Читать книгу Das verlorene Kind - Rahel Sanzara - Страница 5
I
ОглавлениеChristian B. lebte in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts als Domänenpächter auf dem Gute Treuen bei L. im nördlichen Deutschland. Er war das jüngste Kind eines wohlhabenden Bauern, und seine Heimat war im Bezirke M. des gleichen Landkreises, einige Tagereisen von Treuen entfernt. Er hatte sie schon früh verlassen.
Bei seiner Geburt waren seine beiden Brüder bereits erwachsen gewesen und hatten mit dem Vater den elterlichen Hof beherrscht. Die Mutter starb früh, er hatte sie nie gekannt.
Sein Vater hatte beschlossen, daß der jüngste Sohn studieren, Geistlicher oder Lehrer werden sollte. So kam Christian als zehnjähriges Kind in die Kreisstadt und besuchte die Schule. Er war der fleißigste Schüler von allen, das Lernen fiel ihm leicht. Er war ein ernstes, ruhiges Kind, voll Güte und Bescheidenheit, und gewann alle Menschen zu Freunden. Es war ihm gegeben, daß sein Lachen rein, seine Handlungen gut und seine Tränen freudige sein konnten. Kein Leid, keine Bitterkeit, keine Enttäuschung, die das Leben selbst für ein Kind schon birgt, traf ihn. Sein Glück war keines andern Leid. Er hatte nie Verlangen nach der Heimat, seinen Fleiß stachelte kein quälender Ehrgeiz, sein Leben war ruhig, ohne Ziel. Er war fromm, im festen Glauben seiner Zeit erzogen, und betete in Demut, aber auch in einem unbedingten Vertrauen zu Gott.
Und doch geschah es, daß er, als er vierzehn Jahre alt war, im Dunkeln sich fürchtete. Es war eine sonderbare Furcht, ohne greifbaren Grund. Sie überfiel ihn zum erstenmal, als er, vor Freude über die Genesung eines lange und schwer erkrankten Kameraden schlaflos, in einer Nacht am Fenster des Schlafsaales stand. Sein Herz schlug; er fühlte noch die Berührung, mit der der Wiedergenesene seine Hand ergriffen und sie zart, aber freudig gedrückt hatte. In der Erschütterung, die diese Erinnerung in ihm hervorbrachte, bereitete sich in seinem Innern die große Ahnung der Liebe vor; der Knabe ahnte, daß nicht nur die Menschen ihm zu Freunden waren, sondern daß auch er Freund den Menschen bedeuten konnte, er begriff, daß er einmal als Mann lieben würde. Obwohl ihm diese Offenbarung aus reinstem Herzensgefühl kam, rührte sie doch mit ihrem Glück bis ins Tiefste auch seinen Körper auf. Und diesem zum erstenmal gefühlten Glück drängte sich plötzlich die zum erstenmal gefühlte Furcht entgegen. Finsternis erschreckte ihn. Es war eine mondlose Nacht. Um ihn schliefen die anderen, er sah sie nicht, er hörte nur ihren Atem. Dunkelheit war auch um sie, aber eine andere, hellere Dunkelheit als die, die um ihn stand. Er fühlte sie um seinen freudig erregten Körper geschmiegt, eng wie eine zweite Haut, in der er eingefangen war mit allen Strömen seines Blutes. Er fühlte sie als eine böse, drohende, wesenlose Macht, die sein mit Freude erfülltes Herz bezwang, es mit abgrundtiefer Furcht durchschauerte, aber es ließ ihn nicht fliehen, nicht an Gott denken, den gütigen Erfüller aller seiner Gebete, regungslos mußte er stehenbleiben, mußte der Furcht gehorchen, der entsetzten Traurigkeit seines Herzens sich hingeben. Am Tage war dann alles wieder heiter, eben und schön.
Als seine Schulzeit ihrem Ende zuging und er kurz vor der Prüfung stand, starb sein Vater. Die Nachricht kam plötzlich und unerwartet. Er begriff sie nicht völlig, und in einem dumpfen, schmerzlichen Erstaunen bereitete er seine Abreise in die Heimat vor.
Am Abend vor der Reise streifte ihn, als er verworren in der frühen, herbstlichen Dämmerung durch die kleine Stadt eilte, im Scheine einer Straßenlampe schnell und dicht eine Frau. Ihr schneeweißes Gesicht tauchte aus der Dunkelheit auf in den Kreis des Lichtes und schwebte so nahe an dem seinen vorüber, daß er den Atem des lächelnd geöffneten Mundes spürte. Die Augen, schwarz unter dichtem Haar, das seine Schwärze bis tief über die Stirne senkte, waren weit und schamlos aufgeschlagen, wogend ergoß sich Finsternis in seinen Blick. Als es vorbei war und er sich umwandte, sah er eine graugekleidete, mittelgroße und leicht üppige Frau in der Dämmerung die Straße weitereilen. Aber ihr Blick verließ ihn nicht. Nachts vor dem Schlaf, in der Dunkelheit, fühlte er ihn um sich, erkannte in ihm wieder jene tiefere Finsternis, vor der er als Kind sich gefürchtet hatte.
Als Christian am nächsten Abend in der Heimat ankam, war der Sarg schon geschlossen, er sah das Angesicht seines Vaters nicht mehr. Das Begräbnis fand am Mittag des nächsten Tages statt. Eine Woche später wurde das Erbe nach den Bestimmungen des Testamentes geteilt. Es war ein schönes, großes, schuldenfreies Bauerngut vorhanden und ein Barvermögen von siebentausend Talern. Das Geld erbten die beiden jüngeren Geschwister, Christian und seine einzige Schwester Klara, das Gut übernahmen die beiden älteren Brüder und zahlten nach Vereinbarung den kleinen Anteil, den die beiden jüngeren Kinder noch daran hatten, aus der Mitgift ihrer Frauen aus, so daß sie es als Alleinbesitzer führen konnten.
Doch Christian kehrte nicht zur Stadt zurück. Ihn hielt die Heimat, der Duft der Erde, der Dunst der Tiere, die Nähe der Menschen, die gleich ihm groß, licht und still waren.
Er blieb bei den Brüdern. Er ließ die Früchte seines jahrelangen Studiums fallen, er verbarg sein Wissen, die Kenntnisse, die er erworben, er diente den Brüdern zwei Jahre lang als Knecht, arbeitete die schlechteste Arbeit um Lohn und Brot. Dann, nach zwei Jahren, im Herbst, ging er fort und durchzog wandernd das Land. Als er nach einem Monat zurückkam, hatte er, zweiundzwanzigjährig und kaum mündig, die offene Pacht der Domäne Treuen übernommen. Die Brüder schalten ihn. Zwar war der Zins nicht hoch, doch die Domäne, einem großen, an der Grenze des Landes liegenden fürstlichen Grundbesitz zu eigen, jahrzehntelang von Pacht zu Pacht heruntergewirtschaftet, befand sich mit abgenutztem Inventar und ausgesaugtem Boden in einem solchen traurigen Zustand, daß ohne Zuwendung aus eigenen Mitteln zur Aufbesserung und Neuanschaffung von Vieh und Geräten kaum die Pacht zu gewinnen war. Doch unbeirrt zog Christian im neuen Jahr dort ein. Die erste Zeit war schwer und forderte die Arbeit seiner ganzen jungen Kraft Tag und Nacht. Der Besitz war in der Anlage von größtem Ausmaße und versprach vieles für einen Bewirtschafter, der durch Klugheit, Unternehmungsgeist und eine höhere Umsicht das Gegebene nutzen konnte.
Der junge Pächter ergriff alles mit einer verschwenderischen Freude, mit einer Freude mehr an der Arbeit als am Gewinn. Er kam um die Erlaubnis ein, aus eigenen Mitteln Ställe und Scheunen neu aufzurichten, Werkstätten verschiedener Art in den leerstehenden Katenwohnungen aufzutun, und erhielt sie auch gegen die Vergünstigung, in der der Pacht zugehörigen Jagd fälliges Holz zu eigenem Nutzen schlagen zu können. Er gründete mit den letzten Mitteln seines Vermögens ein Hauswesen, das bald als das schönste im Landkreis galt. Mit siebenundzwanzig Jahren hatte er Unkosten und Pacht überholt, besaß zwei eigene Wagen mit schönen Kutschierpferden, und achtundzwanzig Menschen gab er Arbeit und gutes Brot, Heimat und Frieden. Die Verwaltung des Gutes verlängerte auf Grund dieser Erfolge die Pacht auf fünfzehn Jahre und errichtete ihm ein neues, schönes, geräumiges Wohnhaus.
Christian lebte allein. Freude und Gewinn teilte er mit seinen Knechten und Mägden, Sorgen und Mühen trug er allein. Als die größten Schwierigkeiten bezwungen waren und seine Abende voll Ruhe, begann er wieder in den Büchern der Schulzeit zu lesen, die er erst jetzt zu begreifen meinte. Er las in der Bibel, und gerecht und gut geordnet schien ihm die Welt unter Gottes Gesetzen. Er fühlte sich glücklich in dem Leben, das er sich gewählt hatte, in der Arbeit, die ihm zugewiesen worden war. Er sehnte sich, noch tiefer das einfache, allgemeine menschliche Schicksal zu erfüllen, in seinem Herzen dachte er oft an Weib und Kind. Begegnete er jungen Mädchen, so betrachtete er sie voll inniger Rührung. Es waren hohe, starke Gestalten, die Wangen rot und golden, wie Morgenröte gefärbt, das Haar wie die Felder im August, zur guten Zeit der Ernte, der Mund schmal und fromm geschlossen wie der seine. Die Augen, von der Farbe des Himmels am klaren Mittag, waren gesenkt wie die seinen, wenn er leise und zart mit ihnen sprach. Aber es hielt ihn zurück, die zu lieben, die geschaffen waren wie er selbst. Er blieb allein. Mit Zärtlichkeiten umschmeichelte er die Haustiere, streichelte das Fell des ergebenen Hundes, den dunklen, weichen Pelz der Katze. Die Dunkelheit der Nacht, plötzlich um ihn geschlagen, wenn er am Abend das Licht verlöschte, ermahnte ihn, die Furcht der Kindheit war um sein Herz und hielt es einsam.
Zu Beginn des Winters aber fuhr er an einem Mittag in die kleine Stadt, um Geschäfte mit dem Viehhändler abzuschließen, und trat auf dem Rückweg in den kleinen Laden ein, wo er für die Wirtschafterin Besorgungen für die Küche, Öl für die Lampen kaufen wollte. Während des Nachmittags hatte es zum erstenmal geschneit, in der Dämmerung strahlte die traurig versunkene Erde wieder auf, in weißem, zartem Schein.
Im Laden brannte die Lampe, die mit einem großen weißen Blendschirm über dem Ladentisch hing und im Umkreis ihres Scheines die Fläche seines weißen Holzes beleuchtete mit allem, was sie trug an Büchsen und Gläsern, während sie den übrigen Raum, die Regale mit den Kästen, die Fässer und Säcke in Dämmerung ließ. Der Laden war leer. Auf Christians Ruf öffnete sich eine Nebentür leise, eine Gestalt glitt in den Lichtkreis der Lampe, und als Christian, auch zum Lichte tretend, sich ihr entgegenbeugte, leuchtete plötzlich das schneeweiße Gesicht einer Frau so nahe dem seinen entgegen, daß der Atem des roten, lächelnd geöffneten Mundes ihn weich berührte. Vor seinem niedergesenkten Blick lag die Finsternis weitgeöffneter, schwarzer Augen. Bis zum nächsten Lidschlag dieser Augen hielt sein Herz inne im Schlag, verströmte ihm Blut und Zeit ins Grenzenlose. Dann erwachte er und trat zurück. Er sah sie an. Es war ein junges Mädchen, das er hier noch nie gesehen hatte, eine fremdartige Gestalt, klein, zart und doch von leichter Üppigkeit, ihr Haar war schwarz, glänzend umgab es das Haupt und das weiße Gesicht bis tief in die Stirn hinab. Er sah ihre kleinen, vollen Hände zittern, der Blick ihrer Augen war jetzt gesenkt, doch der Mund war noch immer lächelnd geöffnet. Er reichte ihr das kleine Papier, auf dem von der Wirtschafterin die Einkäufe aufgeschrieben waren, und sie begann ihn zu bedienen. Ihre Bewegungen waren geschmeidig und voll besonderer, zarter Lebhaftigkeit, als würden sie zum Tanz oder zur Freude getan. Ihr weißes Gesicht mit seinem Lächeln tauchte auf im Lichtkreis der Lampe und leuchtete noch schimmernd, wenn es wieder zurückgeneigt war ins Dunkle des Raumes. Sie sprachen nicht miteinander. Als alles, Pakete und Säcke, auf den Wagen geladen war, wobei eines dem andern in einer seltsamen Vertrautheit half, fuhr er fort, ohne an das Bezahlen zu denken, und das Mädchen hielt ihn nicht auf.
Auf der Heimfahrt fühlte Christian sich erzittern in der alten, kindlichen Furcht, aber sein Herz war ruhig, klar in der Entscheidung. Aus des Mädchens weitem Blick war Finsternis über ihn geschlagen, aber der Furcht drängte sich jetzt in gewaltiger Erregung das Verlangen des Glückes entgegen, und sein Herz entschied, sich hinzugeben Furcht und Glück zugleich. Er kehrte am nächsten Tage schon in die Stadt zurück und erfuhr von dem Krämer, daß das Mädchen eine Waise sei, eine Fremde, die der Pfarrer zu ihm gebracht habe. Ohne mit ihr zu sprechen, ohne sie auch nur wiederzusehen, hielt Christian bei dem Pfarrer um die Hand des Mädchens an. Der Pfarrer begann, ihn zu warnen, riet ihm von einer solchen Heirat ab. Sie sei eine Waise, besäße wohl ein kleines Vermögen von ihrem Vater, aber niemand kenne ihn, auch sie selbst nicht, und die Mutter, eine »gefallene Tochter des Landes«, habe bei ihrem Tod ihn, den Pfarrer, als Vormund bestellt. Doch Christian bestand darauf, die Fremde zu heiraten, wenn sie wollte. Der Pfarrer ließ das Mädchen kommen, und sie sagte, ohne zu zögern, ja. Am Sonntag darauf traf sich das Paar zum Verlöbnis in der Stube des Pfarrers. Ohne Worte streifte Christian der Erwählten den schmalen, goldenen Ring, den er in der bloßen Hand bereitgehalten hatte, an den Finger, aus einer Brusttasche holte er eine goldene Kette mit einem Kreuz aus Elfenbein hervor, sie neigte lächelnd ihren Kopf, und leicht legte er den Schmuck um ihren Hals. Dann sagte sie leise ihren Namen: »Martha.«
Er sagte: »Christian«, und sie reichten einander die Hände. Die Glocken läuteten, sie gingen zur Kirche. Sie sprachen nicht, aber das Lächeln der Braut war wie ein Glück ohne Ende.
Nach dem Gottesdienst führte er sie im Wagen mit zu sich, zeigte ihr Haus und Hof. Sie fragte nach allem, und bei seinen Antworten runzelte sie aufmerksam die Stirn, wie Kinder es tun, wenn sie lernen. Den Dienstboten, die sie neugierig umschlichen, sah sie fest ins Auge, verscheuchte sie mit stolzem Blick, doch dem Mann gehorchte sie vom ersten Augenblick an völlig. Er litt es nicht, daß sie in die kleine Stadt zurückkehrte, und brachte sie noch an diesem Tage zu seiner Schwester, wo sie bis zur Hochzeit bleiben sollte.
Die Fahrt bis zur Wohnung der Schwester, die fünf Meilen weit von der seinen entfernt lag, ging in die Dämmerung des Wintertags hinein, die Luft war schneidend vor Kälte. Die Sonne hatte geschienen und war am Rande der Felder wie am Horizont eines Meeres versunken, ein schmaler, goldener Saum schwebte noch zwischen dem Himmel und der weiten Ebene der Erde. Der zarte, graue Himmel schien verborgen, in mattem Glanz schimmerte nur noch sein Licht, die kristallen beschneite Erde aber leuchtete.
Christian und Martha, seine Braut, flogen in schneller Fahrt über die Weite, die Luft trieb ihnen scharf entgegen. In Kälte zitternd, schmiegte sie sich an ihn. Die weißen, leichtgekräuselten Federn am Saum ihres dunklen, weichen Kopftuches aus fremdländischer Seide streichelten seine Wangen. Seine Arme, die die Zügel hielten, zuckten bei dieser Berührung gegen seine Brust, und zurückschnellend stießen sie gegen das weiche Fleisch ihres Armes. Er erschrak vor der Freude, die mit dem Strom seines Blutes ihn durchdrang, ein zweites Leben in ihm weckte, er erschrak vor der Wollust, die seinen Körper bis in die ausgestreckten Arme straffte, vor dem Sturm seines Herzens. Hilflos fühlte er Tränen aufsteigen in seinen Augen, so daß er sie nicht, wie das Glück ihn treiben wollte, mit liebendem Blick auf die Frau neben ihm zu richten wagte. Mit einer zarten Bewegung rückte er von ihr ab.
Auch sie hatte seine Berührung gefühlt. Röte stieg in ihr weißes Gesicht bis zur Stirn empor, ihre leuchtend geweiteten Augen schweiften zum Himmel, aus den geöffneten Lippen strömte leises, kicherndes Lachen, ohne Scheu und Furcht gab sie sich den glücklichen Schauern ihres Körpers hin.
Als sie im Hof der Schwester angekommen waren und der Wagen hielt, sprang Christian ab. Mit vorstoßendem Griff, als hätte er einen Feind zu packen, faßte er sie, die sich ihm entgegenneigte, um den Leib, hob sie vom Wagen, hielt sie mit ausgestreckten Armen vor sich hin, lange und unbeweglich. In der Luft schwebend, warf sie den Kopf zurück, lachte in langen, glücklichen Zügen, er sah unter dem aufspringenden Tuch an ihrem Halse ihre kleine weiße Kehle tanzen. Sanft, mit tief befriedeter Kraft, stellte er sie auf den Boden nieder.
Klara, seine Schwester, trat ihnen entgegen. Sie glich dem Bruder völlig an Gesicht und Gestalt, und Christians Dasein stand in einer tiefen Bedeutung zu ihrem Leben.
Als dreizehnjähriges Mädchen hatte sie einst Mutterstelle an ihm vertreten und trotz ihrer großen Jugend den kleinen Bruder mit einer leidenschaftlichen, mütterlichen Inbrunst geliebt. Unermüdlich hatte sie ihn gewartet, ihn auf ihren noch schwachen Armen umhergetragen, bis sie schmerzten, über seinen Schlaf und über sein Gedeihen gewacht und ganz die Spiele und die Gedanken ihrer Jugend vergessen. Das ernste, tiefe Glück, welches ihr diese frühen, mütterlichen Gefühle, diese sorgenden Betätigungen und die Zärtlichkeiten des Kindes bereiteten, wurde zu der großen einzigen Erwartung, die sie dem Leben gegenüber hegte. Sie wuchs auf zu einer schönen bräutlichen Jungfrau, groß und kraftvoll war ihre Gestalt, licht wie die reifen Weizenfelder ihrer Heimat umgab ihr Haar in einem Scheitel ihr Gesicht, der Ausdruck ihrer klaren, scharfblickenden Augen war zugleich voller Unschuld und voller Wissen von dem, was sie als ihr höchstes weibliches Glück erkannt hatte. Sie erwählte sich den Gatten in dem bewußten Verlangen, Kinder zu gebären, mütterliche Liebe zu verschenken und kindliche Zärtlichkeiten zu empfangen, alle jene Wonnen wieder zu empfinden, die der Bruder, als sie selbst noch Kind war, schon in ihr erweckt hatte. Sie heiratete früh den Gutsbesitzer und Baron von G., den einzigen Sohn seiner Eltern, einen Mann, größer und stärker noch als alle anderen, jung, keusch und fromm wie sie. Von seiner Liebe, die sie mit freudiger Hingabe aufnahm, forderte sie, daß das tiefste, das einzige Glück für sie daraus erwachse.
