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VORWORT

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1921 besuchte Rabindranath Tagore zum ersten Male Deutschland. Der Nobelpreis, der ihm 1913 verliehen worden war, hatte den indischen Dichter und Essayisten zu einer internationalen Berühmtheit gemacht – und, mit seinen langen Gewändern und seinem wallenden Haar, zu einer Ikone des mystischen Ostens. Große Menschenmengen besuchten in aller Welt seine Vorträge und Ansprachen. In Deutschland hatte Kurt Wolff vor dem Eintreffen des Dichters bereits acht Bände seiner Gesammelten Werke herausgebracht.

Tagores Ruhm machte jedoch auf Thomas Mann keinen großen Eindruck, er mag ihn sogar etwas irritiert haben. Mann lehnte es ab, einen Aufsatz über Tagore zu schreiben, und nahm eine Einladung, ihn kennenzulernen, nicht an. In einem Brief an Hermann Graf Keyserling gab er an, er stelle sich Tagore als allzu »pazifistisch-indisch« vor, »beseelt von einer etwas anämischen Humanität«. Als er dem indischen Besucher ein paar Wochen später im Hause Kurt Wolffs in München begegnete, notierte er in sein Tagebuch: »Der Eindruck einer feinen alten englischen Dame verstärkte sich.« Was Mann insbesondere irritiert haben mag, war, dass der langhaarige Inder »meine Identität wohl nicht aufgefaßt« hatte.

In all diesen Punkten täuschte sich Mann wahrscheinlich. Tagore hatte als junger Mann in Indien Deutsch gelernt; er bewunderte Goethe und Lessing und übersetzte einige Gedichte Heines ins Bengali. Er hatte die Entwicklung in Deutschland genau genug verfolgt, um bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts vor den gefährlichen Entwicklungen dort zu warnen. Er wusste wohl, wer Mann war, auch wenn er das Buch nicht gelesen hatte, das dieser drei Jahre zuvor unter dem Titel Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) veröffentlicht hatte.

In diesem langen, weitschweifigen Pamphlet hatte Mann die Werte des kosmopolitischen Humanismus, die Tagore teuer waren, vehement kritisiert. Er hatte seinen eigenen Bruder Heinrich als »Zivilisationsliteraten« angegriffen: Das Wort sollte demokratisch gesinnte Autoren bezeichnen, die ihren Lesern nicht ohne Pedanterie beibrachten, fortschrittlich und zivilisiert zu sein wie die Franzosen, und so die Deutschen zu »Selbstekel und Einfremdung, kosmopolitischer Hingabe und Selbstentäußerung« zwangen. Jahrzehnte später räumte Mann seine intellektuelle Torheit ein; er sagte von einem Artikel Goebbels’, er entspreche in etwa dem, »wie ich vor 30 Jahren geschrieben habe«.

Auch fast ein Jahrhundert später sind die prononcierten Gegensätze zwischen Mann und Tagore instruktiv. Der deutsche Romancier nahm die Perspektive des aufsteigenden, aber in seinem Ehrgeiz frustrierten imperialen Nationalstaats ein. Der indische Autor, der in einem kolonisierten Land lebte, sprach aus der Erfahrung heraus, einem solchen mächtigen imperialen Nationalstaat unterworfen zu sein – Großbritannien. Es ist nicht überraschend, dass die feine alte englische Dame im Nationalismus ein krankhaftes neues Element in den menschlichen Beziehungen sah, während Mann den Nationalstaat noch als zentrales Ideologem der Moderne fetischisierte, eben als sich der Nationalismus anschickte, in sein extremstes Stadium zu treten.

In seinem beeindruckend einsichtsvollen Buch Nationalismus – das aus drei Vorträgen besteht, die Tagore im Jahre 1916 in den USA und in Japan gehalten hatte – stellt der Autor eine einfache Frage: »Was ist so eine Nation?« Seine Antwort schneidet durch alle Idealisierungen hindurch: »Eine Nation, im Sinne der politischen und wirtschaftlichen Vereinigung eines Volkes, ist das Aussehen, das eine ganze Bevölkerung annimmt, wenn sie für einen mechanischen Zweck organisiert wird.« Im Gegensatz zu den gewöhnlichen menschlichen Beziehungen in der Gesellschaft, die »als solche keinen weiteren Zweck« haben, reguliert und diszipliniert die moderne westliche Nation ihre Bevölkerung und lenkt ihre kollektive Energie auf bestimmte materielle Ziele.

