich habe dazu Kontakt mit dem Landeskriminalamt aufgenommen und gebeten, dass sie uns unterstützen. Wobei ich die Liste der zu überprüfenden Personen auf ein bis zwei Tage vor der Ankunft Schneiders ausdehnen möchte. Genauso werden der Grenzschutz und das LKA in den nächsten Tagen ein Auge auf Südamerikaner werfen, die Deutschland wieder verlassen wollen – vor allem, wenn sie nur ganz kurz hier waren.“
„Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt“, warf Adam ein. „Ein Killer aus der Pampa, der in Hinkofen einen als Unfall getarnten Mord begeht.“ Lange konterte: „Wenn ein Profikiller am Werk war, dann dürfte er sehr schnell erkannt haben, dass es auf der ganzen Welt kaum einen besseren Ort für einen perfekten Mord gibt als Hinkofen. Aber über den Tatort kann uns Kollege Manzinger mehr sagen.“
„Wer die Stelle kennt, der weiß, dass ein Wagen, der auf der Anhöhe von der Straße abkommt, nicht einfach in die Tiefe stürzt“, so der Polizeitechniker. „Nach etwa 15 Meter freiem Fall prallt der Wagen auf einen gewaltigen Felsvorsprung auf. Ganz unabhängig davon, wie schnell der Wagen unterwegs war, dieser Aufprall ist sozusagen für das Auto und die Insassen tödlich. Dabei bricht man sich buchstäblich alle Knochen und der Tank wird in seine Einzelteile verlegt. Bis der Wagen dann unten in der Schlucht ankommt, überschlägt er sich mehrmals und fängt noch im freien Fall zu brennen an.“
„Ist jedem im Raum die Tragweite dieser Worte bewusst?“, fragte der Kripochef. „Ob ein Insasse schon tot war, bevor das Feuer ausbrach, oder ob der Tote schwere Verletzungen, die von einem Schlag herrühren könnten, aufweist, beweist in diesem Falle gar nichts. Verletzungen aller Art können mit dem Aufprall des Wagens auf den Felsvorsprung erklärt werden. Wenn ein Toter nicht Schussverletzungen aufweist oder nachweisbar ist, dass er gefesselt war, sind keinerlei stichhaltige Indizien für ein Verbrechen zu erwarten. Um es klar zu sagen: Wer einen perfekten Mord plant, ist an der Bergkuppe in Hinkofen an der richtigen Stelle. Man schlägt das Opfer nieder, setzt es an der Fahrerseite so in das Auto, dass das Lenkrad geradeaus zeigt und blockiert ist, lässt den Wagen an, löst die Handbremse, klettert schnell aus dem Auto, schließt die Tür, gibt dem Wagen noch einen Schubs – und Tschüss...“
„Nach dieser Besprechung fahre ich zurück an den Tatort“, sagte Manzinger. „Wir werden Tests mit ein paar Schrottautos machen. Dann können wir hoffentlich genauer sagen, ob es sich um einem Unfall oder ein Verbrechen handelt.“
„Klingt gut, ich wünsche Ihnen viel Erfolg“, sagte Kripochef Lange. „Nehmen Sie zwei Streifenbeamte mit, die sollen sich in Hinkofen umhören, ob irgendjemand heute Morgen etwas beobachtet hat. So, ich denke, wir haben das Wichtigste besprochen und die Aufgaben verteilt. Wenn nichts Gravierendes passiert, treffen wir uns morgen früh um 8.30 Uhr wieder. Außerdem verteile ich noch Kopien von dem Polizeibericht über den Unfall vor 20 Jahren an exakt derselben Stelle – wenn es denn ein Unfall war.“ Lange hatte die Akten intensiv durchgeackert, wollte sich von Fritsch aber dennoch nochmals erzählen lassen, was vor 20 Jahren passiert war.
SIEBEN
Fritsch ging recht zufrieden mit sich die paar Schritte zum Polizeirevier. Die morgige Ausgabe des Gondorfer Tagblatts war aus seiner Sicht im Kasten. Seine Aufmachergeschichte würde Tagesgespräch im Ort sein. Auch im überregionalen Teil war er vertreten und für den großen Bericht in der tz hatte er 500 Euro kassiert. Bad news are good news. Mit verbrannten Leichen ließ sich Auflage und Kohle machen. Rein beruflich betrachtet konnte er mit dem Geschehen zufrieden sein. Und jetzt war er gespannt auf das Gespräch mit dem Kripochef.
Neben den vielen Vereinen ist die Polizei der wichtigste Informant für einen Lokaljournalisten. Deshalb hatte Fritsch von Beginn an auf enge Kooperation und nicht auf Konfrontation gesetzt. Soweit er es beurteilen konnte, arbeitete die Gondorfer Polizei im Landesdurchschnitt gesehen durchaus erfolgreich. Die Aufklärungsquote war hoch, der Umgang mit den Bürgern in der Regel okay. In zwei, drei Fällen hätte der Lokalchef die Polizei an den Pranger stellen können, doch er hatte darauf verzichtet. Ein guter Journalist weiß mehr als er schreibt, war seine Devise.
Bei den Beamten der Dienststelle Gondorf kam dieser Kurs gut an. Mit dem Sprecher Georg Grundner pflegte er ein herzliches Verhältnis. Karl Adam kannte er aus seinen Kindertagen. Adam war einige Jahre älter als er, aber sie waren trotzdem immer gut miteinander ausgekommen. Zu Dienststellenleiter Steininger hatte er ein distanzierteres Verhältnis, aber das war von beiden Seiten so gewollt. Nur Kripochef Lange war bislang ein unbeschriebenes Blatt, einfach weil er erst seit kurzem in der Stadt war.
Fritsch war sich klar darüber, dass er in diesem Fall nicht nur recherchierender Journalist war, sondern als Zeuge, und womöglich sogar als Verdächtiger, mitten drin war im Geschehen. Auf einen Anruf bei einem Anwalt hatte er trotzdem verzichtet.
„Schön, dass Sie kommen konnten“, so empfing ihn Kripochef Lange.