Doch die Ehe blieb kinderlos. Als sie jetzt vor dem Bruder stand, war sie eine Frau, nicht jung, nicht alt, mit traurigen und strengen Augen, den schmalen Mund umkränzt von kleinen Falten der Verzweiflung, und die schöne Blüte ihrer Gestalt schien erstarrt in der Freudlosigkeit einer kinderlosen Mutter. Sie blickte die beiden an, die in einer aufrührerischen Wolke von Jugend und Glück vor ihr standen, und ein Schein milder Traurigkeit und weicher Rührung verdunkelte den allzu klaren Blick ihrer Augen. Christian nahm Marthas Hand und führte sie so der Schwester zu.
»Du weißt, sie hat keine Mutter«, sagte er einfach.
»Aber sie wird Kinder haben«, erwiderte die Schwester und richtete den Blick lange auf den Bruder, weckte die Erinnerung der Liebe, des Glückes der Kindheit in der eigenen Brust auf, und plötzlich schlang sie ihre Arme um ihn in einer seltsamen sehnsüchtigen Umarmung. Verwirrt, neugeweckt nahm sie dann die Braut an der Hand und führt sie ins Haus.
In einem geheimnisvollen Doppelspiel des Gefühles hielt sie in Zukunft Martha bei sich, half ihr bei der Zurüstung zur Hochzeit, bei der Beschaffung der kleinen Aussteuer, die die Braut aus ihrem Vermögen sich herstellen konnte, lehrte sie ihre reichen und guten Erfahrungen in Küche und Haus, beriet mit ihr die zarten Fragen der Zukunft, doch alles wie in einem Traum von eigenem Glück, alles voll eigener bräutlicher Freude und Erwartung, alles in dem Verlangen, selbst dem Bruder, dem Bräutigam und künftigen Gatten in einer Gestalt zu dienen und ihn zu erfreuen. Sie umdachte ihn mit den Sorgen und Wünschen einer wissenden Braut, die sie in Martha, der wirklichen Braut, versenkte wie in ein lebendiges Gefäß.
Martha aber fühlte nichts von dem und lebte in unbekümmerter Freude an ihrem Glück. Christian und sie sahen sich nur an den Sonntagen und nie allein, und doch war zwischen ihnen alles klar, ohne Worte waren sie sich vertraut, strömten sie einer dem andern das tiefste Glück zu. Im März, als alles fertig bereitet, das schöne neue Haus in Treuen gefüllt war mit dem Hausrat und den Möbeln, Stoffen und Gardinen und allen den Zeichen einer künftigen Hausfrau, fand die Hochzeit statt. Sie wurde fast ohne Gäste gefeiert, da die Braut eine Fremde war und der Herr nur sein Gesinde einlud und bewirtete. Nur die Schwester und der Pfarrer führten nach dem Gottesdienst die Braut ins Haus. Aber es war eine vor Glück und stolzer Zuversicht leuchtende Braut. Ihre dunklen Augen strahlten, ihr Mund lächelte, und ihr Gang schien schwebend.
Der Hochzeitstag war ein Sonntag, es war Schneeschmelze. Mit hartem, hellem Licht schien gierig die junge Sonne des Jahres, der Frühlingswind stürmte und jagte die dünnen, lichtdurchtränkten Wolken am seidig blauen Himmel, die schwarze Erde, durchrieselt von warm zerfließendem Eis und Schnee, knisterte im Sprossen ihrer tief verborgenen Keime. Der Abend kam früh, das Fest war kurz. Die Schwester war davongefahren, der Mann und die Frau blieben bald allein zurück. Die junge Frau, wie im Einklang mit der frühlingshaft erregten Natur schwingend in lebensfreudiger Kraft, in glückseliger Erwartung, eilte bald die Treppe empor und trat in das Schlafzimmer ein. Kerzen brannten überall. Es war ein schöner, großer Raum in genauem Viereck, mit hell gestrichenen Wänden, mit zarten, weißen, fein gefalteten Gardinen vor den Fenstern. Es duftete nach Holz und Leim der neuen Möbel. Seitlich der Fenster, von der Mitte der Wand abstehend, ragten die beiden neugebauten Ehebetten, fest zusammengerückt, daß sie ein Ganzes bildeten, ins Zimmer. Sie waren aus hellem Holz gefugt und mit blendend weiß überzogenen Kissen, mit Decken und Leinen aufgebahrt. An der Türwand standen zwei große Schränke aus gleichem Holz, eine Truhe vor dem Fußende der Betten, und alles, Betten, Schränke und Truhe, war mit kleinen, rosafarbenen Blüten bemalt.
Die junge Frau ließ ihre Blicke auf und nieder schweifen, sie neigte sich und öffnete die Truhe. Sie war leer. Die junge Frau lächelte. Sie griff in ihre dunklen, glänzenden Haare, löste sich selbst leicht und schnell Kranz und Schleier ab und legte sie auf den Boden der Truhe nieder. Sie öffnete das schwarze seidene Kleid, zog es aus, faltete es gut zusammen, tat es zu Kranz und Schleier und schloß die Truhe. Sie legte ihr einfaches graues Kleid an, das sie als Mädchen schon getragen hatte, wenn sie im Laden bediente, band eine der neuen Schürzen darauf, löschte die Kerze aus und ging hinab in die Küche.
Die Küche war riesengroß, durch die Hälfte der Breite und durch die ganze Tiefe des Hauses gezogen. Durch zwei Fensterfronten strömte das Licht ein am Tage; ein schöner großer Herd stand im Hintergrund, hohe Regale mit blitzenden Töpfen und Geschirren verkleideten die rückwärtige Wand, während vor den Fenstern der Hofseite, die die Vorderseite des Hauses bildete, die viele Meter lange, weißgescheuerte Tafel stand, umgeben von Bänken und schweren, hölzernen Stühlen, an der alle, Herr und Gesinde, die Mahlzeiten gemeinsam einnahmen. Eine schmale Tür im Hintergrund führte über einen engen, steinernen Gang in die Vorratskammer, in der die Tröge mit Mehl standen, abgeteilt in Futtermehl, Brotmehl und feines Mehl, wo das geräucherte Fleisch, von weißen Leinensäckchen umhüllt, an der Decke hing und auf Stroh gebreitet Eier und Früchte lagen. Eine Falltür in der Mitte des Bodens führte über eine Treppe in den unter ihm liegenden Milchkeller. Da standen die Kübel mit frischer Milch, gegorener Milch, abgezogener Milch und voll süßer und saurer Sahne, in irdenen Schüsseln lagerten die Massen der Butter. Es war alles auf das beste eingerichtet. Die junge Frau sah es wohl, und ohne Zögern ergriff sie davon Besitz, als wäre es ein ihr dargebrachtes Geschenk. Von der Wirtschafterin forderte sie die Schlüssel und das Wirtschaftsbuch. Sie maß mit ihr die Rationen ab, die für den nächsten Morgen zum Füttern des Viehs und zum Bereiten des Frühstücks gebraucht wurden. Sie überwachte zwei junge Mägde, die das Geschirr des Festmahles reinigten, und merkte sich, wieviel es war und an welche Plätze es gestellt wurde. Nichts erschien ihr fremd oder neu. Ein Teil des Gesindes umlagerte noch im Schein der Lampe, die von der Decke herniederhing, die Tafel in festlicher Trägheit. Die Frauen hatten die Hände in den Schoß gelegt und hielten sie dort unbeweglich still, die Männer stützten die Arme schwer auf den Tisch, und alle sahen mit ernsten Blicken auf die junge Frau. Sie ging lächelnd an ihnen vorüber, verließ die Küche und trat in das Wohnzimmer ein, um auf den Mann zu warten, der wegen des windigen Wetters die Ställe selbst mit schloß. Das Wohnzimmer lag, durch den Hausflur getrennt, der Küche gegenüber. Es enthielt Christians Möbel, seinen Schrank mit Büchern, seinen hohen Schreibsekretär aus poliertem Eichenholz, Sofa, Tisch und Stühle. Es war das Zimmer, in dem er gearbeitet und seine einsamen Feierstunden gehalten hatte. Von der Decke herab hing eine brennende Lampe, mit weißem, sanft strahlendem Schirm, welche die purpurrote Decke des Tisches unter ihr flammend erleuchtete. Eine Uhr tickte mit weitausschwingendem Pendel an der Wand. Der Duft des Festes schwebte in der Luft.
Die junge Frau setzte sich auf das Sofa, um zu warten. Ihr schwarzes Haar glänzte tief im Schein der Lampe, in ihrem weißen Gesicht leuchteten ihre lächelnd geöffneten Lippen, ihre leicht ineinandergelegten, vollen Hände ruhten in ihrem Schoß. Sie hörte den Frühlingswind in wilden Sprüngen um das Haus wehen, in Stößen den schweren Frühlingsregen an die Fenster klirren, und dazwischen hörte sie, weit von fern, Schritte bei den Ställen. Sie hörte das Gesinde die Küche nach und nach verlassen und über den Hof in das Gesindehaus gehen, die Uhr ticken an der Wand und dann endlich hochklopfenden Herzens zwischen Regen und Wind die Schritte des Mannes, der zum Hause kam. Sie hörte ihn in die Küche gehen. Sie lächelte und wartete.
Endlich trat er ein. Er blieb an der Tür stehen und sah sie an. Weiß leuchtete ihr Gesicht im milden Schein der Lampe, aus ihrem zärtlichen Blick aber umwehte ihn die weite Finsternis ihrer Augen, die Finsternis, die er fürchtete. Endlich aber sah er auch ihr Lächeln. Er rief sie bei ihrem Namen, zum erstenmal.
»Martha«, sagte er leise.
»Christian«, erwiderte sie.
»Ich wünsche dir Gutes zum Willkommen.«
»Wir werden glücklich sein«, sagte sie und stand auf.
Er trat zu ihr und ergriff ihre Hand. Die Frau nahm sie, hob sie empor und preßte sie fest gegen ihre junge Brust. Seinem zu ihr niedergesenkten Blick lächelte sie entgegen, mit der freien Hand zog sie die Lampe zu sich und verlöschte sie. Im Dunkeln gingen sie Hand in Hand aus dem Zimmer, die Treppe empor, und traten in das Schlafzimmer ein. Im Dunkeln entkleideten sie sich, verhüllt und unsichtbar einander durch die Finsternis einer sternenlosen Nacht.
Der Mann stand am Fenster. Im aufklopfenden Herzen fühlte er die Finsternis der Kindheit, eine tiefere, schwärzere Finsternis um ihn allein als in der ganzen weiten übrigen Welt, eine Macht, die ihn mit mahnendem Zwang gefangenhielt, regungslos, totengleich in dieser lebensfreudigen Minute, die ihn mit abgrundtiefer Furcht durchschauerte, jetzt, in dem Augenblick der Erfüllung seines so klar erkannten, so freudig selbstgewählten Glückes. Er vermochte sich nicht zu rühren, um zu der geliebten, zum erstenmal ihm zugehörenden Frau zu gelangen, es hielt ihn, es zwang ihn, wie einst als Kind, der Furcht, der entsetzten Traurigkeit seines Herzens sich hinzugeben.
Aber die Frau kam zu ihm. Aus ihrer lichteren Dunkelheit brach sie über die Grenzen seiner Finsternis ein. Plötzlich stand sie vor ihm, ihr warmer, reiner Atem wehte an seinen Mund, der Schimmer ihrer weitgeöffneten, lebensfeuchten Augen stieg unter seine gesenkten Lider. Sie strömte leises Lachen aus, sie schlang ihre Arme um ihn und zog ihn mit sich zum Bett. Doch als er plötzlich ihren weichen Kuß auf seinen Lippen fühlte und eine noch nie empfundene tiefe Lockung, packte er sie fest an ihren Schultern, hielt sie noch einmal ab von sich, lange, suchte in der Dunkelheit die Nacht ihrer Augen, bis er sie, die weich ihm entgegenstrebte, endlich in seine Arme nahm.
Sie lebten in einer guten Ehe, in einer langen Reihe von gesegneten Jahren. Der Mann war ein guter Herr, voll Klugheit und unermüdlichem Fleiß in der Arbeit, voll fast weiser Fürsorge für die, die er sich ihm anvertraut hielt. Er konnte befehlen und auch beschenken, er war redlich im Gewinn, der stets nur der gute Lohn der guten Arbeit blieb. Die Frau stand ihm zur Seite in Fleiß und Gehorsam. Was er gebot, war ihr heilig. Er war der Herr am Tage, dem sie untertan war, nie wagte sie, die doch ganz in Glück getaucht war, tagsüber ein Lachen, eine Zärtlichkeit. Doch nachts, von der Dunkelheit umhüllt, ließ sie in ihrem freudig erregten Atem langes leises Lachen aus ihrer Brust ausströmen, schmiegte sich an ihn und zog ihn wie ein Kind in die Umarmung.
Im Winter gebar sie ihren ersten Sohn. Das Kind war zart, und die Mutter, geschwächt von der ersten Geburt, konnte ihm nicht die Nahrung geben. So kam Emma in das Haus, um das Kind zu säugen.
Emma war eine Magd vom Gute der Schwester, neunzehn Jahre alt, groß, stark und schön. In schweren, fest zusammengeflochtenen Flechten krönte das lichte Haar ihr ungemein sanftes, blühendes Gesicht, aus dem ein reiner, gütiger Blick strahlte, der durch einen leisen Ausdruck von Traurigkeit und schon versunkenem Schmerz noch weicher und gütiger erschien. Über ihrer Gestalt, der blühend gewölbten Brust und den starken Hüften lagen in innigster Vermischung die reinste Keuschheit mit der tiefsten Mütterlichkeit ausgebreitet. Keuschheit und Mütterlichkeit waren das Geschick ihres Lebens. Denn unberührt von Liebe war noch ihr starkes, liebefähiges Herz gewesen, ohne Verlangen noch ihr reiner Körper, als sie durch die furchtbarste Gewalt einer Umarmung Mutter geworden war. Wenn sie jetzt das Köpfchen ihres Kindes an ihrer reich quellenden Brust sah, lächelte sie wohl vor Glück. Doch lange Wochen hindurch, in der Nacht vom Schlaf losgerissen, am Tage von der Arbeit entflohen, mußte sie sich das Antlitz ihres Kindes vor die zerstörte Seele halten, um jenen anderen entsetzlichen Augenblick zu verscheuchen, der selbst noch in der Erinnerung ihr Herz in Scham, Grauen und hilflosem Jammer zu ersticken drohte; die Erinnerung daran, wie sie, als sie sich ahnungslos im Winkel einer Scheune niedergebeugt hatte, um ein Bündel weiches Heu in die Arme zu raffen, wie sie da plötzlich von eisernen Griffen gepackt und zu Boden geschleudert worden war, ihr zum Schreien aufgerissener Mund von einer würgenden Faust verschlossen wurde, wie harte Knie ihren Leib unwiderstehlich an den Boden schmiedeten, und vor ihren Augen das ihr unbegreiflich gerötete, ihr unbegreiflich erregte, gierige Antlitz eines Mannes stand, der mit der rechten Hand seinen furchtbaren Leib entblößte. Lieber noch hatte sie die Augen geschlossen, lieber noch Schmerzen und Wunden ertragen, die rätselhaft ihr Leib empfing, als diesen Anblick. Verloren in Entsetzen, in Verzweiflung und Schmerz hatte sie damals noch lange gelegen, als der Mann sie schon verlassen hatte. Erst vor neuen Schritten in neue Schrecken gejagt, sprang sie auf und floh.
Die Herrin, der damals das verstörte Wesen ihrer liebsten Magd bald auffiel, hatte auch ihren Schmerz erfahren. Der Mann, ein Tagelöhner, wurde herbeigerufen und erklärte sich bereit, die Geschändete zu heiraten. Doch die Magd wehrte sich dagegen in höchstem Entsetzen und flehte die Herrin an, sie bei sich, im Hause zu behalten. Nun begann der Mann um sie zu werben, von einem plötzlich erwachten Gefühl ergriffen, doch Emma wies ihn ab, floh, wenn sie seiner ansichtig wurde, und begegnete ihm nie mehr allein. Als dann ihre Schwangerschaft bemerkt wurde, bestand die Herrin auf der Heirat, und sie wurde still vollzogen. Doch blieb die Magd auf ihr inständiges Flehen im Hause, erwartete da die Geburt des Kindes. Dem Mann hielt sie sich fern, mied selbst seinen entsetzensvollen Anblick. Die Herrin nahm teil an der Erwartung des Kindes, half ihr seine kleine Wäsche nähen und stand ihr bei der Geburt selbst zur Seite. Mit einer sie bis ins Innerste befriedenden Seligkeit fühlte die junge Mutter die Schmerzen der Geburt den Weg zurückgehen, auf dem sie die Schmerzen der Schändung empfangen hatte, und das Dasein ihres Kindes da aufsteigen, wo der Anblick des Entsetzlichen versunken war. Glück der Seele und Reinheit des Körpers schienen ihr wiedergeschenkt.
Als einige Tage nachher der Mann von dem Gut verschwunden war, ohne Nachricht oder Zeichen zu geben, ließ sie nicht weiter nach ihm forschen und begann ihr Leben in neuem Frieden, in der Liebe zu ihrem Kinde und in dem Glück zu leben, das es ihr schenkte. Die qualvolle Erinnerung sank zurück, als sie in Treuen, ihrer neuen Heimat, eingezogen war, die sie nie mehr verlassen sollte.
Sie nährte nun beide Kinder mit dem Reichtum ihrer mütterlichen Nahrung und blickte mit der gleichen Rührung, mit der gleichen Zärtlichkeit auf jedes der kleinen Häupter an ihrer Brust nieder, auf das dunkel behaarte des Herrschaftssohnes wie auf das golden umlockte ihres eigenen Kindes.
Nach einem Jahr brachte die Frau des Pächters einen zweiten Sohn zur Welt, dunklen Hauptes und ähnlich ihr selbst, gleich dem ersten. Emma, gut und vertraut gehalten von dem Herrn und der Frau, pflegte nun alle drei, zog sie auf, bereitete ihnen ihre erste Kindheit voll tiefster, herzlicher Hingabe, voller Glück über die eigene gerettete Jugend. Sie erhielt eine Stube angewiesen, in der sie allein mit den drei Kindern schlief, sie durfte Tag und Nacht um sie sein. Sie trug sie im Sommer, zwei auf ihren jungen, starken Armen, das dritte in der Wiege ihres aufgeschürzten Kleides, mit scherzend schaukelndem Gang über die Felder an den Rand des Waldes, wo sie sich mit ihnen niederließ und nicht müde wurde, ihren Spielen, ihrem Lachen zu dienen; von den winzigen Gesichtern der Kleinen, von ihren lallenden Lauten, ihren weichen, hilfebedürftigen Körpern empfing sie, die mädchenhafte Mutter, alles Glück ihres Lebens. Hatte ihr Kind, als sie es mit Schmerzen geboren, sie wieder versöhnt mit ihrem Schicksal, ihre entsetzte Seele wieder begütigt, so liebte sie es jetzt doch nicht tiefer als die beiden anderen Kinder. Ja, da die beiden Kinder der Frau schwächer als das ihre und durch das dunkle Haar und die dunklen Augen fremder von Ansehen waren, fühlte sie tiefere Sorgfalt noch für sie und erwies ihnen zartere Pflege, weichere Liebkosungen als dem eigenen.
