Читать книгу Der Leuchtende Pfad des Magiers - Rainar Nitzsche - Страница 5
Stadt
ОглавлениеDann irgendwann hörte ich den Ruf.
In der Nacht erwacht setzte ich mich auf.
Staunend sah ich den Leuchtenden Pfad vor mir.
„Ich komme!“, rief ich, stand auf, brach auf.
Weinend und lachend vor Glück schritt ich weiter auf meinem ewigen Weg.
Worte des Magiers
Etwas und alles und ...
Also war am Anfang der Träumer, von dem wir schon hörten? Zuerst also sein Traum und dann die Realität?
Nein!
Vor allem steht die Geburt des alten Mannes. Dann folgt sein Erinnern.
Etwas taucht auf - aus den Tiefen des Alls. Etwas fällt aus der Schwärze. Etwas steigt auf aus den leeren Räumen in den Atomen. Von innen, von außen naht Schwärze, naht Licht, naht Ton, naht Stille. Etwas und alles - ist immer schon da, wandelt sich dennoch vor deinen Augen in Menschengestalt.
So wird ein uralter Mann mit runzliger Haut, grauem Bart und weißem Haar geboren. Ja, er sieht aus wie 80. Seine Lippen bewegen sich. Er lächelt. Seine rechte Hand winkt dich zitternd heran: „Komm näher und lausche! Komm! Ich erzähle dir, wie alles begann.“
Jetzt, wo du ihm so nahe bist, sein Mund dicht an deinem Ohr, vernimmst du seine geflüsterten Worte. Zugleich siehst du die Bilder, die er dir zeigt. Du lauschst seinen Worten, fühlst alles mit ihm. Er spricht zu dir, in dir: „Einst war ich ein junger Mann und träumte, über den Dächern einer Stadt zu fliegen.“
„In einem Flugzeug? Ballon? Als Drachenflieger? Mit Flügeln aus Federn und Wachs wie Daidalos und Ikaros gar?“, fragst du, gebannt von seinen Worten.
„Nein! Auch nicht als Vogel! Jetzt fällt mein Traum mir wieder ein: mein Traum vom Fliegen.
Auf dem Bauch liegend schwebe ich über den Häusern meiner Stadt und schaue hinab. Winzig klein scheint mir der Rathausturm dort unten, den ich einst für einen Wolkenkratzer hielt, der er also noch immer ist? Längst schon sehe ich den Platz nicht mehr, wo ich einst auf einer Bank unter Platanen saß. Sitzt mein zweites Ich noch immer dort, lauscht dem Ruf der Mondin und träumt in ihrem Licht?
Jetzt schwebe ich dem untergehenden Sonn entgegen und immer weiter hinauf und hinaus in die Nacht und in ein neues Morgen, hinein in eine andere Welt mit Namen Wald, eine Welt aus Bäumen aller Art, der sich endlos nach allen Seiten erstreckt. Ins Gestern führt mich der Leuchtende Pfad, den ich vor meinen Augen sehe, träumend auf meinem Bett bei mir zuhause.
„Ein Pfad?“ fragst du.
Ja, ein Weg, ein schmaler Weg, der alles verbindet, den meine Füße beschreiten, den mein Körper durchfliegt. Ein Pfad in mir, dem meine Seele folgt, der mich hin zu ihr führt, die ich schon immer liebe, zu den anderen hin, die so sind wie ich, und hin zur Einheit, aus der wir alle kommen.
„Wach auf! Das ist ja nur ein Traum!“, ruft irgendwer hinein in meinen Traum.
So werde ich geweckt, stehe auf und gehe die gewohnten Wege, tagein, tagaus, nicht weniger, nicht mehr. Zeit vergeht. So rasen die Jahre dahin. Ich werde alt und älter, um eines Tages, nachts zu sterben. Nun ja, noch nicht, doch irgendwann mit Sicherheit.
„Und das soll schon alles gewesen sein? Nicht mehr als ein kurzer Ausstieg aus dem Alltagstrott? Dann ist ja alles vorbei, noch ehe es begann. Am Anfang kann doch nicht schon das Ende sein?“
Und weiter fragst du dich und mich: „Wenn alles Wirklichkeit wäre, also keine Illusion, was ist überhaupt so toll daran, über den Dächern einer Stadt dahin zu fliegen? Und dann auch noch bei Nacht in eisiger Kälte.“
Das fragst du, der du drinnen in deiner beheizten warmen Stube vor dem Flimmerkasten sitzt und „wahre“ Begebenheiten schaust?
