Читать книгу Xespasmata - Ausbrüche - Rainer Müller-Hahn - Страница 3
1.Tag
ОглавлениеIch schrecke hoch aus einem wirren Traum und muss mich für einen Moment lang neu orientieren. Bin wieder mal beim Lesen eingeschlafen. Das Buch ist heruntergefallen, die Brille verrutscht, das Hemd offen. Der Wind hat aufgefrischt. Nach der Hitze des Tages ist es jetzt kühl. Ich fröstle.
Meine Haut brennt ein wenig. Es ist der Preis für langes Liegen in der Sonne. Noch empfinde ich es als angenehmes Brennen. Später wird es sich zum Sonnenbrand entwickeln und bei der Berührung mit der Kleidung oder dem Bettzeug ins Unangenehme umschlagen.
An einigen Stellen meiner Haut hat sich auf dem verbliebenen Sonnenölfilm eine dünne Schicht Sandkörnchen angesammelt. Sand auch auf der Kleidung und dem Handtuch.
Das Handtuch ist immer noch ein wenig feucht. Seit meinem letzten Bad im Meer vor zwei Stunden hat die Sonne wohl nicht mehr die Kraft besessen, es zu trocknen. Wahrscheinlich hält das Salz die Feuchte fest.
Ich richte mich auf, schließe die Knöpfe des Hemdes, stelle die Rückenlehne der Strandliege steiler und lehne mich aufrecht sitzend dagegen. Für mich beginnt jetzt die schönste Zeit am Strand, und ich will noch eine Weile das Meer beobachten. Der Übergang von Himmel und Meer ist nicht mehr genau zu erkennen. Der Dunststreifen am Horizont hat beide weich miteinander verschmolzen.
Darüber steht die Sonne, sie hat bereits einen rötlichen Schein angenommen. Wolken, welche die Sonne kurzzeitig verdecken, leuchten auf mit goldenem Saum, gleißend helle Strahlenbündel fluten hervor und zeichnen helle Flächen auf die Meeresoberfläche.
Das Meer ist blauschwarz und wirkt auf mich irgendwie bedrohlich und unheimlich. Der Wind ist noch nicht stark genug, um Schaumkronen darauf tanzen zu lassen. Brandungswellen rollen in Dreierreihe auf den Strand zu. Nach Homer sind es die ‚nimmermüden Rosse des Poseidon’. Sie wachsen hervor aus der Dunkelheit des Wassers, als wollten sie den Wassermassen vorauseilen, bäumen sich auf mit weißer Krone, brechen, wenn sie ihre größte Höhe erreicht und sich ihre Farbe in ein helles, fast durchsichtiges Grün gewandelt hat, zerbersten beim Aufschlagen in brodelnde Gischt und spülen einen dünnen weißen Schaumteppich auf den Strand.
Der Rhythmus der Brandung nimmt mich gefangen. Er ist nicht gleichmäßig. Manche Wellen kippen in ihrer ganzen Länge plump und laut platschend, andere brechen in einer eleganteren Rollbewegung: Die Welle beginnt an einer Seite zu kippen, ihr Überschlag verläuft parallel zum Strand und bildet einen Tunnel. Dabei entstehen auf dem Scheitel, also dort, wo die Welle sich teilt, kleine senkrechte Fontänen, die wie ein silbernes Band über ihr mitlaufen - vielleicht die Mähnen der Rosse des Meeresgottes?
Auch ist das Geräusch dieser Wellen ein anderes. Zunächst höre ich ein leises Zischen. Es startet auf einer Seite, schwillt an zu einem kraftvollen Rauschen und ebbt zur anderen Seite schnell wieder ab.
Die Begleitung zu den verschiedenen Melodien der Wellen bildet das Rascheln der Kieselsteine, die vom zurücklaufenden Wasser aneinander gerieben werden. Hier bleibt die Tonlage des Geräusches gleich, verschieden ist aber die Dauer. Diese hängt davon ab, wie weit die Welle auf den Strand gelaufen ist und wie lange sie benötigt, über das Kieselfeld zurückzufließen.
Ich versuche, ernsthaft vorherzusagen, welche Welle am weitesten auf den Strand gelangen wird. Das scheint sich nach folgender Regel zu vollziehen: Wenn eine große einer kleinen Welle folgt und beide kurz nacheinander brechen, wird das Wasser der kleinen Welle durch die Wucht und Masse der Großen weit auf das Ufer gedrückt. Dagegen hat selbst eine große Welle, sobald sie in das zurücklaufende Wasser der vorangegangenen umschlägt, kaum die Kraft, sich weit über das Ufer zu verbreiten.
Wann nun aber diese Konstellation eintritt, groß folgt klein, kann ich nicht sicher prophezeien. Wellenkunde ist nicht einfach.
Dieses Schauspiel aus Licht, Bewegung und Musik bannt mich immer wieder, versetzt mich in eine Art Trance, erzeugt in mir eine merkwürdige Mischung aus Gelassenheit und zugleich konzentrierter Spannung. Äußere Einflüsse werden abgeschirmt und in den Hintergrund gedrängt. Es ist ein aktives Abschalten, eine besondere Art, das Gegenwartsbewusstsein zu verdichten. Es fällt mir schwer, mich davon zu lösen.
Eine Böe bläst mir feinen Sand ins Gesicht, als wollte der Wind daran erinnern, dass auch er eine wichtige Rolle in dieser Inszenierung spielt. Tatsächlich habe ich ihn bisher nicht sonderlich beachtet.
Er ist stärker geworden und demonstriert nun seine Kraft, indem er Sand aufwirbelt, einen Sonnenschirm erfasst und diesen wie betrunken über den leeren Strand torkeln lässt. Schon hat er erste weiße Schaumkronen auf das Wasser gezaubert.
Ich wende mich wieder dem Spiel der Wellen zu und verfalle schnell in den meditativen Zustand, es ist, als würde mein Inneres die Wellenbewegungen nachvollziehen.
Plötzlich drängt sich der Wunsch in mein Bewusstsein, diese Eindrücke mit einem anderen Menschen zu teilen.
Gesichter tauchen auf, werden verworfen. Ein Bild bleibt: Es ist das einer Frau, die ich hier vor einigen Tagen getroffen habe. Wir sind heute Abend - zusammen mit ihrem Mann und Sohn sowie zwei anderen Ehepaaren - zum Essen verabredet. Ich bin über meine Wahl fast erschrocken und tausche das Bild schnell gegen das einer anderen Urlauberin aus.
Vielleicht ist es ein Teil elterlicher Hinterlassenschaft, die Vernunft, die sich als innere Stimme jetzt empört:
„Du meine Güte Michael! Was willst du eigentlich? Du fährst in dein Refugium, freust dich auf das Allein- und Unabhängigsein und beginnst schon wie der Sonnenschirm beim ersten Windstoß zu schwanken.“ Ich ignoriere diesen Kommentar, es ist zwecklos, etwas dagegen einzuwenden.
Nun beuge ich mich auf der Strandliege nach vorne, lehne mich gleich wieder zurück und hole dadurch Schwung, um aufzustehen. Es gelingt mir gleich beim ersten Mal. Ich stehe breitbeinig, die Liege zwischen meinen Beinen. Steif und verkrampft steige ich mit dem linken Bein auf die andere Seite. Meine Badehose liegt im Sand. Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich sie mit dem Fuß hoch schleudern und mit der Hand aus der Luft fangen sollte. Dieses Manöver ist nicht schwierig, habe es lange mit Unterhosen geübt, und es sieht dazu noch recht elegant aus. Bei einer mit Sand bedeckten Badehose hat diese Technik jedoch den Nachteil, dass man dabei eine Fuhre Sand abbekommt. Also bücke ich mich schwerfällig, ergreife die Badehose und mache mich auf, sie im Meer auszuspülen.
Es ist nur ein kurzer Weg zum Wasser. Barfuss mit vorsichtigen Schritten überwinde ich ein Feld unterschiedlich großer, glatt geschliffener Steine, das weit ins Wasser reicht. Die Steine sind nass, und man kann vortrefflich darauf ausrutschen. Noch ein letzter ausholender Schritt, die schlüpfrige Gefahrenzone ist überwunden, und ich stehe fest auf weichem, sandigem Meeresboden. Das Wasser reicht mir bis zum Knie. Es ist angenehm warm. Ob ich noch eine Runde schwimme? Sofort ist meine innere Stimme zur Stelle:
„Denk doch mal nach! Es ist schon spät, Badehose an- und ausziehen, mit feuchtem Handtuch abtrocknen, würdest frieren und ...“
Die große Welle habe ich nicht kommen sehen. Sie unterbricht die Auflistung der Bedenken und umspült mich bis zum Bauchnabel. Ich habe Mühe, nicht von ihr umgeworfen zu werden. Aber die Shorts und der untere Teil meines Hemdes sind klatschnass.
Diese plötzliche Dusche erkläre ich zum Ersatz für das abendliche Abschlussschwimmen. Ich schwenke die Badehose mehrmals durch das Wasser und wringe sie aus. Es wird Zeit, aufs Trockene zu flüchten, denn die nächsten großen Wellen rollen heran.
Ich ziehe mein Hemd nochmals aus, um die nassen Stellen auszuwringen. Dabei fällt meine Armbanduhr aus der Hemdtasche in den Sand. Ein kurzer Anflug von Ärger: Habe sie wieder einmal mit an den Strand genommen, obwohl ich mir jedes Mal vornehme, sie im Zimmer zu lassen. Ich säubere sie sorgfältig und binde sie um.
Dann suche ich meine Badelatschen. Einer liegt rechts, der andere links neben der Liege. Sie sind fast vollständig mit Sand bedeckt. Ich angle sie nacheinander mit den Füßen aus dem Sand und versuche, sie in eine solche Stellung zu bringen, dass ich hineinschlüpfen kann. Heute gelingt mir das nicht sofort, und ich muss eine Art kleinen Tanz aufführen, um sie an die Füße zu bekommen.
Jetzt gilt es, die nasse Badehose und die Flasche mit Sonnenöl in das Handtuch einzurollen. Mir fällt auf, dass ich bei allem, was ich tue, sehr langsam vorgehe und dabei eine merkwürdige Sorgfalt an den Tag lege. Ist es wirklich erforderlich, die Ecken des Handtuchs genau übereinander zu bringen oder die nasse Badehose vor dem Einrollen ins Handtuch vorher sorgsam zusammenzulegen?
Diese Sorgfalt entspricht nicht meiner sonstigen Gewohnheit. Man sagt mir in solchen Dingen eher Schlampigkeit nach, was ich durchaus einräumen würde.
Mir fallen Kinder ein, die trödeln und alles betont langsam machen, um das Schlafengehen so lange wie möglich hinauszuzögern. Wende ich diese Verzögerungstaktik hier an, um noch eine Weile am Strand bleiben zu können? Das würde bedeuten, dass ich mich selbst austrickse, denn eigentlich zwingt mich nichts, jetzt zu gehen - aber nur eigentlich. Denn sogleich meldet sich meine Stimme:
„Es wird Zeit, jetzt zu gehen, dir ist schon kalt, du musst dich vor dem Essen noch duschen und umziehen, und schließlich muss ja mal Schluss sein.“
Wer kann sich dieser geballten Vernunft widersetzen?
Der Abschied vom Strand fällt mir etwas leichter, weil die nassen Shorts sich bei jeder Bewegung unangenehm bemerkbar machen und der Tag nun in einen anderen Abschnitt übergeht, auf den ich mich sonst freue. Heute allerdings sind meine Gefühle gemischt. Den Vorschlag zum gemeinsamen Abendessen habe ich spontan - fast leichtfertig - unterbreitet und mir kommen jetzt Zweifel, ob das eine weise Entscheidung war?
Ein fernes Grollen reißt mich aus meinen Gedanken. Es ähnelt zunächst einem Gewitter, schwillt aber schnell zu einem dauerhaften, gewaltigen Dröhnen an. So wie es die ruhige Abendstimmung zerstört, hat es etwas Gewalttätiges.
Ich bin beunruhigt, weil ich den Ursprung des Donners zunächst nicht zuordnen kann. Dann aber erkenne ich zwei Militärjets von Süden heranrasen. Für einen Moment bildet sich die beängstigende Vorstellung, dass hier keine der üblichen Patrouillen geflogen wird, sondern, dass es aus diesen Maschinen gleich Bomben regnet. Die Düsenjäger fliegen nahe der Küste und dicht über dem Wasser im Langsamflug. Eine Maschine führt, die Zweite hält sich links daneben, um eine Flugzeuglänge versetzt.
Im Gegenlicht erscheinen sie schwarz, nur die Cockpits werden vom Abendlicht hell erleuchtet, und ich kann darin die behelmten Köpfe der Piloten erkennen.
Die Triebwerke haben nun im Vorbeiflug ohrenbetäubende Lautstärke erreicht und lassen meinen Körper innerlich vibrieren. Die Jets fliegen über die nördliche Bucht und sind vor dem Hintergrund der Berge und dem dunklen Wasser nicht mehr auszumachen. Erst ein erneutes Dröhnen kündigt ihren Steigflug an. Sie werden wieder als steil nach oben fliegende, schwarze Dreiecke sichtbar, abgehoben gegen das Graublau des Abendhimmels, hinter sich eine dunkle Rauchschleppe, die der Wind seitlich verschiebt und schnell auflöst.
Ich bin wieder einmal fasziniert von der gewaltigen Kraft dieser Technik, die Menschen erzeugen und bändigen können.
Als jemand, der selbst ein paar Stunden als Privatpilot durch die Lüfte geschaukelt ist - und übrigens auf diesem Wege, diesen Flecken hier gefunden hat - schaue ich mit Wehmut und Neid auf die Leute im Cockpit solcher Maschinen.
Aber irgendwo ist da noch das Gefühl der Enttäuschung oder Ernüchterung, dass dieser schöne Strand und die herrlichen, malerischen Sonnenuntergänge nicht von dieser hoch entwickelten Kriegstechnik verschont bleiben.
„Was für ein Unsinn! Da baust du dir in deinen Vorstellungen eine heile Welt, eine Insel der Glückseeligen und bist sauer, wenn du merkst, dass es sie nicht gibt. Eine geniale Art, sich selbst zu ‚ent’ - täuschen und sich fertig zu machen, weiter so“, rügt meine Stimme sofort. In Gedanken antworte ich trotzig:
„Ja, ja stimmt schon, aber trotzdem ist es schade!“ Ich mache mich auf in Richtung Georgios Taverne. Das Wegstück über den Strand ist kurz, vielleicht nur vierzig Meter.
Diese Strecke zu überwinden, kommt mir heute wie Schwerstarbeit vor. Ich fühle mich schlapp und müde, so als hätte ich den ganzen Tag Zementsäcke geschleppt. Ich stolpere, eine Sandale rutscht vom Fuß. Es braucht einige Zeit, bis ich sie, ohne meine Hände einzusetzen, wieder am Fuß habe. Mein Gang muss dem eines Betrunkenen ähneln.
Zur Taverne verläuft der Weg über eine betonierte, steile Auffahrt, die hauptsächlich dazu dient, Boote an den Strand zu transportieren. Sie verbindet den Strand mit der Straße, die vom Dorf in den Bergen kommt und vor der Taverne in eine gepflasterte Plattform mündet.
Am Fuß der Auffahrt befindet sich ein Wasserhahn mit einem kurzen grünen Schlauch. Ich drehe den Hahn auf und versuche, den Sand von Waden und Füßen zu spülen. Das gelingt nicht sofort. Erst, nachdem ich die Öffnung des Schlauchs etwas zudrücke und der Wasserstrahl mit größerer Geschwindigkeit austritt, lässt sich der restliche Sand entfernen. Nach diesem mühsamen Reinigungsprozess erwartet mich eine weitere Herausforderung: Es gilt, mit nassen Füßen, in glatten und offenen Gummisandalen, ohne aus diesen herauszurutschen oder zu stolpern, eine beachtliche Steigung zu überwinden. Es gelingt, ich erreiche die Plattform vor der Taverne unfallfrei.
Die Taverne ist ein - wie hier üblich - in gelblich-roter Farbe verputzter, zweistöckiger Bau mit flachem Ziegeldach und einem geräumigen, einstöckigen Vorbau. In der oberen Etage bildet dieser Vorbau eine große, offene Dachterrasse. Im rückwärtigen, überdachten Teil des Hauses liegen Gästezimmer, von denen ich eines bewohne.
Unter der Dachterrasse liegt der sogenannte kleine Gastraum, in dessen rückwärtigen Bereich, ein offener Durchgang zur Küche führt. Von der linken Seite des Gastraumes gelangt man durch eine Tür auf die große, verglaste Restaurantterrasse. Früher war sie kleiner und primitiver eingerichtet, aber keineswegs ungemütlich. Heute ist sie ‚touristisch voll erschlossen’: Ausgestattet mit einem festen Holzdach, einem mit hellen Steinplatten belegten Fußboden, einer umlaufenden Glasfront mit großen, verschiebbaren Fenstern, mit Plastikmöbeln, einer Musikanlage, einigen mehr oder minder gelungenen Dekorationsartikeln und einem großen Aquarium, in dem üblicherweise Krebse auf ihr Ende im Kochtopf warten. Zurzeit ist das Bassin unbewohnt, da die Wasserpumpe den Geist aufgegeben hat. Den ersten Stock der Taverne hat die Plastik-Ära noch nicht erreicht, hier ist die Zeit scheinbar stehen geblieben. Die Einrichtung der Gästezimmer besitzt noch den Charme der fünfziger Jahre. Zur Zimmerausstattung gehören der ein oder andere alte Tisch und jene typischen Stühle mit geflochtener Sitzfläche.
