Читать книгу Die Geschichte Chinas als Geschichte von Fetischverhältnissen - Raimund Philipp - Страница 8

Einleitung

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Im Vorwort zu seinem posthum veröffentlichten Essay Geld ohne Wert. Grundrisse zu einer Transformation der Kritik der politischen Ökonomie unternimmt Robert Kurz den Versuch, „verschiedene Argumentationsstränge einer grundlegenden Neuinterpretation der Kritik der politischen Ökonomie in einer Art Übersicht oder Gesamtschau vorzustellen“ (Kurz 2012, 7). Eigentlich, so Kurz, sind es „vier große Themen oder vielleicht auch Projekte“ (ebd.).

„Erstens das Problem der vormodernen oder vorkapitalistischen Sozietäten, die in der qualitativen Eigenheit ihrer geringen Vergesellschaftung mit ganz spezifischen Beziehungsformen und damit ihrer grundsätzlichen Differenz zur negativen »ökonomischen« Vergesellschaftung der so genannten Moderne gefasst werden müssen. Deshalb verbietet sich im Gegensatz zur Aufklärungsvernunft und ebenso zum Marxismus eine transhistorische Bestimmung vermeintlich übergreifender Grundkategorien (»Arbeit«, Geldform, Warenform etc.), wie sie aus der bürgerlichen Geschichtsmetaphysik folgt. Zweitens der historische Konstitutionsprozess des Kapitals in der Frühmoderne, der als Übergangsform eine andere Logik bzw. eine andere Abfolge der Kategorien impliziert als das »fertige« Kapitalverhältnis. Drittens die Logik und der kategoriale Zusammenhang oder »Kreislauf« (Marx) des Kapitals als sein eigener Reproduktionsprozess oder »Gang in sich«, der sich aus einer veränderten Sicht der Grundbestimmungen auch anders darstellt als in den gängigen Lesarten der Marxschen Theorie. Und viertens der innere Selbstwiderspruch und die logische innere Schranke der kapitalistischen Dynamik, die sich schließlich auch historisch als manifestes Resultat einer fortschreitenden Binnengeschichte des Kapitalfetischs aufrichten muss“ (ebd., S. 7f.; Hervorheb. Kurz).

Die vorliegende Abhandlung basiert auf dem von Kurz angesprochenen ersten Thema. Seine grundlegende Leistung besteht darin, eine kohärente und konsistente Geschichtstheorie entwickelt zu haben, die – Mit Marx über Marx hinaus7 – die Vorgeschichte der Menschheit im Sinne von Marx8 als eine Geschichte von Fetischverhältnissen definiert. Das Wissen, dass die Menschen wohl schon seit Urzeiten an »übersinnliche Kräfte und Mächte« geglaubt haben – zumindest seit dem Mittelpaläolithikum lässt sich dieser »Glaube durch Artefakte« mehr oder minder präzise belegen (vgl. u.a. Müller-Karpe 2005, S. 15) -, ist nichts Neues. Allenthalben, es mangelte an einer theoretischen Fundierung. Dieses unstrukturierte Wissen hob Robert Kurz mit der Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen auf eine abstrakt-allgemeine theoretische Ebene und entwickelte damit Kriterien, die es ermöglichen, jede Epoche der Menschheitsgeschichte zu analysieren (dazu weiter unten).

Schon in früheren Schriften geht Kurz auf die besonderen Beziehungsstrukturen vormoderner und moderner Gesellschaftsformationen ein, so meines Wissens zum ersten Mal 1993 in Subjektlose Herrschaft. Zur Überwindung einer verkürzten Gesellschaftskritik (Kurz 2004d). Dort heißt es:

„Es wäre eine eigene Aufgabe, die historische Abfolge und Ausdifferenzierung von Fetisch-Systemen zu untersuchen. Die Geschichte wird unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr übergreifend als ‚Geschichte von Klassenkämpfen‘ bestimmt (wie es noch dem Erkenntnisstand des ‚Kommunistischen Manifests‘ entspricht), sondern als ‚Geschichte von Fetischverhältnissen‘. Die Klassenkämpfe (und andere Formen sozialer Auseinandersetzung) verschwinden dadurch natürlich nicht, aber sie werden herabgesetzt zu einer Binnenkategorie von etwas Übergeordnetem, nämlich der subjektlosen Fetisch-Konstitution und ihren jeweiligen Codierungen bzw. Funktionsgesetzen. Die in der Gestalt des Kapitals zur gesellschaftlichen Reproduktionsform gewordene Warenform ist dann die letzte und höchste, den Raum der Subjektivität gegenüber der ersten Natur am weitesten hinausschiebende Fetischform“ (ebd., 184; Hervorh. Kurz).

