Читать книгу Eine politisch korrekte Geschichte - Quirin Pusch - Страница 5
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ОглавлениеEin Mensch räkelte sich am Morgen in seinem Bett. Noch war es sein Bett. Bald sollte es nur noch ein Bett sein. Die „Kommission für Sprachfortschrittsförderung“ hatte beschlossen, besitzanzeigende Pronomen zu tilgen, weil sie das Gleichheitsgebot verletzen. Für viele ist Privatbesitz an sich ein Übel, seine Abschaffung ist jedoch über die Jahrhunderte immer wieder gescheitert. „Sprachliche Korrekturen“ versprechen nun erstmals, das Ideal einer gerechten Gesellschaft zu etablieren. Denn wie zu sehen sein wird, zeitigen linguistische Veränderungen größeren Erfolg, weil Sprache das Bewusstsein und Denken direkt beeinflusst.
Der Mensch genoss das Privileg, das Bett noch „sein“ nennen zu dürfen, und kuschelte sich in die warme Decke. Er spürte der Wärme nach, die sein Körper über Nacht in das Bettzeug geatmet hatte. Er kostete diesen Moment nicht aus Respektlosigkeit gegenüber Menschen aus, die diesen Vorzug nicht genießen konnten; vielmehr war es ein Reflex lebendiger Selbstvergewisserung. An seiner statt hätte sich jeder andere Mensch befinden können, der den Augenblick ebenso ausgenutzt hätte. Dessen war sich unser Mensch sicher. Er seufzte und glitt aus dem Bett. Als die Füße den kalten Boden berührten, jagte ein Schauer über den Körper, tausende Haare auf Beinen und Armen stellten sich mechanisch auf. Nachdem er das einzige Fenster des Zimmers geöffnet hatte, sog er die frische Luft ein und ging ins Badezimmer. Dort wusch er sich, indem er kaltes Wasser in seinen konkaven Handflächen sammelte und sein Gesicht hineintauchte. Danach trocknete er sich Stirn, Nase, Backenknochen, Mund und Kinn.
Die Stirn war weder hoch noch gedrungen, die Nase nicht groß, nicht klein, auch Backenknochen, Mund und Kinn waren nicht auffällig geformt. Er war ein Mensch. Nur ein kleines bemerkenswertes Detail gab es heute: Um seine Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab. Sie waren nicht Merkmal seines unverwechselbaren Äußeren, die dunklen Augenränder stammten auch nicht von durchwachten Nächten. Er hatte sich nicht zu spät hingelegt, war aufgestanden wie immer, hatte folglich ausreichend geschlafen. Trotzdem wirkte das Gesicht des Menschen müde. Mit dem gestrigen Tag hatte unser Mensch das Rauchen aufgegeben und verzichtete auf die Morgenzigarette.
Es war nur vernünftig, davon abzuschwören, nachdem er sich die Schädlichkeit des Nikotinkonsums bewusst gemacht hatte. Er schuldete es nicht nur seiner Gesundheit, mit diesem Schritt sparte er der Krankenkasse potentielle Kosten. Volkswirtschaftlich war es eine richtige Entscheidung. Der Mensch wollte, was er sollte. Außerdem konnte er seine gesunde Arbeitskraft dem Staat zur Verfügung stellen.
Nicht dass er nationalistisch gewesen wäre. Er fühlte sich in seiner Solidarität nicht auf die Grenzen eines Staates beschränkt, sondern als Kosmopolit sah er sich der ganzen Welt verpflichtet. Er bemühte sich, etwas zum globalen Wohl beizutragen. Das Glück hing seiner Meinung nach nicht von Nationen und ihrer Wirtschaft ab, im Gegenteil war es eine Frage der Lebenseinstellung, die aber durchaus politischer Sinngebung bedurfte.