Spyros steht neben der Treppe zur Restaurantterrasse, grinst und ruft mir etwas auf Griechisch zu. Ich verstehe es nicht. Einmal, weil ich trotz häufiger Ferienaufenthalte nur wenig Griechisch gelernt habe, zum anderen, weil der Wind die Worte in die entgegengesetzte Richtung weht.
Wahrscheinlich ist es wieder eine seiner Schweinereien, die er mir beigebracht hat. Wenn ich sie gelegentlich anwende, schüttelt er sich vor Lachen.
Spyros ist achtundzwanzig Jahre alt, mittelgroß, kräftig gebaut mit einem ganz leichten Ansatz zum Bauch. Sein dunkles Haar zeigt vereinzelt graue Strähnen.
Er gehört zu den wenigen Menschen, die ich nie verstimmt, misslaunig oder aggressiv erlebt habe. Seine stetige Freundlichkeit, der Witz und die Ausgeglichenheit entstammen nicht einer professionellen Haltung seinen Gästen gegenüber, sondern seinem Naturell.
Hervorstechend sind seine großen und strahlenden, braunen Augen. Sie sind wie ein Markenzeichen der Familie. Spyros hat sie vom Vater Georgios geerbt, so wie seine Schwester Milia und Kosta, sein jüngerer Bruder.
Bei Spyros drücken sie immer einen Anflug von freundlicher Schlitzohrigkeit und Spott aus.
Bekleidet ist er wieder mit seinem olivgrünen T-Shirt und der dunkelblauen Hose, die am Sitz und an den Taschenrändern etwas abgewetzt glänzt. Die Füße stecken ohne Socken in schwarzen Mokassins.
Spyros’ ganze Haltung spiegelt Ruhe und Gelassenheit wider. Das Sonnenlicht verleiht seinem Gesicht jetzt einen bronzenen Farbton. Um in mein Zimmer zu gelangen, muss ich an ihm vorbei zum hinteren Teil der Taverne gehen. Dort führt eine Treppe in das erste Stockwerk. Ich wende meinen Blick von ihm ab, richte ihn auf den Boden und strecke meinen Arm ruckartig zu einem übertriebenen Gruß senkrecht nach oben. Ohne auf seine Reaktion zu warten, setze ich meinen Weg fort. Plötzlich, ohne mir über meinen Sinneswandel klar zu sein, halte ich ein, kehre um und gehe auf ihn zu.
Da wir uns schon früh am Tag begegnet sind, tippe ich ihm nur auf den Oberarm und murmele halblaut eine der Schweinereien, die ich von ihm gelernt habe. Er antwortet mit einer noch deftigeren. Damit erschöpft sich unsere Konversation. Ich setze mich auf die Stufen des Einganges. Sie sind von der Sonne aufgeheizt. Ihre Wärme ist angenehm und tut meinem Hinterteil gut. Es ist durch die nassen Shorts kalt geworden. Spyros bleibt weiterhin stehen. Beide schauen wir schweigend auf das Meer, in die untergehende Sonne, auf die felsige Küstenlinie der Insel und die bewaldeten Berge. Alles ist nun in ein weiches, warmes Licht getaucht, das Schatten und Konturen verstärkt. Dieses Panorama löst in mir intensive, schwer zu beschreibende Empfindungen aus. Es sind ineinander verwobene Gefühle von Freude, Ehrfurcht und Sehnsucht. Offensichtlich entstehen solche Empfindungen nicht nur bei mir, sondern auch bei demjenigen, der dieses Bild sein ganzes bisheriges Leben vor Augen hatte.
Denn nach einer Weile gemeinsamen Schweigens wendet Spyros seinen Kopf zu mir herab und sagt leise in ungewohntem Ernst: „Ist das nicht wunderschön?“
* * *
Eine gute halbe Stunde später sitze ich geduscht und umgezogen auf der Restaurantterrasse an meinem Stammtisch – es ist der Eckplatz direkt an der Fensterfront. Zuvor habe ich noch einen Tisch an den meinen gerückt, um Platz für die sieben Personen zu schaffen, die ich erwarte.
Die Sonne ist seit einiger Zeit hinter dem Dunstband am Horizont verschwunden; es ist jetzt sehr viel dunkler. Dort aber, wo die Sonne untergegangen ist, glüht es noch tiefrot nach.
Ich beobachte eine Weile die Fledermäuse, wie sie im Dämmerlicht mit ihrem vieleckigen, schnellen Flug Insekten jagen. An einem großen Tisch schräg neben mir sitzen Griechen vom Festland. Sie verbringen hier ihren Urlaub. Es sind sechs Personen. Ein Elternpaar mit zwei Kindern und zwei älteren, in traditioneller schwarzer Witwentracht gekleideten Frauen. Die Ähnlichkeit der Frauen untereinander und mit dem Familienvater lässt vermuten, dass es sich um Schwestern, also um Mutter und Tante des Vaters, handelt. Die Kinder bilden ein sehr ungleiches Paar.
Die Tochter ist ein schlankes, sehr hübsches, etwa sechzehnjähriges Mädchen, mit großen dunklen Augen und langem, schwarzem Haar. Der Sohn, etwa neunjährig, ist stark übergewichtig. Sein kreisrundes, etwas dümmlich wirkendes Gesicht und das kurz geschorene Haar erwecken den Eindruck eines Häftlings.
Eine ähnliche Kopfform und Frisur besitzt auch der Vater. Dessen Haare sind jedoch um einiges länger und bilden einen militärischen Igelschnitt. Er wirkt freundlich, in sich ruhend und lebenslustig. Die Mutter dagegen verhärmt, gequält und rastlos. Ihre unruhigen kleinen Augen wieseln ständig hin und her und sind wie ihr Mundwerk ununterbrochen in Bewegung. Das blond gefärbte Haar ist nachgewachsen, die Haaransätze treten in ihrer natürlichen, dunklen Farbe hervor. Es sind nicht nur die Haare, die auf geringe Gepflegtheit hindeuten. Alles in allem wirkt sie wie eine Frau, die begonnen hat, sich aufzugeben. Mir kommt das Lied von Charles Aznavour in den Sinn: ‚Du lässt dich gehen.’
Die beiden älteren Frauen sind ausschließlich auf den fetten Jungen konzentriert, reden fortwährend auf ihn ein, lachen, streichen ihm über den Kopf, wischen ihm den Mund ab, reiben Flecken von Hemd und Hose und necken ihn. Sie spielen ein Fütterungsspiel wie mit einem Haustier: Abwechselnd bieten sie kleine Häppchen Honigjoghurt an, die sie ihm auf einem Löffel dicht vor den Mund halten. Er versucht, danach zu schnappen, bevor der Löffel weggezogen wird. Wenn er die Leckerei ergattert, erhält er lauten Beifall, verfehlt er sie, wird er bedauert. Die Szene ist bizarr und abstoßend. Der dicke Junge tut mir leid.
Obwohl das Spiel von Großmutter und Tante auf den ersten Blick liebevoll gemeint sein mag, entsteht dennoch in mir das Bild zweier Krähen, die laut krächzend um ihre Beute tänzeln und sie mit schnellen Schnabelhieben traktieren. Ich beschließe, diese Familie die ‚Krähenfamilie’ zu nennen.
Die Tochter hat sich von alledem mithilfe ihres Walkmans abgeschirmt und schaut verträumt in Richtung Meer. Den Rücken halb zum Tisch und halb zu einer der schwarzen Frauen gedreht, ruht ihr rechter Arm auf der Rückenlehne des Plastiksessels. Auf diesen Arm hat sie ihr Kinn gebettet. Mit der Hand klopft sie rhythmisch auf die Lehne, zu nur für sie hörbarer Musik. Diese demonstrative Abwendung vom familiären Geschehen und die laszive, hin gegossene Haltung erscheinen mir wie eine aggressive und erotische Provokation. Ihre Herausforderung bleibt nicht ohne Wirkung, auch hier wechseln sich die schwarzen Frauen ab, allerdings mit Ermahnungen. Ich bin sicher, es sind Aufforderungen, sich ordentlich hinzusetzen. Von der neben ihr sitzenden schwarzen Frau erhält sie sogar einen Klaps auf den Rücken. Das Mädchen schreckt empört hoch, faucht wie eine Katze und begibt sich sofort wieder in ihre alte Pose. Nichts führt bei ihr zu einem ‚Haltungswechsel’.
Auf mich wirken diese Maßregelungen kraftlos. Sie werden ohne Engagement vorgetragen, sind eher pädagogische Pflichtübungen. Wahrscheinlich ist man sich längst über deren Wirkungslosigkeit im Klaren.
Die Mutter beachtet die Mästung ihres Sohnes nicht. Sie hat ihn wohl bereits an die beiden Alten verloren. Während der ganzen Zeit redet sie ununterbrochen.
Es ist für mich nicht auszumachen, an wen sie sich mit ihrem Redefluss wendet; sie schaut beim Sprechen niemanden an. Das löst in mir eine merkwürdige Vorstellung aus: Anstelle der Worte kommen nun Rauchwolken aus ihrem Mund, sodass die Personen um sie herum, langsam von diesen Schwaden eingehüllt werden. Möglicherweise ist es ihre Methode, mithilfe des eigenen Wortschwalls Abstand zu den anderen zu halten, sie zu benebeln, oder sich selbst dahinter zu verstecken und zu verschanzen.
Hin und wieder reagiert der Vater mit ein paar flüchtigen Worten oder einem sparsamen Kopfnicken auf seine Ehefrau. Es wirkt automatisch und sehr routiniert. Er hat vieles um sich herum ausgeblendet. Seine Aufmerksamkeit gilt vor allem seinem Fischgericht, das er in einem nahezu feierlichen Akt zelebriert. Mit der Präzision und Sorgfalt eines Chirurgen schneidet er den Fisch auf, entfernt geschickt die Hauptgräte und legt diese auf einen dafür vorgesehenen Teller. Einige der noch vorhandenen Gräten zupft er mit den Fingern sorgsam aus dem Fleisch und platziert sie ordentlich auf den Rand des Grätentellers. Nun trennt er mit der Gabel ein Stück Fisch ab und führt es langsam zum Mund. Ehe er zu kauen beginnt, scheint er den Bissen zunächst abzulutschen. Diese Mundbewegungen erinnern mich an Weinkenner bei der Verkostung. Sein Gesicht nimmt einen zufriedenen Ausdruck an, gleichzeitig ruft es lautlos den anderen zu: „Lasst mich ja in Ruhe, ich genieße.“
Nach dem er einen Bissen bedächtig gekaut und heruntergeschluckt hat, angelt er sich mit der Gabel ein Stück Kartoffel und ein paar Bohnen, die er bedächtig verzehrt. Schließlich nimmt er ein Stück Brot, und nach einigen langsamen Kaubewegungen spült er dieses mit einem Schluck Rotwein herunter.
Ich bewundere ihn. Es ist mir ein Rätsel, wie jemand sein Essen genießen kann, umgeben vom ständigen Wortschwall der Ehefrau, dem lauten Schnattern der älteren Frauen und dem Quieken des Sohnes.
Mein Blick fällt nun auf das junge Paar, in der Nähe des Eingangs. Es sind Franzosen. Ihr Motorrad hat ein französisches Nummernschild, außerdem sind ein paar Gesprächsfragmente zu mir herübergeweht. Auf ihrer Tour über die Insel werden sie hier übernachten, denn Helme und Satteltaschen liegen bereits am Fuß der Treppe zu den Gästezimmern.
Sie ist sehr schlank, keine Schönheit im üblichen Sinn, rötlicher Teint mit unzähligen Sommersprossen. Ein Rotschopf mit langem, vollem Haar, das vom Motorradhelm teilweise zu Strähnen verklebt, teilweise vom Wind aufgeplustert und so zu einer witzigen Clownsfrisur wurde. Auf den ersten Blick wirkt sie ernst und nachdenklich - in sich gekehrt, vielleicht sogar ein wenig spröde. Wenn sie jedoch mit ihrem Partner oder einer anderen Person spricht, strahlt ihr Gesicht unbändige Vitalität aus. Die großen hellen Augen lassen Klugheit und Witz erkennen.
Er ist mittelgroß, schlank, durchtrainiert und dunkelhaarig. Wahrscheinlich stammt er aus dem Süden Frankreichs. Er hat ein markantes Gesicht mit einer großen schmalen Nase. Auffallend sind seine feingliedrigen Hände. Die randlose Brille gibt ihm das Aussehen eines jungen Pfarrers oder Hochschullehrers. Von ihm gehen Ruhe und Ernsthaftigkeit aus.
Beide sprechen gedämpft miteinander und sehen sich dabei in die Augen. Sie warten auf ihr Essen. Vor sich haben sie halbgefüllte Biergläser. Auf ihrem Tisch liegen diverse Landkarten. Für Studenten sind sie mit ihren dreißig bis fünfunddreißig Jahren zu alt. Ich vermute, sie könnten Musiker oder Lehrer sein. Sollten sie länger bleiben, werde ich das herausfinden.
* * *
Ein großer Nachtfalter hat sich verirrt und fliegt pausenlos gegen die Fensterscheibe neben mir. Sein Ziel könnte der Lichtkegel der Laterne draußen am Ende der Straße sein. Als ich das Fenster aufschiebe, um das Tier zu befreien, faucht der Wind in den Raum, fährt in die Haare und Kleidung, wirbelt Papierservietten durch die Luft und zerrt an den Papiertischdecken.
Alle im Raum schrecken auf. Sogar die Mutter der Krähenfamilie verstummt für einen Moment. Die schwarzen Frauen und das französische Paar richten fragende und vorwurfsvolle Blicke auf mich. Mir ist, als würden Kanonenrohre auf mich zielen. Nur die Tochter lächelt mir freundlich zu. Sie hat den Kampf des Insekts beobachtet.
Ich hatte weder diesen heftigen Windstoß noch so viel Aufmerksamkeit erwartet. Ein wenig verlegen gebe ich mimisch zu verstehen, dass ich das Fenster gleich wieder schließen werde. Meine Rettungsaktion gestaltet sich jedoch etwas schwierig: Das erschöpfte Tier, festgekrallt zwischen Rahmen und Scheibe, macht keine Anstalten, durch den offenen Spalt zu entkommen. Erst ein kleiner Schubs ermöglicht ihm die Flucht. Ich schließe das Fenster, und es kehrt Ruhe ein. Wieder schenkt mir die Tochter ein Lächeln. Diesmal liegen darin Zufriedenheit und Anerkennung. Ist sie ein wenig neidisch auf das Entkommen des Falters?
Nach meiner Befreiungsaktion weiß ich nicht so genau, was ich tun soll. Meine ‚Gäste’ sind längst überfällig. Bierflasche und Glas sind leer. Hab’ wohl zu schnell getrunken, um die Wartezeit zu überbrücken.
Ich hasse das Warten, leide darunter. Ich kann nichts Vernünftiges tun, weil es unsinnig ist, etwas anzufangen, um es dann gleich wieder abbrechen zu müssen.
Als ich noch geraucht habe, wurde ich beim Warten zum Kettenraucher. In der ersten Phase meiner Tabakentwöhnung war es genau diese Übergangssituation, deren Verlockungen zu widerstehen und deren Peinigung zu ertragen, den größten Willenseinsatz von mir forderte.
Jetzt, nach vier Jahren, bin ich stolz, keine einzige Zigarette geraucht zu haben. Ich glaube, ich habe es endgültig geschafft. Geholfen hat mir dabei übrigens ein Prinzip der Anonymen Alkoholiker, an das ich mich angelehnt habe: „Heute werde ich nicht rauchen. Morgen entscheide ich neu.“ Trippelschritte der Abstinenz von Tag zu Tag lassen die Sehnsucht nach einer Zigarette erträglicher erscheinen. Damals gab es eine Reihe von Gründen, mich der Herausforderung des Nicht-Rauchens zu stellen: Da war einmal meine Luftknappheit. Mein Atem ging einher mit Pfeiftönen unterschiedlicher Tonhöhe und einer Lautstärke, die mich beinahe am Einschlafen hinderte. Zum anderen fühlte ich mich immer mehr geächtet. Als Angehöriger des schrumpfenden Häufchens der Abhängigen musste ich immer öfter Nichtraucher demütig um deren Entgegenkommen bitten, eine Zigarette rauchen zu dürfen oder eine Raucherpause zu akzeptieren. Ich wurde auf bestimmte Räume - meist auf kalte und zugige Raucherecken oder Balkone verwiesen - oder auf bestimmte Zeiten verpflichtet. Das kränkte.
Das Rauchen degenerierte dadurch zu einer eiligen, körperlichen Verrichtung, von Genuss, Entspannung oder Gemeinschaftsgefühl keine Spur.
Hinzu kamen die elementaren Erfahrungen von Abhängigkeit, der Zwang, ständig zu prüfen, ob noch genug Zigaretten zur Verfügung stehen. Wahrscheinlich können nur Suchtgenossen die Panik nachvollziehen, die mich packte, wenn ich spät abends feststellen musste, dass die morgendliche Frühstückszigarette ausfallen würde. Ich hatte die letzte Notreserve gedankenlos aufgeraucht, kein Münzgeld für den Automaten und keine Wechselmöglichkeit, die einzige Gaststätte mit Zigarettenautomat und die Tankstelle weit weg, möglicherweise geschlossen.
Aber neben diesen oder ähnlichen Diskriminierungs- und Abhängigkeitserlebnissen galten für mich auch die hinlänglich bekannten Vernunftgründe gegen das Rauchen sowie ein unverschämter Preisanstieg für Tabakwaren.
Schließlich kam noch eine weitere ermutigende Überlegung hinzu: Als Heranwachsender habe ich mit dem Rauchen deshalb begonnen, weil ich zeigen wollte, dass ich schon ein ganzer Kerl bin. Warum sollte ich als Erwachsener nicht aus demselben Grund damit aufhören?