Ja, alles war nur ein Traum, eine Vorschau auf das, was noch kommen sollte, und doch war es der Beginn einer Reise, ein Neuanfang. Damals dachte ich, es würde bald geschehen.
Doch Jahre vergingen, und nichts geschah.
Wann würde ich aufbrechen? Würde ich es tatsächlich irgendwann tun? Noch in diesem, meinem jetzigen oder einzigen Leben? Noch in meinem Zimmer unter dem Dach innerhalb einer Wohngemeinschaft mit Nachbar Rilke und einem indonesischen Studenten, kurz WG genannt?
Damals geschah noch nichts.
Zunächst waren da also nur der Traum und das Warten auf seine Erfüllung. Wie oft schaute ich gebannt auf zu den dahinrasenden Mauerseglern, die mancheiner noch immer für Schwalben hält. Zahlreich aber kamen auch sie jedes Jahr aus dem Süden nach K, und also war es Sommer. Mein Gott, fliegen, dachte ich immer wieder voller Sehnsucht.
Dann geschah es doch, plötzlich und unerwartet. Es war ein kalter, verregneter Oktobertag, als alles begann, wirklich begann, hier draußen, nicht nur in meinen Träumen.
Sagte ich eben „Tag“?
Der war bereits vorüber. Nacht herrschte dort, wohin ich ging, denn ich ging in tiefer Dunkelheit hinaus in den Sturm.
„Bleib!“, riefen meine Freunde vom Stammtisch. „Geh noch nicht! Trink noch einen Wein! Geh nicht! Diese Böen könnten dich erschlagen!“ Sie taten es, obwohl sie wussten, wie sehr ich die Nacht liebte, und dass es nutzlos war, mich aufhalten zu wollen, wenn ich ihren Ruf vernommen hatte.
Ich antwortete ihnen nicht, ging, schaute im Türrahmen verharrend noch einmal zurück - als ob ich wüsste, dass ich nie mehr wiederkommen würde - und verschwand aus ihren Augen.
Das ist die Nacht der Nächte. In mir ertönt der Ruf.
Ich gehe hinaus auf die Straße und schaue auf. Noch ahne ich nur die Sterne hinter dahinfegenden Wolkenschleiern.
Noch immer blicke ich empor. Die Himmel öffnen sich über mir, und die rasenden Wolken halten inne in ihrem Lauf. Dort oben bildet sich ein kreisender Raum, in dem Volle Mondin und Sterne leuchten.
„Komm!“, singt das Sternenlied in mir.
Ich höre den Ruf und weiß: Jetzt ist die Zeit gekommen, die Zeit des Aufbruchs.
Noch einmal aber kehre ich für einen Augenblick in meine alte Welt zurück, betrete ein letztes Mal die Kneipe.
Aha, wieder da, denkt einer dort vorne am Tresen.
Ich aber nehme meine Jacke von meinem Stuhl, die ich dort vergaß, ziehe sie über und sage leise: „Tschüss!“
„Du gehst schon? Schon wieder? Als Erster?“, fragen meine Stammtischfreunde - wie seltsam! - alle zugleich, wie aus einem Munde.
Auch diesmal antworte ich ihnen nicht. Ich antworte ihnen nie mehr!
O ja, ich gehe, denke ich. Warum gehe ich? Weil ich muss!
Bilder aus einem Film steigen vor meinem innerem Auge auf: Da ist ein Land im Süden damals am Beginn einer großen Religion, die die Nächstenliebe lehrte und den Sklaven Hoffnung brachte. Seine Jünger fragten ihn, als sie ihn nach seinem Tod noch einmal trafen: „Quo vadis, domine? Wohin gehst du, Herr?“
Ich erinnere mich an meine Tränen bei diesen, seinen Worten. Doch ich bin nicht der Herr und nicht ihr Herr. Dennoch weine auch ich jetzt leise bei meinem Abschied. Ich gehe stumm hinaus.
Drinnen sehen sich die Freunde verwundert an.