Hingegen hatte gerade die Politik bislang Energie auf unsinnige Nebenschauplätze verwendet: Zum Beispiel war häufig debattiert worden, ob Frauen die besseren Politiker seien. Dabei hielt unser Mensch das Geschlecht für nebensächlich, was vermutlich an seiner Sozialisation lag. Er war sich nämlich nicht sicher, was eine „Frau“ war; auch nicht, was einen „Mann“ ausmachte. Er kannte sogar sein eigenes Geschlecht nicht. Das war nicht weiter tragisch, denn wie ihm ging es allen. Niemand seiner Mitmenschen konnte sein eigenes Geschlecht benennen, ihnen fehlten die Bezeichnungen dafür.
Die Menschen hatten erkannt, dass ihre starre Wahrnehmung der Geschlechter oft Ursache für Diskriminierung war. Bereits das Wort „Ge-schlecht“ suggerierte Negatives. Sie wollten andere aber nicht mehr auf ihre genitalen Kennzeichen reduzieren, sondern das Subjekt an sich wertschätzen. Folglich sollte die unerwünschte Distinktion ausgelöscht werden. Die „Kommission für Sprachfortschrittsförderung“ hatte dieser Absicht Rechnung getragen, indem sie primäre wie sekundäre Geschlechtsbezeichnungen tilgte.
Doch handelt es sich bisher nur um Etappensiege. Zur Stunde berät die „Kommission“ über das grammatikalische Geschlecht, weil es wiederum Gefahr ungerechter Behandlung birgt: Wörter, die beispielsweise einen männlichen Artikel haben, von ihrer Bedeutung aber beide Geschlechter betreffen, unterschlagen die weibliche Komponente. Das Wort „der Mensch“ etwa bezeichnet jegliche Person, unabhängig von Geschlecht, Alter, Aussehen, Religion, etc., tritt jedoch mit maskulinem Artikel auf.
Der Autor des vorliegenden Textes ist überzeugt, dass die „Kommission“ bei Wörtern, die sowohl „Frauen“ als auch „Männer“ meinen, statt des männlichen oder weiblichen den neutralen Artikel „das“ empfehlen wird. Dank ihrer Vollmachten wird sie ihre Empfehlung als neue Sprachregelung durchsetzen, weshalb der Verfasser den hier vorgestellten Menschen, sowie alle relevanten Wörter, ab sofort mit neutralem Artikel aufführt: also als „das Mensch“. Damit möchte er auch umständlichen Nachbesserungen vorbeugen, die sich in Erwartung dieses Urteils ergeben werden.
Wie wichtig die Arbeit der „Kommission für Sprachfortschrittsförderung“ ist, zeigen ihre Ergebnisse. Sie trieb und treibt den Bewusstseinswandel erst richtig voran. Ihr ist lediglich verwehrt, reale Unterschiede aufzuheben: Sie kann Wörter, Begriffe, Bezeichnungen, Bedeutungen aktualisieren, formieren, indizieren, normieren; die Menschen selbst kann sie nicht formen. Die Menschen werden geboren mit allem, was ihnen eigen ist. Aber glücklicherweise animierten die Resultate des Sprachgremiums andere Branchen, Ungleichheit in der Gesellschaft – und in der Natur – zu korrigieren.
Unser Mensch trat an den Schrank und öffnete ihn. Vor ihm hingen fünf weit geschnittene Kutten. Sie sollen kaschieren, was sich nicht abschaffen lässt. Egal, um welche körperliche Beschaffenheit es sich handelt, der hellgraue Stoff legt sich wie ein Leichentuch um den Körper, sodass markante Formen gemildert oder ganz verdeckt werden. Diese undurchdringliche Fläche würde dem Autor eine genaue Beschreibung des Mensch erschweren, wäre eine detaillierte Schilderung nicht ohnehin verfänglich: Skizziert er ein dünnes Mensch, setzt er sich dem Vorwurf aus, einem diskriminierenden Schönheitsideal anzuhängen; wäre das genannte Person klein, vernachlässige er die Perspektive der Hochgewachsenen; tritt ein mutiges Mensch auf, beschweren sich Furchtsame, der Autor hielte kühne Charaktere für besser; usw. Um diesen berechtigten Einwänden zuvorzukommen, verzichtet der Verfasser auf Figurendetails. Mit Sicherheit wird die „Kommission“ dieses Konfliktpotential bald durch klare Anweisung aufheben. Leider übersteigt es noch ihre Ressourcen zu korrigieren, was sich über Jahrhunderte hinweg missgebildet hat.