„Lassen Sie uns mit offenen Karten spielen“, fuhr er fort, nachdem beide in Langes Büro Platz genommen hatten. „Dies ist kein Verhör, sondern ein Vier-Augen-Gespräch. Ich hab' mich in der Dienststelle über Sie erkundigt. Sowohl der Dienststellenleiter als auch Ihr alter Bekannter Adam legen die Hand für Sie ins Feuer. Sie werden als intelligent, vertrauenswürdig und kooperativ geschildert. Und Sie müssten entweder ziemlich dämlich oder unglaublich gerissen sein, wenn Sie den Heimkehrer Hans Schneider bei dem Treffen in Hinkofen umgebracht hätten. Wenn Sie jetzt noch ein Alibi vorweisen könnten, wäre jeder Tatverdacht vom Tisch.“
„Ich kann ihnen erzählten, was ich heute Morgen gemacht hatte“, antwortete Fritsch. „Um pünktlich bei dem Treffen um 8 Uhr zu sein, hatte ich mir vorgenommen, gegen 7.30 Uhr loszufahren. Man braucht 15 bis 20 Minuten von meiner Wohnung zum Treffpunkt und ich hab es mir zur Regel gemacht, bei wichtigen Terminen etwas früher dran zu sein, um noch ungestört eine Zigarette rauchen zu können. Nicht unbedingt, weil ich solch ein Süchtling bin, sondern weil eine Zigarette mir dabei hilft, mich auf die kommende Situation zu konzentrieren.
Deshalb hab ich den Wecker auf 6 Uhr gestellt, bin kurz unter die Dusche und hab mir einen Kaffee gemacht. Dafür gibt es keine Zeugen, weil ich allein lebe. Gegen 6.45 Uhr bin ich mit Blink, meinem Hund, eine Runde Gassi gegangen. Das ist für mich als Journalisten ziemlich früh und deshalb sind uns im Stadtpark zwei Hunde begegnet, die mein Blink nicht leiden kann. Ich denke, die betreffenden Frauchen, Frau Hierl und Frau Lüttgen, können das bestätigen. Das Treffen mit Frau Lüttgen war nämlich eher unfreundlich. Die Gute hatte ihren Köter nicht angeleint und hat mich dann noch angepflaumt, was ich so früh hier treibe, als ihr Hund auf meinen Blink losgegangen ist.
Ich denke, Frau Lüttgen ist meine beste Zeugin, auch wenn sie ihnen vermutlich sagen wird, dass sie einem unfreundlichen, arroganten Kerl wie mir jeden Mord zutraut. Nachdem kurz darauf die Stadtpfarrkirche geläutet hat, müsste dieses Treffen kurz vor 7 Uhr stattgefunden haben. Mit Blink war ich so gegen 7.15 Uhr wieder daheim. Dann musste ich kurz auf die Toilette und dem Hund Fressen geben. Anschließend hab ich noch einen Kaffee getrunken und war, das weiß ich noch, recht stolz auf mich, dass ich, wie ich es mir vorgenommen hatte, um genau 7.30 Uhr die Wohnung verlassen habe.
Bei der Fahrt zum Treffen mit Schneider ist mir nichts aufgefallen. Und weil ich wie gewünscht früh dran war, hab ich bei der Kapelle im Wald noch angehalten. Dort habe ich niemanden gesehen. Das ist alles, was ich an Alibi zu bieten habe. Ich hätte also auch die Strecke durchfahren können und gerade noch Zeit gehabt, Hans Schneider zur Begrüßung niederzuschlagen und ihn mit seinem Wagen zur Hölle zu schicken. Aber, ehrlich gesagt, gehört es nicht zu meinen morgendlichen Gewohnheiten, Menschen zu töten.“
Nach diesem langen Monolog sah Fritsch Lange erwartungsvoll an. Der Kripochef hatte bislang keine Miene verzogen. „Nun ja, ein perfektes Alibi sieht anders aus, aber was Sie erzählen, klingt glaubwürdig und überzeugend. Wir werden mit der betreffenden Dame sprechen. Wenn es Ihnen recht ist, bitte ich zwei Streifenpolizisten herein. Ich habe hier einen genauen Plan der Kapelle. Zeigen Sie doch den Beamten, wo Sie geparkt haben und was Sie dann gemacht haben. Es wäre natürlich ideal, wenn die Kollegen Ihre Kippe finden könnten.“
„Klingt gut“, antworte Fritsch und vertiefte sich in die Landkarte, während die beiden Polizisten hereinkamen. „Ich hab hier geparkt“, dabei deutete Fritsch auf den Plan, „und bin dann diesen kleinen Feldweg entlang gegangen. Nach ca. 50 Metern bin ich stehengeblieben und habe die Umgebung auf mich wirken lassen. Nach dem Knall hab ich die Zigarette in die Büsche geworfen, wenn ich mich recht erinnere mit Blick auf die Kapelle. Die Kippe müsste also hier zu finden sein“, sagte Fritsch und machte mit einem Stift einen Kreis um die Stelle.
„Bevor Ihr losfahrt, ruft bitte bei Frau Lüttgen an und fragt sie, ob Ihr kurz bei ihr vorbei kommen könnt“, sagte Lange zu den Beamten. „Fragt sie, ob sie sich an eine unliebsame Begegnung mit Herrn Fritsch und seinem Hund heute Morgen im Stadtpark erinnern kann. Danach fahrt bitte zur Kapelle.“
Lange wartete, bis die Streifenpolizisten die Tür geschlossen hatte, dann wandte er sich wieder Fritsch zu:
„Wer wusste von dem Treffen mit Schneider?“
„Ich hab keinem davon erzählt“, entgegnete Fritsch. „Um Ihren Fragen zuvor zu kommen. Ich habe am Freitagnachmittag daheim einen Anruf von Schneider bekommen. Weil ich so überrascht war, hab ich hinterher auf die Uhr gesehen. Da war es eine Minute nach 18 Uhr. Ich hab kein Tonband laufen lassen, aber weil das Gespräch recht kurz war, kann ich es ziemlich genau wiedergeben.
„Hallo Fidschi, hier Hans Schneider aus Buenos Aires, kannst Du mich hören.“
„Ja klar Hans. Wahnsinn, wie geht’s Dir?
„Bitte Fidschi, hör gut zu! Ich komme nach Gondorf. Ich möchte Dich am Sonntag um 8 Uhr bei Hinkofen treffen – oben auf dem Berg. Kannst Du kommen?
„Ja, natürlich. Aber willst Du nicht zu mir nach Hause kommen. Ich wohne...“
„Bitte Fidschi, ich hab wenig Zeit. Lass uns am Waldrand treffen. Und ganz wichtig: Sag bitte niemanden etwas von unserem Gespräch, keinem Menschen. Hast Du verstanden?