„Warum geht er?“
„Sollte unter Menschen bleiben. Is’ nicht gut, allein zu sein.“
„So lasst ihn doch!“
So sprechen die Stammtischfreunde: die ältere, so jung und munter gebliebene Autorin, die natürlich nicht vom Schreiben lebt, die junge Lehrerin, der Rechtsanwalt und seine Mitarbeiterin, der fitte Paddler und Krankenpfleger in Rente und die drei Generationen: Mutter, Tochter und Enkelin.
Dann werden wieder andere Themen wichtig: die ewigen Baustellen in der Stadt - Straße auf, Straße zu, Straße auf, die leer stehenden Läden in der Fußgängerzone - Wahnsinnsmiete und minimaler Umsatz, wen wundert da noch dieses überall zu findende Schild: Laden zu vermieten - immer wieder neu, jetzt auch massenhaft, nebeneinander im Viererpack, ja, die Fußgängerzone, die vielleicht doch noch so nach und nach ein neues pfützenloses Pflaster erhält, private Dinge und Probleme, Geschichten, die das Leben schreibt. Auch diese nicht jugendfreien Witze, sexuelle Anspielungen und Jugenderlebnisse, als Mann noch jung und fit war. Natürlich auch Fußball, unbedingt! Die Roten Teufel vom Betze, ihr Wiederaufstieg in die erste Liga - sie werden wieder Deutscher Meister sein, das ist klar, hurra, es lebe der FCK! Dann das liebe Geld und der kommende Euro und ... viele Probleme hier wie überall auf der Welt im Jahre 1998 A.D.
Ich stehe nur wenige Meter von allem und doch Meilen von allem entfernt draußen auf der Straße und breite meine Arme aus, werde Ruhe und warte. Ich schaue mit in den Nacken geneigtem Kopf empor. Ich bin es schon, also spreche ich auch die Worte nicht aus: „Sei still!“
Was seltsam war, Manfred fiel es gar nicht auf, die Straße war menschenleer. Alles schien ausgestorben.
Und niemand sah, was dann mit ihm geschah?
Kein Mensch, das ist gewiss.
Und niemand sonst?
Leuchtend grüne Augen schauen den Menschen von unten verwundert an. Hinter einem Rad unter dem Auto versteckt sitzt die Katze mit dem rotbraunen Fell. Sie ist es, die alles sieht und - nichts verrät.
Während ich noch immer auf der Straße stehe und auf die Erfüllung meines Traumes warte, erinnere ich mich an einen anderen, den ich vor langer Zeit träumte: Einen Menschen sehe ich darin aufstehen und alle Krankheiten hinter sich lassen. Dort unten auf der Erde bleibt seine graue Hülle zurück. Denn er erhebt sich, steigt gleich einem schlüpfenden Schmetterling auf, eben noch fressende, wachsende Raupe, ein Kind, dann träumende Puppe, jetzt ...
Bin ich wie er?, frage ich mich und atme Nacht und Sterne.
Etwas wächst in mir.
Ich knie mit noch immer ausgebreiteten Armen auf der mit grauen Steinen neu bepflasterten Straße, fühle mich frisch und stark, wie neugeboren, doch ohne den Schock der Geburt und die Hilflosigkeit des Säuglings, bin ein neugeborener Erwachsener.
Jetzt könnte alles geschehen, könnte mich aufrichten, mit ausgebreiteten Armen erheben und in die Nacht hinaufschweben, denke ich und spüre nicht, wie es bereits geschieht, wie ich aufrecht stehend emporsteige, sehe nicht meine alte Menschenhülle dort unten auf den Steinen verdampfen, nehme nicht wahr, wie Kleidung, Krankheit, Alter und Alltagssorgen im Gestern zurückbleiben.
Gate, gate, paragate ...
Gegangen, gegangen, darüber hinaus gegangen ...
Aber noch lange nicht erleuchtet.
Aufrecht geht der Mensch. Aufrecht steige ich auf, schreite schlafwandelnd über den Dächern dahin.
Hoch oben erwache ich und schaue hinab. Unter mir leuchtet die Stadt. Dort irgendwo unten ist eine Kneipe, eine von vielen. Dort sitzen meine Freun... Menschen, deren Abbilder nun verschwimmen. Sie wissen nicht, wo ich bin. Sie wissen so wenig von mir, werden niemals mehr über mich erfahren.