Eine erste systematische Darstellung erfuhr die Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen in seinem dreiteiligen Fragment Geschichte als Aporie. Vorläufige Thesen zur Auseinandersetzung um die Historizität von Fetischverhältnissen (Kurz 2006, 2006a, 2007). Fortgeführt wurde sie in einigen Kapiteln in dem oben schon erwähnten Essay Geld ohne Wert. Diese Theorie als radikale Kritik am modernen warenproduzierenden System schließt die Abspaltungskritik, die Subjektkritik (und demgemäß die Herrschaftskritik; RGP) und die Aufklärungskritik als „unverzichtbare Einheit [ein], keines der Momente ist ohne das andere möglich“ (Kurz 2004c, S. 112). Dadurch, dass die Geschichte der Menschheit als »Geschichte von Fetischverhältnissen« aufgefasst wird, eröffnet sich ein vollkommen neuer Zugang, die einzelnen Epochen – um im herrschenden Sprachgebrauch zu bleiben: die so genannte Vorgeschichte (inklusive eines so genannten Urkommunismus, die Antike, die Feudalgesellschaft und die Moderne) – unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten.

„Wie die gewöhnliche Einteilung der Geschichte in Antike, Mittelalter und Neuzeit (der man sich aus Verständigungsgründen kaum entziehen kann) rein formal und völlig beliebig ist, denn auch schon die Antike und das Mittelalter hatten ihre eigene Antike bzw. ihr eigenes Mittelalter und waren ihre eigene Moderne (…). Es ist, als würde man die Vorgeschichte als ‚posttierisch‘, die Antike als ‚postprähistorisch‘, das Mittelalter als ‚postantik‘ und die Moderne als ‚postmittelalterlich‘ bezeichnen“ (Kurz 2014, S. 63; Hervorh. Kurz).

Die traditionelle Einteilung der Geschichte in Epochen oder Perioden (ein von Le Goff bevorzugter Begriff; vgl. Le Goff 2014) verschleiert das Wesentliche: Der Kampf der neuen gegen die alten »Fetischverhältnisse« ist ein langwieriger Prozess, der sich eben nicht an einem noch so bedeutsamen Geschichtsdatum festmachen lässt. Ins Auge gefasst werden müssen nicht nur der »Stoffwechselprozess mit der Natur« (Marx) sondern auch die „verschiedene[n] gleichursprüngliche[n] Momente der Reproduktion“, wie die sozialen Beziehungen, kulturell-symbolische Formen, Reflexionsformen, Geschlechterverhältnisse etc. (vgl. Kurz 2007, S. 1f.).

Dass diese methodische Vorgehensweise nicht einfach ist, ergibt sich aus dem prozesshaften Charakter des Kampfes des Alten gegen das Neue. Z. B. ist gerade die Analyse des „vor-chinesischen“ Neolithikums mit Schwierigkeiten behaftet. Zwar kann der »Stoffwechselprozess mit der Natur« (Jagd, Fischfang, Anbau von Getreide, Herstellung von nützlichen Gegenständen etc.) die sozialen Beziehungen (u.a. »blutsverwandtschaftliche Verhältnisse«, die »Organisation in Clans, Stämmen«), die »Entstehung von Herrschaftsverhältnissen«, die »kulturell-symbolischen Formen« (Skulpturen, die gottähnliche und/oder anthropomorphe Wesen darstellen, rituelle Gefäße usw.) und das »Geschlechterverhältnis« (z.B. der »Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat«) durch archäologische Artefakte bis zu einem gewissen Grad rekonstruiert werden. Da es keine schriftlichen Zeugnisse aus dem Neolithikum gibt, lassen sich Reflexionsformen nur spekulativ erahnen. Insgesamt muss festgehalten werden, dass wir annähernd ein ungefähres Bild von den Daseins- und Lebensverhältnissen der neolithischen Menschen erzeugen können, aber:

„Wir befinden uns immer schon im Kontext des modernen Geschichtsbegriffs (selbst noch bei dessen Negation); und wir können nicht aus unserem historischen Standort hinausspringen, wir können die Vergangenheit nicht mit den Augen der vergangenen Menschen betrachten (und natürlich auch nicht der künftigen)“ (Kurz 2006, S. 5).