Die beiden Söhne des Herrn hießen Karl und Gustav. Sie wuchsen später zu der stattlichen Größe des Vaters auf. Sie entwickelten einen guten Charakter, wurden fleißig und klug.
Der Sohn der Magd hieß Fritz. Er war von seiner Geburt an ein ungewöhnlich schönes und starkes Kind. Er hatte das sanfte Antlitz der Mutter, ihre Augen von tiefem Blau, ihr lichtes Haar, den schönen kraftvollen Leib. Er schlief viel, weinte nie und ward der Mutter nie zur Last. Er nahm beim Wachsen stetig zu an Kraft und Gesundheit, lief als erstes von den drei Kindern und begann bald, sich in Spiel und Gewohnheiten von den beiden anderen abzusondern. Dagegen lernte er sehr spät sprechen und war ungewöhnlich still und sanft. Obwohl er ohne jeden Unterschied mit den Kindern des Herrn aufwuchs und sie wie Brüder alle gemeinsam gehalten wurden, zeigte er doch immer mehr, in dem Maße, als Charakter und Gewohnheit sich entwickelten, eine sonderbare Demut gegen den Herrn und die Frau, auch gegen die Brüder selbst, einen leidenschaftlichen Häng, zu dienen, zu arbeiten und gefällig zu sein. Als vierjähriges Kind schon drängte er sich zur Arbeit. Er schlich sich von den spielenden Knaben fort, lauerte still in einer Ecke der Küche oder an der Wand des Hauses im Hof und lief den Mägden nach, um ihnen mit seinen kleinen Händen zu helfen, wenn sie Holz in ihren Schürzen schichteten, Wasser schöpften oder Gemüse aus der Erde des Gartens zogen. Er schlich sich in die Ställe, und, auf die Zehenspitzen gereckt, reichte er heimlich kleine Heubündel den Pferden in die Krippen, versuchte Eimer zu schleppen und große Besen oder Mistgabeln zu bewegen. Frühzeitig verrichtete er Aufträge, die die Frauen in der Küche ihm gaben, geschickt und schnell und mit ungewöhnlichem Eifer. Seine Wangen waren dann glühend gerötet, seine Augen glänzten, seine kleine Brust atmete keuchend, in solcher Eile und Erregung hatte er die kleinen Aufgaben erfüllt. War er fertig und gelobt worden, schlich er sich abseits, um allein zu sein, hielt einen Stein, ein Stück Holz oder eine Krume Erde in seinen heißen, zitternden Händen und sang leise vor sich hin. Er hatte eine helle, sanfte, in besonderem Wohllaut klingende Stimme, der alle, die sie hörten, mit Entzücken lauschten. Doch sang er fast nur, wenn er allein war. Im Chor mit den andern, im Spiel mit den Kindern, schwieg er meist. In geheimnisvollem Gegensatz zu dieser schöntönenden Stimme aber stand sein sonderbares Lachen. Es war lautlos, erschütterte aber seinen ganzen Körper, es öffnete wohl seinen sanften Mund, aber kein Ton drang daraus hervor, nur das leise Zischen des erregten Atems.
Er sprach nie einen Wunsch aus, nie brauchte er gestraft zu werden, und so weinte er auch nie. Oft mußte er von dem Herrn oder der Frau zum Essen gezwungen werden, da er aus Bescheidenheit keine Speisen nehmen wollte. In der Schule, in die die Kinder zweimal in der Woche gingen und bei schlechtem Wetter auf dem Wagen hingebracht wurden, lernte er gut und bewies vor allem ein außergewöhnliches Gedächtnis. Er war auch da fleißig und gewissenhaft und galt als Musterschüler. Auch zu Hause, auf dem Hofe, wurde er viel gelobt, doch seine Demut und seine Bescheidenheit blieben sich unverändert gleich. Die beiden Brüder, die Söhne des Herrn, umwarben den schönen, allen wohlgefälligen Freund mit offener, neidloser Liebe, doch er zog sich vor ihnen zurück, mied ihre Spiele, schwieg bei den Gesprächen, verkroch sich hinter die Dienstbarkeit eines Knechtes. Abends, vor dem gemeinsamen Schlaf, zögerte er lange, sich zu entkleiden, sammelte erst die Kleider und Schuhe der Brüder auf, schlüpfte damit auf den Gang vor die Tür, um sie zu reinigen, und erst, wenn die anderen schon im Dämmer des ersten Schlafes lagen, entkleidete auch er sich schnell und schlich ins Bett. Morgens stand er als erster auf, ungeweckt, eilte auf den Hof, um sich unter dem Brunnen zu waschen, und war schon angekleidet, wenn die anderen aufwachten und beschämt und verlegen nach ihren Kleidern suchten. Er zeigte sehr früh ein eigensinniges Schamgefühl, und sein einziger Ungehorsam bestand darin, als er sich im Alter von vier Jahren plötzlich weigerte, mit den anderen Knaben gemeinsam zu baden.
Da ließ, als Fritz acht Jahre alt war, ein Ereignis sonderbare, fast erschreckende Untergründe seines so sanften Wesens erkennen. Es war an einem Frühlingsnachmittag, und der Knabe saß in der Küche am Herd, half geschickt wie ein Mädchen der Magd beim Schälen von Kartoffeln für den Abend, als plötzlich, mit starkem, ungestümem Schritt, die Hand der bleichen, voll Entsetzen um sich blickenden Mutter haltend, ein Mann von riesenhafter Größe eintrat. In seinem ebenfalls ungewöhnlich großen und völlig farblosen Gesicht versanken die kleinen, schmalen Augen unter dicken, rostroten Brauen, ein wilder, roter Bart umwucherte seinen großen aschfarbenen Mund, der breit wie ein Maul zwischen die mächtigen Kiefer gezogen war. In Büscheln stand das Haar auf dem riesigen Schädel, der auf einem breiten, kurzen Halse saß. Beim Sprechen dröhnte seine Stimme, und der Atem seiner starken Brust bewegte wehend den Bart um seinen Mund.
Die Mutter hob die freie Hand, die heftig zitterte, deutete auf Fritz und sagte leise: »Da!«
Der Mann schoß aus seinen kleinen, in dem trüben Antlitz versunkenen Augen einen hellen, scharfen Blick auf ihn, streckte seine mächtige Hand aus und sagte, während seine Stimme dröhnte: »Na, komm her!«
Fritz rührte sich nicht. Aus dem sanften, engelgleichen Gesicht richtete er den demütigen Blick der blauen Augen auf ihn.
»Komm!« sagte die Mutter, »komm, es ist der Vater.«
Der Mann ließ ihre Hand los und trat zu dem Kind. »Gib die Hand«, befahl er und streckte die seine entgegen.
Das Kind ergriff langsam die Hand. Sie war groß und hart, mit roten Haaren bewachsen. Das Kind senkte den Blick der großen Augen nieder, es errötete, sein Mund öffnete sich, und plötzlich hackte sein Kopf nieder, die Zähne schlugen fest und tief in das harte Fleisch der Hand ein. Der Mann brüllte auf mit dröhnendem Laut, er wollte die Hand fortreißen, doch in weitem Bogen schwebte das Kind, festgebissen, mit.
»Du Aas!« schrie der Vater, ergriff das Kind mit der noch freien Hand, riß sich endlich los von seinem Biß und schleuderte es mit solcher Gewalt gegen die Wand, daß es mit krachendem Schlag niederfiel und wimmernd bewußtlos liegenblieb. Die Mutter stürzte zu ihm, bettete es auf ihren Schoß.
Der Mann ging. Die verwundete Hand, die lange tropfend blutete, bedeckte er mit der gesunden. Er preßte die grauen Lippen seines riesigen Mundes aufeinander, in Gedanken sprach er, ohne sie zu bewegen: »Das ist einmal ein verfluchtes Aas!« Doch in seinem wüsten Herzen fühlte er über Zorn und Wut hinweg den Stachel eines nie gefühlten Schmerzes. Er wanderte zurück in die Stadt, aus der er gekommen war, nie wollte er Mutter und Kind wiedersehen. Doch es blieben ihm zur Erinnerung die kleinen, perlenförmigen Narben in seiner harten Hand und der Biß des Schmerzes in seinem Herzen. Und von Zeit zu Zeit in den künftigen Jahren, in den Stunden schweren Rausches, pflegte er zu sagen: »Ich habe einen Sohn, das ist ein verfluchtes Aas!« Und einmal fiel eine Träne, still aus den kleinen Augen tretend und fast unsichtbar über das fahle, riesige Gesicht rinnend, nieder auf seine Hand. Er kümmerte sich nicht mehr um das Kind, doch vergaß er es nicht und zählte die Jahre seines Lebens von ferne mit.
Fritz und die Mutter blieben nun in Frieden zurück auf dem Gute, ihrer Heimat.
Nach dem furchtbaren, geschleuderten Sturz an die Wand lag das Kind zwei Tage und zwei Nächte krank. Es schien zu fiebern, bewußtlos lag es in Träumen. Mit gefalteten Händen, die Seele in flehendem Gebet erhoben, wachte die Mutter bei ihm. Denn im Fieber, im Schlaf, war das Kind furchtbar verändert. Über das sanfte, engelgleich gebildete Gesicht fluteten, wie aus trüber Tiefe des kindlichen Blutes, der kindlichen Seele aufgerührt, Wellen von schwarzer Röte, weiteten es aus, verzerrten den Mund, gruben Furchen in die Wangen, rafften die Stirn in tückische Falten, stießen die Augen unter den geschlossenen Lidern zu rollenden, unsichtbaren Blicken hin und her, emporgezaubert von böser Kraft stieg eine teuflische Maske von drohender Wildheit auf und breitete sich in höhnischem Sieg über die Züge des Kindergesichts aus. Seine kleinen Zähne knirschten, fest ineinandergeschlagen, die kleinen, kräftigen Hände öffneten und ballten sich, die Nägel schlugen tief ins eigene Fleisch, dann wieder tat sich der Mund auf, lautloses Lachen, mit fauchendem Atem ausgestoßen, erschütterte völlig den kleinen Körper.
Emma, die Mutter, fürchtete sich vor dem eigenen Kind. Sie floh von seinem Lager, und nur, um ihn vor den Blicken anderer zu verbergen, kehrte sie zu ihm zurück, versuchte ihn zu erwecken, indem sie nasse Tücher um seinen glühenden, rasenden Leib schlug. Sie trug ihn am Abend, als die anderen Knaben zum Schlafengehen in die Stube kamen, wie einen Toten in ein Leinen verhüllt, in eine leere Kammer im Gesindehaus, wo sie ihm ein Lager aus Heu bereitete. Sie wagte niemanden um Hilfe zu bitten, damit niemand ihr furchtbar verändertes Kind erblicke. Sie betete für es.
In der zweiten Nacht, in der sie bei ihm wachte, schlief sie gegen Morgen ein, die Hand vor die Augen gepreßt, um nur einmal dem Anblick zu entfliehen, und am Morgen beim Erwachen fand sie zu ihrer unbeschreiblichen Freude das Kind wie immer, still schlafend, das weiße, sanfte Gesichtchen zur Seite geneigt, geglättet die kindlichen Züge, die kleine Brust zart bewegt von leise seufzenden Atemzügen, die kräftigen Kinderhände lagen gelöst in rührender Unschuld auf dem Tuch, das sie als Decke über ihn gebreitet hatte. Sie rührte ihn an, und er schlug die Augen auf, das reine, klare Widerspiel der ihren, und lächelte sie an. Sie lief und brachte ihm Milch. Er trank sie und dankte ihr mit seiner schönen weichen Stimme. Er stand am Mittag auf und war wie immer fleißig, demütig und sanft. Abend für Abend betrachtete Emma in Sorge sein schlafendes Gesicht, doch es blieb unverändert schön und friedlich, es war edler und schöner als das aller Kinder, die sie je gesehen hatte. So vergaß sie nach und nach ihr Entsetzen und die Furcht vor dem eigenen Kind und hielt ihn ihrem mütterlich reich liebenden Herzen nahe, wie die beiden anderen Kinder, die ein fremder Leib geboren hatte, nicht mehr und nicht weniger.
Als dann Fritz elf Jahre alt geworden war, übergab ihm der Herr, um das ungewöhnliche Arbeitsbedürfnis des Knaben zu befriedigen, gegen einen kleinen Wochenlohn einen Posten als Hüte- und Dienstjunge auf dem Hof. Nun sah man Fritz nur noch bei der Arbeit, in seiner freien Zeit hielt er sich allein und versteckt, und es war, als ob er, außer wenn er arbeitete, überhaupt nicht lebe. Er verdiente sich Lob und Zufriedenheit und bereitete der Mutter auf lange Zeit nur noch reine Freude.
Die nächsten Jahre vergingen für alle gut, die auf dem Hofe beieinander lebten. Die Felder brachten reiche Ernten, die Herden gediehen, die Menschen lebten in Eintracht, die Kinder wuchsen auf, gesund, gut und schön. Der Lohn war gerecht, das Mahl reichlich, die Feiertage voll friedlicher Freuden. Der Mann und die Frau lebten noch immer in dem Glück ihrer ersten Tage. An den Tagen die Arbeit, die Sorgen und Mühen, die Ernten, der Gewinn, das Gedeihen der Kinder, alles diente ihnen nur, sie täglich neu zu verbünden und die Nächte hochzeitlich zu erwarten, in denen die Frau ihren Kuß auf die Lippen des Mannes schmiegte, übermütig ihr Lachen aus der jungen, vollen Brust strömen ließ. Am Tage saß sie bei den Mahlzeiten an der Tafel ihm zur Seite, seine Magd, wie die anderen auch, gehorchend seinem klugen Blick, seinem guten Wort, wie die anderen auch. Aller Augen hingen stets an ihm, denn mit seinen Sorgen trug er die Sorgen aller, mit seinen Freuden empfingen sie die ihren.
Der Herr war jetzt siebenunddreißig Jahre alt. Groß die Gestalt, mit breiten Schultern, licht das Haupt über einer reinen, sehr hohen, leicht gewölbten Stirn, licht der Bart, der das energische Kinn bedeckte, den schmalen frommen Mund beschützte, von Adern durchzogen sah man die schmalen Schläfen und Hände; doch am stärksten ruhte die stille und gütige Macht, die von ihm ausstrahlte, in dem klugen, herrschenden Blick seiner klaren Augen, die tief in ihre Höhlen gebettet waren, von schweren Lidern keusch verhangen. Er sprach nicht viel, ohne Befehl fast geschah alles nach seinem vorsorgenden Willen. Er arbeitete von früh bis spät und ruhte nicht mehr und nicht früher, als alle ruhen durften. Er lebte unter dem Gesinde, und das Gesinde lebte im Vertrauen auf ihn. Er achtete bis zum Tagelöhner auf alle Menschen, die ihn umgaben, und hatte sie sich gut erwählt.
Als erster stand ihm Blank, der Wirtschafter, zur Seite, ergraut in Alter und reicher Erfahrung, doch gefügig und treu dem Willen seines jungen Herrn. Weiter hatte er um sich geschart den Fischer Andres, der den großen Teich am Gutshof und die kleinen Seen der Gemarkung bewachte, die schweren Teichfische fing, die kleinen Dämme und Wehre errichtete, die die Bewässerung der Wiesen speisten und regulierten, denn ein Fluß durchzog die Gegend nicht. Dann den Schmied, der die Wagen und Pflüge baute und im Stande hielt, die Pferde beschlug, Schlösser und Gitter errichtete, wo sie gebraucht wurden, dann den Tischler und Zimmermann, den Dachdecker und die große Zahl der Knechte, Mägde und Feldarbeiter. Die Katenwohnungen, die in weitem Bogen das Gehöft umstanden, hatte er wohnlich herstellen lassen, denn die Handwerker hausten drinnen mit Frauen und Kindern, die verheirateten Feldarbeiter und Knechte. Die kleinen Häuser waren jedes umzogen von einem schmalen Streifen Garten, in dem Gemüse wuchs und Blumen blühten. Denn alle Nahrung, Mehl, Kartoffeln, Fleisch, die Wäsche und Kleidung für Sommer und Winter, erhielten sie von dem Gute. So kam es, daß sie nur für ihren Herrn arbeiteten, reine Feierstunden genossen und doch den Lohn für Not und Alter sparen konnten. Die übrigen, Knechte, Hirten, Pferdefütterer und Dienstboten, zwanzig an der Zahl, wohnten in dem großen, geräumigen Gesindehaus, die Mägde in den hellen Kammern des neuen Wohnhauses.
Zwischen beiden nun, zwischen dem Kreis der kleinen Hütten und den stattlichen Gebäuden des Gutes, lag wie ein Wahrzeichen ein großer Teich, sanft eingesenkt in ein kleines Wiesental, mit einer hellen, im Wind leicht sich kräuselnden Wasserfläche und weit im Rund geschwungenen Ufern, die dicht bestanden waren von Weiden, in deren Gebüsch im Frühling Nachtigallen sich lockten und Frösche knarrten, während an den Sommertagen die Enten mit ihren Jungen auf der sanft bewegten Wasserfläche schwammen und tauchten. Hier war der Lieblingsaufenthalt der Kinder, die an seinen Ufern spielten und zusahen, wenn die Enten gefüttert wurden, die Stätte der fröhlichen Zusammenkunft der Erwachsenen an den sommerlichen Abenden und den Nachmittagen des Sonntags und das heimliche Versteck der Liebenden.
Das Gehöft nun selbst erhob sich in der Ebene der riesigen Felder ungefähr hundert Meter weit vom Teich entfernt, mit seinem stattlichen Wohnhaus, vor dessen Vorderfront der große, mit Quadersteinen sauber gepflasterte Hof lag, mit einem Brunnen in der Mitte, während es mit seiner Rückenfront in einen ebenfalls großen Garten blickte, dessen schwere schwarze Erde mit Gemüsen und Beerensträuchern aller Art bepflanzt war, und der wiederum umgrenzt wurde von einer Hecke wilder Rosen, zwischen denen große, reichlaubige Holunder- und Nußbäume aufragten. Zwischen den Hecken eingebaut lagen die Bienenkörbe, und in einer Ecke stand eine schöngezimmerte Laube, von Blattwerk umrankt. Rechts und links des Wohnhauses standen in reichlicher Zahl die Gebäude der Ställe, des Gesindehauses, der Scheunen und Schuppen, alle gut gefügt und erhalten. Ein nicht allzu breiter Weg mit Obstbäumen auf beiden Seiten führte vom Hofe durch die Felder, dann ein Stück die Wiesen entlang, dann durch einen Tannenwald (der mitsamt dem Jagdbestand, der sich in ihm befand, der Pacht zugehörte und das Gehöft auf eine schöne natürliche Weise nach dieser Seite abgrenzte) auf die große Landstraße nach S., dem Marktflecken. Das Gut lag also abgeschlossen, ein Dorf, eine Welt für sich. Um nach S. zur Kirche, Schule oder zum Markt zu kommen, waren es zu Fuß drei Stunden Weges. Zweimal in der Woche wurden also in dem großen, selbstgebauten Leiterwagen, bespannt mit den kräftigen, schön gestriegelten Pferden, die man schon von weitem als die Treuener erkannte, die Milchprodukte, die Eier, das Geflügel und Gemüse zum Markt oder zur Poststation zum Versand gebracht.