Und ich? Was ist mit mir?
Staunend rufe ich aus: „Mein Gott, wer bin ich? Ich habe meinen Namen verloren!“
Dann vergesse ich auch dies und gehe weiter meiner Zukunft entgegen. Sie leuchtet vor mir auf, funkelt bisweilen wie Kristall, spiegelt sich in einem Band aus Licht in meinem Leuchtenden Pfad.
Alles wird sein wie ein Traum.
Aber es ist kein Traum, fällt mir ein.
Es war kein Traum.
Und wäre es so gewesen, sind nicht auch Träume Wirklichkeit?
Was haben all unsere Wahrnehmungen mit der äußeren Realität gemein?
Was sind Erinnerungen?
Sind sie nicht lediglich nur verschwommene Abbilder von dem, was einmal war?
Du, liebe(r) LeserIn, der du dies alles gerade liest, möchtest mehr wissen. „Erzähl, wie es kam!“, forderst du mich auf. „Was war vor dem Fliegen und dem Stammtisch? Erzähl ein wenig aus deinem Leben! Damit ich erfahre, wie es geschehen konnte, damit auch ich so werden kann wie du. Erzähl! Beginne vielleicht mit dem Ort, der Umgebung. Verrate mir, wo das alles geschah.“
In einem der zahlreichen Universen.
„Sehr lustig. Geht’s nicht ein wenig genauer?“
Nun gut, 30 000 Lichtjahre vom Zentrum entfernt am Rande einer Galaxie, auf dem dritten Planeten eines gelben Sterns, von den Eingeborenen Erde genannt. Dort gab es im Westen eines großen Kontinents eine Stadt namens K-town, zu Deutsch: Kaiserslautern. In einem kleinen Zimmer unter dem Dach à la Spitzwegs Der arme Poet , aber wasserdicht, mit Gasofen, Gemeinschaftsküche mit Dusche und dem Klo eine halbe Treppe tiefer, o ja, dort, wo der indonesische Student abends immer Hühnchen mit Reis kochte oder - Reis mit Hühnchen, dort ...
Halt! Vergiss die Sache mit dem Zimmer in der WG! Das war ja vorher. Da wohnte ich ja schon lange nicht mehr, als es geschah. Also die andere Wohnung um die Ecke – ebenfalls eine Altbauwohnung, doch mit zwei Zimmern und einer Küche mit Elektrodusche für mich ganz allein - dort war es, wo diese Reise begann, dort. Jeden Tag träumte ich von dem Pfad. So war ich nicht so geschockt, wie man glauben könnte, eher verwundert, als ich ihn eines Nachts tatsächlich vor mir sah. Ich rieb mir die Augen, zwickte mich ... das Band aus Licht war noch immer da. Also zögerte ich nicht, stand auf und folgte dem leuchtenden Band vor meinen Füßen. Ich öffnete die Zimmertür, durchquerte die Küche, ließ die Wohnungstür hinter mir, ging die Treppe hinab und hinaus auf die Straße, die menschenleer war. Dann zum Stadtzentrum hin begegnete ich endlich Menschen. Doch niemand sah auf, kein Staunen, kein „Ooh“ wie beim Kerwe-Feuerwerk. Keiner außer mir schien meinen Leuchtenden Pfad wahrzunehmen, der sich nun pulsierend in allen Farben vor mir fand und wand: gelb und rot, grün und blau, dann violett und strahlend weiß. So gelangte ich in die Fußgängerzone und in die Kneipe. Das war der Beginn, mein Weg!
Halt! Mein Weg begann natürlich ganz woanders, mit meiner Geburt in einer anderen, viel größeren Stadt. Wie fern ist doch die Kindergartenzeit.
Oder begann alles viel früher, in einem anderen Leben, an anderem Ort, als ein anderes Wesen? Begann alles mit dem ersten Leben auf dieser Erde?
Denn alle meine Väter und Mütter überlebten in mir.
Und was war vor der Erde und vor diesem Universum?
Fragen über Fragen und keine einzige Antwort.