Ja, ich sag nichts.“
„Gut, dann bis Sonntagmorgen. Ich muss jetzt Schluss machen. Servus und Danke!“
„Und dann hat er auch schon wieder aufgelegt. Schon seltsam für das erste Lebenszeichen nach 20 Jahren – finden Sie nicht?“
„Das können Sie laut sagen“, antworte Lange, der gespannt zugehört hatte. „Was waren Ihre ersten Gedanken?“
„Klingt wahrscheinlich makaber. Aber mein erster Gedanke war: Immer noch der alte Schnösel. Ich hab' Ihnen ja schon heute Morgen erzählt, dass Schneider und ich nicht gerade die besten Freunde waren. Dass er mich am Telefon einfach „Fidschi“ genannt hat, hat mich überrascht. Meinen Nachnamen als Spitznamen benutzen eigentlich nur meine Freunde. Schneider hat mich früher eher mit meinem Vornamen, also Bernhard, angeredet. Schon seltsam, was einem so durch den Kopf geht.“
„Haben Sie seine Stimme wiedererkannt?“
„Ehrlich gesagt nein, aber ich bin mir nicht mal sicher, ob ich seine Stimme wiedererkennen würde, wenn er hier im Raum sitzt. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Es gibt zwei, drei Frauen, die mir wichtig sind, da erkenne ich die Stimmen auch nach längerer Zeit sofort wieder, da wird wohl eine bestimmte Saite im Inneren angesprochen. Bei Männerstimmen ist das anders. Wobei: Den Fall, dass ich eine Stimme erst nach 20 Jahren wieder höre, hatte ich bislang ja noch nicht. Und dann hat er seinen Namen gleich am Anfang genannt. Es war aber keine Zeit für das berühmte Ratespiel: Woher kenne ich bloß diese Stimme?“
„Das heißt mit anderen Worten: Der Anrufer hätte auch jemand anderer sein können als Hans Schneider?“
„Wenn Sie so fragen, kann ich das nicht ausschließen. Das macht den Fall wohl nicht einfacher?“
Lange seufzte: „In diesem Fall ist nichts einfach. Aber die Frage der Identität können wir hoffentlich klären, wenn wir Antworten aus Südamerika haben. Nachdem die acht Stunden hinterher hinken, kann das noch dauern. Was ist Ihnen an der Stimme und am Inhalt des Gespräches sonst noch aufgefallen?“
„Beim ersten Hören klang das recht witzig, wie ein gehobenes Bayerisch mit spanischem Akzent. Ich hab über das Gespräch lange nachgedacht, gleich am Samstagabend und natürlich nach dem schrecklichen Tod. Ich hatte das Gefühl, der Anrufer hatte sich seine Worte genau überlegt. Das klang fast wie abgelesen oder auswendig gelernt. Es klang, als hätte der Mann einen klaren Plan, den er durchziehen wollte. Ich hätte zum Beispiel gern gefragt, um was es eigentlich geht und warum die Geheimnistuerei, aber dazu hatte ich gar keine Chance. Klar war mir nur, dass es sich um keinen Spaß handelt. Da steckte was Ernstes dahinter.
Dann hab ich mich gefragt, warum Schneider gerade mich angerufen hat. Die plausibelste Antwort darauf ist wohl, dass ich ihn wegen des Klassentreffens angeschrieben hatte und er deshalb ganz einfach meine aktuelle Adresse und meine Telefon- und Handynummer hatte.
Der seltsame Ort des Treffens hat mich natürlich auch beschäftigt. Mir sind zwei mögliche Antworten eingefallen. Entweder haben die Gründe für seine Rückkehr tatsächlich mit jenem verhängnisvollen Fest vor 20 Jahren zu tun. Oder Schneider hatte eine ganz andere Rechnung zu begleichen und wollte Inkognito bleiben. Als geheimer Treffpunkt macht sich die Stelle am Waldrand ja wirklich gut.“
„Ich weiß es zu schätzen, dass Sie so offen zu mir sind“, sagte Lange nachdenklich. „Wir werden nicht darum herumkommen, dieses Rätsel gemeinsam zu lösen, vor allem dann, wenn es mit den Vorkommnissen vor 20 Jahren zu tun hat. In Krimis sagt der Kommissar ja immer zum Privatdetektiv, halten sie sich raus aus der Sache, das ist Sache der Polizei. In diesem ganz besonderen Fall biete ich Ihnen an, dass wir sehr eng zusammenarbeiten. Dazu müssen Sie mir aber versprechen, dass Sie Ergebnisse der polizeilichen Ermittlungsarbeit vertraulich behandeln und nichts schreiben, was den Erfolg der Ermittlungen gefährdet.“
„Darauf haben Sie mein Wort“, entgegnete Fritsch nach kurzem Überlegen. „Was ich weiß, sage ich Ihnen, egal ob als Zeuge oder sozusagen als Partner. Über das, was vor 20 Jahren passiert ist, habe ich mir oft den Kopf zerbrochen. Für Sie ist der Fall neu, vielleicht sehen Sie etwas, was allen anderen nie aufgefallen ist. Auf der anderen Seite helfe ich Ihnen gern, wenn es um Hintergründe von damals geht. Das Ganze liegt wie ein böser Fluch auf unserem Abiturjahrgang.“
„Dann haben wir das ja geregelt“, sagte Lange. „Erzählen Sie mir etwas über das Klassentreffen, das ja offenbar der Anlass oder der Grund für Schneiders Rückkehr war.“
„Okay, wo anfangen?“ sagte Fritsch. „Das erste Klassentreffen haben wir fünf Jahre nach dem Abitur gemacht. Das haben damals die zwei Kollegstufensprecher organisiert, es sind gut drei Viertel der Leute gekommen, es war recht stimmungsvoll und dauerte bis zum nächsten Morgen, wenn auch der Schatten der drei Toten schon irgendwie spürbar war.
Fünf Jahre danach hatten wir ein zweites Klassentreffen, da kam aber nur noch höchstens die Hälfte des Jahrgangs und die meisten sind um 10 Uhr abends wieder gefahren. Danach schlief die Sache ein. Einer der Kollegstufensprecher ist als Arzt nach Frankreich gezogen, die andere Sprecherin, die hier im Landkreis gewohnt hat, ist bald danach bei einem Verkehrsunfall gestorben. Jetzt keine Panik kriegen. Ich hab' damals über den Unfall geschrieben: Stauende auf der Autobahn, ein Laster ist in den Wagen meiner ehemaligen Mitschülerin gebrettert. Das war bestimmt ein Unfall und nichts anderes.
