Читать книгу Weil du siehst, wie schön ich bin - Rachel Hauck, Rachel Hauck - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеAn diesem verrückten Januartag, an dem es in Rosebud, Alabama, schneite, spürte Ginger Winters tief in ihrer Seele, dass eine grundlegende Veränderung anstand.
In der Ferne traf das helle Geläut der Kirchenglocken auf das Brausen des Windes, der durch die Main Street fegte.
„Hast du je …?“ Ruby-Jane, Gingers Empfangsdame, beste Freundin und Mädchen für alles, ließ die Wärme hinaus und die Kälte herein, als sie die Eingangstür öffnete. „Schnee in Rosebud. Zwei Stunden Fahrt bis zur Küste Floridas, und hier schneit es.“ Sie atmete tief durch. „Herrlich.“ Dann runzelte sie die Stirn. „Sind das die Kirchenglocken?“
„Für die Hochzeit … am Wochenende.“ Ginger gesellte sich an der Tür zu Ruby-Jane, die oft auch nur RJ genannt wurde. Sie verschränkte die Arme, umarmte sich selbst. „Wenn man Bridgett Maynard ist, müssen sogar die Glocken zur Durchlaufprobe antanzen.“
Ruby-Jane linste zu Ginger hinüber. „Ich dachte, die heiraten auf der Plantage ihrer Großeltern.“
„Tun sie auch, aber um 16 Uhr, wenn die Hochzeit im Magnolienhaus losgeht, werden die Glocken der Kirche von Applewood läuten.“
„Und uns alle stören, die wir keine Einladung bekommen haben.“ Ruby-Jane schnitt eine Grimasse. „Schon traurig, wenn sich deine Kindergartenfreundin in der Highschool gegen dich stellt und dich dann für den Rest des Lebens ignoriert.“
„Sieh’s doch mal so. Bridgett hat dich fallen gelassen, und dann hast du mich gefunden.“ Ginger schaute sie mit unschuldiger Begeisterung an, die so viel bedeutete wie Toll, oder?. Dann klopfte sie auf das Auftragsbuch unter RJs Arm. „Was ist mit den Terminen für heute?“
„Mrs. Davenport hat beinahe einen Anfall bekommen, aber ich habe ihr gesagt, wir würden heute alle Termine verlegen, weil du nicht möchtest, dass jemand bei dem Durcheinander Auto fährt. Und du weißt ja, dass Mrs. Carney wollte, dass du zu ihr nach Hause kommst, aber der habe ich gesagt, dass du auch nicht Auto fahren wirst.“
„Die gute Mrs. Carney.“
„Die anspruchsvolle Mrs. Carney.“
„Ach komm, immerhin kommt sie schon seit dem Zweiten Weltkrieg in genau diesen Laden hier, auch wenn die Besitzer regelmäßig gewechselt haben. Sie ist eine schönheitssalontreue Seele.“
„Egal, sie kommt jedenfalls auch mal einen Tag zurecht, ohne dass du ihr die Haare föhnst. Maggie ist nie nach der Pfeife von diesen Blauschöpfen getanzt.“
„Weil Maggie eine von ihnen war. Ich muss mir ihren Respekt erst noch verdienen.“
„Du hast ihren Respekt längst. Maggie hätte dir diesen Salon nie verkauft, wenn sie dir das nicht zugetraut hätte. Also müssen diese Damen dir das einfach auch zutrauen.“
Der Wind rappelte an den Fensterscheiben und wehte winzige Schneeflocken über die Schwelle. „Brr, ist das kalt. Mach mal die Tür zu.“ Ginger durchquerte den Salon. „Ich glaube, heute werden wir …“, sie zeigte auf die Wände, „… streichen.“
„Streichen?“ Ruby-Jane trug die Terminkladde zum Tresen. „Wie wäre es damit: Wir schließen, gehen nach Hause, setzen uns vor den Fernseher und trauern darüber, dass All My Children nicht mehr läuft.“
„Oder wie wäre es damit: Wir streichen?“ Ginger zeigte auf die Tür zum Hinterzimmer und rollte ihre Ärmel hoch. Eine seltene Geste, aber nachdem die Türen zu und der Salon geschlossen war und es außerdem schneite, machte es ihr nichts aus, ihre runzlige Haut zu entblößen, die sie immer ein bisschen an die topografische Karte eines Landes mit vielen Gebirgszügen erinnerte. „Wir können die alten Kittel überziehen, dann werden unsere Kleider nicht schmutzig.“
Ruby-Jane war neben Mama und Grandpa die erste Person gewesen, die die scheußlichen Wunden gesehen hatte, die seit dem Brand des Wohnwagens ihren Körper zeichneten.