Mit zwei Wagen aber, sauber gewaschen und geputzt, über die an Regentagen schützende Planen aufgezogen und die im Winter bei Schnee auf Schlittenkufen gesetzt wurden, fuhr man, von schön aufgezäumten Pferden gezogen, dicht aneinandergedrängt auf den die Wagenwände entlang aufgestellten Bänken, an jedem Sonntag von Treuen nach S. zur Kirche. Abwechselnd miteinander fuhr so das ganze Gesinde zum Gottesdienst und zurück; es waren heitere Fahrten, und keiner versäumte sie.
Vorauf rollte der Herrschaftswagen, eine Kutsche mit vier Sitzen, gefedert und mit einem zusammenfaltbaren Lederdach überdeckt, bespannt mit zwei goldbraunen Füchsen, den schönsten Pferden vom Hof. Diese Fahrten glichen einem kleinen festlichen Zug, und sie erregten Neid und auch Spott, von denen Christian B.s bescheidenes Leben sonst verschont war. Doch Christian B. liebte diese Fahrten mit ihrer kleinen Pracht, und sie erfüllten ihn mit Stolz. Er arbeitete für den fremden Besitz, als ob es der seine wäre, denn er arbeitete nicht um des Gewinnes willen, den er, da er trotzdem sich bot, selbst in bestimmten Grenzen hielt; er wollte nicht mehr gewinnen als ein Vermögen für seine Kinder, das ihnen einmal eine gleiche Existenz ermöglichen sollte wie die seine, und den Notgroschen für Alter und Krankheit. Was ihn erfreute und trieb, war der Wunsch, zu schaffen, für andere zu sorgen, ihnen Vorsehung, Halt und Heimat zu sein, sie leben zu lassen durch ihn. Mit einer zeugenden Kraft und einem väterlichen Gefühl umfaßte er die Welt und sein eigenes Dasein. Und alle Erfüllung sah er sich gegeben, wenn er die Seinen in heiterer Fahrt, gut genährt und sonntäglich gekleidet, zum Gottesdienst führte. Seine Andacht ging nicht mit der allgemeinen, in der die Worte der Schrift und die Predigten des Pfarrers vernommen wurden, sondern Gott schien sich ihm näher zu offenbaren, er glaubte Gottes Willen, sein Angesicht, ahnend zu erkennen, wenn er nach seinen gerechten und guten Worten und Gesetzen gerecht und gut zu leben bestrebt war. Und er vergaß nie, Gott zu danken und die Menschen zu lieben.
Zur letzten Vollendung seines Glückes aber, zur Bestätigung seines Daseins, wie er es begriff, wurde ihm nach fünfzehnjähriger Ehe die Geburt einer Tochter, die zu einem bezaubernden Kinde aufwuchs. Als es vier Jahre alt war, war es der Liebling aller, die es nur einmal erblickten. Es war ein immer heiteres, strahlendes Kind; es trug die Züge des Vaters, verklärt von der sieghaften Lebensseligkeit der Mutter, es blickte aus des Vaters blauen Augen, doch sie waren weit geöffnet wie die der Mutter, in rührendem Vertrauen zur Welt, es hatte des Vaters reine Stirn, die ergreifend sein frisches, rundes Kindergesichtchen krönte, und es trug des Vaters lichte Haare, die in weichen, flaumigen Locken sein Köpfchen umschwebten. Seine Gestalt war zart, es hatte die tänzerische, freudige Anmut der Mutter in den Bewegungen und ihr leises, strömendes Lachen, weich wie Taubenlaut, unter dem seine kleine Kehle tanzte. Es hieß Anna.
Christian liebte das Kind mit einer noch nie gefühlten, tiefen Innigkeit. Er war ergriffen von seinen Anblick, von seinen Zügen, die ihm selbst so glichen, von seinen Augen, seinen Bewegungen und seinem Lachen, von denen jedes der Mutter Wesen widerspiegelte und ihm das Geheimnis ihrer tiefsten Vereinigung zu offenbaren schien. In dem Kind liebte er zum ersten Male sich selbst, in ihm liebte er sich, die Mutter und das Kind zugleich.
Auch die Frau war seit der Geburt des Kindes verändert. Annas Bettchen stand zu Füßen des Ehebettes an Stelle der Truhe. Nie mehr umarmte sie den Mann in der Dunkelheit mit ihrem lockenden Lachen, mit ihren fordernden Armen, und morgens beim Erwachen, im Anblick des Kindes, errötete sie und senkte den weit offenen Blick ihrer Augen. In den Nächten erfüllte sie beide, die doch die Liebe der Jugend füreinander noch fühlten, eine neue keusche Zärtlichkeit, die sie mit sanftem Zwang auseinanderhielt, wie die vergangene sie zusammengeführt hatte. Hatten sie nebeneinander geruht, vereinigt nur in ihren Herzen, hob die Frau am Morgen das Kind aus dem Bett und reichte es dem Mann. Sie reichte es ihm, als schenke sie so sich ihm selbst, aber das schönste, ihr selbst verborgene Teil ihres Wesens, als schenke sie ihm ihre Jugend, jünger als die, die er gekannt, ihre Schönheit, schöner als die, die ihn bezaubert hatte, und ein Glück, herrlicher als das tiefste Glück, das sie ihm je bereitet. Und er nahm es entgegen und erwartete des Kindes unschuldiges Lächeln, mit dem es aufwachte. Er fühlte sein Glück und nie mehr die Furcht und Mahnung nächtlicher Dunkelheit.
Um des Kindes Liebe, sein Zutrauen, ja nur sein Lächeln, bewarben sich alle.
Emma sah mit eifersüchtiger Trauer, daß es an der Brust der Mutter genährt wurde und daß es im Zimmer der Eltern schlief und sie es nicht, wie die anderen Kinder früher, Tag und Nacht bewachen und pflegen konnte. Sie strickte wenigstens seine Strümpfchen und nähte seine Kleider, sie entzückte sich an seinem Anblick.
Die Brüder, im wildesten Knabenalter stehend, liebkosten es scheu und sahen mit hilfloser Zärtlichkeit zu ihm herab.
Vor der Wiege des neugeborenen Kindes hatte auch Fritz gestanden. Er war dreizehn Jahre alt, groß und stark, seine Glieder mit einer zarten Fülle von Fleisch schön überformt, das volle, weiße Gesicht durchleuchtet von dem Glanz seiner großen blauen Augen, über der runden Stirne das üppige lichte Haar, rosig gefärbt Mund, Kinn und Wangen. Er beugte sich lächelnd zu dem friedlich ruhenden Kinde herab. Er hob langsam, von einem sonderbaren Begehren gezogen, seine volle, kräftige Hand und legte sie auf das weiche, winzige Köpfchen des Kindes nieder. Er fühlte den kleinen, noch knochenlosen, von feuchter Wärme umdunsteten Schädel in seiner Hand, er fühlte feines, zartes Pochen von schwachen Pulsen, und es ergriff ihn etwas Furchtbares. Von den weich und warm gegen das Innere seiner Hand anpochenden Schlägen, von dem lauen Strömen der kleinen Pulse angetrieben, fühlte er plötzlich sein eigenes Blut aufjagen, seine eigenen Pulse aufhämmern und sein Herz in Stößen schlagend die Kehle ihm zusammenpressen; ein Zittern, wohlig und schrecklich zugleich, schüttelte seinen Körper, schwarze Röte überflutete sein Gesicht, der Mund fiel auseinander, zischend entfuhr ihm lautloses Lachen. In würgendem Krampf zuckten seine Hände, aber er riß sie los von dem weichen, warmen Haupt des Kindes, er schlug die Nägel in das eigene Fleisch, er floh aus dem Zimmer, rannte über den Hof, suchte nach Arbeit und ergriff endlich eine Axt, um mit wilden, weit ausholenden Schlägen einen Stamm Holz zu spalten, und ließ das lautlose Lachen aus der aufgewühlten Brust über die weit auseinander geöffneten Lippen nach und nach ganz entweichen. Als er ruhig und müde wurde, spürte er Durst. Er ging zum Brunnen und trank, fing das Wasser in die gehöhlten Hände auf, fühlte wollüstig die Kühlung erst da und dann in der heißen trockenen Höhle seines Mundes, in der er jeden Schluck erst lange hin und her bewegte, ehe er ihn in die Kehle rinnen ließ.
Von diesem Ereignis an begann er völlig scheu zu werden und alle menschliche Gesellschaft zu meiden. Da die drei Knaben nun von der Amme getrennt wurden und die Söhne eine eigene Kammer bezogen, bat er, von nun an im Gesindehaus und allein schlafen zu dürfen, da er doch ja nun bald zu den Knechten gehöre. Seine Mutter freute sich über seine Bescheidenheit und setzte die Erfüllung seiner Bitte durch, obwohl der Herr es gern hatte, den Knaben wie einen seiner Söhne zu halten.
Nachdem so Fritz ein kleines Gelaß mit einem Bett im Gesindehaus bezogen hatte, konnte er sich völlig versteckt halten. Die anderen sahen ihn nur noch bei der Arbeit und bei den Mahlzeiten. In den Feierstunden lief er allein durch die Felder in den Wald, streifte umher, sang mit seiner hohen, sanften Stimme vor sich hin. In der Dämmerung verkroch er sich oft in das Weidengebüsch des Teiches und lauschte dem Treiben der Frösche, von den weichen, hüpfenden Tieren seltsam angezogen. Er horchte auf ihre schnarrenden Rufe, auf das Glucksen und hohle Plätschern ihrer Sprünge, nach und nach erkannte er auch ihre Gestalten in der Dämmerung, sah sie auf den Blättern der Sumpfgewächse hocken, unbeweglich still, in den weichknochigen Leibern zuckte klopfend der Hammer der Pulse, wie Pulse klopfend bewegten sich auch die vor- und zurückspringenden Hügel der Augen. Einmal beugte er sich nieder und fing ein Tier in seine hohl aneinander geschlossenen Hände. Weich und kühl und doch von Herzschlägen durchbebt, zuckte es leise gegen die Flächen seiner Hände. Vom sanften Pulsschlag des Tieres erweckt und aufgetrieben, strömte sein Blut auf, antwortete im geheimnisvollen, gleichen Takt der harte Schlag seines Herzens jenen kühlen, weichen Schlägen, die an das Innere seiner Hände rührten, und krampften sich seine Hände zusammen, um das Tier, um die lockenden Herzschläge zu ersticken, so ward im gleichen Maße seine Kehle zusammengepreßt, er mußte den Mund öffnen, tief nach Luft seufzen, sein Kopf sank tief in den Nacken, über das zurückgeneigte, engelhafte Gesicht goß sich in Wellen schwarze Röte, die Augen, weit geöffnet und mit glitzerndem Schein überzogen, starrten in den sanft verschleierten Himmel der Dämmerung, und sein starker Körper ward von lautlosem Lachen furchtbar erschüttert. Es drängte ihn, die Hände ganz ineinander zu pressen, in tiefster Vereinigung den Herzschlag dort und den Herzschlag in der eigenen Brust zu ersticken, die Kehle dort und die eigene Kehle ganz zu erwürgen; doch er riß sie noch im letzten Augenblick auseinander und tötete nicht völlig das Tier, das zur Erde niederfiel und mit lahmen Sprüngen in das Gebüsch sich rettete. Nun versank in Ruhe sein Herz und in Müdigkeit sein Blut. In haltloser Leichtigkeit flatterten seine Hände. Er barg sie in den Taschen seines Rockes und ging mit langsamen, erschöpften Schritten zum Haus. Er floh von diesem Tage ab den Teich und seine Nähe.
Ein Jahr später, wieder im Sommer, sah er, durch den Wald wandernd, einen jungen, aus dem Nest gefallenen Vogel am Boden liegen. Es war ein Rotkehlchen; seine winzigen, schwarzen Augen blinkten, der kleine Schnabel öffnete und schloß sich lautlos klagend. Er hob ihn auf und nahm ihn zwischen seine Hände. Das Herz des geängstigten Tieres, das rasend gegen seine Hände schlug, jagte ihn auf; sein Blut, das in wilden Strömen von ihm zu dem Vogel und von dem Vogel zu ihm zurück in geheimnisvoller Verbundenheit kreiste, sein Herz, das zu furchtbaren Doppelschlägen angefeuert wurde vom Takt des rasend in Angst schlagenden Tierherzens, es jagte ihn auf, zur Flucht. Die Hand um den Vogel gepreßt, die eigene Kehle umwürgt, flog er in hastigen Sätzen dahin, gepeitscht durch die Stöße seines Herzens, Schweiß auf seiner heiß geröteten Stirn, mit weit geöffnetem Mund, der zischend aus der engen Kehle den emporgekeuchten Atem ausstieß. Aber er erreichte das Haus noch, solange der Vogel lebte.
Er eilte in seine Kammer und ließ den Vogel aus seinen Händen in eine Mütze gleiten, hielt die Innenflächen seiner Hände aufrecht und ausgebreitet in die Luft, bis in der Kühlung seines Blutes aller Aufruhr in ihm verging. Er begann dann, das Tierchen zu füttern, und es gelang ihm auch, es mit vieler Mühe großzuziehen und es zu zähmen. Es erkannte seinen Pfiff, mit dem er es rief, flog herbei und setzte sich auf seine Schulter und fraß aus seiner Hand. Er schnitzte ihm einen schönen geräumigen Käfig. Nur einen Namen fand er nicht für das Tier, obwohl er oft in seiner Kammer in einfachen, langgedehnten Lauten seiner weichen Stimme mit ihm sprach.
Im Frühjahr, das nun folgte, flog ihm der Vogel, wenn sein Käfig geöffnet war, aus dem Fenster seiner Kammer bis auf den Hof entgegen. Da erblickte ihn zum erstenmal die kleine Anna und streckte in kindlicher Freude und Verlangen ihre Ärmchen nach ihm aus. Sofort holte Fritz den Käfig, lockte den Vogel hinein und brachte ihn dem Kinde als Geschenk. Die Frau wollte ihm zur Belohnung ein Geldstück schenken, doch er nahm es nicht. Das Kind aber war so erfreut über den Vogel, daß es ihn den ganzen Tag, neben ihm sitzend, betrachtete, mit kindlicher Sprache zu ihm redete und sein glückliches Lachen ihm entgegensprudelte. Am Abend, als es schlafen sollte, ruhte es nicht eher, als bis der Käfig auf einem Stuhl neben sein Bettchen gestellt wurde. Fritz, der wie früher noch die Kleider und Schuhe der Herrschaftskinder sammelte, um sie zu reinigen, kam an der offenen Tür des Schlafzimmers vorbei. Er sah das schlafende Kind und neben ihm den Käfig mit dem schlafenden Vogel auf der Stange. Er trat ein, ging leise zum Bettchen des Kindes und sah es in der noch lichten Dämmerung des Frühlingsabends an. Er hob die freie linke Hand und senkte sie dem Köpfchen des Kindes entgegen, den zarten Flaum seiner duftigen Lokken fühlte er schon warm ihn berühren, feines, stechendes Klopfen regte sich schon im Innern seiner Hand, da schreckte ihn das leise Flattern der schlafesschweren Flügel des kleinen Vogels auf. Er riß die Hand vom Haupt des Kindes zurück, zitternd und gierig öffnete er mit dieser Hand die kleine Tür des Käfigs, ergriff den Vogel, aber noch ehe ihre beiden Herzen wie damals im Wald in wilden Schlägen sich ineinander verfangen konnten, drückte er zu, den glitzernd geweiteten Blick auf das schlafende Kind gerichtet. Er hörte das leise Krachen der zarten Knochen unter dem weichen Federkleid, und er fühlte heiße Feuchtigkeit zwischen seine Finger sich drängen, sammetweich schmiegte sich das Blut des Vogels in seine Hand, alles besänftigend. Sein Herz war ruhig. Weiß und engelgleich war sein Gesicht. Um ihn zu verbergen, ließ er den toten Vogel in den Schuh der kleinen Anna gleiten und ging so zur Treppe hinab, durch die Küche an seiner Mutter vorbei in den Garten. Unter dem Stamm eines Holunderbaumes grub er mit seinen Händen eine kleine Grube, ließ den Vogel, ohne ihn noch einmal zu berühren, ohne sich niederzubeugen, von der Höhe seiner Gestalt herab, aus dem Schuh in die Höhlung niederfallen, deckte Erde über ihn und stampfte sie mit den Füßen fest. Der Geruch der Erde, feucht und stark, das Erfühlen ihrer Krume, kühl, weich und ohne klopfendes Leben in seinen Händen, und die kleine, alles verbergende Ebene der Grube stimmte ihn leicht und fröhlich, leise sang er bei seiner Arbeit mit seiner sanften Stimme.
Am nächsten Morgen glaubten alle, der Vogel sei durch die Unachtsamkeit des Kindes aus dem Käfig gekommen und entflogen. Das Kind weinte bitterlich um den Verlust und fragte Fritz täglich, ob der Vogel nicht wiedergeflogen komme. Fritz schüttelte stumm den Kopf und sah es an. Er ging aber und sägte von einem wilden Kirschbaum einen Ast ab und schnitzte unter vieler Mühe und Sorgfalt dem Kinde eine Puppe, mit einem schön ausgeführten Gesicht und wohlgestalteten Gliedern. Er erwies sich als sehr geschickt für alle diese Dinge und gab seiner Mutter auch genau an, wie sie die Kleider der Puppe nähen sollte. Das Kind liebte die Puppe nun ebenso, wie es den Vogel geliebt hatte, und ließ sie nicht aus seinen kleinen Armen.
Zum Trost auch für den fortgeflogenen Vogel schenkte der Vater ihm und den Geschwistern ein Ponygespann, und nun fuhr Fritz unermüdlich die kleine Anna spazieren, ließ sie auf den Rücken der kleinen Pferde reiten, sie sorgsam und geschickt, wie eine Frau, haltend. Er lief geduldig nebenher, so lange das Lachen und Jauchzen des Kindes nur anhielt. Er ging nie mehr zum Teich, und durch den Wald nur bei wichtigen Wegen, er hielt dann den Blick fest vorwärts gerichtet und seine Hände in den Taschen vergraben. Hörte er das zarte Rufen der Brut in den Nestern, pfiff er laut vor sich hin, um es zu übertönen. Im Herbst grub er gern in dem Garten, warf die schwarze Erde auf und wendete sie. Er sammelte welke Blätter, um Lauberde zu gewinnen, vermischte sie mit Erdkrumen, häufte und wendete sie fleißig im Laufe des Winters, und es bereitete ihm eine tiefe, beruhigende Freude, zu beobachten, wie langsam das Laub zerfiel und bis zum Frühjahr in feine weiche Erde, der andern völlig gleich, sich verwandelt hatte. Doch wußte er nie, warum er alles so tat und so fühlte, und gab dem keinerlei Namen. Die nächsten Jahre vergingen auch für ihn noch gut.