Wie gesagt, die Organisatoren waren nicht mehr da und nach dem eher misslungenen zweiten Treffen war auch kein Bedarf zu spüren. Aber bei denen, die nach der Schule in Gondorf geblieben waren oder nach dem Studium wieder zurückgekommen sind, hieß es in den letzten Jahren häufiger: „Also zum 20. mach ma scho wieder a Klassentreffen.“ Und wie das so geht: Ende letzten Jahres haben sich vier Leute – Michael Fischer, Dieter Voss, Renate Amter und ich – getroffen, um dieses Treffen vorzubereiten. Und weil alle gemeint haben, ich als Journalist, der gut recherchieren kann, wäre doch der ideale Mann, um die aktuellen Adressen herauszufinden und mit den ehemaligen Mitschülern Kontakt aufzunehmen, habe ich diese Aufgabe übernommen.“
Zum ersten Mal während des Gesprächs musste Lange schmunzeln: „Es hat ja nicht direkt mit der Sache zu tun, aber da muss ich einfach nachfragen. Es gibt viele Leute, mich eingeschlossen, die um Klassentreffen einen großen Bogen machen. Was in aller Welt bringt denn jemanden dazu, solch ein Treffen auch noch zu organisieren?“
Fritsch ließ sich Zeit mit der Antwort: „Das habe ich mich in den letzten Monaten auch oft gefragt. Natürlich sind das meist schreckliche Veranstaltungen, bei denen sich Leute treffen, die sich nichts mehr zu sagen haben. Aber: Es gibt halt ein, zwei Leute, in meinem Fall Frauen, die ich einfach gern wiedersehen würde. Wenn die kommen, würde sich die ganze Sache lohnen.“
„Um wen geht es denn da?“, frage Lange neugierig.
„Was sie alles wissen wollen“, sagte Fritsch. „Na gut, um Clarissa Lenz und Bibi Freiwald. Clarissa war der umschwärmte Star der gesamten Klasse, und Bibi war ein hübsches, nettes Mädchen, mit dem ich vor langer Zeit mal was hatte. Wann immer ich an die früheren Zeiten denke, kommt ganz schnell der Gedanke: Was ist wohl aus Clarissa geworden? Was macht Bibi jetzt?“
„Und“, wollte Lange wissen, „kommen die Beiden?“
„Bibi hat per E-Mail zugesagt, von Clarissa hab ich noch keine Antwort.“
„Wie ist denn generell die Resonanz und wie lief das mit Schneider?“
„Wir waren damals rund 50 Abiturienten. Dazu kommen noch eine Handvoll Leute, die irgendwie dazugehören, wie ihr Kollege Dinzig von der Flughafenpolizei, der nach der neunten Klasse die Schule gewechselt hat, aber immer auf den Festen mit dabei war. Zwei Klassenkameraden sind in der Zwischenzeit verstorben, Schneider ist ausgewandert, einer ist Arzt in Frankreich, einer, Johann Dirks, gilt seit dem Abitur als verschollen. Dessen Eltern waren Österreicher, die sind kurz nach dem Abitur weggezogen und keiner weiß, wo Johann abgeblieben ist.
Clarissa arbeitet in Hamburg, zwei Mitschüler sind in Berlin, Bibi lebt in Würzburg, ungefähr ein Dutzend Leute leben in und um München und der große Rest ist im Landkreis Gondorf geblieben. Nach zwei Wochen hatte ich von fast allen Mitschülern die aktuellen Adressen, mit Ausnahme von Johann Dirks, was zu erwarten war, und von Hans Schneider. Dessen Wohnort hatte selbst Dinzig, der ja vermutlich auf den Polizeiapparat zurückgreifen konnte, bei den zwei früheren Klassenfesten nicht ermitteln können.
Das weckte in mir natürlich den Ehrgeiz. Das Internet bietet ja heute ganz andere Möglichkeiten. Wenn man mit Suchmaschinen gut umgehen kann, findet man wahnsinnig viel. Es hat mich einen freien Abend gekostet, mit Hilfe von Suchbegriffen wie „Holzverarbeitung“, „Sägewerk“, exotische Hölzer“, etc. immer in Verbindung mit Südamerika, Argentinien und Paraguay, auf die Spur von Hans Schneider zu kommen. Schließlich habe ich eine kleine Firma namens Hazienda FairWoods am Rande des Urwalds in Paraguay gefunden, als dessen Inhaber ein gewisser Hans Schneider eingetragen ist. Und an diese Adresse habe ich das Einladungsschreiben für das Klassentreffen verschickt. Das war Anfang Januar. Eine Antwort ist nie gekommen – bis letzten Freitag.“
„Haben Sie von dem Adressenfund jemanden erzählt?“, hakte Lange nach.
„Es gab keinen Grund, das zu verschweigen“, sagte Fritsch. „Ich hab natürlich Dinzig erzählt, dass die freie Presse besser darin ist, Leute zu finden als die Polizei. Und ich weiß noch, dass ich Renate, die ich von den Leuten im Organisationskomitee am besten kenne, davon erzählt habe. Und wenn ich Mitschüler von früher getroffen habe, die sich nach dem Stand der Anmeldungen erkundigt haben, dann hab ich dem ein oder anderen sicher auch von Hans Schneider erzählt. Wer das alles im Einzelnen war, kann ich einfach nicht mehr sagen. Das geschah ja alles eher im Januar und Februar, als ich stolz darauf war, Schneider entdeckt zu haben. Als aber keine Antwort kam, habe ich natürlich zu zweifeln angefangen, ob ich überhaupt den richtigen Hans Schneider gefunden hatte.“
„Wie geht das jetzt weiter mit dem Klassentreffen?“, wollte Lange wissen.
„Das ist eine gute Frage. Wir haben 35 feste Anmeldungen, fünf oder sechs Wackelkandidaten und neben Clarissa noch zwei Leute in Berlin, von denen keine Antwort gekommen ist. Bei den Dreien sollte ich eigentlich heute telefonisch nachhaken, aber das werd ich wohl bis morgen verschieben.“
„Und bei Clarissa werden Sie sich vorher noch einen Schnaps genehmigen, um sich Mut anzutrinken, vermute ich mal“, sagte Lange.