Meine Gedanken kehren wieder in die Gegenwart zurück, und ich betrachte mich in meiner momentanen Situation. Da sitze ich nun eine geraume Zeit allein an einer von mir arrangierten Tischformation, langweile mich, trinke lustlos Bier und komme mir allmählich für dumm verkauft vor. Habe unter lautem Scharren von Tischbeinplastik auf Steinfußboden die Tische zu einer längeren Tafel zusammen geschoben, damit ein größeres gastliches Ereignis angekündigt und gleichzeitig die Anzahl der beliebtesten Plätze direkt an der Fensterfront vermindert. Und was passiert nun? Nichts!
Ich schaue mir das durch die Augen eines Außenstehenden an und denke: „Traurig, wie lange der alte Knabe da so herumsitzt, hat sich bemüht, aber alle haben ihn versetzt, er will’s nur noch nicht glauben.“
Mich selbst so zu sehen, macht mich ärgerlich. Habe ich das eigentlich nötig? Ohne diese dämliche Verabredung, die ich unbedacht mit den Worten vorgeschlagen habe, „Na, dann lasst uns doch morgen Abend zusammen etwas essen, bringt die anderen mit, wenn sie Lust haben“, hätte ich längst mein Essen bestellt. Haben sie die Verabredung für zwanzig Uhr vergessen? Ich beschließe trotzig und hungrig, nur mit einer Portion Ärger im Magen, jetzt mein Essen zu bestellen.
Man kann nach der Karte auswählen. Seit einigen Jahren gibt es eine umfangreiche, mehrseitige Speisenkarte in griechischer, englischer und deutscher Sprache. Das Deutsch ist etwas fehlerhaft. Ich hatte mich mal erboten, es zu korrigieren. Mein Angebot wurde zwar dankend angenommen, geriet aber in Vergessenheit.
Statt der Bestellung à la carte bevorzuge ich es - wie in Griechenland üblich - meine Mahlzeiten mit allen Zutaten in der Küche selbst zusammenzustellen. Genau das habe ich jetzt vor.
* * *
Auf meinem Weg zur Küche muss ich am Tisch der Krähenfamilie vorbei. Das Mädchen beobachtet mich, und unsere Blicke treffen sich. Es beginnt ein kurzer, wortloser Dialog. Ich schaue sie mitleidig an und verziehe den Mund bedauernd, um ihr zu bedeuten, dass sie mir in ihrer misslichen Situation leidtut.
Sie versteht meine Mitteilung spontan und antwortet, indem sie die Augen nach oben rollt, den Mund verzieht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen und hilflos mit den Schultern zuckt. Ich übersetze das als: „Ja, es ist grauenhaft, aber was soll’s, ich kann nichts ausrichten.“
Ich widerspreche mit einem ermunternden Lächeln, einer dicht am Körper gehalten, energisch geballten Faust und sage ihr damit: „Ach was, das bekommst du schon geregelt.“
Offenbar freut sie sich über meine Zuversicht und Ermutigung, schüttelt aber zweifelnd den Kopf. Mit einer wegwerfenden Handbewegung weise ich ihre Bedenken zurück, schaue sie halb herausfordernd, halb ungläubig an und beende unsere Zwiesprache mit der Botschaft: „Unsinn, natürlich packst du das.“ Dann bin ich an ihr vorbei.
In der Küche herrscht rege Betriebsamkeit. Der Koch - ein weitläufiger Verwandter von Georgios aus Athen - hantiert mit Töpfen und Pfannen. Er arbeitet hier in der Saison und hat in den letzten Jahren die Vielfalt und Qualität der Angebote professionell erhöht und damit auch die Preise. Früher kochte Mutter Georgina solide griechische Küche ohne Schnörkel. Heute am Sonnabend erwartet man mehr Gäste als sonst. Deshalb helfen Georgina und die Großmutter. Spyros ist an der Friteuse beschäftigt. Alle wirken gelassen, sprechen und lachen miteinander. Man begrüßt mich mit dem obligatorischen:
„Guten Abend, wie geht es dir?“ Und ich antworte darauf mit der Standardformel, dass es mir sehr gut geht. Man darf nicht sagen, es würde einem nicht oder nur halbwegs gut gehen, damit bringt man alles durcheinander. Es muss dann zwangsläufig gefragt werden, wieso und warum. Das dauert lange und ist kompliziert, besonders dann, wenn das Griechisch so mager ist, wie das meine.
Spyros unterbricht sein Tun und fragt, was ich essen möchte. Ich antworte wahrheitsgemäß, dass ich das noch nicht weiß. Daraufhin wischt er mit einem Lappen die von innen beschlagene Frontscheibe der Vitrine ab. Es werden verschiedene Gemüsegerichte, Fleischbällchen, Pastizio und Mussaka auf Küchenblechen sichtbar. Ich kann mich für keines dieser Angebote so recht erwärmen. Mir fällt das Abendessen des Vaters der Krähenfamilie ein, und ich frage, ob er einen schönen Fisch für mich hat. Daraufhin zieht Spyros eine Schublade des Gefrierschrankes auf, in der Fische verschiedener Art und Größe auf Eis lagern. Einen davon nimmt er heraus und zeigt ihn mir. Es ist eine mittelgroße Brasse, mehr als ausreichend für eine Einmannportion. Ich nicke, und Spyros legt den Fisch auf die Waage. Aus der Vitrine wähle ich noch verschiedene Beilagen. Es fehlt nur noch etwas zu trinken. Dazu gehe ich in den kleinen Gastraum nebenan.
Fast an jedem Wochenende treffe ich dort Milia hinter einem alten, dunkelbraunen Schreibtisch, auf dem eine Registrierkasse und ein Telefon stehen.
Sie ist die um ein Jahr jüngere Schwester von Spyros. Wenn sie aus der Stadt mit ihrer Tochter Maria die Familie besuchen kommt, hilft sie am Abend im Restaurant bei der Abrechnung. Sie nimmt dann wieder den Platz ein, den sie vor ihrer Heirat im Familienbetrieb innehatte.
Milia ist eine herbe Schönheit, durchaus fraulich, mit den aus-
drucksvollen, dunklen Augen des Vaters, einer tiefen Stimme und langem dunklem Haar, das sie meist straff nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden trägt. Damit betont sie den Zug zur Strenge. Sie empfängt mich mit einem herzlichen Lächeln, als ich den kleinen Gastraum betrete. Seit ich angekommen bin, haben wir uns noch nicht gesehen. Sie steht auf, kommt auf mich zu, wir umarmen uns, und unsere Wangen berühren sich links und rechts zu einer freundschaftlichen Begrüßung. Ich merke, dass sie sich etwas versteift und sich schnell von mir löst.
Meine Frage, wie es ihr und Maria geht, kommt der ihren zuvor, und so erhalte ich prompt die Standardantwort: „Danke, sehr gut“. Ich beeile mich, ihr zu versichern, dass es mir ebenfalls sehr gut geht, aber ganz besonders, wenn ich sie sehe. Trotz der plumpen Schlichtheit meines Kompliments erkenne ich so etwas wie Verlegenheit in ihrem Gesicht.
Milia spricht verständliches Englisch, und wir unterhalten uns eine Zeitlang über ihr Kind, ihren Mann und das Geschäft in der Stadt. Dann berichte ich, dass Tochter Janina heiraten wird, Sohn Stephan eine interessante Arbeit gefunden hat, dass Freund Evangelos mit seiner Familie im Herbst hierher kommen wird, dass Katze Pauline nun auch die restlichen Tapeten zerkratzt hat, dass meine Anwaltskanzlei in Berlin jetzt ganz gut läuft, und ich einen jungen Rechtsanwalt eingestellt habe. Das Klingeln des Telefons unterbricht unser Gespräch, eine gute Gelegenheit, zurück an meinem Tisch zu gehen. Vorher entnehme ich dem Kühlschrank eine Flasche Mythos und ein Bierglas aus dem Regal darüber. Mythos schmeckt mir gut. Es ist das einzige griechische Bier, das hier zu haben ist, und stellt eine angenehme Abwechslung gegenüber den sonst üblichen holländischen Marken dar. Ich zeige Milia beim Herausgehen die Flasche. Sie spricht mit dem Anrufer in einem schnellen, lauten griechischen Stakkato. Ich kann nach den vielen Jahren immer noch nicht einschätzen, ob sie mit dem anderen schimpft, streitet, oder ob es sich um das normale Sprechtempo beim Telefonieren handelt. Sie nickt mir zu und notiert etwas auf einem Zettel vor ihr.
* * *
Als ich die Restaurantterrasse wieder betrete, sind das erste Paar, Anna und Klaus mit ihrem achtzehnjährigen Sohn Michael, eingetroffen. Anna ist eine attraktive Frau, vermutlich knapp über die Vierzig, mit aschblondem Haar, einem aparten, klugen Gesicht, ausdrucksvollen Augen und einem schönen Mund. Ihre schlanke Gestalt ist harmonisch proportioniert. Sie hat sich sehr herausgeputzt, was ihre Attraktivität in meinen Augen eher mindert. Ich empfinde ihre Kleidung für die hiesige Umgebung zu mondän, Sprechweise und Bewegungen wollen wohl den Eindruck von Exklusivität und Unnahbarkeit vermitteln.
Ich stelle mir vor, dass sie in einem Mehrsterne-Hotel mit Swimmingpool, Cocktailbar, ein vom Gewicht der Speisen durchgebogenem Büfett, modisch gekleideten, vornehmen Gästen, feiner Restaurantetikette und diskret dahinrauschenden Kellnern besser aufgehoben wäre, als in dieser rustikalen Taverne.
Dieser Habitus einer Grande Dame wirkt aufgesetzt und löst Abwehr und Abstand in mir aus. Es war ihr Bild, das vorhin am Strand vor meinem geistigen Auge auftauchte, und das ich erschreckt wieder verscheucht habe.
Im Vergleich zu ihrem Mann Klaus wirkt sie aktiver, zielstrebiger und entschlossener. Er ist etwa fünfzig Jahre alt, etwa so groß wie Anna, kräftig gebaut, runder Kopf, sehr helle, etwas starr wirkende Augen. Das noch verbliebene Haupthaar ist sorgfältig von der rechten zur linken Seite des Haarkranzes gekämmt, kann aber den breiten Mittelscheitel nicht mehr verbergen. Klaus wirkt sympathisch, ruhig, ausgeglichen, ein wenig versonnen. Wenn er spricht, klingt sächsischer Dialekt an. Die Familie stammt aus der ehemaligen DDR und lebt jetzt in Berlin.
Ihr Sohn Michael ist ein hübscher, groß gewachsener Bursche, mit den breiten Schultern eines amerikanischen Footballspielers, kurzem blonden Haar, die Augen vom Vater, sonst aber der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Er ist aufgeschlossen und selbstbewusst, was ihn älter und reifer wirken lässt. Die drei Ankömmlinge stehen ein wenig unschlüssig vor den Tischen, die ich zusammengestellt habe. Sie sind sich nicht sicher, ob diese Plätze für sie reserviert sind. Ich bemerke bei ihnen eine gewisse Erleichterung, als sie mich aus dem kleinen Gastraum kommen sehen. Anna murmelt eine Entschuldigung, so spät dran zu sein. Die gerade begonnene Begrüßung findet eine geräuschvolle Fortsetzung, denn jetzt trifft das Düsseldorfer Paar ein – Gabi und Günter. Auch sie entschuldigen sich, dass irgendetwas länger gedauert habe, ohne zu erklären, was es genau war.
Gabi tritt wie ein Filmstar auf, der seine üppigen körperlichen Reize bewusst und betont zur Geltung bringt. Das hübsche, kindlich-puppenhafte Gesicht ist sorgfältig geschminkt und wirkt dadurch maskenhaft. Ihr kurz geschnittenes, platinblond gefärbtes Haar ist wild und frech in alle Richtungen frisiert. Insgesamt macht sie auf mich den Eindruck eines verwöhnten Mädchens, das mit allem unzufrieden ist und ständig schmollt. Verstärkt wird dieser Effekt durch den gequetschten und nörglerischen Tonfall ihrer Stimme.
Günter repräsentiert das Klischee des Intellektuellen. Knapp zwei Meter groß, schlank, etwas gebeugte Gestalt, schmaler Kopf, schütteres, graumeliertes Haar, randlose Brille mit starken Gläsern. Er sieht sehr viel älter aus, ist sehr zurückhaltend, vielleicht sogar gehemmt. Vermutlich benötigt er eine längere Auftauphase, um Kontakt zu anderen zu finden. Beide erinnern mich an Arthur Miller und Marilyn Monroe, nur um ein paar Nummern kleiner.
Die Plätze werden eingenommen. Dabei gibt es eine kurze Rangelei zwischen Anna und ihrem Sohn um den Platz neben
mir. Michael ist erfolgreich und wird so mein Sitznachbar. Seine Mutter setzt sich neben ihn. Ich bin erleichtert, denn sie hat ein schweres, süßliches Parfüm aufgelegt, das bei mir einen kurzen Anflug von Übelkeit ausgelöst hat.
Alle, auch das noch fehlende Paar, Karin und Wolfgang, sind das erste Mal auf der Insel. Sie wohnen im Hotel. Man hat sich in den bisherigen Urlaubstagen miteinander bekannt gemacht. Als erfahrener Inselbesucher scheine ich in diesem Kreis willkommen zu sein.
Es naht der kleine Spyros mit den Speisenkarten. Er ist ein hübscher und freundlicher, sechzehnjähriger Junge aus dem Dorf, besucht das Gymnasium und bedient in seinen Schulferien hier die Gäste.
Er begrüßt uns unbefangen mit einem strahlenden Lächeln, verteilt die Karten und fragt nach den Getränkewünschen. Er schreibt nicht auf, was man ihm sagt. Wenn alle ihre Wünsche geäußert haben, wiederholt er die einzelnen Bestellungen und lässt sich deren Richtigkeit bestätigen. Mir und anderen ist aufgefallen, dass er bei der Wiederholung der Wünsche noch nie etwas vergessen oder verwechselt hat. Wenn er wenig später die Getränke an den Tisch bringt, ist nichts zu beanstanden. So korrekt wie sein Service ist auch seine Abrechnung. Es ist aber nicht nur diese Gedächtnis- oder Konzentrationsleistung, die mich beeindruckt, vielmehr ist es die Art, wie dieser junge Mann mit uns älteren Gästen umgeht. Da ist nicht die Spur von Hemmung, Unsicherheit oder gar servilem Kellnerverhalten. Er begegnet uns unkompliziert, selbstsicher, authentisch und keinesfalls respektlos. Diese Souveränität und Unbefangenheit hat er gemeinsam mit vielen anderen jungen Griechen.
Ich vergleiche, wie ich mich in diesem Alter verhalten habe. Dazwischen liegen Welten. Aber auch bei jungen Leuten in meinem Umfeld treffe ich diese Form von Selbstsicherheit eher selten an. Ich bin davon überzeugt, dass wir in unseren Breiten im Umgang miteinander irgendetwas falsch machen und würde gern wissen, woher diese ‚Leichtigkeit des Seins’ stammt. Ist es die Erziehung, betrifft es nur männliche Personen? Gehören diese zu einer privilegierten Personengruppe? Oder entsteht dieser Eindruck lediglich, weil ich die Sprache nicht beherrsche und deshalb entscheidende Nuancen in Wortbedeutung und Betonung nicht mitbekomme?
Während die Getränkewünsche abgefragt werden, betritt das dritte Paar - Karin und Wolfgang - die Restaurantterrasse. Karin ist etwa Anfang vierzig, besitzt dunkles, sehr fein gelocktes Haar, das sie unvorteilhaft und altmodisch frisiert hat, ähnlich der Haartracht eines Königspudels. Sie erscheint mit dieser Frisur ein wenig dümmlich und altbacken und kommt mir ziemlich still und gehemmt vor. Ihrem Mann Wolfgang
begegnet sie ängstlich, fast unterwürfig. Wolfgang ist um einen halben Kopf kleiner als Karin, ein gut aussehender Endvierziger südländischen Typs, drahtig, durchtrainiert und sehr gepflegt. Er macht einen schneidigen Eindruck. Sein markantes, scharf geschnittenes Gesicht und sein schmallippiger Mund verleihen ihm einem harten, entschlossenen Zug. Frisur und Haltung erinnern an einen Torero. Am Strand habe ich beobachtet, dass er, ähnlich wie Gabi, fast zwanghaft auf sein Äußeres bedacht ist. Es ist hauptsächlich die Frisur, die er ständig kontrolliert. Bewegung und Sprache sind wichtigtuerisch und manchmal affektiert. Karin und Wolfgang leben in Frankfurt/Main. Wolfgang entschuldigt sich für die Verspätung mit einer für mich unverständlichen Erklärung.
Der kleine Spyros bezieht die beiden wie selbstverständlich in die Getränkeabfrage mit ein, wiederholt alle Wünsche und macht sich auf den Weg zur Küche.
* * *
Nun beginnt das, was man als geselliges Beisammensein bezeichnet. Es wird eingeleitet durch ein stilles, konzentriertes Studium der Speisenkarten - ein eher ungeselliger Vorgang. Man verschafft sich einen Überblick über die vorhandenen Angebote. Gelegentlich wird gefragt, ob man weiß, was man bestellen will. Erste Eingrenzungen und Grundentscheidungen werden getroffen, beispielsweise es heute mal mit Fleisch zu probieren, da gestern bereits Fisch an der Reihe war.
Die Auswahl des eigentlichen Gerichts nimmt die meiste Zeit in Anspruch. Es bedarf der Bewertungen nach Portionsgröße, Bekömmlichkeit, Gewürz u. ä.