Kehren wir also wieder zurück in klarere Gefilde, dorthin, wohin mein Erinnern reicht. Ich lag also auf meinem Bett, von Lautsprecherboxen umgeben, und lauschte elektronischen Klängen: Kitaro, Schulze, Vangelis und - Nitzsche. Das war die Musik, die mich umgab und schon manches Mal hinweggefegt hatte. Ich schloss die Augen und sah den Leuchtenden Pfad vor mir. Ich öffnete die Augen und sah ihn noch immer und stand auf, zog mir die schwarzen Wildlederschuhe an und die schwarze Jeansjacke, passend zu den schwarzen Jeans, über, folgte dem Leuchten bis in die Kneipe, wo ich ihn im Zigarettenqualm und Alkoholdunst verlor. Ich sah mich um und - erblickte sie.
Nun sitze ich an einem runden Tisch, mir gegenüber die Stamm... Oh! Wieso sitze ich schon? Stand ich nicht gerade noch an der Tür?
Auch hier innen sieht alles so anders aus als sonst.
Oder liegt es an der Zeit?
Die ist ja auch verkehrt! Schon spät ist es in der Nacht. Und doch, all die Stammtischfreunde sind da, und ich bin mitten unter ihnen. Da kommt auch schon mein Dornfelder, nicht bestellt und schon serviert von der schlanken jungen Frau. Also ist alles wie immer. Der Wirt weiß Bescheid. Ich nehme einen großen Schluck.
Sonst tat sich weiter nichts. Oder doch oder ja oder nein?
Halt! Eins bleibt noch zu erwähnen, eine Sache störte mich wie immer, wenn auch immer weniger - dieser für einen Nichtraucher wie mich nicht sonderlich attraktive und gesunde Zigarettenqualm, zumal er jetzt auch noch meine Vision ver...
Aber da ist ja wieder mein Leuchtender Pfad, taucht auf aus dem Rauch - Dunst - Nebel. Mystischer Nebel, aus dem Bilder aufsteigen und Wesen ... Die Nebel des Drachenlandes, an dessen Grenzen schwarze Raben ewig wachen ...
Ja, so begann alles. Das sind meine eigenen Erinnerungen an den Beginn eines anderen Lebens.
Die anderen aber - das weiß ich nun - erinnern sich - wen wundert es - ein wenig anders.
„Die anderen?“, fragst du.
Die Freunde vom Stammtisch natürlich! Hören wir einfach einmal, was uns die Dichterin zu sagen hat:
Doch, ich erinnere mich. War da nicht ein Wüten dort draußen? Noch brausten die Stürme frei. Die letzten Bäume schrien und ihre Äste brachen. Wir saßen wie jeden Mittwoch bei Kerzenlicht im warmen Zimmer einer kleinen Kneipe gemütlich beisammen, unterhielten uns, tranken und aßen. Also war drinnen alles wie immer.
Nein! Denn er stand plötzlich auf.
„Wohin gehst du, Dok?, fragte ihn einer von uns.
Er zeigte nach draußen.
„Nachhause, jetzt schon?“
Er schüttelte nur den Kopf, deutete nach oben und lächelte. Seine Augen leuchteten. Er sprach kein Wort, öffnete die Tür und ging hinaus. So verschwand er aus unserem Leben. Wir sahen ihn nie wieder.
Karin meinte noch: „Nächste Woche ist er wieder da.“
Ich aber dachte, ja, das ist wirklich seltsam, wenn ich mir das jetzt so überlege: Viele Menschen steigen aus, verschwinden plötzlich, einfach so, manche sterben, andere wieder beginnen ein neues Leben andernorts und unerkannt.
Wer also weiß, wie es wirklich war? Es gibt so viele „wahre“ Versionen von der Wirklichkeit, wie es Menschen gibt. Und alle sind sie richtig, und alle sind sie falsch. Rashomon heißt der japanische Film, in der jeder der Befragten eine andere Tat schilderte, und alle sprachen sie über denselben Mord. Du erinnerst dich? So viele Täter, und doch nur ein Opfer, einer nur tat die eine Tat. Und jede Version schien wirklich glaubhaft zu sein.
„Aber hier in unserem Fall geht es doch nicht um Mord“, wendest du, aufmerksame(r) LeserIn, ein und - hast Recht.
„Und die Unterschiede, wo sind denn die?“, fragst du weiter.