Was wir aber von unserem heutigen Standpunkt aus können, ist die Vergangenheit kritisch zu reflektieren. Dies lässt sich mit der kohärenten und konsistenten Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen weitaus treffender bewerkstelligen als mit den vom Aufklärungsdenken beeinflussten handelsüblichen geschichtsphilosophischen Ansätzen, wie noch ausführlich zu zeigen sein wird.

Wenn der Grundgedanke wahr ist, dass die bisherige Geschichte der Menschheit eine »Geschichte von Fetischverhältnissen« war und noch ist, wofür es in der bürgerlichen wie auch in der marxistisch angehauchten Literatur hinreichend Belege gibt, auch wenn der Begriff »Fetischverhältnis« dort nicht auftaucht, dann stellt sich allein die Frage, welche Entwicklung und Ausformung diese »Fetischverhältnisse« im Laufe der einzelnen Geschichtsperioden erfahren haben.

Eine erste große Einteilung bezieht sich auf die grundlegende Differenz zwischen den »vormodernen« und den modernen »Fetischverhältnissen«. In der Vormoderne konstituierte das »transzendente göttliche Prinzip«, also der »Glaube an übersinnliche Kräfte und Mächte«, Sozietäten, in denen objektivierte Daseins- und Lebensverhältnisse herrschten, die von den Menschen bewußtlos hervorgebracht wurden, d.h., „unter dem Diktat eines blinden, verselbständigten, inhaltsfremden und realmetaphysischen Regelsystems“ (Kurz 2012, S. 72). In der Moderne wurde dieses »transzendente Prinzip« transformiert, d.h., die »Transzendenz« wurde durch das transzendentale Prinzip der Verwertung des Werts überwunden – Wertvergesellschaftung statt »Übersinnlichkeitsvergesellschaftung«.

Es kann davon ausgegangen werden, dass sich spätestens seit dem Neolithikum in allen Teilen der Welt »religiös konstituierte Sozietäten« entwickelt haben, die je nach Kontinent, dort je nach kulturellen Ausprägungen, bedingt durch verschiedene Faktoren, wie z.B. Umwelt, Klima, etc. je spezifische Entwicklungen und Ausformungen angenommen haben. »Die Gemeinsamkeit der vormodernen Sozietäten besteht in der Existenz von Fetischverhältnissen«, die »Differenz in der unterschiedlichen Ausformung«, ob diese nun marginal waren oder nicht, bedarf einer konkreten Untersuchung.

In der einschlägigen Literatur über die so genannte Vorgeschichte der Menschheit, hier dem „vor-chinesischen“ Neolithikum, wird der Begriff »Fetischverhältnis« nicht verwendet, allenfalls taucht das Wort »Fetisch« auf, um damit ein »sakrales Artefakt« zu bezeichnen. Zwar gehen die Sinologen mehr oder weniger ausführlich auf den »Glauben an übersinnliche Kräfte und Mächte« ein, auf die Bedeutung und Rolle, die z.B. »Animismus«, »Schamanismus«, die »Gottheiten« »shangdi« und »tian« etc. gespielt haben, aber sie sehen in diesem »Glauben« nur einen Faktor neben anderen Faktoren, der/die das Leben der Menschen und deren soziale Entwicklung bestimmte. Dass der »Glaube« an ein »transzendentes göttliches Prinzip«, das eine Sozietät »religiös« konstituierte und damit die Daseins- und Lebensverhältnisse objektiv beherrscht, also eine »Realmetaphysik« hervorbringt, wobei diese »Fetischverhältnisse« zu einer »apriorischen Matrix« erstarren, die nicht mehr hinterfragt wird – auf diesen Trichter kommen sie nicht, denn es ermangelt ihnen an einer kohärenten und konsistenten Theorie. Abzulesen ist dies daran, dass die betreffenden Autoren vormoderne und moderne Kategorien mir nichts dir nichts durcheinander würfeln. D. h., es kommt ihnen gar nicht in den Sinn, zwischen »vormodernen« und modernen »Fetischverhältnissen« und den jeweiligen Kategorien zu differenzieren. So versteigen sich so ziemlich alle Sinologen zu der Behauptung, dass Staat und Politik eine wesentliche Rolle, wenn nicht gar die entscheidende in der Geschichte des ausgehenden „vor-chinesischen“ Neolithikums, der Bronzezeit etc. gespielt hätten (vgl. u.a. Chang 1983, Liu/Chen 2003, Liu 2004). Anders formuliert: bei der Lektüre der verschiedenen Abhandlungen über die genannten Epochen fällt unweigerlich die Rückprojektion moderner – verdinglichter, säkularer – Kategorien auf, die mit vormodernen – »personalen«, »sakralen« – Kategorien in einen Topf geworfen werden. Diese transhistorische Vorgehensweise ebnet die Differenz zwischen Vormoderne und Moderne ein.