Für ein Buch, das von einem angeblich verträumten Dichter geschrieben worden ist, enthält Nationalismus eine überraschende Fülle solcher präziser Definitionen. Ob die Nation aus einem ethnischen, kulturellen oder sprachlichen Zusammenhang hervorgeht – sie ist für Tagore eindeutig modern, westlich, exklusiv, größer als die Summe ihrer Teile und ausgestattet mit einer kalten, instrumentellen Rationalität, welche der Staat propagiert. Die Nation ist stets der Nationalstaat, in intensiver wirtschaftlicher und militärischer Konkurrenz mit anderen Nationalstaaten gefangen. Als solcher repräsentiert der Nationalstaat den »organisierte(n) Eigennutz eines ganzen Volkes …, jene(n) Zug an ihm, der am wenigsten menschlich und geistig ist«; »die nationale Maschinerie des Geschäfts und der Politik« stößt »säuberlich gepresste Bündel an Menschheit aus, die ihren Zweck und ihren hohen Marktwert haben«.

Tagore ist sich klar über das völlig Neue dieses organisierten Eigennutzes. »Noch nie gab es so fürchterliche Eifersucht, einen solchen Verrat am Vertrauen; all dies nennt man Patriotismus, und dessen Glaubensbekenntnis heißt Politik.« Mehr noch, »diese Idee der Nation, die heute allgemein akzeptiert wird, möchte den Kult des Egoismus als moralische Pflicht verkaufen … sie führt nicht nur Raubzüge durch, sie bedroht das Lebenszentrum der Menschheit.« Sie hat eine neue politische Zivilisation errichtet, wo die Nationen in einer »Atmosphäre des Misstrauens, der Gier und der Panik leben«. Eine solche Zivilisation »ist raubtierhaft und kannibalisch, sie nährt sich von den Ressourcen anderer Völker«, und sie »versucht alle Anzeichen von Größe außerhalb der eigenen Grenzen zu ersticken.«

In demselben Jahr, da Lenin den Imperialismus als das letzte Stadium des Kapitalismus identifizierte, sah Tagore den manisch konkurrierenden Nationalismus als den Motor für die kollektive Mobilisierung, die Reglementierung und das gierige Raufen um Territorien, die Europa in den Ersten Weltkrieg getrieben hatten. Er schrieb:

Doch wenn mit Hilfe der Wissenschaft und der Perfektionierung der Organisationsformen diese Macht zu wachsen anfängt und Reichtümer erzeugt, dann überschreitet sie ihre Grenzen mit erstaunlicher Schnelligkeit. Denn dann stachelt sie alle benachbarten Länder mit der Gier nach materiellem Wohlstand auf, mit der sich hieraus ergebenden gegenseitigen Eifersucht, mit der Angst, die das mächtige Wachstum eines jeden Landes nun zwangsläufig auslöst. Es kommt die Zeit, da diese Macht nicht mehr innehalten kann, denn die Konkurrenz wird schärfer, die Organisation wuchert immer weiter und die Selbstsucht gelangt zur Alleinherrschaft.

Mit seiner hellsichtigen Wahrnehmung der Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts ist Tagore ein Vorläufer jener europäischen Autoren und Denker – Mann, Valéry, Musil, Jaspers, Hannah Arendt und viele andere –, die sich im Zeitalter zweier Weltkriege und des Genozids mit dem Zusammenbruch der Zivilisation im Herzen des modernen Westens auseinanderzusetzen versuchten. Mit seiner Betonung der mechanischen, organisatorischen Seite des Nationalstaates nahm Tagore auch eine Kritik vorweg, die von Foucault, Agamben und Esposito ausführlich theoretisch fundiert worden ist, die Kritik der regulativen und disziplinierenden Bio-Macht des modernen Staates.