„Ob er noch einmal zurückkehrte oder nicht, nach oben zeigte oder nicht, was spielt denn das für eine Rolle?“
Nun ja, jedenfalls in einem Punkt stimmen alle überein: Es war Herbst, draußen stürmte es, und er war ziemlich sprachlos!
Warum so viele Details, die doch völlig unwichtig sind? Immer versuchen wir uns, wenn wir etwas erzählen, so genau wie möglich zu erinnern, an Einzelheiten, die wirklich niemanden außer uns interessieren, die gänzlich ohne Belang für das Wesentliche sind. Aber so ist es nun einmal, das wirkliche Leben. In einem Buch oder Film käme so etwas niemals vor. Denn das interessiert ja wirklich keinen. Wichtig könnten Details aber dennoch sein! Wenn jemand nachforschte und versuchte, mein Verschwinden aufzuklären. Eine kriminalistische Untersuchung mit Verdacht auf ein Gewaltverbrechen - Entführung, Totschlag, Mord? Dann, ja dann wäre eine Befragung aller Beteiligten sinnvoll gewesen, weil man so manches dabei erfährt, so ganz nebenbei, das einen weiterbringt, immer weiter und hin zur Auflösung der Tat. Dann hätten die Stammtischfreunde die Schilderung der Autorin etwa mit diesen Worten ergänzt: „Er war schon immer ein wenig seltsam und sehr still. Nur selten taute er auf, und dann erst nach einem Glas Wein. Dann redete er und redete, lachte sogar.“
„Der träumt ja schon wieder, dachte ich. ‘Wach auf!’“(Dazu der Schlag auf den Rücken, vom Anwalt persönlich.)
„Nein, danach sahen wir ihn nie mehr wieder!“
Aber es geschah ja kein Mord, wie wir wissen! Also gab es auch keine Untersuchung!
„Trotz des mysteriösen Verschwindens?“, wendest du, liebe(r) LeserIn, ein. „Das glaube ich aber nicht.“
Also waren da doch die Kripo, die eingehende Befragung und- kein Resultat!?
Wie auch immer. Ich sehe es nicht, ich weiß es nicht, denn ich bin nicht allwissend. Es spielte auch keine Rolle bei dem, was kommen sollte. Was zählt, ist nur das eine: Damals verließ ich meine alte Welt und durchwanderte zahlreiche neue, bis ... Jetzt bin ich hier, noch einmal zurückgekehrt, erinnere mich und erzähle dir alles. Und all die Menschen der Welt Stadt, Familie, Freunde, Bekannte, Nachbarn, Kommilitonen und alle anderen, gehören einem fernen Leben an, das ich damals endgültig und unwiederbringlich hinter mir ließ, als ich träumend in die Nacht aufstieg und begann zu schweben.
Dachfenster fliegen vorbei. Die Fußgängerzone. Und über Häuserdächer hinweg schwebe ich aufrecht auf den Wolkenkratzer zu, der erstaunlicherweise weder Bank noch Versicherungsgebäude ist, sondern das Rathaus mit seiner leuchtenden Lichterkette von Fenstern ganz oben. Einige Kreise ziehe ich noch über Kaiserslautern. Dann nähere ich mich den Wolken.
Dieses Bild ist neu für mich. Da ist ja doch noch ein Mensch, der letzte, der mich nach meinem Aufbruch aus der Kneipe sah.
Träumender Blick aus dem Fenster des Rathausrestaurants ganz oben im 21. Stock. Ein Mädchen von sieben Jahren - und das so spät in der Nacht! - sieht nach draußen: „Mami, da fliegt ein nackter Mann!“
Mutti aber, voll gestresst von Bruder Olivers Aktionen, schaut nicht hinaus: „Jaja, Meike! Und jetzt trink aus! Es ist schon spät, wir müssen nachhause!“
Ich merke von all dem nichts, schwebe weiter durch die Nacht. Längst verblasst sind die Lichter hinter mir. Schaue jetzt wieder hinab. Meine Reise hat begonnen, denke ich, und wie es aussieht, gibt es keine Rückfahrkarte. Denn nur vor mir sehe ich das Band aus weißem, gleißenden Licht, meinen Leuchtenden Pfad. Hinter mir aber ist Dunkelheit. Jetzt beginnt er, in allen Farben zu funkeln. Wie ein Regenbogen! Ich sehe, wie er sich in weiter Ferne empor zu den Sternen wölbt. Ich aber bewege mich auf ihm, in ihm. Also bin ich der erste und einzige Leuchtpfadsurfer, Lichtbandscater, Lichtwellenreiter, bin ohnegleichen.