Nehmen wir als Beispiel die oben schon erwähnten modernen Kategorien Staat und Politikverdinglichte Herrschaftsinstrumente des Kapitalverhältnisses (vereinfacht formuliert, vgl. dazu das Kapitel Die Grundkategorien des modernen warenproduzierenden Systems und ihre abgeleiteten Funktionselemente) -, Kategorien, die von den Sinologen hyperinflationär verwendet werden, um womöglich einen weiteren roten Faden in die mehr als 3.000 Jahre als Zivilisation einzuweben.9 Wenn dem so seien sollte, ist dieser Versuch überflüssig wie ein Kropf, denn die Besonderheit dieses Reiches besteht allein schon darin, dass es die einzige Hochkultur ist, die nie unterging und auch die Eroberung durch Fremdvölker (Yuan, 1271-1368; Qing, 1644-1911) mehr oder weniger unbeschadet überstand und im oben genannten Zeitraum kulturelle Errungenschaften und Erfindungen hervorbrachte, die in anderen Teilen der Welt z.T. erst Jahrhunderte später entwickelt bzw. erfunden wurden.

Zu fragen ist also zuerst einmal, ob die Kategorien Staat und Politik in den klassischen Schriften – die z.T. erst mehrere Jahrhunderte oder noch später nach dem ausgehenden Neolithikum und den drei Dynastien (Xia, trad. 2205-1267 v. u. Z.; Shang, 16.-11. Jh. v. u. Z.; Zhou 1045-221 v. u. Z.) verfasst wurden – expressis verbis und in der Bedeutung auftauchten, die sie heute in der Moderne als abgeleitete Funktionselemente des Kapitalverhältnisses haben. Wohl kaum (vgl. dazu das Kapitel „Die Richtigstellung der Namen“)! Es stellt sich ferner die Frage, ob die Verfasser der einschlägigen Werke sich überhaupt Gedanken darüber gemacht haben, ob die damals lebenden Menschen des „vor-chinesischen“ Neolithikums bzw. der drei Dynastien sich als politisch agierende Personen verstanden haben, die überdies in einem Staat gelebt haben sollen und nicht in einem »religiös konstituierten Gemeinwesen«, dessen Vergesellschaftungsgrad im Gegensatz zur heutigen Zeit äußerst gering war. Anders formuliert: würde man einen im „vor-chinesischen“ Neolithikum bzw. in den drei Dynastien lebenden Bauern, Handwerker, Krieger oder gar einem »Schamanen« sagen – die Herrscher übten die »schamanistischen Rituale« höchstselbst aus (vgl. u.a. Chang 1983) -, dass er in einem Staat leben würde und er ein politisch geprägtes Individuum sei, er/sie würde(n) nicht nur verständnislos mit dem Kopf schütteln, sondern er/sie würde(n) sofort die »animistischen Geister, die Götter, den Himmel und die Ahnen« anrufen und um »göttlichen Beistand« bitten.10

Es gibt einen wesentlichen Grund, der es verbietet, von Staat und Politik zu reden, die angeblich schon seit dem ausgehenden Neolithikum existiert haben sollen: Die »Religion« war keine Ideologie, keine subjektive »Glaubensfrage« (vgl. Kurz 2012, S. 72), sondern konstituierte „reale Verhältnisse (…), also die jeweilige Reproduktion des irdischen menschlichen Lebens und seiner sozialen Zusammenhänge“ (ebd., S. 71). Um es noch deutlicher zu formulieren: Das »transzendente Gottesverhältnis« basierte auf dem »Opferverhältnis« und aus diesem „ist offenbar die Sozietät als solche entsprungen; die Opferhandlungen, die damit verbundenen Rituale etc. bilden die ursprüngliche Matrix sowohl für das Naturverhältnis als auch für das soziale Verhältnis“ (ebd., S. 73). Die aus einem „blinden, verselbständigten, inhaltsfremden und realmetaphysischen Regelsystem(s)“(ebd., S. 72) entstandenen »Fetischverhältnisse« hatten ihre eigene „bestimmte Logik (…), [die] keine eigengesetzliche andere neben sich dulden konnte“ (ebd., S. 91) analog zum anders konfigurierten Kapitalverhältnis, das keine „alternative“ Wirtschaftsformen neben sich duldet. Sind sie einmal entstanden – z.B. die so genannten sharing economy, crowd funding oder „die Tauschidealisten als historische Idioten der Aufklärungsideologie“ (ebd., 412) – werden sie sofort dem Prozess der Verwertung des Werts unterworfen.