Es ist die Stunde des Orts- und Küchenkundigen, und so befragt man mich ausgiebig. Ich beantworte die Fragen so gut ich kann, wiederhole gebetsmühlenartig mit wachsender Ungeduld, dass man das jeweilige Gericht doch einfach probieren möge.
Da ich nicht in die Karte schaue, ist die Frage unausweichlich, ob ich schon gewählt habe oder gar nichts essen wollte. Ich erkläre, mein Essen bereits bestellt zu haben. Unverständnis auf einigen Gesichtern, sodass ich es mir nicht verkneifen kann, an das allgemein verspätete Erscheinen zu erinnern. Auf diese Bemerkung geht man nicht ein, will aber alles über mein Gericht wissen.
Sohn Michaels Wahl ist klar, ohne dass er einen Blick auf die Karte geworfen hat. Auf die Frage seines Vaters antwortet er, dass er sich für Spagetti Bolognese entschieden habe. Kopfschütteln. Ob er nicht einmal etwas Anderes aussuchen möchte? Nein, ihm schmecke das eben gut. Die Mutter hält sich aus diesem Disput heraus.
Auch Karin beteiligt sich nicht an der Auswahldiskussion. Sie blickt unverwandt und wortlos in die Karte, liest darin wie in einem Roman. Mit einer Hand nestelt sie unablässig an einem Taschentuch herum.
„Schau mal hier, wie wär’s damit?“ Wolfgang hält ihr zum wiederholten Male die Karte vors Gesicht, viel zu dicht, als dass sie darin lesen könnte. Eine Hand umfasst die Karte wie eine Klammer, Mittel- und Zeigefinger auf der Innenseite sorgen dafür, dass die betreffenden Seiten auseinandergeklappt bleiben. Mit dem gestreckten Zeigefinger der anderen Hand weist er auf den entsprechenden Eintrag hin. Diese Geste wirkt auf mich nicht unterstützend, sondern bedrohlich. Sie erinnert mich an Szenen in Kriminalfilmen, wo Polizeibeamte einem Übeltäter den Haftbefehl vor die Nase halten. Karin schreckt jedes Mal hoch, beugt Oberkörper und Kopf ein Stück zurück, um erkennen zu können, was ihr gezeigt wird. Sie blättert nun folgsam in der eigenen Karte, bis die entsprechende Seite gefunden ist. Ohne etwas zu antworten, verfällt sie erneut in stilles Brüten.
Der gemeinsame Abend beginnt mühselig und verkrampft.
Wahrscheinlich ist es die Fremdheit der Parteien und die Spannung innerhalb der Paare, die eine lockere Stimmung nicht zustande kommen lassen.
Zwar gehen ein paar Spötteleien über Körpergewicht und Diätabsichten zwischen den Partnern hin und her, werden aber, wenn von den anderen überhaupt wahrgenommen, nur höflich belacht. Man weiß nicht, was man miteinander anfangen kann. Eigentlich kann es nur besser werden. Meine Stimme fragt:
„Wieso wunderst du dich darüber? Du hast doch eigentlich keine Lust auf diese Gesellschaft. Warum soll es den anderen anders ergehen? Deren Verspätung ist doch auch nicht ganz zufällig.“
Spyros bringt die Getränke. Sie sind vollständig, und er ordnet sie den Personen richtig zu. Ein großes Lob für den kleinen Spyros.
Nun nimmt er die Bestellungen für die Speisen entgegen. Das sollte eigentlich zügig gehen. Weit gefehlt! Alle bestellen, nur Karin tanzt aus der Reihe. Sie ist diejenige, die sich trotz Wolfgangs ‚Vorhaltungen’ noch immer nicht entscheiden kann. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Aus dem Prozess, ein Gericht auszuwählen, scheint nun ein Gerichtsprozess zu werden. Wolfgang verhält sich wie ein Anwalt, der längst von der Schuld seiner Mandantin überzeugt ist und sie zu einem strafmildernden Geständnis bewegen möchte. Er gibt sich den Anschein von Fürsorglichkeit, blättert mit ihr gemeinsam in der Karte und redet leise auf sie ein, aber die zunehmend drängende Schärfe seiner Stimme ist nicht zu überhören. In Karins beharrlicher Sprachlosigkeit und ihrem unverwandten Starren auf die Karte meine ich, Angst und Panik zu erkennen. Ich spüre, wie es in Wolfgang gärt. Es ist sicher nicht das erste Mal, dass Karin solche Unentschlossenheit zeigt.
Mit seinen Hinweisen will er sie wohl rechtzeitig mit der Nase auf Möglichkeiten stoßen, damit sie uns andere mit ihrer Zögerlichkeit nicht nervt. Wolfgang hat Mühe, seine Verärgerung unter Kontrolle zu bringen.
Am Tisch wächst die Spannung. Obwohl ich bereits bestellt habe, macht Karins Verhalten nun auch mich kribbelig.
Schließlich, als sie immer noch keine Entscheidung getroffen
hat, zischt Wolfgang sie zornig an:
„Ach, mach doch, was du willst!“, und wendet sich demonstrativ von ihr ab.
Ich schmunzele innerlich über diese tragische Paradoxie, denn er fordert genau das von ihr, was sie nicht kann. Sie weiß eben nicht, was sie will und tut deshalb auch nichts. Es folgt ein bedrückendes, scheinbar endloses Schweigen. Erst langsam kommen Gespräche in Gang, die mit munterer Arglosigkeit und belanglosen Inhalten die unbehagliche Situation überspielen sollen. In diese beginnende Entspannung hinein sagt Karin unsicher und leise, dass sie das Gleiche essen möchte, was ihr Mann bestellt hat. Sofort herrscht wieder Stille am Tisch, diesmal ist darin Erleichterung zu spüren.
Spyros fragt Karin direkt, ob sie also eine Portion Gyros wünscht, so wie ihr Mann sie bestellt hat. Spyros scheint klar zu sein, dass Karin bis dahin nicht wusste, was Wolfgang gewählt hat. Die schaut ihn unsicher an, zögert einen Moment, um dann schließlich ergeben zu nicken. Spyros schenkt Karin ein freundliches und anerkennendes Lächeln.
Wolfgang dagegen tritt noch einmal kräftig nach, sagt herablassend und gehässig: „Na, das hättest du ja auch gleich haben können!“
* * *
Meine Gedanken kreisen um das eben Erlebte. Das war kein banales eheliches Hickhack’ Unter der Oberfläche brodelt ein sehr viel bedeutsameres Geschehen. Es ist, als hätten mich die Wellen eines entfernten Seebebens erreicht. Ich will versuchen zu begreifen, was sich da eben tatsächlich zugetragen hat.
Woher rührten unsere Ungeduld und unser Ärger? Nur weil jemand mehr Zeit zur Entscheidung benötigt, als andere? Niemand wurde dadurch wirklich behindert. Das Ganze dauerte nur ein paar Minuten.
War es die Schwäche beim anderen, welche die eigene wachrief und die nicht bewusst und öffentlich werden durfte? Fühlte ich mich von Karin provoziert, war es meine Hilflosigkeit, mich nicht dagegen wehren zu können? War es das Unbehagen, Zeuge einer Auseinandersetzung und dadurch vor die Wahl gestellt zu sein, sich ohne Berechtigung einzumischen, oder tatenlos dabei zuzusehen und so zu tun, als ob nichts sei? Sicherlich empfand Karin ihre Zögerlichkeit auch als unangenehm, mit der sie den Ablauf des Abendessens staute, wie ein quer liegender Baumstamm das Wasser im Fluss.
Sie stand am Pranger, weil sie als Einzige keine rechtzeitige Entscheidung treffen konnte, spürte den Druck der anderen, erfuhr Unverständnis, Ärger, Mitleid und musste die öffentliche Missbilligung ihres Ehemanns ertragen.
Was aber ging in ihr vor? Wollte sie uns ihre Macht auf diese stille Weise zeigen: „Solange ich wähle, gibt es auch für euch nichts zu essen.“ Nahm sie dafür unsere Missbilligung in Kauf, nach dem Prinzip: Besser von allen geächtet, als gar keine Beachtung? Wollte oder konnte sie nicht entscheiden? Wollte sie ohne Risiko entscheiden, wollte sie unbedingt nur das Richtige wählen? Wollte sie alles auf einmal und auf nichts verzichten?
Warum hat sie nicht darum gebeten, noch einen Moment lang die Karte zu studieren und ihre Entscheidung etwas später zu treffen? Wahrscheinlich wäre niemand ungeduldig und ärgerlich geworden. Warum hat sie sich nicht für irgendein Gericht entschieden, um sich aus der Bedrängnis zu befreien. Im schlimmsten Falle hätte es ihr nicht geschmeckt. Das aber war bei jeder anderen Wahl auch nicht auszuschließen. Was hat ihr den Blick für diese oder ähnliche Lösungen verstellt?
Für ihre Unentschlossenheit musste sie einen hohen Preis zahlen. Aber warum und wofür? Was Schlimmeres konnte sie damit verhindern? Lieber nicht entscheiden und die Konsequenzen dafür tragen, als was Falsches zu tun und bestraft zu werden?
Vielleicht waren wir nicht Zeuge bloßer Unentschlossenheit, sondern eines Konfliktes zwischen Anpassung und Eigenständigkeit, den Karin dann schließlich mithilfe eines eigenartigen ‚Entscheidungs-Anpassungs-Zwitters’ bewältigte. Indem sie sich der Wahl ihres Mannes anschloss, die ja nicht falsch sein kann, denn was der Herr tut, das ist wohlgetan, nicht ihr Wille geschehe, sondern der seine, hat sie sich angepasst und zugleich ein ‚bisschen’ eigenständig entschieden. Wenn das zutrifft, dann liegt die eigentliche Dramatik darin, dass sie sich in einem Teufelskreis bewegt.
Sie hat große Angst, etwas falsch zu machen und gerät in Entscheidungssituationen in eine Art Stillstand. Dafür nimmt sie - wie hier - Missbilligungen durch andere in Kauf und versucht, unter Druck dem vermeintlichen Bestrafungsrisiko durch Anpassung zu entgehen. Dadurch kann sie nicht erfahren, dass eigenständig getroffene Entscheidungen möglicherweise gar keine Kritik nach sich ziehen, vielleicht sogar positiv bewertet werden. Solche Erfahrungen aber wären notwendig, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Es dürfte schwierig für sie sein, aus einer solchen Falle zu entkommen. Dieses Problem ist sicher nicht erst heute entstanden und wird sich auf mehr als nur auf die Auswahl von Speisen beziehen.
Ich würde gern erfahren, ob sich Karin genauso verhält, wenn ihr Mann nicht dabei ist. Mir ist klar, dass er bei diesem Geschehen eine wichtige Rolle spielt, wahrscheinlich keine besonders gute.
Wie sieht es nun mit dessen Verhalten aus? Karins Hilflosigkeit hat er kommen sehen. Sie war ihm sichtlich peinlich, und er wollte sie vermeiden. Aber warum wurde sie für ihn zum Problem? Fühlte er sich wie ein Vater, der sein plärrendes Kind beruhigen muss, damit es die anderen nicht stört? War es ihm peinlich, eine derart schwache Frau zu haben, fürchtete er, die Wertschätzung der anderen zu verlieren? Warum hat er das auf sich genommen? Er hätte ebenso Karin ermutigen können, später zu bestellen. Damit hätte er ihr den Druck und die Angst genommen, und wir anderen wären aus der Wartehaltung entlassen. Hat er nicht anders gekonnt oder nicht anders gewollt? Hat er das Verhalten seiner Frau vielleicht sogar bewusst oder unbewusst hervorgerufen und ihre Angst noch schüren wollen? Ein solcher Verdacht entstand, als er sie trotz ihrer mühselig getroffenen Entscheidung zum Schluss noch einmal attackierte. Was wäre das für ein merkwürdiges Spiel? Und wozu würde er es betreiben?
Bleibt noch die Frage, was der kleine Spyros erlebt hat? Hatte nicht auch er gute Gründe, ungeduldig zu sein? Wir waren nicht seine einzigen Gäste. Konnte er seine Ungeduld besser kaschieren? Ist er toleranter und verständnisvoller, weil er solches Verhalten öfter erlebt? Empfand er die Unentschlossenheit Karins überhaupt als kritisch? Meine Stimme meldet sich:
„Mann, du hast ja Sorgen! Um was kümmerst du dich da eigentlich? Worum geht’s überhaupt?“
„Ich finde interessant, was da geschehen ist, und hier habe ich die Zeit, mich mit Dingen zu beschäftigen, die ich im Alltag gar nicht beachten oder abtun würde“, gebe ich zurück.
„Und was genau ist daran interessant?“, fragt sie beharrlich weiter. „Ich sehe im Verhalten von Karin etwas Grundsätzliches, was mich beschäftigt: Es geht um das Problem, öffentlich seine Wünsche zu äußern - Karin ist nur ein Beispiel. Ich meine, wenn man sagt, was man wirklich wünscht und will, kann das zu Problemen führen, denn nur die wenigsten Menschen können es sich leisten, ihre wahren Wünsche offen zu legen. Andere könnten gekränkt oder entsetzt sein“, antworte ich ungeduldig. Darauf meine Stimme: „Und was hat das mit Karin und der Auswahl ihres Essens zu tun? Vielleicht solltest du erst mal selbst überlegen, welche Wünsche du hast und welche du davon öffentlich preisgeben willst.“
„Es geht doch hier gar nicht um mich“, versetze ich ungehalten, „sondern um ein allgemeines Problem, dass jemand, der etwas wünscht, sich angreifbar macht. Vielleicht hat das Karin von einer eigenen Wahl abgehalten?“
„Mann, du beschäftigst dich stellvertretend mit einem Problem, das du und nicht Karin hast. Willst es nur nicht wahrhaben. Wie wäre es, wenn du beginnen würdest, dich mit der Frage zu befassen, was du hier in dieser Gesellschaft suchst?“
Ich winke innerlich ab, sage, dass das mit dem anderen Thema nichts zu tun hat, und beende ärgerlich meine innere Zwiesprache.
* * *
Der Vorfall scheint niemanden sonst weiter zu bewegen. Man hat sich anderen Themen zugewandt. Zwei Gesprächsgruppen, säuberlich getrennt nach den Geschlechtern haben nun am Tisch gebildet.
Die Damen: wie es heute in der Stadt war? Ob die Bluse hier gekauft wurde? Man habe in der Hitze die Festung nicht mehr besichtigen wollen. In der Nähe des Hafens hätte man sehr schöne und preisgünstige Ledersachen entdeckt. Im vorigen Jahr habe man in der Türkei eine Ledertasche gekauft ..., es folgen Preisvergleiche, Berichte über Einkäufe und Beinahe-Einkäufe, Beweggründe dafür und dagegen.
Die Herren: Diskussion über das allgemeine Verhalten der Einheimischen im Straßenverkehr, die hiesige Qualität und Kosten von Mietwagen, die Benzinpreise und der Straßenzustand im internationalen Vergleich. Letzterer ermöglicht, auf unaufdringliche Weise zu erwähnen, wo überall in der Welt man schon gewesen war. Beim Thema „Tourenziele“ bin ich ein gefragter Gesprächspartner. Heute jedoch stellt meine touristische Beratung ein eher zwiespältiges Vergnügen für mich dar. Es macht mir durchaus Freude, auf die Sehenswürdigkeiten, die ich im Laufe meiner Besuche entdeckt habe, aufmerksam zu machen oder Interessierte dorthin zu führen. Ich komme mir dann wie ein Gastgeber vor, der voller Stolz den Gästen sein großes, schönes Haus zeigt. Bei diesen Gästen hier bin ich noch nicht sicher, ob ich sie in alle Zimmer dieses Hauses lassen werde. Die Damen scheinen mir für eine solche Besichtigung am wenigsten in Frage zu kommen, denn mit Kenntnissen über Modeboutiquen, Schmuckläden und Cocktailbars auf der Insel kann ich nicht aufwarten.
Langsam versickern die Gespräche, und es droht Schweigen. Gabi verhindert das, indem sie Karin und Wolfgang - die zuletzt eingetroffen sind - quengelig fragt, wo diese denn vorhin so lange geblieben sind. Sie hätte mit Günter eine ganze Zeit in der Hotelhalle vergeblich gewartet.
Mit Genugtuung, zu diesem Thema direkt befragt zu werden, reckt sich Wolfgang Bedeutung heischend, als wollte er zur Beantwortung der Frage aufstehen, räuspert sich ausgiebig und beginnt seinen Bericht.
Man hatte, bevor man losgehen konnte, noch dies und jenes zu erledigen.
„Und was glaubt ihr, ist dann passiert?“ Das weiß natürlich niemand von den Unbeteiligten. Nur Karin schmunzelt still und wissend in sich hinein. Trotz dieses dramaturgischen Kunstgriffs will keine rechte Spannung aufkommen. Was folgt, ist eine komplizierte, breit angelegte, wenig interessante Geschichte über einen verwechselten Zimmerschlüssel und die damit verbundenen Irrungen und Wirrungen.
Ich folge der Erzählung nicht einmal mit halbem Ohr. Meine Aufmerksamkeit gilt dem Geschehen auf der Restaurantterrasse. Die Krähenfamilie ist nicht mehr vollzählig. Eine der schwarzen Frauen fehlt. Die Fütterung des Jungen und die Mahlzeit des Vaters sind beendet. Die Mutter redet auf die verbliebene Frau ein, während sich der Vater mit dem kleinen Spyros unterhält.