Es kam der Sommer mit dem vierten Geburtstag der kleinen Anna. Im Frühjahr war das Kind leicht erkrankt, hatte Fieber, und auf seiner kleinen, linken Brust, dicht über dem Herzen, entstand ein großes, bösartiges Geschwür. Die Mutter badete das Kind, legte heiße Umschläge und Salben auf die Wunde, und bald heilte sie auch, eine weiße, kreisrunde Narbe zurücklassend. In der Freude der Genesung überkam die Frau plötzlich das Verlangen nach einem Bild des Kindes, und sie beschloß, mit ihm zur Stadt zu fahren, um es photographieren zu lassen. Heimlich, zur Überraschung des Mannes sollte es geschehen. Das Kind trug ein weißes Kleidchen mit kurzen, wie kleine Flügel aufgestellten Ärmeln, Arme und Füße waren entblößt. Doch es weigerte sich, entgegen seinem sonst so großen Gehorsam, hartnäckig, vor den Apparat zu treten, und brach in schmerzliches Weinen aus, das seinem Kinderweinen nicht mehr glich. Dieses Weinen steigerte sich zu entsetzensvollen Schreien, als die Mutter, um es zu beruhigen, ihm erklärte, daß aus diesem schwarzen Apparat ein Bild hervorkomme, genau wie es selbst, mit Augen, Haaren, Füßen und Händen und den Kleidern, die es trüge. Die kleine Anna schlug in Verzweiflung die Händchen vor das Gesicht und wich bis in die äußerste Ecke des Raumes zurück. Um sie doch noch zu gewinnen, erzählte ihr die Mutter, daß das Bild dem lieben Vater zum Geschenk dienen sollte. Und nun gestand das Kind unter Schluchzen in seiner kindlichen Sprache die tiefe und sonderbare Angst seines Herzens, daß es nämlich glaubte, wenn ein Bild von ihm entstünde, genau wie es selbst, mit Augen, Haaren, Händen und Füßen und den Kleidern, die es trüge, es selbst dann vergangen wäre in dem Bild und nicht mehr da sei. Und es wolle lieber dableiben, im Leben, bei Vater und Mutter, bei der Puppe und den Pferdchen und bei allen Tieren, die es liebte und die es der Mutter alle einzeln aufzählte. Es bat und flehte rührend, kein Bild aus ihm zu machen, und die Mutter brauchte lange, um ihm zuzureden und es zu beruhigen. Langsam gewann nun das Kind seine Heiterkeit zurück, lachte wieder und begann dann, als es nochmals vor den Apparat geführt wurde, aus eigener Eingebung eine sonderbare, wenn auch bezaubernde Stellung einzunehmen, die es sehr still und lange festhielt. Es stand leichtfüßig da, als ob die nackten Füßchen den Boden kaum berührten, das linke Ärmchen hatte es hinter sein Köpfchen gehoben, das sich leicht zur Schulter niederneigte, das rechte Händchen aber hielt es erhoben bis zur Schulter, und da streckte es weisend seinen kleinen Zeigefinger empor. Ein süßes, zartes Lächeln lag um den Mund und auf den kleinen Zügen des Gesichts, während die großen Augen noch von Tränen, Furcht und Traurigkeit verschleiert waren. Das Bild, das so entstand, ergriff später alle, die es sahen, auf besondere Weise.
Vier Wochen später, am dreiundzwanzigsten Juni, dem Tage vor Johannis, war der vierte Geburtstag des Kindes.
Es war die schöne, festliche Zeit des Sommers. Die schwere Feldarbeit hatte noch nicht begonnen. Das Getreide auf den Feldern, kindeshoch und reich angesetzt im Korn, stand noch im Grün. Die Bäume hielten noch die schwellenden Früchte an den Zweigen, die Beeren ihre glühenden Trauben zwischen den Blättern ihrer Sträucher. Nur das Heu war schon gemäht, lag tot, mit schwerem Duft in der Sonne. Der Gesang der Vögel in den Nächten war verstummt, überall hingen schon die Nester mit der zart wispernden Brut. Auf den Weiden führten die Alten ihre Jungen zur Äsung: die Schafe ihre Lämmer, die mit den zierlichen Gelenken zitternd ihre Sprünge taten, die schweren Kühe hatten ihre milchduftenden Kälber um sich, die mit weichen Mäulern das Gras von der Erde saugten, und zwei Stuten trabten hinter dem übermütig blinden Lauf ihrer Fohlen sorgend mit erhobenen Köpfen einher. Von zwei kindlichen Hirtinnen bewacht, führten die Enten ihre Jungen lärmend zum Teich, und die Hennen riefen, warnten und lockten unermüdlich das Volk ihrer Kücken. Alles war in Ruhe, im Wachsen und Reifen. Die Tage waren strahlend in der noch milden Glut des Frühsommers, die Nächte durchsichtig blau, mit sternbesäten Himmeln, mit zart bewegter Luft. Ein Hauch von Frieden und Glück, von leichter Fröhlichkeit wehte aus der Natur die Menschen an, und man hörte viel Singen und Lachen auf dem Hof.
Es war Sonntag. Nach dem Gottesdienst war die Schwester des Herrn gekommen und hatte der kleinen Anna Geschenke gebracht, eine große Tüte Bonbons, ein paar feine weiße Strümpfe mit roten Ringen, in deren Fußende je zwei Taler versteckt waren. Das Kind war fiebernd vor Freude und Erregung. Es lief von einem zum andern, um ihm sein Glück über die vielen Geschenke, die es erhalten hatte, zu erzählen. Es hob mit freudebebenden Händchen die Falten seines Röckchens auf, um jedem nahe und deutlich sein neues Kleidchen zu zeigen, aus schönem, rot- und grünkariertem Stoff, an dem Leibchen und an den Ärmeln mit einer dichten Reihe schillernder Knöpfe besetzt. Es hob, wie eine Tänzerin seine Arme ausstreckend, den kleinen Fuß empor, um die noch weißschimmernde Sohle seines neuen Stiefelchens zu zeigen. Es tobte und sprang und lachte sprudelnd, so daß es am Abend kaum zur Ruhe gebracht werden konnte, und es schien von einer so gewaltsam gesteigerten Lebensfreude erfüllt zu sein, daß es der Mutter schwerfiel, es in den Schlaf zu zwingen, so bestrickend, im tiefsten erfreuend waren seine Zärtlichkeiten, sein Liebreiz und sein Lachen an diesem Tag gewesen.
Am späten Nachmittag war der Herr aufgebrochen, um seine Schwester heimzufahren. Seit der Geburt des jüngsten Kindes war sie, die alle Jahre vorher sich selbst in bitterer Einsamkeit gehalten hatte, um nicht die Qual fremden Glückes zu spüren, doch wieder in den Kreis menschlicher Gemeinsamkeit getreten, hatte oft des Bruders Haus besucht, um an der reichen, jedem offenen Lieblichkeit des Kindes auch Freude für ihr Herz zu gewinnen. An dem Bruder aber, als an dem Vater und Erzeuger, hing sie jetzt in einer fast ehrfürchtigen Liebe. Vor der breiten, stattlichen Auffahrt zum Wohnhaus ihres Gutes trennten sich die Geschwister, denn der Bruder wendete den Wagen gleich zurück. Die Schwester sah ihm nach. Der Himmel wölbte sich um ihn, während er in die Weite der Ebene hineinfuhr, die großen, leuchtenden Sterne standen immer über seinem Haupt.
Christian fuhr langsam zurück, um ihn sank der Abend auf die Erde. Er erinnerte sich jener Fahrt, im Winter, mit Martha, seiner Braut. Damals war es kalt gewesen, die schneebedeckte Erde hellstrahlend, der Himmel aber dunkel und verborgen, und das schwarze, weitgeöffnete Auge der Frau war wie Finsternis um seine Gestalt gewesen. Jetzt war es warm, die Luft noch durchhaucht von der Sonne des Tages, der nachtblaue Himmel groß, sichtbar, schimmernd wie Glas. Die Gestirne prunkten. Die Erde aber war dunkel, verschwiegen, trächtig in sommerlicher Fülle. Er dachte an seine Frau, und plötzlich erzitterte er. Ihr gesenktes Auge fiel ihm ein, ihr nachtdunkler Blick, nicht mehr mit ihren Armen zugleich fordernd um ihn geschlungen, sondern nur noch auf das Kind. Er trieb die Pferde an und fuhr schneller, von plötzlicher Sehnsucht nach dem Kinde ergriffen.
Aber als er ankam, war schon alles zur Ruhe gegangen. Schweigend und verlassen, in Sauberkeit und Ordnung lag der schöne große Hof da, der Brunnen raunte leise, gedämpfter Tierlaut kam aus den Ställen, die schon geschlossen waren. Nur die große, weite Scheune Numero vier, nahe dem Wohnhaus gelegen, hatte die Riesenflügel ihres Tores weit in den Angeln zurückgeschlagen, und ihr tiefer, fensterloser Raum stand in scharf abgegrenzter, schwarzer Finsternis in der durchsichtigen Nacht. Die Sterne schwebten groß, nah und gewaltig leuchtend auch über ihrem Dach, doch nichts von ihrem Widerschein konnte in das Innere dringen.
Christian, als er die Pferde ausspannte, stand eine Weile gebannt durch diesen Anblick, er erschrak, als plötzlich die Frau ihm entgegentrat, die auf der Bank vor dem Haus ihn erwartet hatte. Doch er reichte ihr schnell die Hand und zog sie neben sich auf die Bank zu einer Rast noch nieder. Sie schwiegen. Die Natur war voll tiefster Stille, nur der Glanz der Sterne war so groß, daß er zu tönen schien.
Endlich sagte Christian, den Blick fest gerichtet auf die geöffneten Tore der finsteren Scheune: »Ist Güse für morgen bestellt?« Das war der Dachdecker, der das Strohdach der Scheune vier ausbessern sollte, ehe sie mit dem diesjährigen Korn eingescheuert werden sollte. Christian fühlte das Tönen der Sterne verstummen, die finstere Scheune rückte ferner seinem Blick, und er hörte die Stimme der Frau, die ihm antwortete: »Ja, er kommt morgen mittag.« Er sprach weiter: »Fritz kann früh gleich zum Teich gehen, die Weiden schneiden und einweichen.«
»Ja«, sagte die Frau.
»In Wiesenschlag sieben mähen wir. Nachmittags holt Plachmann das Schlachtvieh, es muß pünktlich gemolken werden.«
»Ja«, sagte die Frau.
»Ich bin mit den Jungen oben im Wald, wir wollen fällen.«
»Ja.«
»Es wird schon gehen«, sagte der Mann.
Die Frau griff nach seiner starken, zuversichtlichen Hand, und sie schwiegen noch eine Weile. Dann erhob sich der Mann, und die Frau folgte ihm ins Haus. Sie gingen die Treppe empor und traten in das Schlafzimmer ein. Im Dunkeln vernahmen sie den zarten, reinen, hauchenden Atem des Kindes. Im Dunkeln kleideten sie sich leise aus. Die Frau stand am Bettchen des Kindes, hell schimmerten ihre Schultern und die weichgeformten Arme im Widerschein der sternendurchglänzten Nacht. Sie zögerte noch, aber plötzlich wandte sie sich um, war nahe dem Mann, ihr leises, strömendes Lachen tönte, sie umschlang ihn mit den Armen, tauchte die schwarzglänzende Nacht ihrer Augen in seinen Blick und zog ihn zu sich.
Das Kind erwachte und rief. Die Frau riß sich los, wich fort von dem Mann in der Dunkelheit. Als der Mann Licht angezündet hatte, stand sie, ohne sich zu rühren, am Fußende des Kinderbettes, den Kopf tief gesenkt, das Gesicht von ihrem schwarzen Haar verborgen.
Das Kind aber stand aufrecht im Bettchen, heiß vom Schlaf, in erregter, unnatürlicher Munterkeit lachte und sprach es, bettelte und wollte sein Geburtstagsgeschenk, sein neues, buntes Kleidchen sehen.
»Du mußt jetzt schlafen«, sagte der Vater sanft und versuchte, das Kind niederzulegen. Es begann zu weinen, und die Mutter neigte sich demütig und stumm und reichte ihm das Kleidchen hin. Das Kind nahm es in die Arme, streichelte es, dann verlangte es noch, die neuen Schuhe zu sehen. Die Mutter reichte auch diese ihm hin. Das Kind strich zärtlich mit den kleinen Fingerchen über die noch unberührten weißen Stellen der Sohlen und über ihre scharfen, noch glänzenden Kanten hin. Es begann zu plaudern und zu lachen. Der Vater hob es auf und bettete es zwischen sich und die Frau. Schelmisch begann es ihm zu schmeicheln, haschte nach seiner Hand, die es festhielt und in die es sein kleines Gesichtchen schmiegte. Dann entdeckte es den breiten, goldenen Ring an seinem Finger, versuchte ihn abzuziehen, und der Vater, selbst glücklich in diesem Spiel, kämpfte mit dem Kind, ballte die Hand zusammen und nahm sein kleines Händchen darin gefangen. Jedesmal, wenn er das tat, lachte das Kind in langen, weichtönenden Zügen, rollte die kleine Kehle, und seine wie ein Blumenblatt zarten Lippen feuchteten sich. Still, mit gesenkten Blicken sah die Mutter, an des Kindes anderer Seite liegend, dem Spiel zu. Endlich ermüdete das Kind und schlief wieder ein. Der Vater verlöschte das Licht. Doch nur im ersten Augenblick umgab ihn Finsternis. Die helle, von Sternenschein durchlichtete Nacht schwebte bald vor seinen Blicken auf, er erkannte, ihm zur Seite liegend, das weißschimmernde Gesicht der Frau, die lichten Lider über die Nacht ihrer Augen gesenkt, er sah, an sein Herz geschmiegt, das am Tage goldfarbene Haar des Kindes jetzt silbern aufleuchten, und im tiefsten Frieden und Glück schlief er ein.
Doch noch einmal erwachte er, das Kind weinte im Schlafe laut und schmerzlich auf, es war kein Kinderweinen, sondern das Schluchzen einer verzweifelten Kreatur.
Er erschrak, dachte an Krankheiten, mit Sorgen wachte er die Stunden der Nacht hindurch über dem Schlaf des Kindes und trennte sich schwer von seinem Anblick, als er als erster am Morgen das Lager verlassen mußte. Das Kind aber erwachte später fröhlich wie immer, nur bestand es mit hartnäckigen Bitten darauf, daß es wieder sein neues Kleidchen und seine neuen Schuhe angezogen bekomme. Die Mutter willfahrte ihm, kleidete es in sein neues Festgewand, kämmte sorgfältig die lichten, duftigen Locken seines kleinen Hauptes und küßte mit wollüstiger Zärtlichkeit seine zarten, weichen Glieder und hielt das Kind den ganzen Vormittag in ihrer Nähe.
Es war der vierundzwanzigste Juni, der längste Tag, die kürzeste Nacht im Jahr. Der Tag hatte begonnen in wunderbarer Schönheit. Die Morgenröte schoß feurig auf, der Tau der Nacht, kaum erst gefallen, verging unter den ersten heißen Strahlen einer klar und freudig am weißen Himmel herrschenden Sonne, der sich die Erde entgegenbot, offen in weiter Ebene, stolz und prangend in herrlicher Fruchtbarkeit. Von der Erde auf zum flirrenden Äther stießen die Lerchen mit bebendem Schwung. Die Früchte reiften, die Tiere wuchsen, die Menschen fühlten ihre Kräfte, die Arbeit war heiter.
Auf dem Hofe begann das Leben früh. Der Herr hatte die Arbeiten verteilt. Zuletzt rief er Fritz.
»Du hilfst beim Dach«, sagte er, »auf Scheune vier wird Güse neu decken. Schneide Weiden beim Teich, doch nur mittelstarke, von denen soll Güse doppelte Lage nehmen. Wässere sie gut ein, zum Mittag müssen sie weich sein. Friederike und Minna können dir helfen.«
»Ich soll zum Teich?« sagte Fritz und erschrak. Doch sofort fügte er gehorsam hinzu: »Ja, Herr«, senkte den Kopf und ging.
Der Herr machte sich mit den Söhnen auf den Weg zum Wald, wo er ihnen die fälligen Stämme, die zu schlagen waren, bezeichnen wollte. Blank, der Wirtschafter, führte einen Teil des Gesindes zum Mähen in Schlag sieben. Auf dem Hofe wurde in großen Holzkübeln Schweinefutter gebrüht und gestampft, die Wagen gewaschen und Pferde getränkt, die Kuhherde war zusammengetrieben, und die Melkerinnen schleppten die großen Milchtröge ins Haus, überwacht von Emma, die alles maß und zählte. Die Hirten jagten die Hammelherde vor sich her, dem Waldrand zu, Kühe und Pferde folgten den Zügen auf die Weide, der Hof war bald wieder leer. Im Garten sammelte die Frau mit zwei Mägden die roten Trauben der Beeren, umspielt von der kleinen Anna.
Fritz war nach dem Befehl des Herrn zum Teich gegangen, den er bisher immer gemieden hatte. Mit zögernden Schritten näherte er sich ihm, vorsichtig trat er durch das Weidengebüsch zum Ufer. Doch das Wasser war nicht so, wie er es einmal geflohen hatte, dunkel glänzend in winzigen, treibenden Wellen bewegt, sondern es war jetzt unsichtbar, ausgelöscht vom Glast der Sonne, die auf ihm brütete. Unbeweglich, fremd, wie eine blendende Schicht aus gleißendem Metall, lag der Teich vor ihm. Kein Plätschern und Glucksen weicher, hüpfender Tiere war zu hören, nirgends ihre pulsdurchzuckten Leiber zu sehen. Beruhigt beugte er sich zu seiner Arbeit nieder, begann mit scharfem Messer die Weiden auszuschneiden, genau gewählt nach dem Befehl des Herrn. Dann kamen auch bald die beiden jungen Hirtinnen, Minna und Friederike, die die lange Schar der Enten vor sich hertrieben. Die Tiere stießen unter lautem Geschrei sofort in den Teich, und es war, als ob die unbeweglich gleißende Fläche sich nur schwer unter den Ruderschlägen der Tiere teilen könne, und die Wassertropfen, die bei ihrem Tauchen und Schwimmen gläsern aufsprühten, schienen aus einer anderen Tiefe als der des Teiches hervorgezaubert zu sein.
Die Sonne stieg. Fritz schnitt die Weiden, die beiden Hirtinnen banden sie in kleine Bündel und verankerten sie mit Steinen im Wasser. Sie waren vierzehn Jahre alt, ihre Röcke waren noch kurz über den nackten braunen Beinen, ihre blonden Zöpfe, am Ende ihres Geflechtes mit einem roten Wollfaden zusammengebunden, fielen unter den weißen, leinenen Kopftüchern hervor und schwangen mit im Übermut ihrer kindlichen Bewegungen. Ihre Gesichter waren einander völlig gleich, gesund und braun, mit Sommersprossen bedeckt, und wenn die Mädchen lachten, zeigten sie herrlich weiße Zähne. Sie versuchten, Fritz zu necken, stachen kichernd mit den Enden der Weidenruten nach seinen Ohren, doch wenn er sich umwandte, liefen sie angstvoll kreischend davon. Merkten sie aber, daß er ihnen nicht folgte, blieben sie in der Entfernung stehen, höhnten ihn, streckten ihm ihre Zungen entgegen und schnitten ihm Grimassen. Er sah sie wohl an, sah ihre Röcke von den nackten braunen Beinen auffliegen, sah ihre aufgerissenen Münder, die ihn reizten, zuzuschlagen, aber er hielt sich, er folgte ihnen nicht, arbeitete ununterbrochen weiter. Doch nach und nach, in der Umhüllung der in Sommerglut steigenden Sonne, befiel ihn eine mehr und mehr wachsende, rauschartige Erregung. Er fühlte sein Blut, wie es leise, fast kosend und schmeichelnd von seinem Herzen kam, wie es durch die Glieder trieb, wie es von weichen Schlägen emporgehoben wurde zum Kopf und in die Schläfen, bis in die feinen Adern der Augenlider hinein; sein Körper ward ihm leicht, er fühlte sich nicht mehr auf den Füßen stehen, er schien schwebend über der Erde gehalten. Er begann zu singen mit seiner unendlich sanften, hohen und schönen Stimme, langgezogene Töne eines Chorals. In seltsamer Verklärung trat die engelgleiche Bildung seines Gesichtes hervor.
