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Weißes Glück
ОглавлениеDer Assekuranzbeamte Theodor Fink fuhr von Wien an die Riviera. Unterwegs entdeckte er in seinem Handbuch, daß er mitten in der Nacht in Verona ankomme und dort zwei Stunden auf Anschluß warten müsse. Das war ein übriges, welches keineswegs beitrug, seine Stimmung zu verbessern. Er zündete sich eine Zigarette an, fand den Rauch unerträglich und schleuderte sie in weitem Bogen aus dem Fenster; seine Blicke folgten dem glimmenden Punkt in die blasse, nichtssagende Märzlandschaft, in deren tiefsten Talstellen Schneereste wie schmutzige Kissen lagen. Das langweilte ihn ebenso wie der gelbe Roman, der neben ihm auf dem Sitz lag, und mürrisch nahm er zum zehnten male den Brief vor, welchen sein kranker Bruder ihm aus Nizza geschrieben hatte. Je öfter er die hastigen unsteten Zeilen las, desto deutlicher schien ihm, daß es der Ruf eines Sterbenden sei, dem er folgte. Und ihm wurde immer unbehaglicher. Er hatte für den um sieben Jahre jüngeren, spätgeborenen Bruder niemals viel übrig gehabt, denn das Kränkliche, Zerbrechliche an ihm war ihm abstoßend, und das Überfeine seiner Empfindung hatte für ihn etwas Unheimliches und Fremdes. Er fürchtete diese bevorstehenden Tage mit den vielen Aufregungen und Mühseligkeiten und empfand nebenbei aufrichtiges Mitleid, welches er allerdings dadurch zu lindern suchte, daß er immer wieder dachte: »Es wäre ja ein Glück für ihn. Wenn man krank ist.« Darüber schlief er ein.
Durchgerüttelt, mit schmerzenden Gliedern und sehr verschlafen, stieg er als einziger in ›Verona vecchia‹ aus und folgte dem schweigsamen Portier in den Wartesaal zweiter Klasse. An den hohen Glastüren ließ ihn der Führer stehen. Theodor Fink stieß den Türflügel mit dem Ellbogen auf und wartete an der Schwelle, bis seine Augen sich in dem Dunkel des Raumes zurechtfanden. Allmählich erkannte er die Bogentüren, welche ihm gegenüber auf den Bahnsteig hinausführten, und etwas, was wie ein vielhöckeriges Ungetüm auf vier stämmigen Beinen in der Mitte des Saales stand; es war ein Tisch, mit vielen Gepäckstücken bedeckt. Endlich gewahrte Fink auch die Bänke, welche die Wände rings begleiteten, und er schob sich bis zu der nächsten nach vorwärts, um dort seinen unterbrochenen Schlaf fortzusetzen. Er tastete die Bank hin, und gerade, als er sich neigte, ging draußen jemand mit einer Laterne vorbei, und ein Schimmer zuckte herein und beleuchtete flüchtig das bärtige Gesicht eines schlafenden Mannes. Fink wurde nüchtern und stieß einen Fluch aus. Seine Stimme klang in der Halle lauter, als er es erwartet hatte, und wie eine Antwort kam es aus allen Ecken: ein Stöhnen, ein streckendes Rühren, ein Knarren der Bank, ein tonloses irres Traumwort. Der Ankömmling blieb einen Augenblick wie gebannt. Er dachte: also hier schlafen schon überall Leute. Dann ging er die Wände entlang. In der Nähe der dunkelsten Ecke fühlte er einen freien Platz, und dort ließ er sich wie erschöpft nieder. Er blieb sitzen und wagte nicht den Versuch, die Füße auszustrecken; er war überzeugt, daß zu seiner Rechten und zu seiner Linken Menschen lagen, und scheute sich, sie zu berühren. Er verharrte reglos, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Lider waren schwer und sanken langsam, aber er riß sie immer nach kurzem wie in jähem Schrecken wieder auf und mußte sich zurechtfinden in dem ungastlichen Raum, über dessen Dielen dann und wann Lichter, wie Möwen, huschten. Fink atmete tief auf, als die Türe, durch welche er eingetreten war, knarrte. Vom matten, rötlichen Dämmer des Ganges hoben sich zwei oder drei Gestalten als Schatten ab. Neue Reisende kamen in den Saal. Die Türe fiel hinter ihnen zu, und Fink mühte sich, die Gestalten zu verfolgen. Aber stumm und lautlos lösten sie sich in dem schweren Dunkel, und nur das Knarren einer Bank ließ vermuten, daß sie sich irgendwo niedergelassen haben mußten. Es blieb wieder still. Allein Fink fand, in seiner übermüdeten Spannung, tausend Geräusche und ging ihnen nach und fühlte in jedem Laut etwas Fremdes und Feindliches. Ihm war, als drängten sich alle die Menschen immer näher an ihn heran, und die Dunkelheit um ihn wurde körperhaft, so daß er endlich hastig ein Zündholz anstrich und erleichtert aufatmete, als er die große, schwarze Leere vor sich erkannte. Gleichwohl entzündete er immer noch eines, um sich ganz zu beruhigen. Als eben wieder ein neues knisternd auflohte, klang eine Stimme aus der Ecke: »Das blendet so, verzeihen Sie.« Fink lauschte dem leisen Wohlklang. Dann leuchtete er ganz unwillkürlich mit dem tiefgebrannten Spänchen der Stimme nach und glaubte flüchtig ein dichtverschleiertes Frauengesicht zu sehen. Dann verlöschte das Licht, und er saß wieder im Dunkel und wartete auf die Stimme. Und sie kam: »Es ist furchtbar, mit vielen Fremden eine Nacht im selben Raum zu sein. Nicht wahr? Die Menschen sind so seltsam in der Nacht, und ihre Geheimnisse wachsen über sie hinaus. Es ist furchtbar. Aber Licht blendet so.« Fink fühlte, daß die liebe leise Stimme das ausgesprochen hatte, was ihn ängstigte. Aber der letzte Satz, der wie eine Entschuldigung klang, nahm ihm plötzlich alles Unheimliche, und er wußte, daß eine junge, vielleicht sogar eine schöne Frau neben ihm saß, und war mit einemmal angeregt von der Möglichkeit, die Wartestunden durch ein kleines Abenteuer zu verkürzen.