In einer etwas veränderter Haltung hängt die Tochter noch immer auf ihrem Stuhl. Sie blickt jetzt in unsere Richtung. Dies hat sicher etwas mit dem jungen Mann neben mir zu tun. Soeben hat sie eine neue Kassette in ihren Walkman geschoben und schaut verstohlen zu uns herüber. Ich fange ihren Blick auf und frage sie mit einer diskreten Kopfbewegung in Richtung meines Nachbarn, ob dieser nicht etwas für sie wäre. Ein Hauch von Röte huscht über ihr Gesicht. Sie hat aber schnell ihre Verlegenheit überwunden, und nun steht dort Zweifel geschrieben. Unschlüssig, mit einem skeptischen Lächeln wiegt sie ihren Kopf. Ich deute dies als: „Ich weiß noch nicht, mal sehen, vielleicht.“
Das überzeugt mich nicht, ich denke, dass sie sich längst entschieden hat. Wer außer Michael sollte sie aus dem Krähennest befreien? Ehe sich unsere Blicke wieder trennen, lächelt sie mir dankbar und fast liebevoll zu. Wahrscheinlich tut es ihr gut, dass ein Erwachsener ernsthaft und partnerschaftlich auf sie eingeht. Nach dem, was ich in ihrer Familie beobachtet habe, dürfte sie in dieser Hinsicht nicht verwöhnt sein. Außerdem glaube ich, dass sie - genau wie ich - davon angetan ist, wie problemlos wir uns ohne Worte verständigen können.
Mein Blick wandert weiter zu den französischen Lehrern. Diese sind schweigend und konzentriert mit ihrer Mahlzeit befasst. Sie verzehren einen Boursetto, einen besonders schmackhaften Fisch, zubereitet in roter Pfeffersauce. Es ist eine der Spezialitäten der Küche und vergleichsweise kostspielig, weil dieser Fisch nicht immer zu bekommen ist. Aber es lohnt sich, ihn zu bestellen; allein die Sauce ist ein Gedicht. Der Anblick des Fischgerichts bringt mein Hungergefühl zurück ins Bewusstsein. Da die Franzosen schon bedient worden sind, dürfte mein Essen nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Lautes Lachen an unserem Tisch reißt mich aus meinen Betrachtungen. Nach einer Schrecksekunde ist mir klar, dass ich die Pointe von Wolfgangs Geschichte nicht mitbekommen habe. Das macht mich verlegen. Um nicht allzu unhöflich zu erscheinen, reihe ich mich mit einem mühsamen Lächeln in die Gruppe der Lachenden ein.
Mein junger Tischnachbar ist der Erzählung offenbar genauso wenig gefolgt. Seine Aufmerksamkeit galt die ganze Zeit über dem Mädchen. Mir fällt jetzt das Gerangel zwischen ihm und seiner Mutter um den Platz neben mir ein, und ich beginne zu verstehen, was der Grund dafür war. Ich war schon verwundert, wie nachdrücklich er darauf bestanden hat, neben mir zu sitzen und konnte mir nicht gut vorstellen, dass er besonders an meiner Nähe interessiert war. Er hat von Anfang an in diesem Platz eine für die Kontaktaufnahme mit der jungen Dame vorteilhafte Position erkannt. Dafür bekommt er von mir ein stilles Kompliment. Wer so etwas derart schnell erfassen kann, muss ein heller Kopf sein.
Nun erahne ich plötzlich das Interesse der Mutter an diesem Platz. Möglicherweise hat auch sie darin eine günstige taktische Ausgangsbasis für einen ähnlichen, allerdings viel ‚näher sitzenden’ Zweck gesehen.
Diese Vermutung löst in mir Spannung und Unruhe aus, von denen ich nicht einmal sagen kann, ob sie mir angenehm oder unangenehm sind. Jedenfalls werde ich auf der Hut sein.
Mein Versuch, mich wieder der Gesellschaft am Tisch zu widmen, scheitert an meiner Lustlosigkeit und der nur bruchstückhaften Kenntnis der soeben berichteten Geschichte. Diese wird von den anderen kommentiert und mit weiteren ähnlichen Anekdoten angereichert. Es gärt in mir. Ich beginne, mich in dieser Gesellschaft immer unbehaglicher zu fühlen und will mich nicht in die Gespräche einfädeln. So nippe ich an meinem Glas, kratze gedankenverloren das vom Bier bekleckerte und aufgeweichte Papier aus dem Tischtuch und rolle es zwischen den Fingern zu unterschiedlich großen Kugeln. Meine Stimme macht mir nun Vorhaltungen:
„Reiß dich zusammen! Schließlich, warst du es, der die Leute hier zusammengebracht hat. Entscheide dich! Du kannst unter einem Vorwand verschwinden, oder du bleibst und machst mit. Was du jetzt aber tust, ist unhöfliches Herumhängen.“
„Ist ja schon gut, ich spiele ja mit“, lenke ich ein.
So unterbreche ich die Papierkugelfabrikation, zeige ein interessiertes Gesicht und wende mich der Tischgemeinschaft zu. Offenbar angeregt durch Wolfgangs gelungenen Beitrag, kommt eine weitere Geschichte zum Vortrag.
Ich nehme mir vor, dieser nun etwas aufmerksamer zu folgen. Das erweist sich jedoch als unglaublich qualvoll. Ursache dafür ist, dass zwei Erzähler gleichzeitig berichten wollen, die unglücklicherweise auch noch in Konkurrenz zueinander stehen. Günter, der Initiator, beginnt umständlich, stockend und lückenhaft über ein undurchsichtiges Geschehen zu berichten. Dabei wird er ständig von seiner geltungsbedürftigen Ehefrau Gabi unterbrochen. Hochmütig korrigiert und ergänzt sie seinen Bericht. Und in jedem ihrer Beiträge schwingt die unausgesprochene Botschaft mit, dass ihr Mann ein großer Trottel ist.
Da sie ihre Erklärungen gänzlich unabhängig davon einbringt, ob diese für das Gesamtverständnis der Geschichte erforderlich sind oder nicht, verstärkt sie die ohnehin bestehende Verwirrung und wachsende Ungeduld der Zuhörer.
Günter fühlt sich gekränkt, öffentlich gemaßregelt und streitet mit ihr über Einzelheiten. Dabei steht er auf verlorenem Posten.
Gabi ist ihm überlegen. Sie ist lauter, schneller, schlagfertiger und hält sich nicht immer an die Regeln der Logik.
Am Tisch hat sich mittlerweile eine verhalten aggressive und unleidliche Stimmung aufgebaut.
Anfänglich habe ich mich noch bemüht, aufmerksam zu sein und versucht, wenigstens den Kerngehalt der Geschichte zu erfassen. Das ist mir jedoch nicht gelungen, und so habe ich aufgegeben. Jetzt beschäftigt mich nur noch eine Frage, unterbricht ihn Gabi ständig, weil er so stockend und diffus berichtet, oder berichtet er so stockend und diffus, weil Gabi ihn ständig unterbricht? Darauf werde ich wohl keine Antwort finden.
Ich werde schläfrig. Unter solchen Umständen ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich mich in einer Falle fühle.
Ich habe weder den Mut, die beiden aufzufordern, mit diesem Schwachsinn aufzuhören, noch getraue ich mich, aufzustehen und Platz an einem anderen Tisch zu nehmen, um dort in Ruhe auf mein Abendessen zu warten.
Genau genommen bin ich sauer auf mich. Ich kann nicht begreifen, warum ich mir diese Gesellschaft angetan habe. Meine Stimme ist sofort zur Stelle: „Warum verlässt du nicht diese wenig amüsante Gesellschaft, sondern lässt dir diese Narreteien bieten?
Warum findest du keinen eleganten Abgang? Ist es wirklich nur Höflichkeit, die dich hier hält? Warum erkennst du nicht dein Problem und findest eine Lösung? Wo unterscheidest du dich von Karin? Nur dir - so meinst du - sehen die anderen den Konflikt nicht an, aber ist er darum kleiner oder anders? Sag doch‚gute Nacht und verschwinde!“ Ich fasse einen Beschluss und antworte:
„Ja, ist schon in Ordnung, aber warum gleich so radikal sein? Ich werde eine Gelegenheit und die passenden Worte finden, meine ‚Kündigung’ mitzuteilen. Den heutigen Abend werde ich aber noch durchstehen.“
Warum meine Stimme jetzt lacht, verstehe ich nicht.
* * *
Rettung naht in Person des großen Spyros. Er bringt meinen Fisch. Die Erzählung bricht ab, und ich spüre eine allgemeine Erleichterung, sich auf etwas anderes konzentrieren zu können, als auf den Streit über diese verstotterte und verstolperte Geschichte.
Spyros entkrampft die Situation ungewollt dadurch, indem er alle freundlich begrüßt, mit spöttischen Witzchen bedenkt und diejenigen, die in seiner Reichweite sitzen, mit kleinen freundschaftlichen Gesten und Berührungen neckt.
Von nun an sind alle Augen auf den appetitlich zubereiteten Fisch gerichtet, könnten sie zubeißen, wäre er in Sekundenschnelle verputzt. Man wünscht mir guten Appetit. Dabei entgehen mir nicht die säuerlichen Untertöne, in denen mein ungeselliger Alleingang gerügt wird und der Ärger zum Ausdruck kommt, selbst noch auf das Essen warten zu müssen. Ehe ich den ersten Bissen in den Mund schieben kann, habe ich noch einige Fragen nach der Art des Fisches, den Beilagen und zum Preis zu beantworten.
Dann ist es so weit: Der erste Happen, ein wirklicher Genuss! Angenehm ist auch die nun eingetretene Ruhe. Mir scheint, man bemüht sich übertrieben darum, mich beim Essen nicht zu stören. Es plätschert nur noch ein seichtes, gedämpftes Geplauder dahin. Zum Glück wird die unfertig erzählte Geschichte nicht wieder aufgegriffen.
Ich komme mir vor wie ein Fürst, der in Gegenwart seines hungrigen Gesindes ein üppiges Festessen zu sich nimmt und der sich, um Übergriffe abwehren zu können, hinter einem Festungswall aus Bierflasche, Wasserkaraffe, Gläsern, Tellern und Brotkorb verschanzt hat.
Allerdings unternimmt eine Magd aus dem Gesinde einen Vorstoß. Es ist die mondäne Anna, die ein wenig verschämt fragt, ob sie den Fisch kosten dürfe.
Ich bin erstaunt. Von ihr hätte ich am wenigsten erwartet, dass sie sich in die Niederungen des Schnorrens begibt. Ich finde das gut und willige gern ein.
Anna nimmt aus dem Besteckkorb eine Gabel und beugt sich hinüber und gewährt mir einen tiefen Einblick in das attraktive Dekolletee. Das finde ich auch gut. Geschickt trennt sie ein Stück vom Fisch ab, hält inne, als sie bemerkt, dass es etwas zu groß geraten ist, schaut mich schuldbewusst fragend an. Mein Kopfnicken ermuntert sie, das Stück zu nehmen. Daraufhin schiebt sie es auf ihre Gabel, beugt sich wieder zurück und balanciert Gabel und Fisch von der rechten zur linken Hand. Das ist der gefährlichste Abschnitt der Aktion. Alle Augen sind nun auf sie gerichtet.
Klaus verfolgt das Geschehen gebannt mit maskenhaftem Gesicht, den Oberkörper nach vorn gebeugt, die Ellenbogen aufgestützt, Handflächen wie im Gebet vor dem Mund. Von ihm geht eine starke Anspannung aus.
Michael nimmt von den Ereignissen am Tisch kaum Notiz. Seine Aufmerksamkeit gilt nach wie vor der jungen griechischen Dame.
Gabi hat den kleinen Taschenspiegel beiseitegelegt, mit dem sie gerade Frisur und Make-up überprüft hat. Mit leicht geöffnetem Mund beobachtet sie nun Annas Balanceakt, was sie ein wenig dümmlich aussehen lässt.
Günter, obwohl er noch nichts zu Essen bekommen hat, pult hinter vorgehaltener Hand in seinen Zähnen, die Augen unentwegt auf Anna gerichtet.
Wolfgang ist in seinen Stuhl zurückgesunken und wirkt betont gelassen und desinteressiert. Ich meine bei ihm etwas Hämisch-Feindseliges zu erkennen, eine Haltung, die ich mit dem gegenwärtigen Geschehen nicht in Verbindung bringen kann. Ich bin aber überzeugt davon, dass er sich freuen würde, wenn Anna das Stück Fisch fallen ließe.
Meine Stimme greift ein: „Ach Unsinn, woher willst du das wissen, du kannst ihn nur nicht leiden.“ Anders verhält sich Karin. Sie wirkt nervös und verkrampft, nestelt weiterhin an ihrem Taschentuch herum. Ihr sehe ich die Angst an, Anna könne einen Fehler machen. Diese Angst ist jedoch unbegründet, denn Anna gelingt der Handwechsel problemlos. Sie hält die Gabel mit dem Fisch jetzt ruhig in der linken Hand. Nun nimmt sie mit der anderen ein Stück Zitrone vom Beilagenteller, träufelt etwas Zitronensaft auf den Fisch und führt den so veredelten Bissen sicher zum Mund. Spürbare Erleichterung bei mir und den anderen. Eigentlich fehlt nur der Beifall wie nach einer gelungenen Zirkusnummer. Ich biete ihr mit einer Geste an, sich weiter zu bedienen. Sie lehnt ohne Worte ab, indem sie die Gabel abwehrend hin und her bewegt. Nachdem sie das Stück Fisch heruntergeschluckt hat, erhalte ich ein leises Dankeschön, zusammen mit einem warmen, ein wenig aufreizenden Blick, der mich berührt und beunruhigt. Zu ihrem Ehemann gewandt sagt sie, dass sie einen solchen Fisch demnächst zum Abendessen bestellen werde.
Meine plötzliche aufkommende Vorstellung, anstelle des Fisches von ihr zum Abend vernascht zu werden, irritiert mich, und ich verscheuche sie ärgerlich, wie eine lästige Fliege. Was ein schöner Busen so alles anrichten kann!
Die allgemeine Aufmerksamkeit wendet sich von ihr ab. Noch hängt die Frage nach dem Fortgang von Günters Geschichte wie das Damoklesschwert über unseren Köpfen. Gott Lob getraut sich keiner, sie zu stellen. Ebenso scheinen die Erzähler froh zu sein - im wahrsten Sinne des Wortes - gut aus der Geschichte herausgekommen zu sein.
Während ich esse, folge ich den Gesprächen am Tisch. So erfahre ich, dass Wolfgang und Karin in derselben Versicherungsgesellschaft arbeiten, allerdings in verschiedenen Abteilungen und Positionen. Er ist Abteilungsleiter, sie Sachbearbeiterin. Klaus hat früher im Chemiekombinat Leuna als Ingenieur gearbeitet. Dort hatte er Anna kennengelernt. Sie ist promovierte Chemikerin und hat sich auf Energiefragen spezi- alisiert.
* * *
Ich habe mein Essen beendet und will mich gerade nach den Berufen von Gabi und Günter erkundigen, als Christos, der dicke Grieche - auch ‚Frosch’ genannt - an unseren Tisch tritt. Ihn begleiten Ehefrau und Schwägerin.
Christos ist ein kleiner, fast quadratischer, schwergewichtiger und zu cholerischen Ausbrüchen neigender Frührentner. Ich habe mehrmals erlebt, wie er einem Vulkanausbruch gleich, die Restaurantbedienungen wegen irgendwelcher Kleinigkeit zusammengefaltet hat.
Sein breites Gesicht, die Hängebacken und die hervorquellenden Augen erinnern mich eher an einen großen Boxerhund, als an einen Frosch. Vielleicht sind es seine kurzen, sehr krummen und dünnen Beine, die ihm den Namen Frosch bei den Griechen eingebracht haben.
Ein schmaler Haarkranz ziert seinen Kopf. Die flache Stirn erstreckt sich weit über das Schädeldach.
Ich weiß, dass sein gewaltiger Bauch in einer großen Überwurffalte gut eine Handbreit über den Bund seiner Shorts hängt. Jetzt kann ich dies nur erahnen, weil er ein blassfarbenes, kurzärmliges Hemd über den Shorts trägt.
Fast jeden Tag kann man Christos am Strand oder in der Taverne treffen. Dort ist er bereits von Weitem wegen seines besonderen Sitzplatzes leicht auszumachen. Er hat ein Klappstühlchen ins seichte Wasser gestellt, seinen breiten Hintern in den schmalen Sitz gezwängt und lässt seine Füße von der
Brandung umspülen. Am Ende meines Urlaubs verabschieden wir uns stets mit einer innigen Umarmung. Dabei fängt er jedes Mal an zu weinen, weil er davon überzeugt ist, dass wir uns, seiner Herz-krankheit wegen, nun das letzte Mal gesehen haben. Seine Abschiedstrauer - vielleicht auch Selbstmitleid - ist echt, und sie rührt mich jedes Mal aufs Neue, nun schon seit mehr als fünfzehn Jahren.
Ich finde unsere Freundschaft vor allem deshalb bemerkenswert, weil ich mit ihm noch nie einen vollständigen Satz gewechselt habe. Einige Male haben wir mit der Übersetzungshilfe anderer ein paar Lebensdaten und Freundlichkeiten ausgetauscht. Ich weiß kaum etwas über ihn und er nicht viel über mich. Aber jedes Mal, wenn wir uns sehen, spüre ich echte Herzlichkeit und Zuwendung. Was macht eigentlich diese Freundschaft aus? Wohl kaum der intensive Gedankenaustausch.
Die beiden Damen in seiner Begleitung sind sich sehr ähnlich, kaum voneinander zu unterscheiden - hoffentlich kann er es. Ich bin stets in Sorge, die Falsche als seine Frau anzusprechen oder wenn ich sie ohne Christos Begleitung träfe, keine von beiden wieder zu erkennen. Weder Gesicht, Frisur noch Bekleidung liefern markante Unterscheidungsmerkmale. Beide tragen ähnliche, in matten Farben geblümte Kleider, die mich an Kittelschürzen erinnern. Beide Damen sind schon auffällig unauffällig.