Als sie zwölf Jahre alt war, hatte sich alles für Ginger Winters geändert. Aber aus ihrem Schmerz war auch eine gute Sache hervorgegangen: ihre Supermacht, die Schönheit in ihren Freunden zu sehen und zutage zu bringen. Trotz ihrer hässlichen Entstellungen war sie in der Highschool das Mädchen gewesen, zu dem man in Sachen Haare und Make-up einfach ging.
So hatte sie überlebt. So hatte sie ihren Lebenszweck gefunden. Ihre Fähigkeiten hatte sie an die wunderbarsten Orte geführt. Aber nun, nach zwölf Jahren, war sie wieder zurück in Rosebud und begann einen neuen Lebensabschnitt, indem sie ihren eigenen Schönheitssalon eröffnete.
Sie war von zuhause weggegangen, um eine renommierte Stylistin zu werden und der Rolle des Brandopfers zu entfliehen.
Und das hatte sie geschafft … hatte sie jedenfalls geglaubt, nachdem sie Stellen in Top-Salons in New York, Atlanta und schließlich Nashville bekommen hatte, von wo aus sie als persönliche Stylistin der Country-Sensation Tracie Blue die Welt bereiste.
Dennoch blieb es trotz all ihres Erfolges dabei: Ginger war das Mädchen, das hässlich und vernarbt für immer und alle Zeit von außen zuschaute.
Fakt war: Manche Dinge änderten sich einfach nie. Sollte sie sich je etwas anderes erhofft haben, brauchte sie nur die Rolle zu betrachten, die sie bei der Hochzeit ihrer „Freundin“ dieses Wochenende spielen würde. Die der angeheuerten Hilfskraft.
Ginger zerrte die Farbeimer aus dem Lagerraum. Als sie vor sechs Monaten nach Rosebud zurückgekehrt war und den Papierkram für das Geschäft unterzeichnet hatte, war sie losgezogen und hatte pink-beige Farbe gekauft, in der sie die Wände streichen wollte, um dem alten Schönheitssalon einen frischen Look und einen neuen Geruch zu verpassen. So wollte sie dem historischen Ladengeschäft ihre persönliche Note verleihen.
Aber Maggie hatte ihr nicht nur einen Laden, sondern auch einen vollen Terminkalender übergeben, und Ginger war von jetzt auf gleich voll eingestiegen. Sie hatte bislang gerade genug Zeit gehabt, ihre eigene kleine Wohnung über dem Geschäft zu streichen und zu dekorieren.
Dann gingen die beiden erfahrenen Stylistinnen, die für Maggie gearbeitet hatten, in Rente. Und so hatten sich Zehn-Stunden-Tage in Fünfzehn-Stunden-Tage verwandelt, bis Ginger Michele und Casey einstellte, beide Teilzeitstylistinnen und Vollzeitmütter.
Das Streichen hatte warten müssen.
„Können wir wenigstens was zum Mittagessen bestellen?“ Ruby-Jane öffnete die Türen des Materialschranks, woraufhin ihr die Farbrollen mit den langen Stielen entgegenpurzelten. Seufzend sammelte sie sie auf und lehnte sie gegen die Wand.
„Ja, Pizza. Geht auf mich.“
„Ich liebe dich, Ginger Winters. Du sprichst meine Sprache.“
Neben dem Farbeimer kniend hebelte Ginger den Deckel ab und befüllte die Farbwannen. Danach schob und zog sie die Friseurstühle in die Mitte des Raums und bedeckte die alten Holzdielen in Wandnähe mit Papier und Planen.