Er drehte unwillkürlich seinen Schnurrbart und neigte sich zuvorkommend gegen die dunkle Ecke: »Gnädige reisen auch hinunter nach Nizza?«
»Nein, ich kehre zurück in meine Heimat.«
»Schon im März? Es ist noch sehr kalt in Deutschland. Da sind Sie wohl nicht krankheitshalber unten gewesen?«
»Oh, ich bin krank.« Das sagte sie traurig, aber versöhnt. Fink schwieg erstaunt und verlegen. Seine Augen suchten durch das Dunkel, aber er konnte nichts erkennen. Die Luft war dunstig und dick. Aus irgend einem Traum stieg ein Stöhnen, und draußen klang die Klingel wie ein Heimchen.
Um etwas zu erwidern, sagte Fink: »Ich bin nicht krank. Aber mein Bruder. Es geht ihm schlecht in Nizza; deshalb fahre ich hin.«
Aus dem Dunkel kams: »Oh bringen Sie ihn mit zurück. Auch wenn es ihm schlecht geht. Dort in dem frühen Frühling ist alles traurig. Das Leben und das Sterben...«
Theodor Fink machte eine Bewegung, und die Kranke sagte noch ganz tonlos: »Müde und kranke Menschen müssen zu Hause bleiben.« Der Beamte dachte: Sie muß doch noch jung sein, und dabei fühlte er sich dumm und ungeschickt und roh, als er entgegnete: »Das Klima müssen Sie bedenken, Fräulein...«
Sie schien das nicht gehört zu haben und fuhr fort: »Ich fahre auch nach Hause. Ich war traurig bei den Blumen und allein...«
»Sie sind gewiß noch sehr jung, Fräulein«, unterbrach sie Fink und ärgerte sich darüber.
»Ja«, sagte sie einfach, »ich bin jung.« Er ahnte, daß sie lächelte. »Aber deshalb bin ich doch gern allein. Auch zu Hause bin ich viel allein!«
Theodor Fink bereitete die Frage vor: »Wo ist Ihre Heimat?« Allein er konnte sie nicht aussprechen, denn sie erzählte weiter, und ihre Stimme wurde immer weicher und träumerischer dabei und klang wie aus der Ferne.
Sie träumte: »Ein weißes Zimmer hab ich. Denken Sie. Seine Wände sind so hell, daß immer ein wenig Sonne daran bleibt. Auch wenn draußen graue Tage sind. Und es sind viel graue Tage draußen. Aber in meinem Zimmer ists immer licht. Weißer Tüll verhängt die Fenster, und dahinter sind lauter weiße Blumen. Kleine Blumen, die bei mir nie ganz aufblühen. Sie duften auch nicht stark, aber es riecht doch alles nach ihnen: mein Taschentuch, meine Kissen, meine Lieblingsbücher. Jeden Morgen kommt die Schwester Agathe und lächelt. Sie lächelt immer, wenn sie zu mir kommt, und sitzt an meinem Bett in ihrer weißen Nonnenhaube. Ihre Hände fühlen sich an wie Rosenblätter. Sie weiß nichts von der Welt und ich auch nicht: so verstehen wir uns. Nur wenn einmal so selten warm die Sonne scheint, sitzen wir am Fenster und schauen hinaus. Alles ist dann weit von uns, was laut und groß ist: das Meer und der Wald und das Dorf und die Menschen. Am Sonntag, wenn sie läuten, ists wie eine Erinnerung. Gute Menschen aus den früheren Jahren pochen bei mir an. Sie kommen zu mir wie in eine Kirche Blumen in der Hand, auf den Zehen und im Feiertagskleid...«
Es war ganz still. Auch die Klingel draußen schwieg.
Theodor Fink starrte in das Dunkel. Er wartete auf die Stimme. Er fühlte: Sie wird so weitersprechen mit derselben süßen, silbernen Stimme und wird mir vieles sagen. Es ist wie eine Beichte, und ich kann sie nicht verstehen. Vielleicht hört sie einer von den vielen Fremden auf diesen Bänken und versteht sie. Ich kann sie nicht verstehen. Ich fürchte mich vor ihr. Dabei stand Theodor Fink leise auf, ohne daß die Bank knarrte, und tastete zu der Gangtüre. Er verschloß sie ganz vorsichtig hinter sich. Dann eilte er, wie gejagt, durch die matterhellten Gänge, an den verschlafenen Bahnwärtern vorbei, dem Ausgang zu. Endlich fand er das hohe Tor. Er wußte nicht, daß er die dunkle, fremde Lindenallee gegen die Stadt hinunterlief, er fühlte nur immer noch: »Ich kann sie nicht verstehen.« Erst als ein erster, früher Postwagen an ihm vorbei gegen den Bahnhof rollte, blieb er stehen und nahm den Hut vom Kopfe. Der Morgenwind regte sich leise über ihm in den alten Lindenästen und wehte lauter kleine, kühle Blüten an seine Stirne.