Man heißt mich herzlich willkommen. Ich stehe auf, ergreife mit einer kleinen Verbeugung die ausgestreckte Hand derer, die ich als Christos Frau identifiziere, weil sie dicht hinter ihm folgt, dann die Hand der Schwester. Schließlich umarme ich Christos und sage ein paar Höflichkeiten auf Griechisch. Ich erhalte Wünsche für eine gute Zeit hier am Ort.
Nun setzt eine unfreiwillige, ausufernde Massenbegrüßung ein. Ursache dafür ist die Fehleinschätzung von Madame Christos, dass der junge Mann neben mir mein Sohn und die neben ihm sitzende Anna meine Ehefrau sei. Sie reicht erst Anna, dann dem artig aufstehenden Sohn die Hand. Aus Gründen der Höflichkeit kann sie es dabei aber nicht bewenden lassen und fährt mit dem Händeschütteln bei den anderen fort. Dies zwingt nun auch ihre Schwester und Christos, alle auf diese Weise zu begrüßen. Das wäre problemlos, wenn der für einen Begrüßungsrundgang notwendige Platz zur Verfügung stünde. Den aber bietet unser Ecktisch nicht. Damit ist ein geordnetes ‚Einer-Nach-Dem-Anderen’ nicht möglich. So müssen die Begrüßenden an den freien Seiten des Tisches bleiben, sich vornüber beugen, um die Hände der dort Sitzenden zu schütteln. Die Abfolge der Begrüßung klappt ebenfalls nicht reibungslos. Madame Christos begrüßt die Leute nacheinander und beginnt ihre Runde von links nach rechts. Christo aber startet andersherum und begrüßt die Damen zuerst. So muss er die Begrüßung der von ihm ausgelassenen Herren, quasi im Rückwärtsgang, nachholen. Mancher, der von ihm Ausgelassenen, ist dann aber gerade von seiner Frau oder Schwägerin ‚belegt’. Die Schwägerin hat kein erkennbares Ordnungsprinzip. Sie greift nach allem, was sich ihr entgegenstreckt. Der Überblick, wer wen bereits begrüßt hat - falls er jemals vorhanden war - ist schnell verloren.
Ähnliche Situationen kenne ich von Sylvesterfeiern. Wenn um Mitternacht mit einem Glas Sekt angestoßen wird, wächst mit der Größe der Gästegruppe die Wahrscheinlichkeit, jemand beim Zuprosten ausgelassen zu haben: „Haben wir schon angestoßen?“, wird dann meist gefragt. Das funktioniert problemlos, wenn alle die gleiche Sprache sprechen. In unserer Situation fehlt dieses Hilfsmittel jedoch. Um Auslassungen zu vermeiden, begrüßt man sich deshalb eben mehrmals.
So entsteht eine eigenartige Choreografie, von teils sitzenden, teils stehenden, laufenden, sich nicht anschauenden, griechische und deutsche Begrüßungsfloskeln murmelnden, unverständliche Namen wiederholenden, Hände suchenden und Hände schüttelnden Menschen.
Es ähnelt einem Kinderspiel, in dem man nacheinander, in immer schnellerem Wechsel die Hände übereinander stapelt. Wenn die eigene Hand zur Untersten geworden ist, muss sie so schnell wie möglich wieder oben auf den Stapel gebracht werden. Schließlich führt das immer höhere Tempo des Wechsels zu einem wilden, unkoordinierten Händeschlagen. Ähnliches geschieht hier. Nach kurzer Zeit - das Ganze dauert kaum eine Minute - wird den meisten am Tisch die Absurdität des Geschehens bewusst. Man reicht sich immer schneller die Hände, klatscht schließlich nur noch darauf, bis alles unter Lachen in sich zusammenfällt.
Noch aber ist nicht alles erledigt. Christos bleibt am vorderen Tischende stehen und bittet mich mit feierlichem Gesicht, aufzustehen und ihm zu folgen. Er ist vom Händeschütteln ziemlich stark in Schweiß geraten. Das kann ich sehen und auch ein wenig riechen. Er bleibt mit mir an der seitlichen Fensterfront stehen, sodass alle uns sehen können. Nun ruft er laut in den Raum hinein, bittet um Ruhe, er habe etwas zu verkünden. Christos scheint Autorität zu genießen, denn schlagartig hören die Gespräche auf, und es entsteht eine erwartungsvolle Stille. Er legt nun seinen Arm freundschaftlich um meine Schulter. Dabei muss er sich wegen unserer sehr unterschiedlichen Körpergröße gewaltig recken. So hängt er, plump wie ein Kartoffelsack, für eine Weile an meiner linken Seite - eine Körperhaltung, die der Feierlichkeit dieses Augenblickes nicht gerecht wird.
Ich schaue hinüber zu unserem Tisch und begegne Annas Blick. Sie scheint die Einzige zu sein, die diese Situation komisch findet und versucht, mit Mühe hinter vorgehaltener Hand ihre Heiterkeit zu verbergen. Ihre Augen haben sich zu Schlitzen verkleinert und sind von einem Strahlenkranz unzähliger Lachfältchen umgeben. Als sich unsere Blicke treffen, geht von ihr ein unbändiger Lachreiz auf mich über. Nach einer kurzen mimischen Entgleisung bekomme ich mich und mein Gesicht noch rechtzeitig in den Griff, werde ernst und sende ihr einen übertrieben tadelnden Blick zu. Der soll ausdrücken, wie bedauerlich ich es finde, dass sie in dieser weihevollen Situation die notwendige sittliche Reife fehlen lässt. Dieser mimische Verweis ist wohl der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Als wäre sie erschreckt worden, reißt sie die Augen auf, versucht, noch einige Sekunden das Lachen zu unterdrücken, aber dann prustet es laut aus ihr heraus. Aus dem Mund dringen spitze, fiepende Töne wie die Schnarchgeräusche eines jungen Hundes. Tränen kullern, und aufgelöste Wimperntusche zeichnet Striche auf die Wangen. Sie wischt sich die Tränen mit der Hand ab und verschmiert das Make-up noch stärker, steht hastig auf und läuft gebeugt zur Toilette, als müsste sie sich übergeben. Fragende und verständnislose Blicke folgen ihr. Am Tisch wendet man sich irritiert an den Ehemann, um von ihm zu erfahren, was mit seiner Frau los sei. Dieser steht - genauer - sitzt der ganzen Situation ebenso hilflos gegenüber wie die Fragenden. Ihm ist diese Art von Aufmerksamkeit sichtlich unangenehm, und er bemüht sich, mit Worten und Gesten zu erklären, dass man ihr sonderbares Verhalten nicht weiter beachten sollte. Seine Frau reagiere manchmal seltsam, sei eben ein bisschen überdreht, habe sich nicht immer im Griff, aber sie würde sich ganz bestimmt wieder einkriegen.
Ich empfinde seine Bemerkungen als herablassend und unfair, weil er damit seine Frau zu einer überspannten, harmlosen Verrückten abstempelt, die gelegentlich unerklärliche Anfälle bekommt.
Dieses Ereignis hat die feierliche und bedeutungsschwere Atmosphäre unterbrochen. Es gibt dem verwundert dreinschauenden Christos und mir Gelegenheit, unsere unbequeme Stellung zu verändern, indem er seinen Arm um meine Hüfte und ich ihm meinen Arm auf seine Schultern lege.
Nach dem Zwischenfall haben sich die meisten Leute auf der Terrasse uns wieder zugewandt. Die Aufmerksamkeit der Übrigen klopft Christos energisch mit der Gabel am Bierglas herbei.
Nun folgt die Ansprache. Christos redet dabei so laut, als hätte er ein Auditorium in Bataillonsstärke vor sich. Mit weit ausholenden, lebhaften Gesten wendet er sich dabei an mich und an die Zuhörer. Auf einige seiner Aussagen folgt dünner Beifall, hauptsächlich der von Ehefrau und Schwägerin. Er beendet seine Rede mit einer verschwitzten Umarmung und zwei feuchten Küssen auf meine rechte und linke Wange. Nun erst brandet Applaus von den übrigen Zuhörern auf.
Seine Liebkosungen kommen für mich unerwartet, und so kann ich mich nicht mehr rechtzeitig zu ihm herunterbeugen. Er sieht jetzt aus wie ein Boxerhund, der sein Herrchen begrüßt und dessen Gesicht abschleckt. Nun habe ich wieder alle Mühe, mein Lachen zu unterdrücken, ergreife beide Hände, schüttele sie anhaltend und bedanke mich bei ihm.
Mit großer Geste erteilt Christos zum Abschluss noch die Order, mir ein Bier und einen Ouzo auf seine Rechnung zu bringen. Dann setzt er sich an den Tisch zu seinen Damen. Die Ansprache wird mir später sinngemäß übersetzt. Ich sei ein wichtiger Mann aus Deutschland, den er seit vielen Jahren kenne. Ich käme mit meiner Familie sehr oft hierher und wäre ein großer Bewunderer der griechischen Geschichte, Kultur und Lebensart und ein Freund dieser Insel, ihrer Menschen, ihrer Musik und ihrer Küche. Er sei glücklich, sich zu meinen Freunden zählen zu dürfen.
* * *
Kurz darauf wird unter lautem Hallo das Essen an unserem Tisch serviert.
Anna kommt erholt mit wieder aufgearbeitetem Gesicht und gesetzter Haltung von der Toilette zurück. Bevor sie sich setzt, bleibt sie hinter meinem Stuhl stehen, beugt sich zu mir herab und raunt mir liebevoll drohend ins Ohr: „Du elender Schuft, das wirst du mir büßen!“ Sie setzt sich und widmet sich ihrem Essen.
Am Tisch wird nicht gesprochen. Niemand sagt etwas über Annas Lachanfall oder richtet Fragen an sie. Es wird so getan, als sei nichts vorgefallen. Die Stille dröhnt geradezu in meinem Kopf. Ich höre erstmals bewusst die griechische Musik aus den Lautsprechern, die schon den ganzen Abend über spielt. Was läuft hier ab?
Um zu verstehen, warum eine Person so oder anders gehandelt hat, würde man sie normalerweise dazu befragen. Das geschieht aber nicht.
Man würde nicht fragen, wenn die Person oder deren Beweggründe nicht interessierten. Dies dürfte im vorliegenden Fall nicht zutreffen, denn man wollte sogleich von Klaus wissen, was in Anna gefahren sei.
Man könnte allerdings dann auf Fragen verzichten, wenn man die Gründe bereits kennt oder zu kennen glaubt, oder wenn solche Fragen einen selbst und die betroffene Person in Schwierigkeiten brächten.
Dies könnte die Ursache der entstandenen Sprachlosigkeit sein, denn Klaus hat ja bereits die Unerklärbarkeit von Annas Anfällen erklärt. Er hält Anna für ein bisschen verdreht und unberechenbar; als ihr Ehemann muss er es ja wissen. Anna weiter zu befragen, hieße indiskret sein und ein mit Peinlichkeiten und unerwarteten Reaktionen vermintes Gelände zu betreten. Ähnlich wie ich, muss sich auch Anna mit der gegenwärtigen Situation auseinandergesetzt haben, denn plötzlich fragt sie: „Leute, heraus mit der Sprache, habt ihr irgendetwas, gibt’s Probleme mit mir?“
Die anderen schrecken auf, ich sehe Verlegenheit und höre erstaunte Antworten: „Nein, wieso, überhaupt nicht, wie kommst du darauf?“
Anna schaut herausfordernd jeden in der Runde an. „Na dann ist es ja gut, wenn es Fragen gibt, will ich sie gern beantworten.“
Es wird nicht gefragt. Als wollte man beweisen, dass alles in Ordnung ist, kommt ein krampfhaftes Gespräch in Gang, so stockend wie ein kalter Motor.
Inzwischen sind weitere Gäste auf der Terrasse eingetroffen. Sie haben sich durch Autohupen und Motorlärm angekündigt. Einige kommen aus den umliegenden Dörfern und haben ein Dutzend Kinder im Alter zwischen drei und zehn Jahren mitgebracht. Es sind noch zwei Heranwachsende unter ihnen, von denen einer durch eine starke Akne auffällt.
Dann ist da noch eine Gruppe aus der Stadt, bestehend aus zwei Frauen und drei Männern mittleren Alters. Die Fünf essen hier am Wochenende oft Fisch. Ich weiß, dass die Frauen einen Schmuckladen betreiben. Eine von ihnen ist die Chefin, kräftig gebaut, etwas rundlich, schick und teuer gekleidet, blond gefärbtes Haar, sorgfältig frisiert. Ihr energischer Gesichtsausdruck verrät, dass sie das Zepter in der Hand hält. Die andere Frau und die Männer wirken dagegen blass. Wer zu wem gehört, kann ich spontan nicht erkennen.
Auf der Terrasse herrscht nun großer Trubel. Die Kinder springen herum, spielen, rennen herein und heraus, fallen hin, heulen, werden getröstet und ermahnt, betteln um Eis und sind gar kein bisschen müde. Die Erwachsenen regeln das mit eindrucksvollem Gleichmut, während sie laut gestikulierend über Tische hinweg miteinander reden.
Erstaunlich finde ich es, dass man sehr laut miteinander spricht. Was sind das für Dinge, die alle hören können? Sind sie so banal, oder gibt es bei den Griechen eine niedrigere Intimitätsschwelle als bei uns?
Meine Stimme kommentiert vorwurfsvoll: „Ja, wenn du zu faul zum Lernen bist, nur Schweinereien und ein paar Brocken griechisch aufgeschnappt hast, musst du dich nicht wundern.“
Es stimmt, ich ärgere mich wirklich. Deshalb beschließe ich zum wiederholten Male, Griechischunterricht zu nehmen.
Meine Stimme höhnt: „Wer’s glaubt, wird selig.“
„Wart’s nur ab!“, erwidere ich großspurig.
Ich schaue den anderen noch ein Weilchen beim Essen zu. Nach dem letzten Schluck Bier mache ich mich auf zur Toilette. Ich bin froh, allein zu sein und beschließe, nicht gleich an den Tisch zurückzukehren.
Von der Toilette aus gehe ich gemächlich nach draußen ins Freie. Dort empfängt mich ein kräftiger Wind. Ich schlendere den Hang hinter der Taverne hinauf. Das Licht aus den Fenstern der Taverne bildet helle, trapezförmige Flächen, die wie ausgebreitete Teppiche vor dem Haus liegen. Oben angelangt eröffnet sich ein weiter Blick auf das Meer. Der Mond steht jetzt im Süd-Westen. Sein Licht zeichnet einen breiten, metallisch glänzenden Streifen bis zum Horizont auf das Wasser; es wirkt dadurch ruhiger, als es ist. Sonst liegt das Meer in tiefem Dunkel, nur die Schaumkronen der Brandungswellen reflektieren seinen Lichtschein.
Ich wende meinen Blick zur nördlichen Küste, kann die kleinen Dörfer in den Meeresbuchten und in den Bergen ausmachen. Es sind Ansammlungen eng beieinander liegender, unstet flirrenden Lichtpunkte.
Weiter am Meereshorizont bewegen sich helle Lichter mit gleichmäßiger Geschwindigkeit und weisen auf vorbeifahrende große Schiffe hin.
Ich genieße Wind und Ausblick eine Weile, fühle mich erfrischt und kehre langsam zum Haus zurück. Hier ist es windstill, von den Mauern strahlt noch die Wärme des Tages. Mein Weg führt mich zum Vorplatz der Taverne.
Das Rauschen der Brandung schwillt an, und mich trifft ein heftiger Windstoß, als ich um die Hausecke biege.
Der Vorplatz ist zum Strand hin weder durch ein Geländer noch durch eine Mauer gesichert. Von der Plattform fällt eine glatte Betonwand etwa zwei Meter senkrecht zum Strand ab. Ich habe mich immer darüber gewundert, dass dort bisher keine Fahrzeuge heruntergefallen sind. An der Kante des Vorplatzes sitzen Maria, die Tochter der Krähenfamilie und mein Tischnachbarn und Namensvetter Michael. Sie lassen die Beine baumeln. Ich habe vorher nicht bemerkt, dass beide die Terrasse verlassen haben. Jetzt unterhalten sie sich lebhaft, kämpfen mit ihrem Schulenglisch lautstark gegen Wind-, Brandungsgeräusche und sprachliche Kenntnislücken an.
Als sie mich kommen sehen, grinsen sie ein bisschen verlegen. Ich mache in Richtung Maria eine Geste, um meine Anerkennung für ihre rasche Entscheidung auszudrücken. Getreu unserer kurzen, wortlosen Gesprächstradition, antwortet sie mit einem Blick und einer Geste, in denen ich Selbstbewusstsein und Zufriedenheit zu erkennen glaube, die übersetzt lauten könnten: „Ja, schau mal, gar nicht mal so schlecht, nicht wahr?“
Ich nicke anerkennend und unterstreiche dies, indem ich ihr meine Faust mit nach oben weisendem Daumen zeige.
Michael kann diesem ‚Gespräch’ nicht folgen und schaut fragend von einem zum anderen. Ich sage zu ihm in Kommandosprache: „Alles O. K., weitermachen!“, und entferne mich mit der Andeutung eines militärischen Grußes.
Ich möchte noch ein Stück laufen, ehe ich zu meiner illustren Gesellschaft zurückkehre. Das junge Paar hat Sehnsüchte in mir geweckt. Bilder von früheren Aufenthalten tauchen auf, in denen ich mich in Situationen intimer Zweisamkeit sehe. Gerade habe ich mich ein paar Schritte von den beiden entfernt, als Marias dicker Bruder um die Ecke des Hauses gerannt kommt, offenbar als Imitation eines Jets im Nachtflug.
