Читать книгу Die Omega-Spur - Raimund Badelt - Страница 6
ОглавлениеEinleitung
Anfang des 20. Jahrhunderts veränderte sich das damals gültig erscheinende Weltbild sehr wesentlich: In der Physik vereinigt Albert Einstein (1879–1955) die Begriffe des dreidimensionalen Raums und der Zeit zu vier Dimensionen eines Raum-Zeit-Systems und stellt in seiner berühmten Formel (E = mc2) den Zusammenhang zwischen Materie und Energie dar. Er erhält nicht nur den Nobelpreis, sondern wird zum populärsten Forscher seiner Zeit. Bis zu seinem Lebensende versucht er, eine einheitliche Theorie zu formulieren, in der die Erkenntnisse der modernen Physik zusammenzuführen wären.
Gleichzeitig analysiert der französische Jesuit Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) Erkenntnisse der Evolutionsforschung und beschreibt Phänomene des immer klarer hervortretenden Geistes. Mit der Ausweitung des Energiebegriffes auf spirituelle Energie kommt er zu einer überraschenden Zusammenschau von Naturwissenschaft und Religion (insbesondere Mystik), die er im Gegensatz zur damals allgemein gängigen Meinung als getrennte Wege zu einem gemeinsamen Ziel sieht. Da er sich widerwillig, aber doch, dem kirchlichen Publikationsverbot unterwirft, werden seine bahnbrechenden Schriften erst nach seinem Tod allgemein bekannt.
Beide großen Denker emigrieren in die USA, Einstein auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus, Teilhard, um dem kirchlichen Druck in Europa auszuweichen. Die beiden Pioniere umfassenden Denkens sterben wenige Tage hintereinander im Raum New York, Teilhard am 10. April 1955, Einstein am 18. April 1955.
Welche Ausgangssituation fanden die beiden vor?
Der Fortschritt der Naturwissenschaften in den letzten Jahrhunderten schien die Gottesfrage immer mehr in den Hintergrund zu drängen, Gott und Religion wurden für viele zum Rückzugsfeld für Fragen, die wissenschaftlich (leider) noch nicht geklärt waren. Materialistische, zum Teil sehr kämpferische Theorien gewannen an Boden, während andere, sich konzilianter gebende Strömungen einfach das allmähliche Aussterben von Religion erwarteten.
Insbesondere die letzten 150 Jahre waren durch rasante Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik gekennzeichnet gewesen, gleichzeitig aber auch durch eine sehr defensive Grundtendenz im Lehramt der römisch-katholischen Kirche. Hier versuchte man, durch dogmatische Festschreibungen, verbunden mit energischen disziplinären Maßnahmen das gefährdet scheinende Glaubensgebäude abzusichern: Im Jahre 1854, einige Jahre vor dem Erscheinen von Darwins berühmtem Buch über die Entstehung der Arten, wurde das Dogma der unbefleckten Empfängnis Mariens formuliert, 1870 auch die Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubensfragen. Einstein publizierte 1905 seine Relativitätstheorie, kurz danach verpflichtete der Vatikan seine Kleriker zum Anti-Modernisten-Eid. Die Dogmatisierung der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel erfolgte 1950 einerseits zu einem Zeitpunkt, zu dem Hubbles Entdeckung der Natur der Andromeda-Galaxie und ihrer Entfernung von unserem Sonnensystem (ca. zwei Millionen Lichtjahre) schon fast 30 Jahre zurücklag, und erfolgte anderseits, was wohl niemand geahnt hatte, drei Jahre vor dem Start des ersten Weltraumsatelliten Sputnik. 1969 betrat dann der erste Mensch den Mond.