Unser Mensch streifte eine der einfarbigen Kutten über. Im Schrank baumelten noch zwei weitere graue zum Wechseln, und zwei regenbogenfarbene. Das Mensch hielt inne. Ihr Farbenspiel schimmerte in seinen Augen: Kräftiges Rot wechselte über in Orange, weiter zu Gelb, das sich im Grün verlor; der Übergang ins Blaue war unmerklich und endete in einem schimmernden Violett. Das Mensch strich mit seinen Fingerspitzen zart über den farbenfrohen Stoff, als könnte es die Vielfalt nicht nur sehen, sondern ihr auch nachspüren.
Die bunten Kutten waren nach der neuen Kleidungsverordnung durch die hellgrauen zu ersetzen. Unser Mensch musste die neuen bereits tragen. In wenigen Wochen musste es den farbigen Überwurf an einer zentralen Sammelstelle abgeben. Bei neuen Bestimmungen gab es stets eine Karenz von vier Wochen.
In der Bekleidungsindustrie war seinerzeit intensiv diskutiert worden, welche Form, vor allem aber welche Farben, der Kleidung am geeignetsten, also am gerechtesten wären. Weiß schlossen die Verantwortlichen von Vornherein aus, weil sie darin eine rassistische Manifestation befürchteten. Gegen schwarze und dunkelbraune Stoffe entschieden sie sich, weil das Ungleichgewicht zugunsten der dunkelhäutigen Bevölkerung ausgeschlagen hätte. Der „Bekleidungsrat“ einigte sich auf die bunte Variante, die vor allen anderen Versionen die multikulturelle Einstellung ausdrücken sollte.
Nach wenigen Monaten liefen die ersten Beschwerden ein. Aller hehren Ziele zum Trotz hatten die Verantwortlichen einen Faux-Pas getan: Während sich der Großteil der Bevölkerung an seiner facettenreichen Kleidung ergötzte, waren Farbenblinde von dieser Freude ausgeschlossen; sie können vornehmlich nur Grautöne unterscheiden.
Ein peinlicher, aber wohl entschuldbarer Fehler, der dort unterläuft, wo Menschen sich im Aufbruch befinden. Dem vertrauten Alten verhaftet, bewegen sich die Menschen im ungewohnten Neuen mit großer Unsicherheit. Dankbar für die Zuschriften gab die Kleiderbranche ihren Fehltritt ohne weiteres zu. Sie ordnete den Eintausch der alten Kutten gegen die aktuellen grauen an. Ab- wie Ausgabe erfolgen zentral, was die Übersicht gewährleistet.
Es ist von Vorteil, dass die Textilproduktion in einer Hand liegt. Die Ausgabe verläuft zügig, aber vor allem werden unerwünschte Varianten unterbunden. Die anfängliche Idee, die Bürger Schnitt und Farbe ihrer Kleidung selbst wählen zu lassen, hatte der „Bekleidungsrat“ schnell verworfen, weil er die Gefahr neuer Ungerechtigkeit erkannt hatte: Nicht jeder besaß die Zeit und die Kreativität zu eigenen Entwürfen. Auch konnte sich nicht jeder leisten, was seinen Vorstellungen entsprach. Die Folge wäre nur erneute Ungleichheit gewesen.
Unser Mensch wusste, dass die Beschlüsse richtig waren. Dennoch wandte es sich, wie es schien, etwas wehmütig von seinen Kleidungsstücken ab. Was es nicht wusste, noch nicht einmal ahnte: Es würde heute einen Mord begehen.