Fritsch schnitt eine Grimasse und ging darauf nicht ein. „Geplant ist, dass wir uns am kommenden Samstag um 15 Uhr an der alten Schule treffen, dort mit dem jetzigen Rektor einen Rundgang machen und dann ab 16.30 Uhr im Hotel Post sind“, fuhr Fritsch fort. „Wenn sicher ist, dass der Tote Hans Schneider ist, werde ich das allen Klassenkameraden per E-Mail mitteilen. Ich bin ja katholisch erzogen und werd mal schauen, ob wir für diesen Fall kurzfristig eine Andacht in der Stadtpfarrkirche für 17 Uhr bekommen. Wobei: Ich muss noch mit den anderen sprechen, ob wir das Klassentreffen nicht kurzfristig absagen.“
„Wenn die Leiche identifiziert ist, dann lassen Sie uns darüber nochmals reden. Kann sein, dass ich Ihre Hilfe brauche“, sagte Lange.
„Woran denken Sie?“
„Dass Sie das Klassentreffen auf keinen Fall absagen und Ihren E-Mails den Satz hinzufügen, dass die Polizei sie gebeten hat, allen Mitschüler mitzuteilen, dass sie zum Klassentreffen kommen und Zeit für ein kurzes Gespräch mit der Polizei einplanen sollen. Wer nicht kommt, den müssen wir gegebenenfalls nach Gondorf vorladen oder am Wohnort von Kollegen befragen lassen. Das wäre machen peinlich, vermute ich mal.“
„Ich sehe Sie schon in Action, wie Sie am Klassentreffen alle verhören und dann wie ein Meisterdetektiv beide Mordfälle lösen“, scherzte Fritsch.
„Warten wir mal ab“, sagte Lange. Es klopfte an der Tür, ein Beamter trat ein und flüsterte Lange etwas ins Ohr. „Entschuldigen Sie“, sagte er, „ich bin gleich wieder da.“ Fritsch nutzte die Gelegenheit, sein Handy auf Nachrichten durchzusehen. Es war nichts wirklich Wichtiges dabei, außer einer SMS von Renate, dass es einem ihrer Kinder nicht gut ging und sie deshalb das gemeinsame Abendessen verschieben mussten – auf morgen?! Fritsch sendete ein „Gute Besserung für Elena“ und „Lass uns morgen telefonieren. Ich bin noch bei der Polizei.“ zurück. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es inzwischen nach 19 Uhr geworden war und er einen Mordshunger bekam.
Als ob die Polizei Gedanken lesen könnte, brachte ein Polizist ein Tablett mit Wurstbroten herein und sagte: „Bedienen Sie sich!“ Fritsch kaute gerade an seinem zweiten Brot, da kam Lange zurück auf legte ein Foto, genauer gesagt ein gezeichnetes Gesicht, vor ihm auf den Tisch.
„Wissen Sie, wer das ist?“, fragte Lange hörbar aufgeregt.
„Ihr Killer aus der Pampa?“, gab Fritsch zurück.
„Quatsch, das ist Hans Schneider. Zumindest ist das laut Zeugenaussagen der Mann, der gestern am Münchner Flughafen angekommen und sich einen Mietwagen genommen hat – auf den Namen Hans Schneider. Erkennen Sie ihn wieder?“
Fritsch stieß einen leisen Pfiff aus und sah sich die Zeichnung genau an. Sie zeigte einen dunkelhäutigen Mann mit kurzen, dunklen Haaren, einem gepflegten Bart, der bei den Koteletten begann und das gesamte Gesicht einrahmte. Der Mann blickte ernst, aber nicht unfreundlich drein. Die hageren Gesichtszüge deuteten darauf hin, dass der Mann wusste, was körperliche Arbeit bedeutete. Ansonsten gab es keine besonderen Kennzeichen, keine Narben, keine schiefe Nase. Die dunklen Augen sahen den Betrachter eher fragend an.
„Nun?“, fragte Lange gespannt, als Fritsch wieder aufschaute.
„Was erwarten Sie, ich habe Schneider zuletzt vor 20 Jahren gesehen. Beim Klassentreffen vor 10 Jahren waren drei Typen, die ich auf Teufel komm raus nicht zuordnen konnte. Hinterher stellte sich heraus, dass einer der dreien in der 11. Klasse fast das ganze Schuljahr neben mir gesessen ist.
Und Schneider hat zwei Jahrzehnte in einem anderen Kontinent gelebt und dort vermutlich viel mitgemacht. Ich schätze, er ist in dieser Zeit ein anderer geworden – innerlich wie äußerlich. Der Mann auf dem Foto könnte Schneider sein, aber genauso gut der verschollene Dirks oder meinetwegen der bei dem letzten Abifest umgekommene Paulik. Und vier oder fünf andere aus der Klasse mit dunklen Haaren ebenso.
Ja, irgendwie kommt mir das Gesicht bekannt vor. Aber erst mit der Stimme, mit der Körpersprache, mit der Art, wie sich die Person benimmt, würde ein Wiedererkennen möglich werden.“
Lange ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken und griff zu einem Wurstbrot. „Ich nehm mal an, dass wir beide heute noch kaum etwas gegessen haben“, sagte der Kripochef. „Deshalb hab' ich uns etwas kommen lassen. Nachdem die Dienstzeit schon längst vorbei ist, genehmige ich mir ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank. Mögen Sie auch eine Flasche?“
Da sagte Fritsch nicht nein. Die beiden prosteten sich zu und aßen dann in Gedanken versunken einige Zeit, ohne etwas zu sagen. „Wie geht es jetzt weiter?“, fragte Fritsch.
„Ich hoffe, dass heute im Laufe des Abends und der Nacht noch Berichte aus Asuncion einlaufen. Dazu werde ich mit dem Kollegen, der am Flughafen München ist und der mir die Phantomzeichnung geschickt hat, nachher noch sprechen. Ich hoffe, dass wir bis morgen Mittag ein gutes Stück weiter sind.“
Fritsch überlegte kurz und sagte: „Sie haben die Sache offenbar gut im Griff.“
„Ich bin noch neu hier“, sagte Lange. „Ich will und darf mir keine Fehler erlauben. Wie mir die Kollegen erzählt haben, wissen Sie mehr als die Polizei erlaubt. Dann wissen Sie sicher auch, dass der frühere Dienststellenleiter nicht ganz freiwillig in den Frühruhestand gegangen ist. Damals ist die Sache mit den Autoschieberbanden aus dem Osten hochgekocht.