Dann hatte er sich plötzlich in dem kraftlosen Zittern seiner Hände eine tiefe Wunde in den Ballen der linken Hand geschnitten. Er fühlte keinen Schmerz, sah nur sein Blut fließen. Er hielt die Wunde dicht vor seine Augen. In großen, vom Sonnenlicht leuchtend umflossenen Perlen rollte das Blut nieder, die letzte Last und Schwere seines Körpers entwich, der letzte Druck seiner Kräfte verging, das Hämmern und Pochen der Pulse verstummte, wie ein leeres, reines Gefäß schwebte er in Rausch und Traum in der Freude des sommerlichen Tages.
Doch es blieb nicht so. Der Tag wanderte weiter, die reine Minute verging in ihm. Die beiden jungen Hirtinnen kamen herbei, und als sie seine blutende Hand sahen, schöpften sie mitleidig Wasser mit ihren hohlen Händen aus dem Teich, suchten auf der Wiese Kräuter, die, mit dem großen Blatt einer Wasserrose auf die Wunde gebunden, das Blut bald stillten. Fritz besann sich auf die Arbeit, es war Mittag geworden, und er hatte noch Arbeit in den Ställen zu verrichten. Er lief zum Hof zurück. Noch immer spürte er seine Füße nicht, im Flug wurden seine Schritte vorwärtsgehoben. Mittags aß er viel und hastig, doch fühlte er keine Sättigung von dem schweren Mahle. Nach dem Essen wurde er sofort in den Wald geschickt, beladen mit einem großen Korb, der das Essen für die Holzfäller, die draußen geblieben waren, enthielt. Doch mußte er sich eilen, zurückzukommen, denn die Arbeit an dem Dach der Scheune vier, bei der er helfen sollte, begann um drei Uhr. Er setzte in langen, federnden, in den Knien immer noch zitternden Schritten durch den Wald, der kühl und dämmrig zur Besinnung mahnte. Auf dem Rückweg aber stolperte er plötzlich, fiel nieder und schlug hart mit dem Kopf auf eine Baumwurzel auf. Er erhob sich langsam, völlig verwirrt; in seiner leeren Brust stieg wie ein furchtbarer Kitzel Lachen auf, schon öffnete sich sein Mund, doch er stieß noch schnell den Kopf vor und begann von neuem in langen Sätzen heimwärts zu rasen. Als er ankam, war es schon einhalb vier Uhr. Durst quälte ihn, und er ging in die Küche, um zu trinken. Doch es war noch nicht gemolken, und die Milch vom Morgen war verbraucht. Am Herd stand Emma, seine Mutter, und überwachte das Kochen der Beeren, die am Vormittag geerntet worden waren. Er sah ihr zu, wie sie mit einem großen Hackmesser Stücke von einem riesigen Zuckerhut abhieb und sie in die kochenden Beeren versenkte. Er sah, wie die weißen Gebirge des Zuckers in dem roten, träge glucksenden, kochenden Blut des Beerensaftes standen, dann langsam sich rot verfärbten und endlich untergingen; es blieb die leise bewegte, glucksende Fläche von glühendem Rot. Die Hitze des Herdes, die weich auf- und niederzuckenden Blasen des kochenden Saftes reizten ihn von neuem. Das Lachen aus seiner Brust stieß drängend zur Kehle. Er wandte sich um, lief mit ausgedörrtem, vor Durst schmerzendem Munde am Brunnen im Hofe vorbei, weiter, zurück zum Teich, zu den Weiden, er floh zur Arbeit und Ordnung.
Vor der Tür des Hauses saß die Frau. Neben ihr spielte die kleine Anna. Das Kind sah mit seinem leuchtenden Blick Fritz nach, als er über den Hof zum Teiche lief. Einen Augenblick lang ward ihr Gesichtchen plötzlich von Ernst und Nachdenken überzogen. Sie wandte sich zur Mutter und sagte mit seltsam leiser Stimme:
»Ich muß zum Teich, ich muß noch die Enten füttern.« Denn dies hatte sie zu ihrer Freude täglich tun dürfen, seit die jungen Enten des Jahres ausgekrochen waren.
»Nein«, sagte die Mutter, »heute gehe nicht zum Teich, bleibe bei der Mutter.«
»Aber sie haben Hunger«, fuhr das Kind mit Ernst fort, »ich habe ihnen heute noch kein Brot gegeben.«
»Aber die Entlein haben doch auch eine Mutter, und die hat sie heute schon gefüttert. Bleibe nur da.«
»Aber die Mutter von den Entlein kann doch kein Brot abschneiden«, beharrte das Kind in unerschütterlichem Ernst, »ich muß doch schnell zum Teich laufen und ihnen Brot bringen«, und da es sich besann, daß die Mutter das Brot in der Speisekammer abschneiden mußte, begann es plötzlich zärtlich zu werden, zu schmeicheln, mit Bitten sie zu bestürmen, bis die Mutter aufstand und mit ihm in die Küche ging. Hier versuchte sie noch einmal, das Kind von seinem Vorhaben abzubringen, doch dieses begann nun mit seinem ganzen reizenden Übermut, sie zu bedrängen. Es schlang die Ärmchen fest um die Knie der Mutter, so daß diese, gefangen in der Umschlingung, ohne Gewalt sich nicht mehr bewegen konnte, es preßte sein rundes, schelmisches Gesichtchen durch die Falten der Röcke fest an die Beine der Mutter, und unter ihrem sprudelnden Kinderlachen rief es immer wieder, daß es die Enten füttern wolle. Die Mutter versuchte sich loszumachen, doch sie vermochte nicht, gewaltsam das Kind von sich zu lösen. Vorgebeugt, sah sie die blonden Locken des kleinen Hauptes zwischen den dunklen Falten ihres Rockes wehen, sie fühlte durch ihre Kleider hindurch voll Zärtlichkeit den heißen Atem des kleinen lachenden Mundes an ihren Schenkeln leise zum Leib aufsteigen. Erregt von der Freude des Kindes, angesteckt von seinem Lachen, lachte sie mit, in langen strömenden Zügen, wie sie bisher nur die Freuden der Nacht aus ihrer Brust hervorgelockt hatten, und nun entquoll derselbe weiche Ton, tief und lockend bei der Mutter, hell und zwitschernd bei dem Kind, in innigster Vermischung beider Kehlen. Nun losgelassen, mittreibend im Übermut des Kindes, preßte es die Mutter noch fester an sich, packte es unter den zarten Schultern und begann sich selbst tanzend im Kreise zu drehen, so daß das Kind, an den Ärmchen gehalten, mit den Beinchen aber in der Luft schwebend, in weitem Bogen mit ihr kreiste. Der ganze Raum der Küche war erfüllt von dem jubelnden Gelächter der beiden. Doch mitten im drehenden Schwung des Spieles sah die Frau plötzlich den Mann mit dem Viehhändler von den Ställen kommen, dem Haus sich nähern. Sie hielt verwirrt und erschöpft inne.
Der Mann blickte durchs Fenster und sah das lichte Haupt des Kindes an die Mutter geschmiegt und ihren dunklen Scheitel tief zu ihm niedergebeugt. Er lächelte und schritt weiter. Aber während der ganzen geschäftlichen Verhandlung, die er im Wohnzimmer mit dem Viehhändler hatte, schwebte dieser Anblick vor seinen Augen, und er fühlte in seinem Herzen eine tiefe Bewegung.
In der Küche hielten Mutter und Kind, nur schwer innehaltend in ihren kreisenden Bewegungen und schwer den erregten Atem ausatmend, sich noch immer umschlungen. Doch das Kind vergaß nicht. In unermüdlichem Lachen und in hartnäckigen Schmeicheleien wiederholte es seine Bitte.
Die Mutter aber, erschöpft von Spiel und Lachen, konnte nun nicht mehr widerstehen. Sie ging in die Speisekammer, schnitt Brot ab und zerteilte es in kleine Würfel, während das Kind mit seinem Körbchen herbeieilte und sie mit seinen kleinen Händen hineinfüllte. Obenauf legte die Mutter noch einige Scheiben von dem Kuchen, der vom gestrigen Sonntag, dem Geburtstag des Kindes, übriggeblieben war, für dieses selbst. Sie küßte das Kind, nun schon eilig, um zur Arbeit zurückzukehren, und schob es zur Tür hinaus. Doch des Kindes Liebkosungen, das Spielen, Lachen und Jagen hatten sie erregt, sie sang leise vor sich hin, ihre Bewegungen bei der Arbeit waren anders als zuvor, waren wie in den Tagen ihrer Jugend, als würden sie zu Tanz oder Freude getan, ihr Mund war geöffnet zu einem Lächeln voll Glückes ohne Ende.
Vom Teich zurück kam Fritz. Über seine Schultern hing eine Last der feuchten Weidenruten. Er ging zur Scheune Numero vier, die dem Wohnhaus am nächsten lag. Vom Wohnhaus sah er die kleine Anna kommen. In der Sonne glänzten die Farben des neuen Kleidchens, die Schwärze der Schuhe. Die flaumigen, lichten Locken des kleinen Hauptes schwebten beim Laufen wie Federn in der Luft. Sie kam auf ihn zu, hob das Körbchen an ihrem Arm und sagte: »Ich gehe die Enten füttern«, und sah ihn an. Sein Atem ging keuchend unter seiner Last, die über seinen gekrümmten Rücken hing. Sein Durst war noch immer ungelöscht, ausgedörrt sein Mund. Bei jedem Schritt peitschten die nassen Enden der Weidenruten an seine Beine. Er fühlte keinen Schmerz, doch Wut zitterte in ihm. Er ächzte leise. Er antwortete dem Kind nicht und ging weiter der Scheune zu. Das Kind lief allein zum Teich.
Fritz ging zur Scheune und ließ seine Last an der dem Felde zu liegenden Seitenwand niederfallen, dicht unter der Stelle, an der das Dach ausgebessert wurde. Eine Leiter war da angelehnt. Unsichtbar und geräuschlos arbeitete oben der alte Dachdecker. Er hockte verborgen zwischen den Weidenbündeln, die er um sich aufstellte, verflocht und mit Moos umwand, auf den Balken des Gerüstes. Er arbeitete trotz Alters und der Hitze eifrig, sah nicht viel um sich, da er durch eine fast völlige Taubheit ziemlich anteilnahmslos war. Nur von Zeit zu Zeit reckte er seinen alten Kopf zwischen den Weiden vor, um auf den Hof zu sehen, ob das Vieh zum Melken schon eingetrieben war. Denn das war für ihn das Zeichen zur Vesper, deren Läuten er nicht vernehmen konnte. Jetzt stieg Fritz die Leiter zu ihm empor und stieß ihn an. Der Alte blickte auf, besah die herbeigetragenen Bündel der Ruten, die Fritz für ihn aufgeschichtet hatte, nickte und sagte kurz: »Noch zwei«, und wandte sich der Arbeit wieder zu.
Fritz kehrte zurück. Als er an der weitgeöffneten Türe der Scheune vorüberkam, zögerte er. Es lockte ihn, in den weiten, verlassenen, dämmernden Raum einzutreten, im tiefsten Hintergrund seines Dunkels sich zu verbergen vor dem Glanz der Sonne, vor der aufrührerischen Freude dieses prangenden Sommertags. Er trat über die Schwelle, an der messerscharf flutendes, lebendurchbebtes Licht sich von dem reglosen, toten Dunkel schied, das eingegrenzt in den fensterlosen Raum der Scheune mitten zwischen Erde und Himmel stand, wie finstere Nacht im hellen Tag. Er ging über den weichen Boden der Scheune, der fußhoch mit Stroh bedeckt war. Unhörbar wurde ihm selbst sein eigener Schritt, leise nur knisterte das Stroh unter seinen Füßen. Hier war schwere Stille, dumpfe, tote Hitze, schwüler, modriger Geruch von alljährlich aufgespeicherten, hier gedorrten Getreiden. Alles legte sich mit lastendem Druck um seinen Kopf, füllte seine Glieder bleiern an, erstickte das kitzelnde Lachen in der erregten Brust, machte seine Augen blind, verhieß ihm weiche, heiße Ruhe. Er wanderte mit wohligem Gefühl in Hitze und Dunkelheit umher, stampfte im Takt seines aufwachenden, hammerschlagenden Herzens, schwer fühlte er jetzt wieder die Ströme seines Blutes durch seine Adern sich zwängen, schwerer fühlte er jetzt sich selbst, nicht mehr leer und schwebend im Rausch des Sommertags, wie bisher, er fühlte sich angefüllt werden von niegekannten, hart ihn treibenden, hart ihn bedrängenden Kräften, von fremdem, stachelndem Verlangen.
Er suchte nach einem Halt und besann sich auf seine Arbeit. Er wandte sich wieder dem Ausgang zu. Da stürzte ein Vogel mit scharfem Schrei durch den lichterfüllten Bogen des Tores in den dunklen Raum, zerriß Tod und Stille mit trillerndem Ruf und mit dem wie Herzschläge auf und nieder schnellenden Schwingen seiner Flügel. Eine Atzung im Schnabel, verschwand er in einer Ecke, die ein Balken, in die Wand einlaufend, unter dem Giebel des Daches bildete. Der hohe, zarte Ton der Brut antwortete.
»Ein Nest«, dachte Fritz. Er kehrte zum Teich zurück. Stampfend rissen ihn jetzt seine kraftgefüllten Beine vorwärts, seine Adern, erfüllt von den anströmenden Stößen seines Blutes, pochten in leisen Schlägen an seine Haut, zuckten in den Flächen seiner Hände. Er beugte sich zur Arbeit nieder, mühsam nur umfaßten jetzt seine muskelgespannten Finger die geschmeidigen Weidenruten, lastend drückte ihn sein niedergebeugter Nacken, schwer zog ihn das Gewicht des vorströmenden Blutes in dem gesenkten Haupt. Im hochgeschobenen Blick unter der zur Erde niedergeneigten Stirn sah er die kleine Anna mit den Entenhirtinnen im spielenden Lauf sich um ihn bewegen. Im Rufen, Lachen und hastigen Atem des Spieles hielt sie ihren kleinen Mund weit geöffnet. Die zarte, rosige Höhle ihres Mundes schimmerte feucht oft nah vor seinen Augen. Er richtete sich auf. Schwer rann sein Blut zum Herzen. Die kleine Anna stand dicht vor ihm. Tief gerötet das Gesichtchen, feuchten Glanz in dem strahlenden Blick der Augen, feuchten Hauch auf den wie Blütenblätter zarten Lippen und springend in hastigem Schlagen die Adern an ihrem zarten Hals. In der kleinen Hand hielt sie noch ein Stück ihres Kuchens, den sie mit den Hirtinnen geteilt hatte. Sie erhob den Blick zu Fritz, der stumm auf sie niedersah. Sie reichte ihm das Stück Kuchen hin und fragte: »Willst du auch?«
Er schüttelte stumm den Kopf, beugte sich nieder und lud sich eine Bürde von Weidenruten auf. Das Kind sah ihm mit ernsten Blicken zu. »Ich weiß ein Vogelnest mit Jungen«, sagte er leise vor sich hin.
Das Kind jubelte. »Wo? Wo?« fragte es.
Er antwortete nicht und wandte sich langsam zum Gehen. Das Kind begann ihm zu folgen. »Wir wollen den Vöglein den Kuchen geben«, sagte es.
»Ich weiß keine!« sagte Fritz und ging langsam den Weg zur Scheune. Schwer und fest setzte er die Schritte auf, die Enden der wippenden Ruten auf seinem Rücken peitschten seine Beine. Er fühlte von neuem Durst, sein Mund stand offen, wie eine langsam steigende Flut überzog dunkle Röte sein Gesicht.
»Zeig mir doch das Nest!« sagte das Kind noch einmal, dann schlich es leise, mit kleinen, schwebenden Schritten hinter ihm her.
Als sie sich dem Hofe näherten, begann Fritz plötzlich, schnell zu laufen. Obwohl es an der Zeit war, war der Hof noch leer, das Vieh zum Melken noch nicht eingetrieben, die Frau in der Küche, der Herr im Haus. Fritz ging zur Seitenwand der Scheune, zu der Stelle, über der der Dachdecker arbeitete, und ließ seine Last niederfallen. Als er sich wieder aufrichtete, stand die kleine Anna vor ihm und lächelte ihn an.
»Bitte, das Vogelnest!« sagte sie schmeichelnd. Er ging an ihr vorbei, dem Eingang der Scheune zu. Nacht, Stille, heiße, weiche Ruhe und Geborgensein lockten ihn im tiefen dunklen Raume. Er trat ein und ging bis zur Mitte, dort stand er still, in Kraft und Schwere sein Körper hart gespannt.
Unhörbar war ihm das Kind gefolgt. Unter seinen leichten Schritten knisterte kaum das Stroh des Bodens. Plötzlich rief es dicht hinter ihm: »Bitte, das Nest!« Rührend durchschwebte die lebenerfüllte, süß schmeichelnde Kinderstimme den dunklen, von dumpfer Glut durchbrüteten Raum, und furchtbar erstickte den lebendigen Laut wieder die tote Stille, die von verdorrender Verwesung erfüllte Luft. Wie von weither, doch nicht aus freier Ferne, sondern wie durch Grabeswände hindurch, kamen in dem wieder herrschenden Schweigen die raschelnden Geräusche aus den Ecken, wo Ratten nagten, und von hoch oben raunte der leise menschliche Laut des arbeitenden Dachdeckers.
Das Kind erschrak vor seiner eigenen Stimme, eingeschüchtert von der Stille, flüsterte es nur noch bittend zu Fritz empor: »Zeig mir doch die Jungen.«
Fritz schlich langsam zur Stelle, wo sich hoch oben im Gebälk das Nest befand.
»Zeig!« flüsterte das Kind noch einmal und streckte ihm seine Ärmchen entgegen.
Er beugte sich nieder, packte sie unter den Schultern und hob sie empor. Sie begann unter seiner Berührung zu lachen, leise, weich, gurrend wie Taubenlaut. Er hielt sie noch höher, ganz streckte er die Arme aus, stellte sich auf die Fußspitzen, obwohl er nie die Höhe des Nestes erreichen konnte. Das Kind, lachend in seinen Händen, drohte zu fallen, mit einem schwingenden Griff packte er es fest an den Beinchen und hielt es hoch über seinem Kopf. Sein tief in den Nacken geneigtes Gesicht war schwarz gerötet, die Lider geschlossen über den in Nebeln schwimmenden Augen, die Kiefer des weitgeöffneten Mundes zitterten im Krampf.
Von böser Macht emporgezaubert stieg die furchtbare, teuflische Maske auf aus den Tiefen seines Blutes und überschwemmte mit wilder Gier die sanften Züge seines engelgleich gebildeten Gesichtes.
Unter dem Röckchen fühlte er des Kindes zartes, weiches Fleisch. Leise durchzittert von Pulsen, ruhte es kühl zwischen seinen heißen, adernklopfenden Händen. Und nun raste sein Herz auf, schwer, mit gewaltigen, stampfenden Stößen. Er konnte nichts mehr retten. Krachend warf er das Kind nieder, er warf sich nieder, er fühlte unter seiner Brust das klopfende Jagen des kleinen Herzens, in hackenden Doppelschlägen antwortete sein Herz, ineinander verfangen rissen beide Herzen ihre Schläge dahin. Alles verging um ihn. Donner umdröhnte sein Ohr, feuergleich durchwogte ihn sein Blut, sein wilder Atem schien Brust und Kehle sprengen zu wollen. Blind und gierig wühlte seine Hand danach, Kleider abzureißen, Fleisch zu zerreißen, Adern, Pulse, klopfende Herzen zu vernichten, eng umpreßte Kehlen zu ersticken im wohligen Druck, und sich auszugießen in weiche, stille Ruhe. Mit grauenhafter Gewalt zerriß sein Körper den zarten Leib des Kindes, während seine rechte Hand mit einem Griff die kleine Kehle zerbrach. Das Kind, vom Lachen zum Schrecken jäh verstummt, stieß nur noch einen kleinen zischenden Seufzer aus. Kein Schrei war erklungen. Die tote Stille herrschte. Das grabesferne Rascheln der nagenden Ratten, der gedämpfte menschliche Laut des tauben Dachdeckers über dem Dache. Das Vogelnest hoch oben im Gebälk war still, wie verlassen.