„Ich muss zugeben, dass ich diesen alten Laden einfach liebe“, sagte RJ, die zwischen Ladenraum und Hinterzimmer innehielt.
„Ich auch.“ Ginger hob ihren Blick und schaute sich in dem abgenutzten, viel geliebten Raum um. „Wünschst du dir nicht auch, dass diese Wände reden könnten?“
Ruby-Jane lachte. „Ja − weil ich gerne ein paar von den alten Geschichten hören würde. Und nein − weil mir sprechende Wände echt Angst machen würden.“ Sie beäugte Ginger und zeigte mit dem Finger auf sie. „Aber eines Tages werden diese Wände unsere Geschichten erzählen.“
„Können wir nochmal darauf zurückkommen, dass dir sprechende Wände Angst machen?“, lachte Ginger atemlos, als sie den letzten Arbeitsplatz von der Wand wegzog. „Ich will keine Geschichten über mich hören.“
Sie hatte sie doch schon gehört. Freak. Hässlich. Vor der gruselt es mich.
„Ich glaube, die Wände werden ganz wunderbare Geschichten erzählen: Ginger Winters hat Frauen dazu gebracht, sich mit sich selbst wohlzufühlen.“
Sie lächelte Ruby-Jane, die ewige Optimistin, an. „Okay, in dem Fall kann ich mit den sprechenden Wänden leben. Also … streichen. Meine Güte, ist das eine große Wand. Lass uns mit der rechten Seite anfangen. Wenn dann noch Zeit ist, machen wir den Rest. Wenn die rechte Seite erst einmal fertig ist, motiviert uns das bestimmt, den Rest auch noch zu schaffen.“
„Du bist der Boss.“
Ginger legte sich den Schal um ihren Hals zurecht und glättete das Haar, das ihr über die rechte Schulter fiel. Während sie den Mut hatte, ihre Ärmel hochzukrempeln und ihren vernarbten Arm sehen zu lassen, genierte sie sich doch zu sehr, ihren Hals und das abscheuliche Debakel der Hauttransplantation dort zu offenbaren.
Nach zwei Entzündungen und drei Operationen hatte Mama aufgegeben und beschlossen, dass „‚gut genug‘ jetzt einfach mal gut sein muss“.
Die Hand auf die gräulichste, runzligste Stelle an ihrem Halsansatz gepresst, hatte Ginger sich nachts in den Schlaf geweint.
Damals hatte sie gewusst, dass sie nie schön sein würde.
„Du kannst ein Privatleben haben, wenn du nur willst“, sagte RJ, die ihr mit der letzten Station half.
„Wer sagt denn, dass ich eins will?“ Ginger eilte zum Lager. „Lass uns mit dem Streichen anfangen.“
Fünf Minuten später troffen die Rollen nur so, während Ginger und Ruby-Jane die Wand mit frischer Farbe bedeckten und ihre geliebten Countrysongs die Luft erfüllten.
„Bist du denn bereit?“, fragte RJ. „Für das Wochenende, meine ich? Eine Braut, sieben Brautjungfern, zwei Mütter, drei Großmütter …“
„Jap. Das wird der reinste Spaziergang, Kazansky.“
„Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie mich nicht eingeladen hat. Bis zur Highschool waren wir gute Freundinnen.“
„Vielleicht weil du eine Zeit lang mit Eric ausgegangen bist, nachdem sie sich getrennt haben?“
„Ja, stimmt, da war was.“ Seufz. Als Bridgett und Eric nach dem Schulabschluss getrennte Wege gegangen waren, war Ruby-Jane nur allzu begierig gewesen, die zukünftige Mrs. Eric James zu werden.
„Und was die Sache angeht, dass sie dich in der Highschool hat fallen lassen, tja, weiß auch nicht, aber ihr Verlust war auf jeden Fall mein Gewinn.“ Keine wahreren Worte hätten je gesprochen werden können. Tief ausatmend ließ Ginger sich auf die gleichförmige Bewegung des Farbrollens ein.
Im Geschäft war es warm und angenehm. Hin und wieder trafen vereiste Schneekristalle mit einem leisen Geräusch die Fensterscheibe.