Die innere Revision hat daraufhin auch die wichtigsten alten Fälle unter die Lupe genommen. Zu den Sachen, die dem früheren Chef angekreidet wurden, zählte auch der Unfall von Hinkofen. Okay, das waren unschuldige Kinder angesehener Bürger. Alles passte zusammen. Der Arzt stellte den Tod fest und kurz darauf wurden die Leichen auf Wunsch der Eltern verbrannt. Nicht einmal eine Obduktion ist durchgeführt worden. Aus heutiger Sicht ist das alles verdammt schnell über die Bühne gegangen. Aber genau deshalb bin ich jetzt lieber übergründlich, als mir hinterher vorwerfen zu lassen, ich hätte geschlampt.“
Inzwischen waren die Brote aufgegessen und die Biere ausgetrunken. „Kann ich eine Kopie des Phantombildes für die Zeitung und die Online-Ausgabe bekommen?“, fragte Fritsch.
„Ich bitte darum“, entgegnete Lange. „Drucken Sie es ab und fragen Sie Ihre Leser, wer diesen Mann in der Nacht von Samstag auf Sonntag gesehen hat.“
„Dann mach ich mich mal auf den Weg“, sagte Fritsch. „Soll ich morgen vorbei kommen?“
„Wenn es sich bei der Leiche wirklich um Schneider handelt, dann müssen Sie mir morgen alles über die Vorkommnisse vor 20 Jahren erzählen“, sagte Lange. „Ich melde mich, wenn ich mehr weiß.
Ach, noch eine Kleinigkeit. Um nachprüfen zu können, ob Schneider Sie wirklich angerufen hat und – zugegen, ob es mehrere Kontakte zwischen ihnen beiden in den letzten Tagen und Wochen gab – würden wir gern ihre Telefon- und Handykontakte prüfen. Nachdem Sie bislang kein Verdächtiger sind, brauchen wir dazu Ihr Einverständnis.“
„Eine Kleinigkeit, sagen Sie“, antwortete Fritsch eine Spur zu laut. „Wie Sie wissen, bin ich Journalist. Zu meinen wichtigsten Pflichten gehört es, meine Informanten zu schützen. Wenn ich zustimme, dass Sie meine Telefondaten überprüfen, dann werden Sie auf diesen Listen Leute finden, die in keinem Fall wollen, dass jemand weiß, dass sie mit mir gesprochen haben. Das wäre höchst peinlich für diese Informanten. Nein, es tut mir leid, diese Zustimmung kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht geben.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Sprechen Sie mich nochmals darauf an, falls ich Ihr Hauptverdächtiger werde.“
Das sollte wohl witzig gemeint sein, gefiel Lange aber gar nicht. Doch er hatte sich im Griff. „Ich kann Ihre Argumente nachvollziehen, aber ich hätte gedacht, dass Sie bei Mordermittlungen anders reagieren. Sagen Sie mir wenigstens, ob Schneider Sie am Handy oder über das Festnetz angerufen hat.“
„Per Festnetz, da bin ich mir sicher.“
„Und haben Sie ein Telefon, das die eingehenden Nummern speichert?“
„Ja, sagte Fritsch. „Ich verstehe. Ich werde nachschauen, ob die Nummer gespeichert ist und gebe Ihnen morgen Bescheid.“
ACHT
Nachdem Fritsch sich verabschiedet hatte, ließ Lange das Gespräch Revue passieren. Das leicht patzige Ende einer ansonsten sehr harmonischen Unterredung irritierte ihn. Hatte Frisch doch etwas zu verbergen? Noch ärgerlicher war, dass Lange das Gefühl hatte, an einer wichtigen Stelle nicht nachgehakt zu haben. Die Auseinandersetzung um die Telefondaten hatte den flüchtigen Gedanken aber vertrieben. Der Kommissar bedauerte jetzt doch, dass es keinen Mitschnitt des Gespräches gab. Egal, vielleicht war es ja gar nicht wichtig gewesen und wenn doch, so würde es ihm hoffentlich wieder einfallen.
„Ich darf jetzt nicht anfangen, überall Gespenster zu sehen“, ermahnte sich der Kripochef. Deshalb ging er die wichtigsten Punkte, die er herausgefunden hatte, nochmals durch. Da war als erstes die Person Fritsch. Ist er ein Zeuge oder ein Verdächtiger? Lange hielt sich viel auf seine Menschenkenntnis zugute und musste zugeben, dass ihm der ca. fünf Jahre jüngere, stämmige Mann, der seinen Bauchansatz durch weite Kleidung zu kaschieren suchte, durchaus sympathisch war. Ihr erstes kurzes Gespräch noch am Tatort hatte wie ein Schlagabtausch gewirkt, beim Besuch auf dem Revier hatte sich Frisch sehr offen und ehrlich gezeigt.
Um ein Bild von der Stadt zu bekommen, in der er der neue Kripochef war, las Lange die örtliche Zeitung sehr genau durch. Ihm war durchaus aufgefallen, dass der Lokalteil des Gondorfer Tagblatts den Vergleich zu den großen Münchner Tageszeitungen nicht scheuen musste. Das Tagblatt spiegelte das Leben im Ort anschaulich und bunt wider. Bürgermeister und Landrat wurden auch nicht mit Samthandschuhen angefasst, sondern mussten sich häufig Kritik gefallen lassen.
Fritsch verstand sein Handwerk und hatte selbst in Kreisen der Polizei ein hohes Ansehen. Für Lange war das neu. In München empfand die Polizei die Presse eher als Gegner, der meist unfair berichtete und mit fehlerhaften Berichten nicht selten den Fahndungserfolg gefährdete. Speziell seine Kollegen Adam und Grundner hatten Lange geraten, Fritsch als Partner, nicht als Feind zu betrachten.
Was störte dieses Bild? „Fritsch ist halt ein unverbesserlicher Romantiker“, hatte Adam schulterzuckend gemeint. Auffallend war, dass ein Mann in der Position von Fritsch, der auf Augenhöhe mit allen Honoratioren des Ortes verkehrte, keine Familie hatte, keine Ehefrau und keine Kinder und als fast Vierzigjähriger allein mit seinem Hund in einem kleinen Haus lebte. Lange hatte nicht einfach nur aus Neugier beim Klassentreffen recht direkt nach Clarissa und Bibi gefragt. Da war schon deutlich geworden, dass Fritsch Privatleben längst nicht so erfolgreich und glücklich verlaufen war wie sein Arbeitsleben. Aber rechtfertigte das polizeiliches Misstrauen?