Der Mörder erwachte, als er aus dem eben noch vor Durst vertrockneten Mund Speichel in seinen Hals rinnen fühlte. Er zog seine linke Hand zwischen den Gliedern des Kindes hervor, um sich abzuwischen. Sie war voll Blut. Er hielt sie vor die langsam erwachenden Augen. Er entsann sich, daß er am Morgen sich bei den Weiden geschnitten hatte. Er glaubte, die Wunde blute noch immer. Seine rechte Hand, um die Kehle des Kindes gekrampft, hatte er vergessen. Das Kind, tief unter seinem Leib vergraben, hatte er vergessen. In Ermüdung, in wollüstiger Ruhe, im Tod aller Herzen ruhte er aus, gebettet weich auf dem kühlen weichen Grund unter ihm. Er wandte langsam sein Gesicht nach oben, es war geebnet, ruhig, weiß, engelgleich die sanften Züge. Sein müder Blick umfaßte das Stroh vor seinen Augen, ein großer, grüner Käfer bewegte sich mühsam auf ihn zu. Er mußte lachen, im Lachen warf er sich auf den Rücken, sein Leib gab die Leiche der kleinen Anna frei. Er begriff nichts. Kaum sah er. Er fühlte die Unordnung seiner Kleider, und Scham ergriff ihn. Schnell machte er alles gut. Er dachte an seine Arbeit. Er sah umher. In der Dunkelheit erblickte er, ineinander verworren, mattschimmernde Kleider in Unordnung, verrenkte, leblose Glieder. Der Gedanke durchzuckte ihn: »Hier muß Ordnung sein!« Alle Müdigkeit war verjagt. Er rannte zum Tor der Scheune hinaus.
Draußen blendete das Licht. Heiße, lebendurchbebte Luft zitterte in der Sonne. Der Hof war leer. Seine Glieder waren leicht, besänftigt, unfühlbar sein Herz, ruhig die ausgekühlten Hände. Ganz leise stieg ein sanfter, hoher Ton aus der befreiten Kehle. Er sprang um die Ecke der Scheune, wo unter einem Dachvorsprung die Geräte für die Gartenarbeit hingen. Er ergriff eine Hacke mit langem Stiel und lief zurück. Da sah er über den Hof die Gestalt eines alten Bettlers mit grauem, struppigem Bart, um den Hals einen weithin leuchtenden Streifen wie von rotem Blut oder von einem Tuch, wie er sich vorsichtig dem Garten zuschlich, vielleicht, um ein paar Früchte zu stehlen. Als er Fritz erblickte, erschrak er und floh zum Brunnen zurück, wo er zögernd stehenblieb. Fritz aber schwang drohend die Hacke gegen ihn, und der Alte begann eilig in das Feld zurückzulaufen. Fritz sah ihm nach. »Da muß Ordnung sein!« sagte er vor sich hin und lief eilig zur Scheune weiter.
Er kehrte zurück in das Dunkel, an dem toten Kinde, dem Haufen verwühlter Kleider und Glieder, lief er vorbei bis in die hinterste Ecke des Raumes. Er begann zu hacken, mit rasend schnellen, scharfen Schlägen. Das Stroh des Bodens spritzte auf, blendete seine Augen. Schneller noch fielen seine Schläge, da endlich kam er auf Erde, kühle, dunkle, tote Erde. Sanfte Ruhe umfing ihn, er kniete nieder, breitete die Arme aus und maß so die Länge einer Grube ab. In grauem Rechteck entstand sie schnell, scharfkantig und sauber ausgeglättet. Er lief zurück zu der Leiche, ergriff sie an den Falten der Kleider und schleifte sie in die Grube. »Es muß Ordnung sein!« flüsterte er vor sich hin.
Dieser drangende Gedanke, der ihn rettete vor dem Begreifen des Geschehenen, war wie eine triebhafte, erschütternde Rechtfertigung dessen, daß er ahnungslos, aber furchtbar die Ordnung, den Sinn des Seins durchbrochen hatte.
»Es muß Ordnung sein«, war jetzt der Trieb seiner Seele, wie vorher grauenhafte Zerstörung der Trieb seines Körpers gewesen war.
Die Grube war zu klein. Ausgestreckt ragte der Kopf des Kindes daraus hervor. Er sah in der Dunkelheit ihn nur als einen kleinen, grauen Hügel, der sich nicht einglätten wollte in die Ebene der Grube. Er beugte sich nieder, griff in die mit hartem Stroh vermengten Haare des Kopfes, hob ihn, drehte den Nacken nach oben, und mit einem Schlag der Hacke zerschmetterte er die zarte Wirbelsäule, das kleine Haupt sank herab, tief bis auf die kleine Brust. Doch durch den Schlag erschüttert, war der kleine Körper weiter geschnellt, die Füßchen ragten jetzt am anderen Ende der Grube über ihren Rand. Mit der Hacke den Leib des Kindes in der Mitte festhaltend, stieß er mit den Füßen dessen beide Knie hoch, so daß die Beinchen, an den Leib angezogen, mit dem Haupt sich fast berührten, einander zugeneigt die kleinen Glieder nun ruhten, wie einst, ungeboren, in der dunklen Grube des mütterlichen Leibes.
Im Dunkeln schüttete er dunkle Erde auf. Mit den Händen die kühle, schwere Krume fassend, warf er sie in die Grube, dann schichtete er mit der Hacke das hohe, dichte Bodenstroh noch darüber. Doch alles völlig zu ebnen, gelang ihm nicht, noch immer zeigte das kleine Grab an Kopf- und Fußenden geringe Erhöhungen. Heißer, modriger Staub mischte sich in seinen Atem, der alte Durst quälte ihn von neuem; ohne noch einmal zurückzusehen, verließ er die Scheune.
Der strahlend helle Hof war jetzt voller Leben. Die wenigen Minuten bis zum Melken waren vergangen. Brüllend, stampfend standen die Kühe da und boten die gefüllten Euter den Melkerinnen dar, die Milch schäumte weiß in die blitzenden Gefäße nieder. Aus dem Hause trat der Herr, strich mit dem ruhigen, guten Blick über den Hof und ging dann, begleitet von einer Magd, die einen großen, sauber verdeckten Korb an den kräftigen Armen trug, den Weg zum Wald, wo er den Fällern und den Söhnen die Vesper brachte. Dort wollte er bis zum Abend bleiben und mit den anderen heimkehren.
Emma stand zwischen Hof und Haustür und zählte die Tröge, die die Laufbuben und Mägde milchgefüllt zum Keller schleppten. Eine junge Magd eilte zur Haustür und läutete die Glocke zur Vesper.
Von der Scheune Nummer vier kam der alte Güse, der von seinem Dach schon langsam herabgeklettert war, als er die ersten Kühe auf den Hof zutreiben sah. Neben ihm ging langsam Fritz, doch als die Glocke ertönte, stürzte er vor, als erster trat er in die Küche, ergriff gierig seinen Becher mit Milch und trank. Lange hielt er die kühle, süße Flüssigkeit in seinem Mund, ließ sie auf und nieder wogen, ehe er den Schluck in die Kehle rinnen ließ.
Vom Ententeich herauf kam die kleine Hirtin Minna gelaufen, ließ sich von Emma die Vesper für sich und die Genossin geben und lief wieder davon. Die Frau eilte geschäftig zwischen Küche und Speisekammer einher. Die Beeren, fertig gekocht, mußten in Gläser gefüllt und abgekühlt werden, im Milchkeller der morgendliche Rahm abgenommen und verbuttert, das Futter für den Abend, das Essen für die Nacht zugerichtet werden. Der Herr hatte, nach dem Abschluß des guten Geschäftes mit dem Viehhändler einen Augenblick in die Küche tretend, verkündet, daß Johanni heute abend ein wenig gefeiert werden solle, da die Hammel so gut gehalten und brav gemästet gewesen seien, die er eben verkauft. Die Frau solle die Abendtafel vor dem Hause richten und ein Fäßchen Bier und Beerenwein bereithalten. Daher war alles in freudiger Eile, in festlicher Erwartung. Die Arbeit flog von den Händen, eines half dem andern, der Feierabend sollte bald und in schöner Ruhe begonnen werden.
Die Nachmittagsstunden vergingen schnell. Nach sechs Uhr kehrte der Herr mit den Söhnen und den Arbeitern aus dem Holz zurück. Die Knaben schleppten große trockene Äste und Abfall von den Stämmen mit sich, liefen geschäftig den Hof hin und her, um einen Scheiterhaufen zu errichten, den sie in der Dunkelheit entzünden wollten zur Feier der Johannisnacht. Karl, der älteste Sohn, lief zum Dachvorsprung der Scheune, wo die Geräte hingen für die Sommerarbeit, um sich eine Axt zu holen, die Zweige und Stämme für den Scheiterhaufen zu behauen. Zu seinem großen Erstaunen fand er da Fritz in tiefem Schlafe auf dem Boden liegen. Er stieß ihn an und weckte ihn. Fritz schlug seine großen, schlafesklaren Augen auf, sprang auf die Beine, ging taumelnd ein paar Schritte, versuchte sich zu besinnen, denn er wußte nicht mehr, wie er hierher und zu dem tiefen Schlaf gekommen war. In kindlicher, schamhafter Verwirrung lachte er mit, als Karl ihn neckte, daß er heute so fleißig schlafe. Fritz suchte ihm eine kleine, leichte Axt aus, die Zweige zu behauen, und plötzlich sah er, daß die Stelle, wo der Grabspaten mit langem Stiel hängen mußte, leer war. Suchend lief er um die Scheune herum und erblickte die Hacke auch, die noch an der offenen Scheunentür lehnte. Er ergriff sie schnell, um sie an ihren alten Platz zu bringen. In demselben Augenblick bog Emma, seine Mutter, vom Schafstall kommend, um die linke Ecke der Scheune und stand vor ihm. Sofort fragte sie: »Was macht die Hacke hier? Gehört die in die Scheune?«
Fritz sah die Mutter an, dann blickte er auf die Hacke nieder, schaukelte sie leise an ihrem langen Stiel in seiner Hand hin und her. »Ich habe sie wohl ein bißchen gebraucht!« sagte er.
»Ach was, hänge sie schleunigst an ihren Ort, wo sie hingehört! Was ist das für eine Ordnung?« schalt die Mutter streng und ging weiter.
Fritz eilte und hing die Hacke an ihren Platz. Dann ging er in den Hof zu den Knaben, die um den Scheiterhaufen bemüht waren. Er fühlte sich leicht, weich und froh, es zog ihn zu den Menschen, er gesellte sich seit langen Jahren zum erstenmal wieder zu den Brüdern, half mit jungenhafter Freude und Heiterkeit, den Scheiterhaufen hoch in einem mächtigen, sauberen Quadrat aufzubauen.
Rings um den Hof erhob sich noch einmal ein großer Tumult. Alle Herden wurde eingetrieben, die Pferde getränkt und gestriegelt. In einer Stunde sollte alles Vieh versorgt, die Ställe geschlossen, die Gerätschaften verwahrt, das Feuer im Herd verlöscht sein. Die große, weißgescheuerte Tafel stand schon vor der Tür, mit Bänken und Stühlen umgeben, mit den irdenen Eßschüsseln und den kleinen Krügen für Wein und Bier besetzt. Die jungen und flinken Knechte und Mägde drängten sich schon um den schönen steinernen Trog des Brunnen und wuschen sich Arme, Hände und Füße, während die älteren bedächtig nachkamen, die Ärmel der Hemden hochschoben, in Eimern sich Wasser auffingen und etwas abseits von den andern sich wuschen. Zur rechten Zeit ertönte die Glocke zum Essen, alle strömten zu der großen, verheißungsvoll aufgedeckten Tafel.
Bis jetzt war das Kind von niemand vermißt worden. Die Mutter glaubte es bei den Hirtinnen am Teich, die Hirtinnen hatten längst vergessen, daß es von ihnen weg zum Hause gegangen.
Der Abend kam zögernd. Am Rande des Himmels hing noch immer die Sonne am Ende ihrer weiten, strahlend gezogenen Bahn, durchgoldete mit ihrem letzten und heute scheinbar unerschöpflichen Licht die in milde Wärme sich verkühlende, sanft sich bewegende Luft. Die berauschende Schönheit, mit der der Tag begonnen, verklärte ihn verschwenderisch bis zum langsamen Sinken in die Nacht.
In wohligem Verlangen nach Ruhe und Nahrung aufatmend setzten sich die Menschen zu Tisch. Emma kam aus dem Haus, und mit Hilfe einer Magd stellte sie einen Holzbock auf, auf den mit einem Schwung das Fäßchen mit Beerenwein gehoben wurde. Alle lachten. Dann ging sie und kam wieder mit der riesigen Schüssel dampfender, fleischduftender Suppe und stellte sie auf den Tisch nieder. Alle warteten auf den Herrn und die Frau. Der Herr kam zuerst, aus der Wohnzimmertür tretend, die Frau folgte ihm mit vor Eile gerötetem Gesicht, mit glücklich lächelndem Mund und die weit offenen dunklen Augen strahlend auf ihn gerichtet. Sie strich sich mit beiden Händen den dunkel glänzenden Scheitel glatt und ließ sich am Tische nieder. Sie füllte die Teller, die Emma ihr zureichte und gefüllt wieder verteilte. Alle falteten die Hände und erwarteten jetzt die zarte Stimme des Kindes, das in den letzten Wochen immer das Tischgebet gesprochen hatte. Die Stille, die jetzt an Stelle der gewohnten, rührenden Bitte um Segen der Mahlzeit eintrat, war furchtbar, verbreitete plötzlich ein Entsetzen, das noch niemand sich erklären konnte. Die Hände starr ineinandergefaltet, die Köpfe gesenkt, verharrten sie alle stumm.
Der Mann sprach zuerst. Er hob das Haupt und fragte: »Wo ist Anna?«
Die Frau erschrak, schuldbewußt wagte sie nicht, sich zu erheben, und warf Emma, die neben ihr saß, einen flehenden Blick zu.
Emma stand auf und eilte ins Haus. Alle blieben stumm mit gefalteten Händen sitzen. Nur Fritz und Karl am unteren Ende der Tafel flüsterten leise miteinander, wie sie am besten das Feuer des Scheiterhaufens entzünden könnten. Karl wollte Reisigbündel, wie man sie in der Küche zum Herdanzünden hatte, verwenden, doch Fritz riet leise: »Nein, Petroleum, da brennt es gleich viel höher!«
Emma kam aus dem Haus zurück, das sie leise und schnell durchsucht hatte, schüttelte stumm den Kopf.
Der Herr löste die gefalteten Hände auseinander. »Jeder bete für sich und beginne zu essen!« sagte er.
Sie neigten von neuem die Köpfe und bewegten die Lippen; Unruhe und Furcht im Herzen, begannen sie eilig zu essen.
»Wo war das Kind zuletzt?« fragte der Mann.
»Es ist zum Teich gegangen!« antwortete die Frau ebenso leise.
Der Herr schwieg, sah auf die Essenden und wartete. Sie legten die Löffel aus der Hand und sahen ihn an.
»Dankt noch!« sagte der Herr. Sie beteten wieder, jeder für sich. Dann stand der Herr auf.
»Was hat die kleine Anna am Teich gemacht?«
Friederike und Minna wurden gefragt.
»Wir haben gespielt. Sie hat uns Kuchen geschenkt. Nachher ist sie mit Fritz fortgegangen.« Die beiden Mädchen zitterten am ganzen Körper. Tränen standen ihnen schnell in den Augen.
»Fritz wollte ihr ein Vogelnest zeigen, mit Jungen«, fügte Minna, die jüngere von ihnen, noch hinzu.
»Fritz, komm her!«
Fritz stand auf und trat vor den Herrn. Weiß und zart war sein müdes, erschöpftes Gesicht, träumerisch der Blick der sanften Augen.
»Wo hast du die kleine Anna zum letzten Male gesehen?«
»Beim Teich, Herr!«
»Aber sie ist doch mit dir fortgegangen vom Teich!«
»Das weiß ich nicht, Herr. Ich habe schwer getragen an den Weidenruten für Güse!«
»Wo hast du ihr das Vogelnest gezeigt?«
»Ich weiß von nichts, Herr. Ich weiß gar kein Vogelnest.«
Der Herr fragte die anderen, alle der Reihe nach, niemand hatte das Kind gesehen.
»Hat jemand wen Fremdes auf dem Hof gesehen?«
»Ich, Herr, ich habe einen Bettler auf dem Hofe gesehen, kurz, ehe gemolken wurde«, rief Fritz.
Die Leute, die in Schlag sieben gemäht hatten, nickten beistimmend, sie hatten einen Mann durch die Felder eilig nach dem Wald laufen sehen.
»Helft suchen!« sagte jetzt der Herr.
Sofort stürzte alles auseinander. Die Sorge um das Kind war groß. Man lief in die Felder, die Männer wateten durch das schön und dicht stehende, kindeshoch ragende Korn. Die Frauen suchten im Garten, bogen die Zweige der Büsche und Hecken auseinander; unaufhörlich ertönte der Name des Kindes, von den vielerlei verschiedenen Stimmen lockend und beschwörend in Liebe und Angst gerufen. Doch im Frieden des sinkenden Abends kam ihnen keine Antwort.
Die Mutter rannte zum Teich. Obwohl sie von den Hirtinnen mit Bestimmtheit vernommen hatte, daß das Kind vom Teich fortgegangen und nicht wieder dahin zurückgekehrt sei, glaubte sie doch, es halte sich noch dort versteckt. Unaufhörlich umkreiste sie das Ufer, wühlte in dem dichten Weidengebüsch, immer wieder lockten sie die in der Dämmerung silbern aufschimmernden Blätter der Weiden, spiegelten ihr das lichte Haupt des Kindes vor. Fern lag ihr jeder Gedanke an Unglück oder Tod. Sie lächelte, sie glaubte fest daran, daß das Kind, heute besonders übermütig, sich versteckt habe, leise irgendwo schelmisch lachen und plötzlich ihr an den Hals springen würde. Von neuem bog sie suchend die Weiden auseinander, rief, lachte dem Kind entgegen. Plötzlich sah sie am Boden etwas Helles leuchten, mit einem Schrei stürzte sie darauf zu und hob es auf, es war das Körbchen des Kindes, in dem es Futter für die Enten und seinen Kuchen mitgenommen hatte. Nun fiel ihr wieder ein, daß das Kind doch vom Teich fortgegangen sei, es hatte sich ins Haus geschlichen und dort sich versteckt, dann war es wohl eingeschlafen. Und sie kehrte zum Haus zurück, durchsuchte es von oben bis unten, hielt die Arme ausgebreitet, denn jeder Augenblick mußte ihr das Kind bringen, sie es finden lassen.
Der Vater hatte in weitestem Bogen um das Gehöft gesucht. Er hatte die beiden Söhne neben sich. Sie waren über die Felder hinaus-, durch die Wiesen bis zum Wald gegangen.
»Vielleicht hat sie uns entgegenlaufen wollen bis zum Wald und hat sich verirrt«, sagte er zu den Söhnen. Doch er glaubte nicht an seine Worte. Er wußte, das Kind, vor allem Fremden ungewöhnlich scheu, in seinen Spielen und seinen kleinen Interessen immer an das Haus gebunden, lief nicht so weit fort.