„Tja, das stimmt, aber ich glaube schon, dass wir uns auch so angefreundet hätten.“
Ginger warf einen Blick auf ihre große, schlanke Freundin. „Du kannst ja als meine Assistentin mit zu der Hochzeit kommen.“
„Und meine Schande als Helferin der Helferin vor allen zur Schau tragen? Nein, danke.“
Ginger lachte. „Auch wahr. Stattdessen kannst du dich ja von Victor Reynold zu einem romantischen Abendessen ausführen lassen.“
„Ha! Von dem habe ich seit Wochen nichts gehört.“
Ginger ließ ihre Farbrolle sinken. „Echt? Warum hast du nichts gesagt?“
„Och, ich weiß auch nicht … Ich bin 29, geschieden, lebe in meiner Heimatstadt bei meinen Eltern in meinem alten Kinderzimmer, und das Ende vom Lied ist, dass ich Victor Reynolds nicht bei der Stange halten kann.“ Ruby-Janes Gesicht verfinsterte sich. „Victor Reynolds … der in der Highschool absolut keine Verabredung abbekam.“
„Wir beide.“ Ginger rollte den Farbroller auf und ab. „Die Single-Sisters in trauter Solidarität.“
„Bäh, wie deprimierend. Immerhin hast du eine Berufung. Ein besonderes Talent.“ Ruby-Jane tauchte ihre Rolle in Farbe. „Du kannst eine ganz gewöhnliche Frau ganz außergewöhnlich schön machen.“
„Ich liebe, was ich mache.“ Ginger blickte sich im Laden um. „Und ich will das hier zum besten Ort für Haare, Make-up und alles, was schön ist, in der ganzen Umgebung machen. Ich hoffe, dass ich nächstes Jahr eine Hautspezialistin einstellen kann.“
Sie ging ein paar Schritte zurück, um das Beige-Pink zu bewundern, das nun die matte gelbe Wand bedeckte. Sehr schön. Das gefiel ihr wirklich gut.
Dinge – Frauen – zu verschönern, war ihre Berufung, ihre Pflicht im Leben. Sie steckte jede Faser ihres Herzens und ihrer Seele in ihre Arbeit, weil die Wahrheit so aussah, dass sie das nie für sich selbst tun könnte.
Und dieses Wochenende würde Ginger bei der Alabamer Hochzeit des Jahres, wenn nicht des Jahrzehnts, ihre Rolle als Stylistin hinter den Kulissen spielen. Nicht umsonst nannte Tracie Blue sie „die Schönmacherin“.
Die feine Bridgett Maynard heiratete den Sohn des Gouverneurs, Eric James. Eine Jugendliebe von der Rosebud High, schöne Menschen, vereint unter den Schirmen Erfolg und Wohlstand.
Während Ginger sich darauf freute, mit Bridgett zu arbeiten, freute sie sich nicht unbedingt auf das Wochenende. Sie würde auf der alten Plantage bei ihnen wohnen müssen.
„Na, wenn es eine schafft, diesen Laden hier zu einem Erfolg zu machen, dann du. Als ich Mrs. Henderson zuletzt gesehen habe, hat sie immer noch gelächelt, weil du ihr die Haare so schön gemacht hast.“
„Grandpa war der Erste, der mir gesagt hat, dass ich die Schönheit in allen anderen sehen könne.“ Das hatte sie auch an jenem Tag getan, als Mrs. Henderson in ihrem Stuhl gesessen hatte, mit ihrem überfärbten, überdauergewellten, welken Haar. „Ich habe ihm geglaubt. Er hat mir jeden Monat ein neues Puppenbaby gekauft, weil ich denen immer die Haare abgeschnitten habe. Bis auf den Gummischädel.“ Gingers Herz lachte. „Mama ist immer wütend geworden. ‚Daddy, hör auf, dein Geld zu verschleudern. Sie wird die doch wieder nur kaputt machen.‘ Und dann hat er immer gesagt: ‚Sie wird zu der, die sie sein soll.‘“ Ginger tauchte die Farbrolle erneut ein und begann eine langsame Rollbewegung. Die Erinnerung an das Funkeln von Grandpas blauen Augen ließ ihr warm ums Herz werden.