Auch bei drei Punkten, nach denen Lange gar nicht gefragt hatte, sah er etwas klarer. Wenn zwei Männer sich am Sonntagmorgen um 8 Uhr an einem einsamen Ort trafen bzw. treffen wollten, gab das Anlass zu Spekulationen. Die beiden konnten eine geheime homosexuelle Partnerschaft führen. Diese These konnte in diesem Fall ausgeschlossen werden. Nächste These: Der eine erpresste den anderen! Dass eine Erpressung mit 20-jähriger Verzögerung begann, klang verrückt. Und da Fritsch Schneider gefunden hatte, konnte nur Fritsch der Erpresser sein. Warum sollte gerade er dann sein potentielles Opfer töten? Aber all das war so unwahrscheinlich, dass Lange das Thema auf der 1. SOKO-Sitzung nicht mal angesprochen hatte.
Blieb eine dritte Möglichkeit: Zwei Männer wollten bei einem geheimen Treffen etwas aushecken – also sich beispielsweise bei dem anstehenden Klassentreffen an einem ehemaligen Mitschüler oder einer Mitschülerin rächen. So, wie die Fakten bislang aussahen, wäre dann Schneider die treibende Kraft gewesen, der von Fritsch wissen wollte, ob er bei der Sache mitmachen würde. Und das potentielle Opfer hatte den Braten gerochen und war Schneider zuvorgekommen. Diese Möglichkeit, die durchaus plausibel klang, wollte Lange im Hinterkopf behalten.
Ziemlich sicher war er sich, dass Fritsch wirklich nicht gewusst hatte, warum Schneider ihn treffen wollte. Und das war aus Sicht von Lange sehr schade. Es war bestimmt kein Zufall, dass Schneider ausgerechnet Fritsch gewählt hatte. Wenn sie herausfinden könnten, welche Motive Schneider dafür hatte, wären sie ein gutes Stück weiter in ihren Ermittlungen, davon war Lange überzeugt.
NEUN
Als Fritsch das Polizeirevier verließ, was es fast 21 Uhr. Nach dem heftigen Regen am Morgen war das Wetter im Laufe des Tages umgeschlagen. Fritsch genoss die warme Abendsonne, trank in einem Straßencafé, wo überwiegend junge Leute verkehrten, die ihn nicht weiter beachteten, noch ein Bier und machte sich dann auf den Heimweg. Daheim begrüßte ihn sein Hund, der Mischling Blink, schwanzwedelnd und voller Vorfreude auf den Abendspaziergang. Einer seiner Journalistik-Professoren hatte mal gesagt: „Ein guter Journalist sollte immer zwischen allen Stühlen sitzen. Und wenn er einen Freund braucht, dann sollte er sich einen Hund kaufen.“
Dieser Satz ging Fritsch immer mal wieder durch den Kopf. Er hatte schon als Junge einen Hund gehabt. Aber vermutlich hatte er sich Blink nach seiner Rückkehr nach Gondorf auch deshalb zugelegt, weil es einfach schön war, freudig begrüßt zu werden, wenn man heimkam. Fritsch ging noch schnell die Post durch, checkte seine E-Mails und machte sich auf den Weg, als es gerade dunkel wurde.
Sie drehten ihre übliche Runde durch den menschenleeren Stadtpark. Beim Rückweg kam ihnen eine Person in einem Trenchcoat entgegen. Ungewöhnlicher Aufzug für eine Sommernacht, dachte sich Fritsch. Erst im Licht der Laterne erkannte er Gerti, eine ehemalige Klassenkameradin, die schnurstracks auf ihn zuging, leise „Hallo Fidschi“ flüsterte, ganz nahe kam und ihn küsste. Fritsch atmete das verführerische Parfüm ein, hauchte „Hi Gerti“, drückte sie fest an sich und gab ihr einen Kuss, der in ein heftiges Zungenspiel überging, das erst unterbrochen wurde, als Blink sein Schnüffeln am Laternenpfahl beendet hatte und weiter drängte.
„Ich hab' Dir aufgelauert“, sagte Gerti. „Als ich nach der Arbeit nach Hause gekommen bin, bin ich nicht zur Ruhe gekommen. In der ganzen Stadt haben sie darüber gesprochen, dass Du im verfluchten Hinkofen ein brennendes Auto und einen Toten gefunden hast. Ich hab' Dich mehrmals angerufen, aber Dein Handy war ausgeschaltet.“
„Warum hast Du keine Nachricht hinterlassen?“
„Weil ich gar nicht wusste, was sich sagen sollte. Ich glaube, ich wollte einfach mit Dir zusammen sein“
Als Blink wieder zum Schnüffeln stehenblieb, flüsterte sie Fritsch ins Ohr. „Und ich wollte Dir was zeigen.“ Gerti stellte sich ganz nah vor ihn hin und öffnete langsam ihren Trenchcoat. Darunter war sie nackt. Fritsch starrte auf die kleinen, festen Brüste, deren Nippel kokett abstanden, auf das dunkle Dreieck zwischen Gertis Beinen. Er war völlig perplex. Gerti ließ die eine Hälfte des Trenchcoats los, schmiegte sich an Fritsch und fing an, ihn mit ihrer freien Hand zwischen seinen Beinen zu streicheln. Als seine Erektion deutlich spürbar wurde, sagte Gerti leise: „Gefällt Dir, was Du siehst? Soll ich ihn herausholen?“ „Du bist verrückt“, murmelte Fritsch, kaum fähig, einen ganzen Satz zu sagen.
In dem Moment drängte der Hund weiter. Gerti schloss ihren Trenchcoat wieder und hakte sich ein.
„Komm, gehen wir zu mir“, sagte Fritsch, griff mit einer Hand von hinten unter den Trenchcoat und tätschelte Gertis nackten Po. Seine alte Bekannte war keine Schönheit, hatte eher ein Allerweltsgesicht, aber ihre kleinen Brüste und ihr Hintern waren immer noch knackig. Gerti ging, so hatte sie einmal nach einer heißen Nummer erzählt, regelmäßig ins Fitnessstudio, und im Bett kannte sie keine Hemmungen.
Unterm Gehen versuchte Fritsch, ihr einen Finger in den Po zu stecken, was Gerti knallhart so kommentierte: „Nimm lieber das andere Loch.“ Jede Schnüffel- und Pinkelpause des Hundes nutzen Fritsch und Gerti für heiße Zungenküsse, wobei Fritsch gleichzeitig Gertis Scheide mit zwei Fingern bearbeitete. Dass sie so unglaublich feucht zwischen den Beinen war und heftig stöhnte, machte Fritsch unheimlich an.