Was noch wichtiger ist: Tagore sah unsere eigene Epoche des aggressiven nichtwestlichen Nationalismus voraus. Er ließ nie ab, Japan, den mächtigsten asiatischen Staat seiner Ära, wegen der Übernahme des Nationalismus westlichen Stils zu kritisieren: jener politischen Zivilisation, die auf Exklusivität beruht »und die ganze Welt überwuchert hat wie ein unaufhaltsames Unkraut«. Er wäre in seiner Sichtweise durch das Schicksal Japans bestätigt worden, als das Land in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vom Nationalismus in den suizidalen Militarismus schlingerte. Heute aber regiert in Tagores eigenem Land eine Partei, die den hinduistischen Suprematismus predigt und sich von Nazis und Faschisten inspirieren lässt; sie mehrt ihre Macht, indem sie Minderheiten verteufelt und grotesk übertriebene Phantasien von indischer Stärke verbreitet.

Die indischen Wähler wählten unbegreiflicherweise Narendra Modi, einen des Massenmordes verdächtigen Politiker, trotz seiner erwiesenen Absurdität und Inkompetenz wieder; hier bleibt Tagores Erklärung plausibel: »Das Volk akzeptiert diese allgegenwärtige Bewusstseinssklaverei fröhlich und stolz, weil es das nervöse Bedürfnis hat, sich in eine Maschine der Macht zu verwandeln, eine sogenannte Nation, und anderen Maschinen in ihrer kollektiven Weltlichkeit nachzueifern.«

Tagores Kritik dieses mimetischen Nationalismus begann mit der einfachen Idee, dass es für Asiaten keinen Grund gebe, anzunehmen, »der Aufbau einer Nation nach europäischem Muster sei die einzige Form von Zivilisation und das einzige Ziel des Menschen«. Er war in frühen Jahren von militanten indischen Nationalisten fasziniert gewesen. Doch kam er zu der Überzeugung, dass »meine Landsleute ihr wahres Indien dadurch erlangen werden, dass sie gegen eine Erziehung kämpfen, die behauptet, ein Land sei etwas Größeres als die Ideale der Menschheit.«

Er spürte durchaus die schiere Potenz des Nationalismus: »Die Idee der Nation ist eine der mächtigsten Drogen, die je erfunden wurden. Unter ihrem betäubenden Einfluss kann das ganze Volk einem systematischen Programm des aggressivsten Egoismus folgen, ohne sich im mindesten der moralischen Perversion dieses Vorgangs bewusst zu sein – tatsächlich wird es gefährlich zornig, wenn man darauf hinweist.«

Tagore selbst sah sich mit viel Empörung und Feindseligkeit konfrontiert, als er asiatischen Studenten unangenehme Wahrheiten über den Nationalismus sagte. Thomas Manns Misstrauen erstreckte sich quasi über die ganze Welt; Studenten in China, Nationalisten in Indien und Japan und auch besiegte Deutsche wandten sich gegen Tagore. Bei einer Veranstaltung in China wurde er von Studenten ausgebuht und mit Rufen verhöhnt wie: »Geh fort, Sklave eines verlorenen Landes! Wir wollen hier nicht Philosophie, wir wollen Materialismus!«

Gegen Ende seines Lebens (er starb 1941) warnte Tagore: »Die sorgfältig gehegte, aber schädliche Pflanze des nationalen Egoismus samt auf der ganzen Welt. Die Schuljungen des Ostens jubeln über die Ernte aus diesen Samenkörnern – weil diese Ernte der Antipathie mit ihrem sich endlos wiederholenden Zyklus einen sonoren westlichen Namen trägt.« Heute, da der Ansteckungsstoff des konkurrierenden Nationalismus sich immer rascher auf der ganzen Welt und in allen von Tagore bereisten Ländern ausbreitet, haben dessen Warnungen vor dem »kollektiven Egoismus der Völker, der ihre Herzen überall verhärtet« wieder besondere Bedeutung, und die traumatische Geschichte der hundert Jahre, die seit der Niederschrift seines Buches vergangen sind, hätte uns lehren müssen, wie töricht es war, diese Warnungen zu ignorieren.

Pankaj Mishra

Nationalismus

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