Sie vermisste ihn. Eine stabile Größe in der Wohnwagensiedlung. In ihrem Leben. Bei ihm hatte sie sich immer sicher gefühlt. Besonders, nachdem Daddy weggegangen war. Und dann wieder nach dem Feuer.
Später war Tom Wells auf der Bildfläche erschienen. Ginger schüttelte sich seinen Namen aus ihren Gedanken. Der verdiente es nicht, Teil ihrer Erinnerungen zu sein. Ein Highschool-Schönling, der sich aus dem Staub gemacht und ihr Herz gebrochen hatte.
Sie hatte ihn aus ihrem Kopf verbannt, bis sie nach Rosebud zurückgezogen war. Bis Bridgett vor drei Monaten in den Salon spaziert war und sie angebettelt hatte, bei ihrer Hochzeit die Stylistin zu sein – da waren dann die gut verpackten Erinnerungen an ihre Jugend in Rosebud, an ihre Zeit auf der Highschool, wieder zurückgekommen.
„Kann ich dich mal was fragen?“, sagte Ruby-Jane, die den letzten Rest Farbe aus ihrer Rolle auf die Wand quetschte. „Warum hast du aufgehört, für Tracie Blue zu arbeiten? Jetzt mal ehrlich. Doch nicht nur, weil Maggie dich wegen des Salons hier angerufen hat?!“
„Es war Zeit.“
„Ist etwas passiert? Es war nicht wegen deiner Narben, oder?“
„Nein.“
„Weil das verrückt wäre, weißt du. Du warst drei Jahre lang mit ihr unterwegs. Deine Narben haben nie eine Rolle gespielt.“
Oh doch, das hatten sie.
Tränen trübten Gingers Sicht, während sie die alte Wand mit einer dicken Schicht Farbe bestrich. Adieu, Altes. Hallo, Neues. Sie verabscheute es, RJ anzulügen, aber über ihre Trennung von Tracie Blue zu sprechen, riss Wunden auf, die niemand wirklich sehen wollte.
Hässlich. Ein Klatschblatt hatte sie so genannt. Letztes Jahr hatte sie im Internet einen Artikel gefunden, der die hässlichsten Stylisten der Stars aufzählte. Und Ginger Winters war die Nummer eins.
Wo sie das Bild von ihr gefunden hatten, auf dem ihr Hals zu sehen war, würde sie wohl nie herausfinden.
Ginger schluckte die aufwallende bittere Galle hinunter, atmete tief durch und rang damit, diese Bezeichnung aus ihrem Kopf zu verbannen.
Wie sie sie aus ihrem Herzen bekommen sollte, wusste sie indes nicht. Die Worte schlugen Wunden und hinterließen Narben tief in ihrem Herzen, sie schufen Fangarme der Scham, die weder lange Ärmel noch bunte Schals abdecken konnten.
Ginger trat einmal mehr zurück, um ihr Stück Wand zu betrachten. „Was meinst du?“
„Mir gefällt es“, sagte Ruby-Jane. „Sehr.“
„Mir auch.“ Langsam fühlte sich der Salon wirklich wie ihrer an.
Im Radio kamen die Nachrichten zur vollen Stunde. Ginger linste auf die Wanduhr. Elf. „Bist du hungrig? Lass uns bei Anthony Pizza bestellen“, sagte sie, klemmte den Griff ihrer Rolle unter den Arm und zog ihr Handy aus der Hosentasche. „Ich glaube, eine große Käsepizza wäre genau richtig.“
„Ganz mein Geschmack. Oh, und bestell noch überbackenes Käsebrot dazu.“ Ruby-Jane ging ein paar Schritte zurück und inspizierte ihre Arbeit. „Ich liebe diese Farbe, Ginger. Der Laden wird traumhaft aussehen.“
„Gestern Abend habe ich im Netz noch nach neuen Lampen gesucht und … Hallo, Anthony, hier ist Ginger vom Schönheitssalon die Straße runter. Gut, gut, wie geht es dir? Ja, bitte … eine große Käsepizza … dünner Boden, ja … und eine Portion überbackenes Käsebrot, bitte. Nein, für Ruby-Jane … Ich weiß, die ist süchtig nach Kohlenhydraten.“
„Bin ich gar nicht.“
„Klar, eine von uns kommt vorbei und holt es ab.“ Ginger legte auf und steckte das Telefon wieder ein. „Lass uns das Geld eben aus der Barkasse nehmen.“
Noch während die Worte ihre Lippen verließen, schepperten die Glöckchen an der Eingangstür laut gegen das Glas. Jemand kam herein.