Kopf nach unten, Arme weit ausgebreitet, lautes Brummen ersetzt das Motorengeräusch und er läuft aufgrund fehlerhafter Navigation in mich hinein. So finden sein Flug und meine schönen Erinnerungen ein jähes Ende.
Der Zusammenprall ist aufgrund seiner bewegten Masse erheblich. Ich wanke und strauchele, er dagegen kommt zu Fall. Da liegt er nun vor mir auf dem Boden und schaut mich ängstlich und verwirrt an. Ein jammervolles Bild. Das ist kein Kampfjet, sondern ein dicker, ängstlicher Hund. Wahrscheinlich kann er sich nicht entscheiden, ob er nun zu plärren anfangen, oder aber aufstehen und sich entschuldigen soll. Ich bin mir ganz sicher, bestünde jetzt sein Publikum aus Großmutter und Tante, hätte er bestimmt laute Schmerzensschreie ausgestoßen und zu herzzerreißendem Jaulen angehoben. Da aber niemand in der Nähe ist, der sein furchtbares Schicksal nachempfinden kann, rappelt er sich auf und rennt wortlos weg.
Bereits nach den ersten Schritten trifft ihn der Ruf seiner Schwester wie ein Peitschenhieb. Er bleibt ruckartig stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Zögernd dreht er sich um, kommt auf mich zu und murmelt eine laue griechische Entschuldigung, ohne mich dabei anzuschauen. Ich antworte ihm mit einem generösen griechischen: „Macht nichts“. Danach trollt er sich in Richtung Strand. Erstaunlich, wie resolut die junge Dame sein kann.
Ich setzte meinen Spaziergang fort. Eigentlich will ich ihn noch länger ausdehnen, aber da kommt plötzlich das Gefühl auf, ich könnte etwas versäumen. Das lässt mich vorzeitig umkehren. Meine Stimme höhnt: „Was ist bloß mit dir los? Du ärgerst dich über deine leichtfertige Einladung, würdest am liebsten die ganze Bande zum Teufel jagen. Und nun hast du Sorge, etwas zu verpassen? Mach dir doch endlich mal klar, was du hier veranstaltest!“ Ich fühle mich ertappt und schimpfe in mich hinein: „Na, wenn du alles weißt und den großen Durchblick hast, dann sag’ mir doch gefälligst, was hier gespielt wird und hör’ auf mit den dunklen Andeutungen!“ Ich warte auf eine Reaktion. Meine Stimme bleibt stumm, und ich setze nach:
„Typisch, meckern kannst du, aber wenn du mal die Karten auf den Tisch legen sollst, herrscht Grabesstille.“ Keine Antwort! Ich fühle so etwas, wie Genugtuung und mir scheint, dass ich nun noch schneller gehe.
* * *
Die meisten Leute an meinem Tisch haben ihr Abendessen beendet und sich mit Getränken versorgt. Auf meinem Platz steht ein Glas Ouzo. Mir wird gesagt, dass Günter eine Runde ausgegeben hat. Eine Entschädigung für seinen missglückten Unterhaltungsbeitrag? Ich danke und proste ihm zu.
Anna fragt, ob ich ihren Sohn gesehen hätte. Ich berichte kurz angebunden, wo und mit wem sie ihn finden kann. Es folgt eine kurze Pause. Ich ärgere mich jetzt über meine schroffe und abweisende Antwort, doch Anna lächelt mich freundlich an und rutscht auf den freien Platz neben mir, der schon ihrem Sohn als strategischer Ausgangspunkt für Kontakte gedient hatte. Eine Wolke süßlichen Parfüms hüllt mich ein. Sie neigt den Kopf, schaut mich mit einem etwas unsicheren Lächeln an: „Meinst du, dass Probleme entstehen können?“, fragt sie mich beunruhigt. Was soll diese Frage? Was will sie? Meint sie ihren Sohn und das Mädchen, oder meint sie etwa uns beide? Ärgerlich verwerfe ich den letzten Gedanken. Mein Gott, was soll ich darauf antworten? Ich weiche aus und frage zurück: „Wieso fragst du, ist dein Sohn denn nicht volljährig?“ „Ja schon, aber ich dachte mehr an die kleine Griechin.“
„Ach so, ja“, antworte ich lahm. Mir fällt nichts Gescheites ein, stattdessen schrillen in meinem Kopf die Alarmglocken. Ich befürchte nun folgendes Spiel:
Die Eröffnung, eingeleitet mit der Solidaritätserklärung „Du bist doch auch Vater ..., ob ich nicht der Meinung sei, dass man bei so jungen Leuten ...“, dann folgt der Übergang zu vertrauensbildenden Gemeinsamkeiten: „Du warst doch früher sicher auch …, hast du immer alles beachtet? Ich jedenfalls habe ziemlich oft ..., aber leider nie …, ich gebe zu, heute tut es mir manchmal leid, aber was soll’s? Du als Mann hattest damals bestimmt keine solchen Probleme ..., aber heutzutage?“
Das Mittelspiel mit dem Kernthema ‚Benachteiligung’: „Weißt du, durch Haushalt und Beruf bewegt man sich immer auf einem Gleis, wird einseitig und isoliert.“
Der nächste Schritt beschreibt die Bedürftigkeit und erzeugt Mitleid. „Mein Mann nimmt mir nichts ab, will nur seine Ruhe haben ..., geht immer so früh zu Bett, hat keine Initiative.“ Abschließend wird das allgemeine Wunschziel genannt. „Man will ja schließlich noch was vom Leben haben, ein bisschen Spaß und Unterhaltung“, mit der Beschwichtigung, die kein Missverständnis aufkommen lassen soll: „… natürlich ganz harmlos.“
Das Finale: Handlungsabsichten werden genannt und romantisch verklärt. „Ich will mir ein bisschen die Beine vertreten und vielleicht mal nach dem Sohn sehen, draußen haben wir wunderschönen Mondschein und herrliches Meeresrauschen.“
Schließlich folgt als Bitte oder Angebot die direkte Frage: „Wer weiß, wo der wohl steckt? Würdest du mich ein Stück begleiten und mir helfen, ihn zu finden?“
So oder ähnlich stelle ich mir in meiner Fantasie den kommenden Ablauf vor. Einem Abenteuer bin ich grundsätzlich nicht abgeneigt und von ihrem Äußeren her finde ich Anna außerordentlich reizvoll. Aber mit einer verheirateten Frau, deren Mann und Sohn quasi im Nebenzimmer sitzen?
„Oh, seit wann sind wir denn so besorgt und so rücksichtsvoll wegen des Ehemannes – ein ganz neuer, sehr lobenswerter Zug“, folgt der ironische Kommentar auf dem Fuße. Ich fühle mich belästigt und erwidere ungeduldig: „Vielen Dank für die überaus freundliche Einschätzung, aber du verwechselst Rücksicht mit Vorsicht.“
Da ist noch etwas anderes, was mich vor ihr warnt, ohne es genauer bestimmen zu können. Warum ist sie mir unheimlich? Ein ähnliches Gefühl hatte ich vorhin am Strand, als ihr Bild plötzlich vor meinem geistigen Auge auftauchte.
Ich betrachte Anna unschlüssig. Befürchtungen kommen auf: Wenn sie nun gar nicht an einer kurzlebigen Affäre interessiert ist, sondern versucht, sich mit meiner Hilfe von ihrem Mann zu trennen? Sie lebt in derselben Stadt wie ich, das Ende des Urlaubes wäre nicht das Ende der Beziehung. Ich spüre einen Anflug von Panik.
Wie in einem Film sehe ich nun dramatische Szenen vor meinem geistigen Auge ablaufen:
Feindselige Blicke und verächtliche Bemerkungen von allen Seiten, Anna und ich ausgegrenzt, in Acht und Bann, ein gebrochener Ehemann, ständig schwankend zwischen Aggression und Depression, schwere Auseinandersetzungen zwischen ihr und ihm, Hasstiraden mir gegenüber, nur Millimeter entfernt von Tätlichkeiten. Er, ständig unter Alkohol und Sedativa, selbstmordgefährdet, will nicht mehr essen, wird ins Restaurant geschleppt, um ihm Nahrung einzuflößen, Notärzte gehen ein und aus ...
Und schließlich zu Hause in Berlin: Annas Auszug aus der Wohnung unter Polizeischutz, sie zieht bei mir ein, bringt alles durcheinander, kommandiert und nörgelt, Streitereien zwischen uns, Auseinandersetzungen mit dem Ehemann, Sohn Michael schmeißt die Schule, rutscht ab ins Drogenmilieu. Ständige Drohungen, Ultimaten, Telefonterror, Gerichts- und Anwaltbriefe, stundenlanges Liegen auf der Therapie-Couch ... Meine apokalyptischen Vorstellungen belustigen mich nun selbst, und ich versuche, mir das Lachen zu verkneifen, doch es gelingt nicht, da ist wohl auch der Alkohol mit im Spiel.
Anna schaut mich verwundert an, sie wartet noch immer auf eine Antwort, bezieht mein Lachen auf ihre Frage und will wissen: „Was ist denn an meiner Frage so komisch?“ Das bringt mich in Verlegenheit. Ich reagiere überstürzt und unbedacht. „Äh ..., weißt du ..., äh ..., die Frage ist schon in Ordnung, ich musste nur, äh ..., ich hab’ an was Komisches denken müssen.“
Anna zieht die Augenbrauen fragend hoch.
Nun gehe ich gestelzt und dozierend auf ihre Frage ein: „Also ..., äh ..., da gibt es ja verschiedene Ansätze ..., ich jedenfalls bin der Auffassung, dass man sich auf den Verstand und das Verantwortungsgefühl der beiden verlassen sollte. Sie argwöhnisch überwachen zu wollen - wenn das überhaupt möglich ist - würde eher das Gegenteil von dem bewirken, was man damit äh ..., zu erreichen sucht ..., andererseits, könnte man vielleicht ...“
„Ja, genau!“, unterbricht mich Anna.
Diese hastig hervorgebrachte Zustimmung beendet brutal meine gerade in Schwung kommende pädagogische Vorlesung. Ich bin irritiert und enttäuscht darüber, dass Anna nicht auf meine lichtvollen Darlegungen eingeht.
Sie zögert einen Moment, als müsse sie innerlich Anlauf nehmen, um sich Mut zu machen und lächelt mich verschmitzt an: „Würdest du mir verraten, worüber du eben gelacht hast?“ Mir rutscht das Herz in die Hose, ich fühle mich ertappt und spüre, wie ich erröte. Meine Gedanken laufen wirr durcheinander: Das, was ich gedacht habe, kann ich ihr unmöglich sagen. Abweisen möchte ich sie aber nicht. Sie hat sich zu dieser Frage überwinden müssen und auf liebenswürdige Weise gefragt. Was tun? Ich entscheide mich wohl für das Dümmste, was man in dieser Situation tun kann, denn ich versuche, mich mit einer teils wahren, teils erdachten Geschichte herauszuwinden. Sie beginnt mit dem Besuch meines Sohnes und dessen Freundin bei mir zu Hause. Plötzlich werde ich weggerufen und muss sie allein lassen. Beim Erzählen fällt mir mit Schrecken ein, dass damals beide bereits über zwanzig waren und diese Tatsache keinen vernünftigen Bezug zu Annas Eingangsfrage zulässt.
Ich improvisiere und merke, dass die Geschichte überhaupt nichts enthält, worüber man auch nur schmunzeln könnte. Panik kommt auf. Ich behaupte nun in meiner Not, das Lustige stecke in einer für Außenstehende schwer nachvollziehbaren Situationskomik. Das verschlimmert alles nur noch weiter. Das Wortgewölle, das ich hervorwürge, lässt Günters rhetorische Fähigkeit wie die eines Sportreporters erscheinen.
Zu Beginn meiner Erzählung zeigte Anna zunächst geduldige Neugier. Als die Pointe immer weiter auf sich warten lässt, wirkt sie zunächst verwundert und schließlich ein bisschen mitleidig.
Günter kommt mir unverhofft zur Hilfe. Er hat aus seiner Leinentasche, die er stets mit sich führt und in der er alle möglichen Utensilien wie Wörterbuch, Kompass, Vergrößerungsglas, Pflaster und andere nützliche Dinge aufbewahrt, eine Karte der Insel entnommen und platzt in meine Stotterei und Wortsuche hinein:
„Entschuldigt, wenn ich mal kurz störe“, er schiebt die Karte zu mir und tippt mit dem Finger auf eine große braune Fläche, „sag mal, da oben im Norden, das große Bergmassiv, lohnt es sich, dort hinzufahren, und kommt man mit dem Auto auf den Gipfel?“ Man beschäftigt sich offensichtlich mit Tourenzielen. Sicher missfällt den anderen unsere exklusive Gemeinsamkeit, und bestimmt handelt es sich bei Günters Vorstoß auch um einen Versuch, uns wieder in die Gruppe zurückzuholen. Wie auch immer, es ist eine hochwillkommene Unterbrechung, und mir fällt ein Stein vom Herzen.
Schnell gewinne ich meine Sicherheit in der Rolle des Inselsachverständigen zurück. Ich berichte ausführlich über das urwüchsige Bergmassiv, erwähne ein uraltes, hauptsächlich von Katzen bewohntes Dorf, in dem in der Saison noch ein Restaurant betrieben wird. Um Heiterkeit zu demonstrieren, füge ich grinsend hinzu, dass es dort nach der Saison dann weniger Katzen gibt. So richtig kommt meine humorige Bemerkung aber nicht an; hatte mir eine größere Wirkung erhofft. „Was nun den höchsten Berg betrifft, den knapp tausend Meter hohen ‚Pantokrator’“, fahre ich fort, „da kann man bequem mit dem Auto bis an das Kloster auf seinem Gipfel fahren. Von dort aus hat man an klaren Tagen einen wunderschönen Ausblick über die Insel und nach Albanien hinein.“ Günter will noch etwas mehr über das alte, historische Dorf wissen, doch Anna geht dazwischen und erklärt resolut, dass ich ihr noch das Ende einer Geschichte schulde und sie das zunächst hören möchte. Günter schreckt zurück, bedankt sich etwas verwirrt bei mir und widmet sich wieder den anderen. Ich komme mir jetzt vor, wie ein Tennisball, der zwischen den Parteien hin und her geschlagen wird. Anna schaut mich herausfordernd an.
Ich versuche folgsam, die Geschichte weiter zu führen. Es gelingt mir zwar, den Faden wieder aufzunehmen, aber ich verheddere mich darin so sehr, dass ich mit den Worten abreche: „Es tut mir leid, ich bekomme es nicht mehr ganz zusammen.“ Mein Gott ist das peinlich! Meine Stimme bemerkt: „Was heißt hier peinlich? Das war doch gar nicht so schlecht. Sie merkt, dass du ihr etwas verheimlichst; damit hältst du die Spannung aufrecht; dann tust du ihr leid, und sie bekommt dazu wegen ihrer indiskreten Frage noch ein schlechtes Gewissen. Ist doch kein schlechter Start oder?“
„Unsinn, das habe ich doch gar nicht gewollt“, protestiere ich.
„Ach so, ja, entschuldige, du hast damit natürlich nichts zu tun“, kommt es ironisch zurück. Es hat keinen Zweck weiter zu streiten, ich gebe auf.
„Lass mal gut sein, ist nicht schlimm, wollte dich nicht in Ver-
legenheit bringen, ist schon okay, wenn du es für dich behalten willst“, tröstet Anna mich amüsiert.
Nun beeile ich mich ebenfalls, eine etwas klägliche Entschuldigung hervor zu bringen und stottere: „Äh ..., weißt du ..., es ist etwas schwierig und äh ..., wie soll ich sagen ..., auch ein bisschen peinlich, aber vielleicht erzähle ich dir das später einmal.“
Eigentlich bin ich Anna dankbar, dass sie mich aus meiner selbstgebauten Falle befreit hat, aber es bleibt ein merkwürdiger Nachgeschmack. Ich fühle mich ertappt und unterlegen. Das allein aber ist es nicht. Irgendetwas hat sich verändert, ohne dass ich sagen kann, was es ist. Meine Stimme fragt sogleich:
„Was sollte eigentlich dein Angebot, du würdest ihr das vielleicht später mal erzählen? Was heißt später? Solche grotesken Phantasien teilt man doch nur mit jemandem, mit dem man sehr vertraut ist, so vertraut wie Ehepartner, wenn sie sich alter Zeiten erinnern.“
Diesmal weise ich meine Stimme nicht zurück. Ihr Hinweis beunruhigt mich. Steckt in meiner Entschuldigung tatsächlich ein Wunsch, ein Programm? Ich schüttele mir den Gedanken aus dem Bewusstsein, wie ein Hund das Wasser aus dem Fell.
* * *
Anna stellt mit Genugtuung und einem warmen Lächeln fest: „So mein Lieber, jetzt sind wir quitt. Das war meine Revanche für den Lachanfall, den du vorhin provoziert hast.“
Ich gebe mich unschuldig und antworte, dass ich gar nicht wüsste, wovon sie redet. Sie schaut mir in die Augen, ein Zucken umspielt ihre Lippen, und plötzlich beginnt sie - ohne einen für mich ersichtlichen Grund - laut aufzulachen. Ich schaue sie fragend an, sie lacht weiter und stammelt: „Nicht böse sein ...“, hält sich die Hand vor den Mund und versucht, sich zu beherrschen. Nun stiftet mich ihr Lachen unwiderstehlich an. Unsere Albernheit ist für die anderen unverständlich, wahrscheinlich sogar kränkend. So wie das Lachen mich mit Anna verbindet, grenzt es die anderen aus. Das mag besonders diejenigen verärgern, die keinen Spaß miteinander haben und sich nicht amüsieren können. Und davon scheinen einige am Tisch zu sitzen.