Greifen wir noch einmal auf die obigen Kategorien Staat und Politik zurück. Während diese Kategorien mehr oder weniger gleichursprünglich mit dem Kapitalverhältnis – Staatsbildungskriege, Feuerwaffen-Ökonomie (Kurz) – entstanden sind und im Laufe des Durchsetzungs- und Aufstiegsprozesses zu dessen abgeleiteten Funktionselementen mutierten und seiner (des Kapitalverhältnisses) eigengesetzlichen Logik zu folgen hatten – Staat und Politik als verdinglichte Herrschaftsinstrumente, die den reibungslosen Produktionsprozess zu gewährleisten hatten (Infrastrukturmaßnahmen i. w. S. d. W.) – konstituierte das »transzendente göttliche Prinzip religiöse Sozietäten«, die auf dem »Opferverhältnis« basierten, dass bestimmte »Rituale« hervorbrachte, die durch den Herrscher vollzogen wurden – als »personifiziertes Herrschaftsverhältnis« -, der als »Stellvertreter Gottes« Mittler zwischen der weltlichen und der »übersinnlichen Sphäre« fungierte.

Obwohl die Sinologen mehr oder weniger ausführlich auf die »rituellen Opferhandlungen« eingehen – »Menschen- und Tieropfer« z.B. bei den Shang, weitgehende »Substituierung« ersterer durch die Zhou – erkennen sie den tatsächlichen Charakter dieser Sozietät nicht, die »religiös« konstituiert war und ein gänzlich anderes »Fetischverhältnis« hervorbrachte, das seine eigene Logik hatte. Hier haben wir, wie oben schon erwähnt, erneut eine Gemeinsamkeit von Vormoderne und Moderne vor uns: keines dieser »Fetischverhältnisse« duldet andere eigengesetzliche neben sich (s. w. o.) Trotzdem kommen die Sinologen vollkommen unvermittelt zu der Schlußfolgerung, dass durch die »Religion« politische Macht entstanden sein soll.

Da, wie schon erwähnt, die Sinologen, Historiker etc. über keinen kohärenten und konsistenten Theorieansatz verfügen – was die betreffenden Vertreter der einzelnen Fachgebiete natürlich anders sehen – muss hier die Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen in Grundzügen dargestellt werden. Da dieser Theorieansatz neueren Datums ist und zudem außerhalb des akademischen Wissenschaftsbetriebs entstand, dürfte er in diesem etablierten und erlauchten Kreis weitgehend unbekannt sein, zumal sich die akademische Honoratiorenschaft mehr oder weniger erfolgreich gegen außeruniversitäre und progressive Erkenntnisse abzuschotten weiß.

Die Darlegung des Theorieansatzes wird durch offensichtlich existierende »Fetischverhältnisse« veranschaulicht, wobei auf die Differenzen und die Gemeinsamkeiten von »vormodernen« und »modernen Fetischverhältnissen« verwiesen wird.

Die »vormodernen Fetischverhältnisse« des „vor-chinesischen“ Neolithikums wie die der drei Dynastien dienen als Beispiele, sie bedürfen einer eingehenden Untersuchung und Analyse im Kontext des betreffenden historischen Zeitraums, um sie in diesem Zusammenhang dechiffrieren zu können. Liu Li untersucht in ihrer Abhandlung The Chinese Neolithic. Trajectories to Early States bestimmte Regionen, wobei die Zeitspanne von 7000-1500 v. u. Z. umfasst, z.B. „the Peiligang culture (ca. 7000/6500-5000 BC) in Henan; the Yangshao culture (ca. 5000-3000 BC) in Henan, Shanxi, and Shaanxi; the Dawenkou culture (ca. 4100-2600 BC) in Shandong and northern Jiangsu; the Qujialing culture (ca. 3000-2600 BC) in Hubei and southern Henan; the early Longshan period (Miaodigou II culture, ca. 3000/2800-2600/2500 BC) in Henan, Shanxi, and Shaanxi; the Erlitou culture (ca. 1900-1500 BC) and Xiaqiyuan culture (ca. 1800-1500 BC) in southern Shanxi, Henan, and southern Hebei; and Yueshi culture (ca. 1900-1500 BC) in Shandong and northern Jiangsu“ (Liu 2004, S. 16). Das ist in dieser Abhandlung nicht zu leisten. Dass diese »Fetischverhältnisse« tatsächlich existiert haben, wird auch von den Sinologen nicht bestritten, auch wenn sie den Begriff Fetischverhältnis nicht verwenden.