Im Wald begann es schon zu dunkeln. Sie riefen und durchstreiften ihn nach allen Richtungen, doch als Antwort ward ihnen die feierliche Stille der in die sinkende Nacht eingehenden Natur. Sie kehrten zurück auf die Felder, die dargebreitet lagen dem hoch und licht sich wölbenden Abendhimmel.
Sie kamen zum Hof zurück. Es war zehn Uhr und die Nacht nun völlig da. Die Mutter lehnte an der Türe des Hauses und weinte. Das Kind war versteckt, und sie konnte es nur nicht finden. Erst hatte es gelacht, dann war es eingeschlafen, nun würde es irgendwo in seinem Versteck aufwachen, im Dunkeln sich fürchten, nach ihr, der Mutter, rufen, nach ihr, der Mutter, seine kleinen Ärmchen ausstrecken, sie sah es vor sich, seinen kleinen, im Weinen verzogenen Mund, die rinnenden Kindertränen, sie fühlte sein kleines, schluchzendes Herz ihr entgegenschlagen, und sie, die Mutter, fand das Kind nicht. »Wo hat sich nur das Kind versteckt?« jammerte sie, wieder und wieder, und unaufhörlich durchsuchte sie im Dunkeln das Haus.
Christian stand still im Hof. Von allen Seiten der Felder und Wiesen kamen die Suchenden zurück, mit traurigen, langsamen Schritten, und scharten sich stumm um den Herrn.
»Sie kann in den Teich oder in eine der Gruben gefallen sein«, sagte er ruhig.
»Ach Gott!« Leise sagte es Blank, der Wirtschafter, der neben ihm stand, schwer schluckte seine Kehle.
Karl, der Sohn, vor Erregung bebend, ohne doch alles zu begreifen, rief plötzlich mit heller Knabenstimme: »Soll ich den Scheiterhaufen anzünden, zum Leuchten?«
»Lauf!« sagte der Vater.
Der Knabe lief, Freude in seiner jungen Seele, den Scheiterhaufen nun doch noch brennen zu sehen. Als er zu dem Holzstoß kam, der kunstgerecht, wohl zwei Meter im Quadrat, aufgebaut war, erblickte er plötzlich Fritz, am Boden hockend, hinter dem Scheiterhaufen verborgen.
»Warum suchst du nicht mit?« fragte er ihn.
»Ach was«, erwiderte Fritz. Er hatte schon alles zum Anzünden vorbereitet. Eine Flasche Petroleum und ein Bündel Werg sowie ein Feuerstein lagen neben ihm. Während Karl das Petroleum über das Werg goß, schlug er die Funken, und bald loderten die Flammen hell und stark aus der Mitte des trockenen, prasselnden Holzes hervor.
»Vielleicht sehen wir die Anna jetzt«, sagte Karl leise vor sich hin, nun doch wieder von Kummer bedrückt.
»Die finden sie wohl nicht mehr«, sagte Fritz. Seine sanfte Stimme war so leise, daß das Prasseln des brennenden Holzes seine Worte fast verschlang, nur der hohe Ton schien in der Luft noch zu schweben, und sein weißes, schön gebildetes Gesicht war golden angestrahlt vom Feuerschein der Flammen.
Auf dem Hof, der nun weithin erleuchtet war von dem flackernden Licht der Flammen, begann die Arbeit von neuem. Es war wie das spukhafte Widerspiel des Lebens am Tage. Die Menschen eilten hin und her, die Schatten wuchsen bald riesenhaft groß empor, bald verzehrten sie sich, die Gesichter und Hände tauchten auf, grell gehoben ans Licht, und verschwanden ohne Spur im Dunkel wieder.
Der Schuppen, in dem die Pumpen standen, wurde geöffnet und sie hervorgezogen. Sie wurden an die Jauchegruben angesetzt, ihre Hebel von den Männern auf und nieder geschwungen. Andere warfen mit langen Gabeln den Dunghaufen um, der Herr selbst zog die kleinen Wagen der Aborte hervor und durchsuchte mit langen Stangen die Exkremente.
Die Hitze und der Rauch des in lodernden Flammen brennenden Holzstoßes, der Geruch der Gruben und Aborte vermengte sich zu einem höllischen Dunst.
Mit der letzten Anstrengung wurden diese Arbeiten beendet, erschöpft sanken alle zusammen.
Vom Teiche kam der Fischer-Andres herauf, der im Schein von brennenden Holzscheiten mit Booten und Netzen das Wasser durchzogen hatte. Da er bemerkte, daß ein Brett der Brunneneinfassung gelockert war, wurde trotz der allgemeinen Müdigkeit der Brunnen vollends aufgedeckt und das Abflußbecken noch leergepumpt.
Bis um ein Uhr nachts hatte man keine Spur von dem Kinde. Der Scheiterhaufen war niedergebrannt, die Flamme schwelend erloschen. Die Johannisnacht war da, die kurze Spanne der Dunkelheit zwischen dem zögernd vergangenen Abend und dem bald sich wieder nähernden Licht des Morgens.
Die Menschen ruhten, zusammengesunken vor Müdigkeit, Schrecken und leerer, noch nicht einmal begriffener Verzweiflung. Überall im Hofe verstreut hockten die trostlosen Gestalten, die Hände schlaff in den Schoß gefallen, die Augen auf den Boden gerichtet oder geschlossen ohne Schlaf.
Nur zwei Menschen schliefen. Fritz, von der Hitze und der blendenden Helligkeit des Feuers weggetrieben, war in weicher Müdigkeit, in traumhafter Sehnsucht nach Schlaf in seine Kammer geschlichen und dort in tiefen Schlummer gesunken.
Über dem Bettchen des Kindes hatte die Mutter sich in hoffnungsvollen Traum geweint. Sie träumte, sie stehe wieder als junges Mädchen im Laden in der kleinen Stadt, es sei Abend, die Lampe brenne, die Türe ginge auf, Christian trete ein und reiche ihr ein mächtiges Bündel großblütiger Blumen, und als sie es in die Hand nahm, entsprang jeder Blüte das Kind Anna, und die vielen kleinen Gestalten drängten sich um sie, der warme Hauch der Kinderkörper stieg von ihren Füßen über den Leib bis zu ihrem Herzen empor und überflutete sie bis in den Schlaf mit einem glücklichen Gefühl. Der Mann aber war versunken.
Unten stand Christian, der Vater, frei in der offenen Tür des Hauses. Müdigkeit, schwer in seinen Gliedern lastend, drückte ihn nieder, doch der Schmerz des Herzens hielt ihn wieder aufrecht. Erbarmungslos stieg es ihm jetzt aus der versteinten Brust empor, daß sein Kind tot sei, daß er seinen Leichnam suche, daß er seinen Leichnam bergen müsse. Kein Grund für diesen Gedanken, keine Erklärung, und doch keine Hoffnung, und doch keine Träne. Er hatte nicht beten können, die gefalteten Hände hatte er gelöst, in der schwersten Stunde war Gott ihm entwichen, jetzt fühlte er klar den unerbittlichen, den tödlichen Schlag in seiner Seele. Keine menschliche Verzweiflung war ihm gegeben, er brach nicht zusammen. Todeskräfte stiegen aus seiner bis hierher in gutem Glück lebenden, von reinen Wünschen und Gedanken bewegten, nun von bösem Unglück jäh überfallenen Seele hervor. Frei, ohne Stütze stand er weiter, im Innern gehalten von furchtbarer Kraft.
In der völligen Dunkelheit, in der völligen Stille, die jetzt über allem lagerte, schien es, als schwebe die kleine, so gewaltsam abgeschiedene Seele des Kindes in lebensgierigen Kreisen noch nahe den Menschen, noch nahe der lebendig atmenden Natur. Vor den müden, stumpf ruhenden Seelen der Knechte und Mägde entstand das Bild des Kindes. Mit ihren halb in Schlaf versunkenen Sinnen fühlten sie seinen Atem in der Luft, sie glaubten die Gräser des Weges sanft sich niederbeugen zu sehen unter dem zarten Gewicht seiner kleinen Schritte, Türen öffnete es langsam, auf die Zehenspitzen gestreckt, mühsam mit dem Druck der kleinen Händchen die schweren Klinken niederdrückend, es flüsterte nahe um sie, sein schmeichelndes, zärtliches, weiches Lachen schmiegte sich mit der lau bewegten Sommerluft in ihre Ohren. Es umwebte die Ahnungslosen in den kurzen Stunden ihrer traurigen Ruhe mit den letzten, geheimnisvollen Schwingungen seines verwehenden Lebens.
Die zarte Dämmerung des Morgens, wieder golden und schön, kam schnell. Der Herr, frei und unbeweglich stehend im Tor des Hauses, erhob die Stimme in dem noch lautlosen Schweigen des Morgens.
Nun sprangen alle auf, reckten sich, gingen zum Brunnen und weckten die Gesichter und Hände mit kühlem Wasser. Sie halfen beim Anzünden des Herdes, bald war der Kaffee fertig, schnell tranken alle, froh, sich regen und Nacht und lähmendes Entsetzen abschütteln zu können.
Nun sammelte der Herr die Leute um sich. Er stellte sie auf nach Plan und Ordnung. In der süßesten Morgenröte, in der von Frische und goldenem Licht erfüllten Luft, unter dem von überallher froh erwachenden Gesang der Vögel begann das Suchen nach dem Kinde von neuem.
Ein Teil der Leute durchwanderte unter der Leitung von Blank, dem Wirtschafter, den ganzen, mit Winterkorn besäten Schlag sechs und sieben. Sie gingen in Reihen, je zu fünfen, hielten sich mit ausgestreckten Armen an den Händen und folgten einander in Abständen von zehn Schritt. Mit den schweren Schuhen traten sie das schön, dicht und ebenmäßig stehende, ihnen bis zu den Schultern reichende Korn nieder. Mit verstörtem Schrei und Flug schwangen sich die Lerchen auf, die Wachteln flatterten davon, hier und da floh ein Maulwurf unter seinen Hügel. Die Männer gingen still, mit gesenkten Köpfen.
Andere durchsuchten nochmals unter der Führung des Fischer-Andres alle bis im weitesten Umkreis liegenden Gewässer und Teiche. In drei Booten, in denen je vier Mann standen, überquerten sie die im Morgen duftig glitzernden Wasserflächen, durchzogen sie mit langen Stangen und Haken, mit Netzen bis auf den Grund. Die kleinen Wehre wurde aufgelassen, obwohl ein Teil der Wiesen dadurch plötzlich überschwemmt wurde, und breite Netze wurden unter das verschäumende Wasser gehalten.
Die Söhne mit den Fällern durchstreiften den Wald.
Emma mit den Mägden durchsuchte Haus, Keller und Boden nochmals, jedes Gefäß wurde umgewendet, jede Tür geöffnet, jeder Sack umgeleert, im Garten die dichten Zweige umgebrochen, die Bäume geschüttelt, das Bienenhaus nachgesehen. Zuletzt kam sie mit den Mägden in die offene Scheune Nummer vier. Diese war dunkel, heiß, glatt und eben der mit Stroh fußhoch bedeckte Boden. Sie gingen durch die Mitte und auch die Wände entlang, sie bemerkten nichts. Unmöglich konnte auch das Kind in dem offenen, ebenen Raum zu Fall gekommen sein.
Um sieben Uhr morgens trafen alle wieder auf dem Hof zusammen, nachdem drei Stunden lang dreißig Menschen gesucht hatten. Fritz war inzwischen aufgestanden, hatte die Ställe geöffnet und das Vieh zu versorgen begonnen.
Er lief ausgeruht, frisch, eilig und arbeitsfreudig umher. Der Herr befahl, daß man mit Suchen aussetzen und die nötige Arbeit erst vornehmen solle. Er hieß Fritz anspannen und fuhr mit Blank und dem Fischer nach der Stadt, um Anzeige zu erstatten.
Die Frau war am Morgen erwacht, schlafestrunken vernahm sie den Lärm des Tages vom Hof herauf, verwundert richtete sie sich auf, strich sich über die schmerzende Brust, die eingedrückt über den Kanten des schmalen Kinderbettes gelegen hatte. Lange mußte sie sich besinnen, warum dieser Morgen nicht wie alle andern war, warum das Bett des Kindes leer, ihr eigenes unberührt und sie beim Erwachen allein war. Plötzlich wurde sie dann von der Erinnerung an den vergangenen Tag überfallen, das Kind war also noch nicht gefunden. Sie schlich sich langsam in die Küche hinab, sah die bleichen, verstörten Gesichter, sie suchte den Mann und erfuhr, daß er in die Stadt gefahren sei. Verloren stieg sie die Treppe wieder empor ins Schlafzimmer, setzte sich auf den Rand ihres Bettes und verharrte so still in Erwartung. Sie konnte nichts Böses glauben. Sie hoffte auf die Rückkehr des Mannes. Wenn das Kind nicht im Hause versteckt war, war es vielleicht doch fortgelaufen, fremde Menschen hatten es aufgenommen, hatten es wohl in die Stadt gebracht, es würde dem Vater zugeführt werden, denn seinen Namen konnte es schon sagen, und den Vater kannte jedermann.
Am Mittag hörte sie den Mann zurückkommen. Ihr Herz klopfte, freudige Röte schoß über ihr Gesicht. Aber seine Schritte kamen nicht zu ihr, Sprechen und Lärmen erhob sich wieder im Hof. Sie ging ans Fenster und sah die Leute alle versammelt um den Herrn, der unter ihnen stand. Hunger quälte sie. Niemand schien sie zu vermissen, niemand fragte oder rief nach ihr. Und es war doch ihr Kind, sie hatte es geboren und aufgezogen, man mußte ihm helfen und ihr, der Mutter. Ihr dunkler, geweiteter Blick feuchtete sich in Tränen, sie wagte nicht, hinunterzugehen, unter die trostlosen, müden Gesichter der Menschen zu treten, sie setzte sich wieder nieder, wartete auf freudige Botschaft.
Die Hände über die aufgeregte, leise noch schmerzende Brust gekreuzt, lächelte sie vor sich hin, in Erinnerung an den glückverheißenden Traum der Nacht. Wie die Blumen im Traum, so würde der Mann ihr das Kind wiederbringen, dann wollte sie sich an seinen Hals hängen, ihn küssen, ihn nicht versinken lassen wie im Traum, sie war ja noch jung, das Kind war gesund und schön, sie mußten glücklich sein.
Unten war schnell zu Mittag gegessen worden, dann wurde nochmals gesucht. In geordneten Trupps wurden nochmals die Roggenschläge kreuz und quer durchzogen, die Gewässer beobachtet, die Wasserrinnen und Mergelgruben der Felder durchstöbert, Ställe, Gärten, Hecken und alle Winkel durchforscht. Zur Vesper kamen wieder alle zusammen. Schnell wurde gemolken, dann sammelten sich wieder alle um den Herrn. Scheu kam von der Haustür her auch die Frau geschlichen und mischte sich in den Kreis. Sie sah den Mann an und begriff nicht, daß so Furchtbares geschehen sein sollte, das sein Gesicht so hart und versteinert umgeschaffen hatte, das seinen, des Herrn, Mund stumm hielt, indes Blank, der Wirtschafter, reden mußte.
»Herr«, sagte der Wirtschafter, »mit Suchen ist da nichts mehr. Das ist aber auch ganz gut, daß wir gar nichts gefunden haben, da ist doch wenigstens nicht das Schlimmste passiert. Aber weiter weg, als wir gesucht haben, ist die kleine Anna doch wohl auch nicht gelaufen. Ich glaube da nun, daß da vielleicht so elende Zigeuner das Kind verschleppt haben. Was soll sonst sein? Oft genug hat man das ja gehabt, und unsere kleine Anna war ja wohl ein schönes Ding, wie sie es gern haben. Was denkt Ihr?«
Ein allgemeiner Aufschrei der Erleichterung brach aus. Das allein konnte die Lösung sein, das mußte es sein, das war schlimm, aber doch nicht das Allerschlimmste, das Kind lebte doch wenigstens noch, man konnte es den Zigeunern wieder abjagen, abkaufen, mit Geld alles wieder gutmachen. Alle die müden Gesichter und Gestalten belebten sich wieder, die Mutter aber jubelte, das war die neue Hoffnung, die Zuversicht, die ihr Herz brauchte.
Der Herr sah stumm den Wirtschafter an. Er wußte, es war ein kluger und überlegter Mann, er würde nichts sagen, was er nicht glaubte, und es war gut, daß doch die andern noch glaubten.
In der Wohnstube setzte sich der Herr vor den Schreibsekretär und verfaßte ein Schreiben, das das Verschwinden des Kindes vermeldete, seine Gestalt beschrieb und verkündete, daß der Vater für Nachrichten oder Wiederherbeischaffung eine Belohnung von dreihundert Talern aussetze. Die Mutter holte die Photographie des Kindes herbei, das Geschenk an den Vater. Mit diesen Papieren versehen, brach der Herr zum zweitenmal auf und fuhr nach der Stadt.
Auch dieser Tag ging zu Ende. Mit Mühe vollendeten die vor Müdigkeit fast umsinkenden Leute die nötige Arbeit. Große Hilfe leistete Fritz, der an dem allgemeinen Suchen und der allgemeinen Aufregung nicht teilgenommen hatte und für drei arbeitete. So sanken alle, als noch der Abend licht über allem schwebte, in tiefen Schlaf. In Ruhe lagen der Hof und das Haus schon da, als der Herr zurückkehrte. Er spannte selbst die Pferde aus und verschloß die Ställe.
Zu tun blieb nichts mehr. Er ging ins Haus, die Treppe empor und trat in das Schlafzimmer ein. Auf dem Bett lag die Frau, mit seufzenden Atemzügen schlafend, die Hände über ihrem Schoß gefaltet. Der Mann sah sie an in der sommerlichen Dämmerung, die nicht Licht und nicht Dunkelheit war. Durch ihre schlafesgeschlossenen Augen fühlte er ihren dunklen Blick, jenen weitgeöffneten, nachtschwarz wogenden Blick. In ihm versenkt war die Finsternis der Kindheit, die er gefürchtet hatte, eine zweite, böse, unsichtbar belebte Welt, ein zweiter, dunkler Gott gegen den Gott seiner Seele, gegen den Gebieter der gerechten Gebote, den Erfüller der guten Gebete.
Er wandte sich von ihr ab. Die Dunkelheit, die zunahm, fühlte er nicht. Er trat an das Fenster und sah gegen den Himmel. Von dem Bild seines Kindes war die dunkle Luft erhellt. Er sah es, von lichten Locken umspielt sein kleines Haupt, weiß leuchtend und rein seine Stirn, strahlend der Blick der hellen Augen, schimmernd sein unschuldiges Lächeln auf dem feuchten Blumenblatt des Mundes. In sein Herz brach Glanz vom Widerschein seiner zarten, reinen, vor ihm schwebenden Gestalt. Wohin war es gegangen? Welches Böse hatte sein reines, schuldloses Dasein angelockt, welcher Tod sein freudestrahlendes Leben zerbrochen?
In dem menschlichen Schmerz, der jetzt in ihm sich löste, in der heißen Sehnsucht seiner väterlichen Liebe nach dem Kind brach der Mann in die Knie.
Er sank vor dem Fenster zusammen. Von seinem Kinn, auf das Fensterbrett aufgeschlagen, ward sein Haupt emporgehalten, sein Blick hinaus in die Dunkelheit gerichtet.
In der Nacht, die um ihn stand, ahnte der Vater das Furchtbare.
Die Luft war lau und still, die Erde ruhte dunkel und trug die Früchte des Sommers.
Der Himmel, blau getönt, licht und zart gespannt, trug die prunkenden Gestirne.
Menschen und Tiere um den einsamen Wachen schliefen.