Im Umsehen legte sie ihre Rolle auf die Farbwanne. Ginger schnappte nach Luft. Tom Wells junior.
Ihre Haut schien Feuer zu fangen, als sie den dunkelorangen Schal fester um ihren Hals zog. Lieber würde sie sich Tracie Blues Paparazzi stellen als Tom Wells.
„Na schau mal einer an, wer da kommt. Tom Wells junior, so was.” Ruby-Jane ging zu ihm hin und umarmte ihn fest. „Was führt dich denn hierher? Ginger, schau mal, was da durch die Tür geweht ist.“ RJ schob Tom regelrecht weiter in den Laden.
„Ich seh’s.“
„Ruby-Jane, hallo, schön, dich zu sehen. Ginger … lange her, was!?“ Er fuhr sich mit der Hand über sein langes, gewelltes Haar, und der Blick seiner blauen Augen huschte zwischen Ruby-Jane und Ginger hin und her, der die Knie schlotterten, völlig machtlos in seiner Gegenwart. „Habt ihr auf? Ist Maggie da? Ich wollte mir schnell die Haare schneiden lassen.“
Ruby-Jane klopfte ihm lächelnd auf die Schulter. „Die gute alte Maggie Boyd ist in Rente gegangen.“ Wieder schob sie ihn vorwärts und signalisierte hinter seinem Rücken, dass Ginger mit ihm reden sollte.
„Also hat Maggie endlich ihre Reise nach Irland angetreten? Ich habe mich schon gewundert, warum auf dem Schild Gingers Schnittchen steht.“
„S…sie ist tatsächlich gerade in Irland. Jetzt gehört der S…Salon mir.“ Gingers Stimme wurde immer leiser. In ihren eigenen Ohren, neben dem Donner ihres Herzschlags, klang sie leise und dünn. Sie griff nach dem Stiel der Farbrolle und drehte sich zur Wand. Jetzt reiß dich mal zusammen. Denk dran, was er dir angetan hat. Wenn sie auch nur ein bisschen Mut hätte, würde sie ihn jetzt mit Farbe überziehen.
„Weißt du noch, wie wir zusammen Mathe gelernt haben, Ginger?“
„Ja.“ Sie warf ihm einen Blick zu, bemühte sich so sehr, ruhig zu bleiben, aber Tom Wells mit seinen blauen Augen und diesen Mammut-Schultern stand nun einmal gerade in ihrem Salon.
Immer noch stumm mit Gesten und Grimassen kommunizierend, ging Ruby-Jane um ihn herum. „Ja, ist ja wirklich lange her, Tom. Seit du die Stadt in unserem letzten Schuljahr verlassen hast. Was führt dich denn her?“
„Ja, wirklich, ist schon eine Weile her. Ich … also, ich bin wieder da. Wegen der Hochzeit. Von Bridgett und Eric.“ Er wirkte reserviert, fast schüchtern. Auf jeden Fall sehr viel demütiger als damals. „Ich bin der Trauzeuge.“
Ginger drückte die Farbrolle an die Wand. Was? Er war einer von Erics Trauzeugen? Sie würde das ganze Wochenende über in seiner Nähe sein?
„Ich habe gehört, das wird die Hochzeit des Jahrzehnts.“ Ruby-Jane wedelte in Gingers Richtung. „Sie ist die Stylistin für den ganzen Zirkus.“
„Echt?“ Trotz seines Gesichtsausdrucks klang Tom beeindruckt. „Überrascht mich gar nicht. Du konntest das immer gut, mit Haaren und so, wenn ich mich recht erinnere.“ Er schaute sich um und wischte sich eine Strähne seines dicken Haars aus der Stirn. „Wie du siehst, brauche ich ganz dringend einen Haarschnitt. Aber anscheinend habt ihr gar nicht geöffnet.“
Sein Lächeln nagelte Ginger förmlich an die Wand. Jetzt komm mal runter, er ist nur auf der Durchreise … lass dich nicht von ihm durcheinanderbringen.