Neues bringt bekanntlich die eingefahrenen Bahnen durcheinander und rüttelt an dem Selbstverständnis des akademischen Establishments. Aber vielleicht lässt sich durch die Darlegung bei dem einen oder anderen Vertreter der betreffenden Zünfte Interesse an diesem Ansatz wecken. Dies könnte dann dazu führen, dass das theoretische Defizit eventuell überwunden wird, das gerade bei den Sinologen offenkundig vorhanden ist, allerdings nicht nur bei diesen. Vielleicht lässt sich dieser oder jener dazu hinreißen, diesen Theorieansatz auf einen konkreten Untersuchungsgegenstand anzuwenden.

Die unbestreitbare Qualität dieser Theorie besteht darin, dass ihr Urheber abstrakt-allgemeine Thesen oder Kriterien entwickelt hat, die es ermöglichen, die Besonderheiten von »vormodernen Sozietäten« einer bestimmten Zivilisation analysieren zu können. Die Bedingung ist, dass das historische Material in seiner Eigenlogik ernst genommen wird (vgl. Kurz 2006, S. 6), denn:

„Das historische Material hat seine sperrige Eigenqualität, die nicht missachtet oder gewaltsam nach Maßgabe des eigenen Interesses gemodelt werden darf. Es verbietet sich also ein bloß deduktives, ontologisches, ableitungs- und identitätslogisches Vorgehen. Der Begriff einer ‚Geschichte von Fetischverhältnissen‘ enthält ja gerade (…) eine Kritik an diesem Vorgehen der klassischen modernen Geschichtsphilosophie“ (ebd.; Hervorh. Kurz).

Was haben nun vormoderne Sozietäten und die moderne Gesellschaftsformation gemein und worin unterscheiden sie sich? Der Unterschied zwischen der Vormoderne einschließlich der so genannten „Prähistorie“ und der Moderne besteht darin, dass in der ersten das »transzendente göttliche Prinzip«, also der »Glaube an übersinnliche Kräfte und Mächte«, die Daseins- und Lebensverhältnisse der Menschen objektiv bestimmt und beherrscht, während in der Moderne das transzendentale Prinzip das herrschende ist, also die Verwertung des Werts das Leben der Menschen totalitär reglementiert. Die Gemeinsamkeit besteht in der bewußtlosen Ausformung von »Fetischverhältnissen«:

„Die vorkapitalistischen Formationen insgesamt werden also mit dem Kapitalismus zu einer »Vorgeschichte« bewusstlos konstituierter Verhältnisse und Formbestimmungen zusammengeschlossen, sodass mit dem von allen Fetischformen befreiten Kommunismus die menschliche Geschichte nicht etwa endet, sondern als eine bewusst gemachte überhaupt erst beginnt.

Die Andersheit der vorkapitalistischen, religiös konstituierten Fetischverhältnisse wird aber eben erst begreifbar, wenn klar geworden ist, dass es sich bei den religiösen Formen keineswegs um eine subjektive »Glaubensfrage« gehandelt hat, wozu die Religion erst in der Moderne gemacht und damit für die reale Reproduktion irrelevant wurde, sondern um eine objektivierte hierarchische Weltordnung, die auch den »Stoffwechselprozess mit der Natur« und die sozialen Beziehungen der Menschen bestimmte; analog zur »Ökonomie« des modernen Kapitalfetischs, aber in ganz anderen Formen der Verselbständigung.

Das gilt dann auch für das Naturverständnis ebenso wie für den Werkzeuggebrauch oder das, was in diesem Kontext in moderner Terminologie als »Produktivkraftentwicklung« bezeichnet wird. Eine solche Begriffsbildung wäre in den vorkapitalistischen Sozietäten ebenfalls unmöglich gewesen, weil für sie so etwas wie »Produktion« oder Input-Output-Relationen keinerlei eigenständige Bedeutung haben konnten. Das lässt eine moderne Betrachtung regelmäßig außer Acht, indem sie die eigenen Kategorien auf ganz andere Verhältnisse projiziert. Der reale Ablauf von Umformungen der Naturstoffe, etwa dass man für den Transport oder das Heben von Steinen bestimmte Techniken benötigt, wird dann projektiv mit modernen gesellschaftlichen Abstraktionen (»Arbeit«, »Produktion«, »Produktivkräfte« etc.) belegt, ohne den damit nicht begreifbaren Hintergrund der ganz anderen Verfasstheit zu berücksichtigen“ (Kurz 2012, S. 72f.; Hervorh. Kurz).