Das naturwissenschaftliche Weltbild wurde ständig größer, komplexer, veränderlicher, aber auch schwerer vorstellbar. Gleichzeitig versuchten kirchliche Autoritäten, christliche Glaubenssätze immer präziser, konkreter, enger zu formulieren. Mitte des 20. Jahrhunderts musste man sich dann fragen, wie Weltraumfahrt und leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel wohl zusammenpassen. – Es verwundert nicht, dass jemand, der sich als Wissenschaftler gerade in so einer Epoche mit der Verbindung von Naturwissenschaft und Theologie befasste und sich mit deren Auswirkungen auf spirituelles Leben beschäftigte, in Schwierigkeiten geriet. Religionen generell schienen nur auf Grundlage eines Weltbilds vorstellbar, das offensichtlich nicht mehr stimmte: In allen uns bekannten Kulturtraditionen machten sich Menschen sowohl Vorstellungen über die Entstehung bzw. den Ursprung der Welt als auch über höhere Wesen, deren Macht man fürchtete oder deren hilfreiches Eingreifen man erhoffte. Die Schöpfungsberichte der Bibel mit der bekannten Sieben-Tage-Erzählung drücken die Vorstellungen im Volk Israel vor etwa 3000 Jahren aus. Aus heutiger Sicht bedeuteten sie damals insofern einen Fortschritt (etwa im Vergleich zu den Gottesvorstellungen im alten Ägypten), als Himmelskörper (Sonne, Sterne), aber auch die Tiere eindeutig als Geschöpfe Gottes qualifiziert werden, nicht aber selbst als Götter gesehen wurden. Aber noch Anfang des 20. Jahrhunderts, also vor rund 100 Jahren, bestand man seitens des Lehramts der katholischen Kirche auf der wörtlichen Wahrheit dieser Berichte; in manchen Kreisen anderer christlicher Kirchen besteht diese Ansicht noch heute.
Schon seit dem Altertum haben Generationen von Denkern versucht, die Existenz Gottes zu beweisen oder zu widerlegen; uns ist heute klar geworden, dass diese Frage im Letzten nicht logisch zwingend zu beantworten ist, es kann nur um Plausibilitäten oder aber persönliche Erfahrungen gehen. Religion kann man als ein zusammenpassendes System deuten, zu dem neben rituellen Vorschriften vor allem eine Welterklärung, eine Handlungsanweisung (Ethos) und eben Spiritualität gehören. Mit Spiritualität ist hier die Art gemeint, in der Glaubenstraditionen individuell und in Gemeinschaft gelebt werden. Wenn es gelingt, Religion auf die Basis einer zeitgemäßen Welterklärung zu stellen, so hat dies wichtige Auswirkungen auf ethische Verhaltensweisen und Spiritualität – ein Brückenschlag zwischen der Welt der Naturwissenschaft und jener der Religion, ein Brückenschlag zwischen Alltagsleben und Sonntagsleben wird möglich.
Neueste Ansätze, sowohl von naturwissenschaftlicher Seite als auch von theologischer bzw. spiritueller Seite, erkennen zunehmend, dass das Auseinanderleben von Naturwissenschaft und Spiritualität ein Fehler war. Die Wege mögen unterschiedlich sein, aber je weiter die menschliche Erkenntnis fortschreitet, je näher wir dem Gipfel kommen, desto enger führen diese getrennten Wege wieder zusammen. Auch Einstein strebte nicht nur ein physikalisches, sondern im besten Sinne interdisziplinäres, umfassendes Weltbild an, wie er in seinem bekannten Satz formuliert: „Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind.“
Einsteins Theorien waren zwar schwer verständlich, konnten sich aber schon zu seinen Lebzeiten zumindest in der Fachwelt durchsetzen, Teilhards innovative Ideen durften überhaupt erst nach seinem Tod für eine breitere Öffentlichkeit publiziert werden. Aber für ein umfassendes heutiges Weltbild sind beide unverzichtbar. Dieses Buch soll eine Einladung sein, Teilhards Ideen im Lichte der gesellschaftlichen, kulturellen und technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte weiterzudenken und in die Lebensweise der modernen Menschen einfließen zu lassen.