„Tut mir leid, aber wir streichen heute. Du kannst ja ins neue Einkaufszentrum südlich der Stadt fahren, wenn du einen Schnitt brauchst.“
„Die Straßen sind furchtbar“, sagte Tom und kam nah genug, dass sein subtiler Eigengeruch sich unter die Farbdämpfe mischte und sich auf ihr niederließ. „Ein Riesenstau auf dem Highway 21.“
„Du weißt doch, wie es hier im Süden ist“, sagte Ruby-Jane. „Wir können ja noch nicht einmal bei Regen Auto fahren, geschweige denn bei Eis oder Schnee.“
Lachend schüttelte Tom den Kopf. „Sehr richtig.“ Er hob den Blick zu Ginger. „Also, ist es denn möglich, dass ich hier die Haare geschnitten bekomme? Es geht nur jetzt …“
„Aber klar doch.“ Ruby-Jane legte ihre Farbrolle ab, schob die Plastikplane beiseite und führte Tom zu einem Stuhl am anderen Ende des Raumes. „Ginger, ist dieser Arbeitsplatz angeschlossen?“ Mit den Lippen formte sie eine Art stummes Kommando und gestikulierte wild in Toms Richtung. „Bist du bereit?“
In dem Moment bemerkte Ginger ihren Arm, der unter ihrem Umhang hervorschaute und dessen Narben deutlich sichtbar waren. Und er hatte sie direkt angeschaut. Könnte sich der Boden denn nicht auftun und sie am Stück verschlucken? Sie legte ihre Rolle auf der Farbwanne ab, zupfte den Ärmel nach unten und dehnte ihn so, dass er bis zu den Fingerspitzen reichte.
Tom Wells … in ihrem Salon … in ihrem Stuhl … wartete darauf, dass sie sein Haar anfasste. Nur der Gedanke daran gab ihr das Gefühl, sie könnte gleich auseinanderfallen.
„Hör mal, wenn Ginger nicht will …“ Er versuchte aufzustehen, aber Ruby-Jane schob ihn energisch in den Stuhl zurück.
„Will sie doch. Sie kommt gleich. Ginger, kannst du mir zeigen, wo die Barkasse ist? Dann gehe ich los und hole die Pizza.“ RJ packte sie am Arm und führte sie ins Hinterzimmer.
„Was ist denn mit dir los?“ RJ, die ganz genau wusste, wo sich die Barkasse befand, nahm ein Gemälde einer Blumenwiese von der Wand, unter dem sich der Safe befand, und drehte am Stellrad. „Tom Wells … hallo!“ Sie griff nach der Geldtasche. „Wenn der mal nicht noch besser aussieht als damals in der Highschool, esse ich die Pizza alleine auf, und den Karton dazu. Und nett. Er wirkt so nett. Wie unfair, findest du nicht auch? Männer sehen immer besser aus, je älter sie werden, und bei Frauen hängt einfach alles.“
„Was mit mir los ist?“ Ginger hielt ihre Stimme gesenkt, sprach aber energisch. „Ich werde dir sagen, was mit mir los ist. Er war der einzige Junge, den ich je geliebt habe, der mich überhaupt je beachtet hat − und dann lässt er mich noch vor unserer ersten Verabredung sitzen.“
Ruby-Jane nahm einen Zwanziger heraus und schloss die Geldtasche wieder sorgfältig ein. „Seine Familie ist umgezogen, weißt du noch?“ Sie schlüpfte aus ihrem Malerkittel, den sie über eine Stuhllehne legte.