Dann irgendwann kann, will ich einfach nicht mehr stehen. Also setze ich mich nieder, sitze nun bequem wie auf einem fliegenden Teppich aus Tausendundeiner Nacht. Doch da ist kein Teppich, nur ein rot leuchtender Streifen aus Licht. Über mir funkeln die Sterne, und unter mir ziehen Wolken dahin. Weit darunter und hinter mir liegt mein bisheriges Erdenleben. Berauscht will ich mein Glück mit allen teilen, rufe hinaus in die Weite: „Ich lebe!“ Ich tue es, so intensiv wie nie zuvor. Tief atme ich die Nachtluft ein. Tief!
Ich verspüre keinen Hunger. Glück gehabt, denke ich und schaue mich um. Habe nichts dabei und brauche auch nichts. Denn hier oben gibt es für einen Menschen wirklich nicht viel, was essbar wäre. Winzige Algen, Wolkenplankton: wenige Mücken, Fliegen und an Fäden segelnde Spinnen. Sie alle wären Beute für die Mauersegler über den Dächern der Stadt, die längst wieder nach Süden zogen. Habe seltsamerweise auch keinen Durst.
Klar, wenn das nur ein Traum wäre, dann wäre nichts verwunderlich an allem.
Träume ich also all diese Dinge: Pfad, Kneipengang, Stammtisch, Freunde und selbst mich als fliegenden Helden?
Könnte nicht alles diese Dinge nur in meinem Geist geschehen?
Schlafe ich also noch immer? Wie lange schon? Wann wache ich auf und wo?
Aber was ist schon Zeit?
So relativ, so vielfach anders empfunden, so dehnbar und gedehnt, gestaucht, so ...
Hier, in diesen schwarzen und doch leuchtenden, endlosen Räumen, in dieser Schwärze - in dieser, meiner Seele?
Alles, was vor Kurzem begann und noch nicht lange währt, all dies könnte nur eine einzige Sekunde dauern, eine Sekunde eines Traumes?
„Bin ich also nicht mehr als eine Traumgestalt?“, frage ich mich verwundert und schaue, noch immer schwebend in der Weite der Nacht, weinend hoch ins Nichts.
Nichts?
Irgendwer oder irgendetwas ist dort oben. Ich ahne es. Ich weiß es. ETWAS sieht herab.
Also träume ich mich nicht! Also bin ich wirklich! Also existiert dort ein gewaltiges Wesen. Manche nennen es GOTT. Und ich Winzling Mensch habe IHN gesehen. Mein Gott, GOTT schaut mir zu!
Doch da sind noch andere Veränderungen. Etwas ist mit der Mondin passiert. Gewaltig in ihrer Größe steht sie dort über mir. Mondin? Hieß sie nicht irgendwann einmal „Mond“, war männlichen Geschlechts? War nicht Wandel in ihm: Zunehmen und Abnehmen, Neumond und Vollmond? Hier aber leuchtet sie in der Nacht, unveränderbar, ewig, wie gestern, so heute, so morgen: eine gigantische, helle Scheibe, die Volle Mondin.
Und auch hier bei mir gibt es weitere Veränderungen. Während meines Fluges über den Dächern der Stadt schreitet die Verwandlung unmerklich fort. Zunächst ist da ein Zittern, denn kalt ist es hier oben im Herbst für einen nackten Mann. Jetzt aber spüre ich nur noch Wärme, die meinen neugeborenen Körper umhüllt, denn eine zweite Haut, lebende Kleidung, die sich in der Farbe der Umgebung anpasst, hüllt mich ein. Hier und heute ist sie schwarz wie die Nacht mit Sternen darin. Ich trage den Sternennachtmantel und atme die frische kühle Luft. Jetzt fühle ich mich, bin ich wieder jung und zudem noch stark wie nie zuvor. Welch strahlend schöner Held doch vor mir stünde, wäre hier ein Spiegel und sähe ich mich darin an.