Gerti war heiß. Noch während Fritsch die Wohnungstür aufschloss, zog sie seinen Reißverschluss runter und holte seinen Penis hervor. Mit festem Griff zog sie Fritsch ins Schlafzimmer, wo wie ihren Trenchcoat abschüttelte, sich vor ihm hinkniete und ihn oral befriedigte. Dabei schaute sie hoch zu Fritsch. Dem war schon klar, dass sie mit ihrem unterwürfigen Blick und den Fertigkeiten ihrer Zunge viele Männer zum Wahnsinn trieb. Aber das war völlig egal. Er wollte sie haben jetzt.
„Aufs Bett mit Dir“, murmelte er, riss sich, so schnell es ging, die Kleider vom Leib, holte aus dem Nachtkästchen ein Kondom, das er Gerti gab, damit sie es im überstülpte und dann fickte er Gerti ohne weiteres Vorspiel in der Missionarsstellung durch. Fritsch hatte viel zu lange keinen Sex mehr gehabt und war viel zu erregt, um lange durchzuhalten. Aber wenn ihm Gerti nichts vorspielte, dann kamen sie gleichzeitig zum Höhepunkt. Vermutlich war Gerti, seit sie praktisch nackt durch die Stadt gefahren war, unter Hochspannung gestanden. Deshalb reichten einige Stöße, damit sie kam.
Hinterher lagen beide nackt und eng umschlungen im Bett. Erst küssten sie sich noch minutenlang, dann holte Fritsch zwei Gläser Wein und brachte einen Aschenbecher.
Beim Rauchen erzählte er, was er an diesem Tag alles erlebt hatte. Er machte sich keine großen Gedanken, was er Gerti erzählen durfte und was nicht. Schließlich wusste er selbst kaum etwas. Wer der Tote wirklich war? Was er in Hinkofen gewollt hatte? Ob er dort ermordet worden war? All das wusste Fritsch ja selbst nicht. Und irgendwie wäre es im komisch vorgekommen, einer Frau, die er gerade geliebt hatte, groß etwas zu verheimlichen.
Nachdem Gerti ausgeraucht und ihren Wein getrunken hatte, fing sie wieder damit an, ihn mit ihrer Hand zu stimulieren. „Komm, entspann Dich. Ich verwöhn Dich, dass Dir Hören und Sehen vergeht“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Und das tat sie dann auch. Hinterher sagte sie spöttisch:
„Jetzt hilft nur noch eine Dusche für den Herrn und eine gründliche Wäsche fürs Bettzeug. Ich muss jetzt los. Nur mit dem Trenchcoat kann ich ja schlecht morgen früh durch die Stadt laufen.“
Sie gaben sich noch einen innigen Kuss, dann schnappte sich Gerti ihren Mantel und ging. Fritsch verzichtete auf die Dusche. Er rollte sich auf die Seite, dort, wo das Bett kaum Spritzer abbekommen hatte und schief innerhalb weniger Minuten tief und fest.
NEUN
Als Gerti in ihrem Auto saß, wartete sie noch mit dem Anlassen. Fritsch war ein feiner, netter Kerl, von dem man alles haben konnte, wenn man nur ein wenig mit seinem Pimmel spielte. Als sie einmal nach der 1. Runde mit einem Umschnalldildo in das Schlafzimmer zurückkehrte, wäre der Gute fast in Ohnmacht gefallen. Aber es hatte ihm dann doch Spaß gemacht. Er war etwas zu dick und schwer, vor allem, wenn er auf einem lag. Aber es gab ja andere Möglichkeiten.
Gerti lächelte kurz, dann wurde sie wieder ernst. Sie nahm ihr Handy und rief IHN an, um Ihm zu erzählen, was Fritsch alles gesagt hatte.
„Gut gemacht, meine kleine Hure“, lobte ER sie.
„Soll ich noch zu Dir kommen?“ fragte Gerti.
„Willst Du mir mein Bett mit dem Sperma von Fidschi versauen?“, bekam sie grob zur Antwort.
„Er hat ein Kondom benutzt“, erwiderte Gerti.
„Na gut, dann komm! Aber mach Dich auf einiges gefasst.“
Gerti war klar, dass er den Gürtel nehmen würde, um ihre Poren von dem anderen Mann zu reinigen, wie ER das nannte. Gerti war keine Masochistin, sie hasste Schmerzen. Aber sie liebte die Höhen, in die ER sie treiben konnte. Dafür hatte ER das Recht, alles mit ihr zu machen, was ER wollte. Alles von ihr zu verlangen, was IHM einfiel. Scheiße, sie war schon wieder so feucht, dass der Fahrersitz nass wurde. Gerti gab Gas.
ZEHN
Clarissa war nicht nur wunderschön gewesen, sie war auch gescheit und unglaublich nett. Viel zu viel für ein Mädchen und viel zu viel für die Jungs ihrer Klasse. Bei ihrem Aussehen hätte sie eigentlich schwierig sein müssen und arrogant. Stattdessen war sie unbekümmert, offen und sympathisch. Sie war der Typ, mit dem man Kirschen stehlen konnte, auf Klassenfahrten wie in Budapest oder auf Open Air-Festen in der Provinz ganze Nächte durchmachen konnte. Sie war ein dufter Kumpel, aber jede Junge wünschte sich viel mehr.
Samstagabend, wenn irgendwo Bands spielten, tanzte sie meist jede Runde mit einem anderen Jungen. Und wenn es noch 10 weitere Runden gegeben hätte, wäre der Andrang nicht kleiner geworden. Fritsch hatte gerade mal zwei Mal in all den Jahren mit ihr getanzt. Sie hatten sich nie richtig geküsst, geschweige denn mehr. Dennoch zählten die Handvoll Nächte, die er in wechselnder Besetzung mit Clarissa durchgemacht hatte, zu den schönsten seines Lebens.
Warum war er so schüchtern gewesen? Warum hatte er sich nicht mehr getraut – damals im Morgengrauen in Budapest oder auf den Kartoffelfeldern mitten in der Nacht irgendwo in der Oberpfalz? Hätte Clarissa ja gesagt, hätte es die Chance auf eine gemeinsame Zukunft gegeben? Diese Fragen spukten ihm seit 20 Jahren im Kopf herum? Er wusste nicht mal, ob er die Antwort wissen wollte. Er wusste ja nicht mal, ob er Clarissa noch einmal in seinem Leben sehen würde. Und wenn ja, ob er sie wirklich fragen würde...