„Aber er hat mir nicht einmal gesagt, dass er weggeht. Wie schwer kann es sein, zum Hörer zu greifen? ‚Äh, Ginger, ich schaffe es nicht. Dad sagt, wir ziehen um.‘ Und später hat er auch nie angerufen oder wenigstens mal geschrieben.“
„Dann geh halt da rein und versau seinen Haarschnitt, um es ihm heimzuzahlen. Aber Liebegutebeste …“ Ruby-Jane wackelte mit den Augenbrauen. „Es ist Tom Wells. Der Tom Wells. Außerdem ist das zwölf Jahre her. Erzähl mir nicht, dass du ihm das immer noch nachträgst.“
Tom Wells, ein Name, der Assoziationen weckte – umwerfend, athletisch, glühend, knieerweichend, küssbar …
Ginger packte RJ an den Armen. „Lass mich nicht mit ihm alleine. Bleib hier. In zehn Minuten bin ich fertig.“
„Vergiss es. Bis dahin ist die Pizza kalt.“ RJ feixte und ging um Ginger herum zurück in den Ladenraum. „Sag mal, Tom, wir haben zu viel Pizza bestellt. Hast du Lust, ein Stück mit uns zu essen?“
Memo an mich selbst: Ruby-Jane feuern.
Die Glöckchen schellten, als RJ hinausging. Munter winkte sie Ginger durch die Schaufensterscheibe zu. Keine Sorge, RJ. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.
„Ginger“, sagte Tom im Aufstehen. „Ich werde dich nicht dazu zwingen, mir die Haare zu schneiden.“
Ganz kurz trafen sich ihre Blicke. Ihr Herzschlag pulsierte in ihrer Kehle. Aus dem Augenwinkel konnte sie die kleinen weißen Schneewirbel sehen, die über sie hinwegtrieben. Selbst wenn sie ihn jetzt wegschickte, würde sie ihn bei der Hochzeit sehen müssen. Da konnte sie genauso gut seine Haare schneiden und ihn dann am Wochenende ignorieren.
„Ist schon gut.“ Sie wies auf die Waschbecken, zog sich den Kittel aus, den sie zum Streichen getragen hatte, und band sich eine saubere Schürze um. „Nimm das ganz rechts.“
Tom machte es sich in dem schwarzen Stuhl bequem, während Ginger seinen Kopf in die Kuhle des Waschbeckens legte.
„Wie geht es dir?“, fragte er, während sie seinen Kopf mit warmem Wasser benetzte.
„Gut.“ Sie zögerte. Dann fuhr sie mit den Fingern durch sein dichtes Haar. In der Highschool hatte sie davon geträumt, Toms dunkle, schwere Locken zu schneiden. Als Mr. Bickle sie dann in Mathe als Lernpartner zusammengespannt hatte, war sie sicher gewesen, sie wäre gestorben und im Himmel wieder aufgewacht.
Der Duft seines Rasierwassers überschwemmte nach und nach ihre Sinne. Sie atmete bewusst aus und versuchte, ihr Adrenalin zu zügeln, aber eine Berührung seiner weichen Locken reichte aus, und ihre Adern wurden zu Autobahnen der Sehnsüchte.
Das bedeutet überhaupt nichts. Nur ein Kunde … nur ein Kunde.
Ginger lugte in Toms Gesicht hinunter − eine Zusammenstellung der schönsten Gesichtszüge, die die Stars von Hollywoods Goldenem Zeitalter hervorgebracht hatten. Cary Grants Kultiviertheit mit Gregory Pecks heißem Blick, gemischt mit Jimmy Stewarts liebenswertem Mann-von-nebenan.
Ruhig jetzt … Als sie sein Haar einschäumte, fiel ihr Blick auf ihr eigenes Bild in einem der Spiegel.
Ihr Schal war verrutscht und gab den Blick frei auf ihre grässliche Narbe, die vor Scham rot leuchtete. Ginger steckte den Schal zurück an seinen Platz, ehe Tom aufschauen und sie sehen konnte.
Sie würde sich nie daran gewöhnen. Nie. Die Hässlichkeit. Die Erinnerung an das Feuer, an den Tag, an dem ihr klar wurde, dass sie ihr Leben lang gezeichnet sein würde. Daran, wie sie im Bett lag und weinte und wusste, dass niemand sie je wollen würde. Selbst mit erst zwölf Jahren hatte die Wahrheit bereits durch ihren Kopf geschallt.
Niemand … niemand … niemand …