In allen Gesellschaftsformationen wird stets die moderne, bürgerliche Gesellschaft gesehen und damit werden die historischen Unterschiede verwischt, wie Marx schon in Zur Kritik der politischen Ökonomie (handschriftlicher Nachlaß) feststellte (vgl. MEW 13, S. 636; dazu später ausführlicher). Das fällt bei der Lektüre der Publikationen über das „prähistorische“ „Vor“-China sofort auf. So wird z.B. die Herstellung von Steinwerkzeugen als stone tool industry (Yan/Wang 2005, S. 15)11 bezeichnet. Eine Rückprojektion, die den Tatbestand der Ridikülität erfüllt und sich zuhauf finden lässt. Es ist also unerlässlich nach der Darstellung der Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen sich die modernen Kategorien einmal näher anzuschauen. In dem Kapitel Die Grundkategorien des modernen warenproduzierenden Systems und ihre abgeleiteten Funktionselemente werden kategoriale Begriffe der Moderne wie z.B. abstrakte Arbeit, Wert, Ware, Geld, Staat und Politik etc. näher beleuchtet. Es wird sich zeigen, dass die Kategorien der Moderne in der so genannten „Vorgeschichte“ und in der Vormoderne entweder eine vollkommen andere Bedeutung hatten oder gar nicht existierten, wie wir noch sehen werden, oder sie besaßen keine gesellschaftliche Allgemeingültigkeit, d.h. sie existierten höchstens als »Nischenform« (Marx) und auch dann waren sie dem »transzendenten göttlichen Prinzip« unterworfen. Die Menschen hatten einen »Stoffwechselprozess mit der Natur« (Marx), aber die Kategorie abstrakte Arbeit, also die „Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv, Hand etc.“ (Marx) kannten sie nicht, ebensowenig kannten sie die oben genannten Kategorien. Dies wird sich im Laufe der Untersuchung belegen lassen.

In „Die Richtigstellung der Namen“ wird gezeigt, dass erstens auch Vertreter des akademischen Establishments „Bauchschmerzen“ bei der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne bekommen bzw. haben, so u.a. der Althistoriker Christian Meier (vgl. Meier 1970). Zweitens wird aber auch deutlich, dass trotz aller Kritik eine „terminologische Unsicherheit“ (Kurz 2012, S. 107) herrscht, denn auch Meier hat keine fundierte Theorie vorzuweisen. Kurz kommt in Bezug auf andere Autoren zu dem Schluß:

„Es fehlt die radikale theoretische Kritik an den modernen Kategorien, die allein als Katalysator für eine begriffliche Bestimmung der früheren Sozietäten dienen könnte. Deshalb hängt die aufscheinende Differenz in der Luft“ (ebd.).

Als „Kronzeuge“ für die Forderung nach der „Richtigstellung der Namen“ tritt dann Meister Kong (Kongzi, lat. Konfuzius [551-479]) auf, der zwar mit seiner Forderung etwas anderes im Schilde führte (vgl. dazu vorab Konfuzius 1991, Endnote 116, S. 153), aber schon zu seiner Zeit den „laxen Sprachgebrauch“ (Unger 2000, S. 68) kritisierte.12

In dem Kapitel Zur Kritik der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne wird die transhistorische Verwendung moderner Kategorien auf die so genannte „Vorgeschichte“ des „Vor-China“ und der drei Dynastien kritisiert. Dabei erfolgt der Rückgriff auf die in den Theorie- und den Grundkategorien-Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse.

Da der Schwerpunkt der westlichen sinologischen Forschung auf den angelsächsischen Raum übergegangen ist – vornehmlich den USA -, werden die von den Autoren verwendeten modernen Kategorien an Hand englischer Lexika überprüft. Hätten die Verfasser der einschlägigen Abhandlungen auch nur einen Blick in ein englisches etymologisches Wörterbuch oder noch simpler in das Oxford Dictionary and Usage Guide to the English language (nachfolgend zit. als Weiner/Waite) geworfen, hätte ihre Formulierung bei der Bezeichnung bestimmter Begriffe und Sachverhalte anders ausfallen müssen (siehe z.B. die Wortwahl von Yan/Wang weiter oben; dazu im entsprechenden Kapitel ausführlich). Was immer die hier nur exemplarisch genannten Autoren – zu ihnen gesellen sich noch eine Vielzahl anderer – geritten haben mag, sie müssen sich mindestens den Vorwurf der ideologischen Verbrämung gefallen lassen. Aber damit ist der Fall nicht erledigt. Deshalb ist es notwendig, die ideologische Rückprojektion moderner Kategorien aus den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen des neolithischen „Vor-China“ herzuleiten, so wie dies in dem Kapitel über Die Grundkategorien des modernen warenproduzierenden Systems und ihre abgeleiteten Funktionselemente im Allgemeinen geschehen ist. Dass dabei nicht jede der nahezu unzähligen Veröffentlichungen über diesen Zeitraum durchforstet und zitiert werden kann, leuchtet wohl ein. Das ist aber auch nicht notwendig. Schon deshalb nicht, weil in jeder dieser Publikationen mehr oder weniger häufig moderne Kategorien rückprojiziert und ontologisch auf das „vorchinesische“ Neolithikum angewandt werden. Die tiefere Ursache für diese transhistorischen Rückprojektionen liegt im globalen Siegeszug des Aufklärungsdenkens, wie Robert Kurz treffend feststellt:

„Das Aufklärungsdenken, zu seiner Zeit noch als distinkte und unerhörte, teils sogar geradezu schwer verständliche Denkweise aufgefallen, ist nicht nur zur Voraussetzung alles weiteren theoretischen Denkens überhaupt geworden, sondern in das allgemeine gesellschaftliche Bewusstsein eingegangen und als eine Art bewusstlose Sedimentation auch zur nicht-reflexiven Denkweise des bürgerlichen Alltagsverstands geworden. Und auch als solches ist es von Grund auf zu destruieren“ (Kurz 2004a, S. 18).

Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass Sinologen, egal aus welchem Kulturkreis der Welt sie stammen mögen, egal welche Muttersprache sie sprechen, diesem Aufklärungsdenken als ideologischem Wegbereiter und Wegbegleiter des Kapitalverhältnisses erlegen sind.

Den Abschluss dieser Abhandlung bildet das Kapitel Theorie ist nicht alles, aber ohne Theorie ist alles nichts. Am Beispiel der Analyse der Schriften von Chang Kwang-chih, Otto Franke, Liu Li/Chen Xingcan, Li Feng und anderen ist nachgewiesen worden, dass diese Autoren moderne Kategorien auf die Vormoderne rückprojiziert und ontologisiert haben, ohne auch nur einen stichhaltigen Beweis für ihre Behauptungen erbringen zu können. Auch Wissenschaftler aus dem abendländischen Kulturkreis sind dieser Ideologisierung erlegen, was sich an einem besonders krassen Beispiel zeigen lässt. Die Quintessenz ist: ohne eine kohärente und konsistente Theorie lassen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse der Vormoderne nicht adäquat erfassen. Vielmehr werden durch die Rückprojektion und Ontologisierung moderner Kategorien die vormodernen »religiös konstituierten« Verhältnisse verhüllt, wenn nicht sogar ideologisiert.

7 Zum Exit!-Programm siehe Verein für kritische Gesellschaftswissenschaften (Hrsg.) 9/2007. Exit! Mit Marx über Marx hinaus. Kapitalismuskritik für das 21. Jahrhundert. Das theoretische Projekt der Gruppe „Exit!“, Verantwortlich für den Inhalt: Claus Peter Ortlieb, Kaiserslautern.

8 „In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftli-chen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab“ (MEW 13, 1975, S. 9; Hervorh. RGP). Erst mit der Überwindung aller Fetischformen beginnt die wirkliche menschliche Geschichte als eine von den Menschen bewusst gemachte (vgl. Kurz 2012, S. 72).

9 Hier sei angemerkt, dass einige Autoren davon ausgehen, dass erst in der Westlichen- Zhou-Zeit (1045-771) alle die Elemente ausgeformt wurden, die die chinesische Zivilisation ausmachen, so u.a. Otto Franke 1930.

10 Die Kategorien Staat und Politik bzw. politisch werden im Kapitel Die Grundkategorien des modernen warenproduzierenden Systems und ihre abgeleiteten Funktionselemente behandelt und in Zur Kritik der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne werden sie ausführlich diskutiert, wobei die unterschiedlichen Auffassungen zu Worte kommen.

11 Dazu ausführlicher im Kapitel über die Grundkategorien.

12 Hier sei kurz angemerkt, dass Konfuzius die Forderung erhebt, „‚auf korrekte Begriffe zu halten‘, –> cheng4 ming2’“ (ebd., die hochgestellten Zahlen verweisen auf die Töne mit denen die Wörter ausgesprochen werden sollen).

Die Geschichte Chinas als Geschichte von Fetischverhältnissen

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