Da fehlen nur noch Rüstung, Schwert und ein prächtiges Ross, fällt mir ein. Dann irgendwo dort unten hinter den Bergen werde ich dem Drachen, der die Prinzessin, meine große Liebe, bewacht, begegnen, ich ihm und er seinem Tod.
Ja, so oder so ähnlich oder aber auch ganz anders wird all das geschehen, doch hier und heute zählt nur das Eine – und das ist die Gegenwart.
Welch eine Nacht!, denke ich, diese Zeit der Wandlung, was für ein Abenteuer! Wie glücklich ich bin zu leben.
Schon fegt ein wirbelndes Licht meine Brille hinweg, streichelt etwas sanft meine Augen, berührt zärtlich meine Stirn.
Mein Gott, die Liebe!
Schlafendes erwacht, und meine Augen sehen die Welt schärfer als je zuvor. Eine hohe liebliche Stimme streift mein Herz mit ihrem Gesang. Also leuchtet es auf in der Nacht. Brennendes Blut pulst durch meine Adern. Und mein Hirn ist ein Meer aus kosmischer Schwärze. Sterne schweben in meinen Nervenbahnen.
So werde ich mit neuem Namen wiedergeboren.
„Sie werden dich Manfred nennen, Manfred den Magier“, singt eine Frauenstimme in mir.
Manfred, denke ich glücklich, ich bin Manfred der Magier!
„Und wer bist du? Meine große Liebe?“, frage ich flüsternd dich und lausche, warte vergebens auf deine Anwort.
Leuchtend schwebe ich durch Wolken, Wasser, Nebel.
Lautlos gleite ich dahin. Und es ist noch immer Nacht, warme Sommerna... War nicht eben noch Herbst? Kann das sein, dass so plötzlich eine klare Sommernacht, vielleicht sogar aus den Zeiten von Jugend und Liebe, hier erscheint?
Gedanken kommen und gehen.
Fühle mich so frei, gelöst von allen Sorgen und bin es auch, denn flügellos fliege ich, gleite still dahin.
Doch Nebel hier oben? Die passen doch eher auf die Erde dort unten, über feuchtes Land, in den Morgen und in den Herbst.
Wolken!
Die Wolkennebel werden immer dichter. Sie bewegen sich, drehen sich im Kreis, und ich bin mitten unter ihnen. Sie tanzen vor meinen Augen und summen, dröhnen, brüllen in meinen Ohren. Alles zuckt rasend. Ich falle … drehe mich ...
Tränen, Wege und Wunder
Ja, hier enden meine Erinnerungen an die Menschenwelt mit Namen Stadt .
Und wie seltsam es doch ist, jetzt, wo ich dir davon erzählte, fühle ich mich, als wäre ich zehn Jahre jünger geworden.
Ach, da ist ja ein Spiegel, tatsächlich, das ist ja fast kein Tattergreis mehr, der mich da lächelnd betrachtet.
Nun, da ich noch einmal aus dem EINEN zurückgekehrt bin, lösen sich die Nebel immer mehr auf, hinter denen damals alles verschwamm. Ich sehe mich die „zweite“ Welt mit Namen Wald betreten.
Wieder Mensch geworden, weine ich, wie auch früher so oft, Tränen über die Vergänglichkeit der Dinge. Denn alles, was war, ist für Menschen vergangen, so fern. Nie mehr kehrt es zurück, nie mehr - außer in den Erinnerungen und Geschichten, die Menschen Menschen erzählen.
Damals, als mir mein Leuchtender Pfad erschien, mich rief, als meine Wanderung begann, wusste ich noch nicht, dass es ein einsamer Weg werden würde, aber auch ein Weg mit neuen Freunden, ein Weg in Liebe, ein Weg ohne Hunger, ohne Durst, ohne Krankheit, und doch ein Weg voller Schmerzen, Leid und Tod.
Jetzt erinnere ich mich an mehr. Worte fallen mir ein, wahrhaft magische Menschenworte. Einst schrieb sie ein unbekannter Dichter* auf:
Seltsam sind die Wege
die das Leben schreibt
gewunden wie die Adern in dir
und voller Wunder
Tag für Tag
und Jahr für Jahr
*: ein gewisser Rainar Nitzsche