Sogleich kommt von Gabi die säuerliche Bemerkung: „Na, ihr amüsiert euch ja prächtig, lasst uns doch auch mal mit lachen!“
Anna antwortet mit erstickter Stimme: „Ja, gern, es ist mir wirklich unangenehm, aber das, worüber ich lache ...“, sie holt tief Luft und verwendet meine Antwort von vorhin wortgleich, „ist für Außenstehende“, sie prustet nun los, „nur schwer nachzuvollziehen.“ Gabi wendet sich kopfschüttelnd und pikiert von ihr ab. Anna wischt sich die Tränen aus den Augen. „Gabi entschuldige bitte, ich bin im Moment fürchterlich daneben.“
Die antwortet mit huldvoller Miene: „Ja, das merkt man schon …“, und nun herablassend, „aber lass mal, ist schon in Ordnung, kein Problem.“
Außer von Karin, die - wie ich meine - als Einzige freundlich und sehnsuchtsvoll zuschaut, ernten wir von den anderen herablassende und verständnislose Blicke. Anna und wahrscheinlich nun auch ich werden wohl nun den schwereren psychiatrischen Fällen zugeordnet. Zwei Verrückte, die sich gefunden und abgesondert haben. Wird man uns ausgrenzen und gewähren lassen, oder wird man uns resozialisieren?
Klaus hat das Geschehen die ganze Zeit über reglos mit versteinertem Gesicht verfolgt. Es strahlt keine Freundlichkeit aus. Diese Erkenntnis kühlt meine Heiterkeit schnell ab und ruft meine Stimme auf den Plan:
„Wundert dich das? Du hast dich bisher aus allem Gemeinschaftlichen herausgehalten, hast mit den anderen kaum gesprochen, nicht zusammen gegessen, bist den Erzählungen nicht gefolgt und hast dich fast nur mit Anna beschäftigt. Er muss doch den Eindruck haben, dass du das hier nur organisiert hast, weil du es auf seine Frau abgesehen hast?“ Ich antworte empört in mich hinein:
„So ein Quatsch! Doch nicht wegen der! Das hat sich halt so ergeben. Sie ist eben die Einzige, mit der man sich halbwegs vernünftig unterhalten kann. Na und? Und wenn ihm das nicht passt, soll er doch mit ihr reden!“
Anna hat sich ebenfalls wieder gefangen. Ich habe den Eindruck, dass sie die Abspaltung von den anderen begrüßt, vielleicht sogar absichtlich herbeigeführt hat. Sie wirkt ganz unbeschwert und wendet sich mir mit einem herausfordernden Blick zu. Ich möchte das Gespräch mit ihr unbedingt fortsetzen. Deshalb und um mir selbst meine Abgeklärtheit zu beweisen, ergreife ich die Initiative und frage Anna betont beiläufig, was sie denn so bisher getrieben hat.
Anna geht ohne zu zögern darauf ein. Mir kommt es vor, als wäre sie dankbar für meinen Vorstoß. Ihre spontane Bereitschaft, über ihr Leben zu berichten, könnte die Botschaft enthalten: „Komm, lass uns keine Zeit verlieren, um mehr über uns zu erfahren!“ Das, was sie berichtet, ist eine merkwürdige Mischung aus Vorstellungsgespräch, Lebenslauf, Erlebnisbericht und Reflexionen. Die Offenheit, mit der sie über sich spricht und ihre Lebensdaten preisgibt, berührt mich angenehm. Für ein erstes Gespräch zwischen Fremden ist es sehr persönlich, nahezu intim. Inhalt und Ernsthaftigkeit passen nicht zu einem Urlaubsflirt.
Im Mittelpunkt ihrer Darstellung steht die berufliche Entwicklung. Während sie über einen Studienaufenthalt in Moskau berichtet, platzt Gabi mit der Frage in unser Gespräch hinein: „Entschuldigung, aber sag mal Michael, wo war denn hier die Sissi?“ Ich verstehe nicht und blicke sie fragend an. „Na die Sissi, du weißt doch, die Königstochter!“
Mir wird nun klar, wen sie meint. „Du meinst Sissi, die österreichische Kaiserin. Ja stimmt, die war ’ne Zeitlang auf der Insel, wegen ihres Lungenleidens.“
„Und wo hat sie gewohnt?“
„Im ‚Achillion’, das ist ein kleiner Palast hoch über der Ostküste. Vor ein paar Jahren war da noch ’ne Spielbank drin, jetzt ist es ein Museum. Es lohnt, sich das mal anzusehen“, erkläre ich knapp und wende mich wieder Anna zu, die ihren Bericht fortsetzt.
Wenig später, es geht gerade um Annas Wechsel vom Chemiewerk Leuna II zur Akademie der Wissenschaften in Berlin, folgt die nächste Unterbrechung. Nun will Wolfgang etwas wissen: „Nur mal ’ne ganz kurze Frage, hast du schon mal Kumquat-Likör getrunken? Soll ja eine Spezialität sein, wie schmeckt der denn?“ Kumquats sind tischtennisballgroße Zwergorangen, die auf der Insel zu Konfitüre, kandierten Früchten oder mit Alkohol versetzt, zu Likör verarbeitet werden.
Ich fühle mich gestört und antworte etwas unwirsch: „Das kannst du gleich selbst feststellen, wenn du ’ne Runde ausgibst. Spyros hat so viel Kumquat-Likör, dass er ihn sogar verkaufen muss.“ Wolfgang lacht und meint, das sei eine hervorragende Idee. Er winkt sogleich Spyros heran und be- stellt Kumquat-Likör für alle.
Anna erzählt mir weiter, wie sich ihre Enttäuschung über den Sozialismus bis hin zu seiner Ablehnung entwickelt hat.
Der Kumquat wird gebracht, goldgelb leuchtend in den Likörgläsern. Ich habe dieses extrem süße Zeug nie gemocht. Wir prosten uns gegenseitig zu und danken dem Spender. Für einen Moment lang, scheint so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl aufzuflackern. Die Reaktionen auf das Getränk fallen erwartungsgemäß unterschiedlich aus, manchen schmeckt es gut, andere schütteln sich angewidert.
Nach dem Umtrunk setzt Anna ihre Erzählung unbeirrt fort. Sie spricht nun über ihre Eltern, deren Herkunft und Einstellung und über anfängliche ideologische Konflikte mit ihnen. Allein dabei werden wir viermal unterbrochen.
Ich gewinne den Eindruck, dass Anna und ich für die anderen eine Festung darstellen, die sie belagern und mit Fragen sturmreif schießen wollen.
Anna wird schließlich von Gabi - der hartnäckigsten Belagerin - aufgefordert, doch allen zu berichten, was sie mir erzählt. „Dazu ist es jetzt zu spät, ich bin am Ende meiner Geschichte“, entgegnet Anna zunächst freundlich und fährt in schärferem Ton fort, „sagt mal, ist es so schwer, euch ohne uns zu beschäftigen?“
Einerseits erschreckt mich diese direkte Art ein wenig, andererseits gefällt mir, wie Anna ihre Interessen verteidigt und wie sie zuvor die Tischrunde offensiv befragt hatte, ob jemand ein Problem mit ihr hätte. Wieder reagiert niemand. Vielleicht fühlt man sich gar nicht angesprochen oder möchte auf Annas Provokation nicht eingehen. Möglicherweise hat man ein schlechtes Gewissen, uns immer wieder gestört zu haben. Jedenfalls wird zunächst der Fragenbeschuss eingestellt; die Belagerung aber ist damit längst nicht aufgehoben.
Anna fährt fort und geht auf ihre gegenwärtige Situation ein.
Sohn Michael wird im nächsten Jahr sein Abitur machen. Er hat sich gut entwickelt, sie ist auf ihn und auf sich stolz, weil bisher alles gut gelaufen und gelungen ist. Beide haben ein sehr vertrautes Verhältnis zueinander. Sie hat begonnen, ihn langsam loszulassen. Beruflich ist sie im Begriff, gemeinsam mit einer Kollegin eine Beratungsfirma zu gründen. Über ihrem Mann Klaus redet sie nicht.
* * *
Anna spricht ruhig und gesammelt. Ihre Stimme hat einen dunklen, angenehmen Klang. Beim Sprechen bleibt sie ständig mit mir in Kontakt, behält mich im Blick. Ich höre gebannt zu und spüre, wie sie mich immer mehr gefangen nimmt. Von vornehmem Getue oder Herablassung ist nichts mehr vorhanden.
Zum Abschluss ihrer Darstellung sagt sie ruhig und mit entwaffnender Offenheit: „Übrigens, die Frage wegen Michael und der kleinen Griechin habe ich nur gestellt, um mit dir ins Gespräch zu kommen. Ich habe dich vom ersten Moment an gemocht und möchte dich näher kennenlernen.“ Sie schaut mir dabei ernst und fest in die Augen. Dieser Satz kommt wie ein Paukenschlag. Ich bin sprachlos. Manches hätte ich von ihr erwartet, aber kein so geradliniges und freimütiges Bekenntnis ihrer Zuneigung. Ich sehe in diesem Moment wohl ziemlich dämlich aus. Meine Gefühle wirbeln durcheinander, ich weiß nicht, was ich empfinde. Sogleich meldet sich meine Stimme vorwurfsvoll:
„Du weißt das ganz genau, aber du bist schon wieder dabei, dich zu beschwindeln. Seit der Fischverkostung - wahrscheinlich aber schon bei der ersten Begegnung - hat diese Frau ein Feuer in dir entfacht, das jetzt lichterloh brennt. Du aber gaukelst dir die Rolle des neutralen Beobachters vor, weigerst dich starrköpfig, ihr und dir einzugestehen, wie liebenswert sie ist und wie sehr du dich von ihr angezogen fühlst. Du bist gerade dabei, dich in sie zu verlieben.“
Wieder fühle ich mich hilflos und unterlegen, dabei wollte ich ihr gegenüber doch souverän auftreten, aber das ist gründlich daneben gegangen. Anna scheint mir mehrere Schritte voraus zu sein. Sie erkennt meine wachsende Zuneigung und meine Verwirrung, merkt, dass zurzeit ein Sturm durch mein Bewusstsein tobt, der viele Fragen aufwirbelt und ein Gefühlschaos hinterlässt.
„Ist doch klar! Sie ist dir deshalb überlegen, weil sie ihre Gefühle kennt und im Griff hat. Du dagegen weißt im Augenblick nicht, wo hinten und vorne ist und hast alle Hände voll zu tun, deine Unsicherheit zu überspielen“, erklärt meine Stimme und fordert mich auf, „schau doch mal genau hin, wie du sie jetzt siehst und erlebst!“
Tatsächlich sind meine Vorbehalte wie Wasser auf einem heißen Stein verdampft. Die Art, freundlich, offen und unkompliziert mit mir umzugehen, und das Gespür, zu erkennen, was in mir vorgeht, stehen im krassen Gegensatz zu meinem bisherigen Bild von ihr. Wie um alles in der Welt konnte ich mich so täuschen oder täusche ich mich jetzt?
Mir wird nun klar, dass unsere Zweisamkeit mehr bedeutet, als ein lebhafter Gedankenaustausch oder ein harmloses Tête-à-Tête. Es ist der Beginn einer intensiven Beziehung. Meine Stimme applaudiert:
„Bravo, nun hast selbst du es, wenn auch als Letzte, endlich gemerkt!“
Dass eine ganze Reihe Zaungäste unseren Flirt beobachtet, macht mir Kopfschmerzen. Insbesondere Klaus gegenüber habe ich ein ungutes Gefühl. Anna dagegen scheint diese Situation keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten, denn davon unberührt, fragt sie nun nach meiner Entwicklung.
Ich beschreibe die wichtigsten Stationen meines privaten und beruflichen Werdegangs. Besonders intensiv fragt sie nach meiner früheren Tätigkeit in der Justizverwaltung. Hierüber will sie alles ganz genau wissen - ein für mich schwer nachvollziehbares Interesse.
* * *
Wieder werden wir unterbrochen! Die Belagerer melden sich zurück. Man hat das Ende von Annas Erzählung bemerkt und will offenbar die Fortsetzung unseres Flirts verhindern. Der Beschuss wird erneut aufgenommen. Es ist Wolfgang, der den nächsten Angriff auf die Festung vorträgt. Er fragt, wie ich diesen Urlaubsplatz gefunden habe und wie oft ich hier Urlaub gemacht habe. Er sei von der Insel ganz begeistert.
Ich habe zwar keine große Lust, die Geschichte zu erzählen, will mich aber meiner bisherigen Ungeselligkeit und meines schlechten Gewissens wegen nicht länger ausschließen. Auch Anna ermuntert mich nachdrücklich dazu. Sie ist an meiner Geschichte wohl am meisten interessiert. So beginne ich seufzend und zögerlich meinen Bericht:
„Meine Odyssee, wie ich hier nach Irrwegen angespült wurde, beginnt damit, dass ich als junger Mann die Privatpilotenlizenz erworben hatte und mein erster Flug ins Ausland geplant war. Mit von der Partie waren mein Freund und Fluglehrer Manfred und dessen Frau Beate. Das gab mir als Neuling große Sicherheit.“
Bereits hier werde ich unterbrochen. Es werden Fragen nach den Kosten einer solchen Ausbildung, nach der Art der Maschine und nach technischen und rechtlichen Details gestellt. Ich antworte so gut ich kann und fahre fort.
„Wir beschlossen, in Richtung Jugoslawien zu fliegen. Bei einem Tankstopp in Venedig stellte ich jedoch fest, dass ich die Navigationskarten für Jugoslawien vergessen hatte. Als Fluglehrer war Manfred sauer wegen meiner schlechten Flugvorbereitung, als Freund war es ihm egal, da wir ohnehin kein genaues Ziel festgelegt hatten. Wir änderten also unsere Tour und flogen die Adriaküste des italienischen Stiefels hinunter bis nach Bari. Dort gefiel es uns nicht. Da keiner von uns bisher in Griechenland war, entschieden wir, die etwa einhundertsechzig Meilen über das Meer zur Insel zu fliegen. Zwar hatten wir dafür auch keine Flugkarten, aber der Fluglotse des hiesigen Flughafens leitete uns sicher bis zur Schwelle der Landebahn.“
Erneut tauchen Fragen zum Funkverkehr, nach Landeplätzen, Flugsicherheit und Navigation auf. Auch diese beantworte ich artig.
Während ich berichte, schaut mich Anna unverwandt und aufmerksam an, hängt an meinen Lippen, nippt gelegentlich an ihrem Weinglas. Einmal berühren sich unsere Knie, und es durchzuckt mich wie ein Stromschlag. Ich lasse mir nichts anmerken, weiß nicht, ob diese Berührung zufällig oder beabsichtigt war. Die Anzahl der folgenden Körperkontakte unter dem Tisch liefert dann aber eine eindeutige Antwort.
Ich tue weiterhin so, als würde ich von alledem nichts mitbekommen. Tatsächlich aber lösen ihre Zärtlichkeiten und Neckereien wohlige Schauer bei mir aus, und ich verliere ab und zu den Faden meiner Erzählung. Anna freut sich diebisch, mich zu irritieren. Wenn ich sie vorwurfsvoll oder Hilfe suchend anschaue, reagiert sie mit einem unschuldigen, treuherzigen Augenaufschlag. Gleich darauf hat sie mich aber wieder beim Wickel. Durch ihre kleinen Gemeinheiten fällt mein Bericht sehr stockend aus.
„Wir mieteten ein Auto und befuhren die Straße entlang der Ostküste in Richtung Süden. Es war fürchterlich! Kaum Strand, überall betonierte, lärmende Touristenzentren. Erschöpft und nahezu resigniert versuchten wir es auf der Westseite der Insel. Dabei kamen wir zu dem kleinen Dorf dort oben. Wir erkundigten uns nach Übernachtungsmöglichkeiten, und man wies uns den Weg zu dieser Taverne. Nach abenteuerlicher Fahrt durch unwegsames Gelände, damals gab es die Straße noch nicht, erreichten wir die Anhöhe“, ich deute mit der Hand zum Hügel hinauf, „von dort bot sich uns dieses traumhafte Panorama mit der untergehenden Sonne, das ihr ja kennt.“ Ich mache eine kurze Pause, trinke einen Schluck Bier. Sogleich startet Anna eine neue Attacke. Ihre Berührungen lassen sich in drei Arten einteilen:
Die kumpelhaft-ruppige:
Sie stößt mich mit ihrem Knie unter dem Tisch an, tritt mir auf den Fuß, kneift mir in den Oberschenkel und boxt mich leicht mit dem Ellenbogen in die Seite.
Die liebevoll-zärtliche:
Sie berührt mich behutsam mit ihrem Bein und drängt es an mich, legt scheinbar gedankenlos ihren Arm auf die Lehne meines Stuhls, malt Figuren mit den Fingern auf meinen Rücken, oder streichelt ihn sanft.
Die provokant-erotische:
Sie schiebt mit ihrem nackten Fuß mein Hosenbein ein Stück nach oben und streicht langsam und sanft mit ihrer Fußsohle an meinem Bein entlang oder fährt mit der Hand über meinen Oberschenkel.
Ich kann mich nicht erinnern, von einer Frau in dieser Weise so offen und aktiv umworben worden zu sein. Bisher war das eher mein Part. Ich spüre, wie ich mehr und mehr in ihren Bann gerate. Ihr Gesicht, ihre Stimme, Blicke und Berührungen, die kleinen Zärtlichkeiten und ihre verhaltene Lust benebeln mich, bauen eine intensive erotische Spannung auf. Wenn sie mir ihr Gesicht zuwendet, kommen wir uns ganz nahe. Ihr Atem mit dem leichten Weingeruch erregt mich, löst wollüstige Phantasien aus. Um ihre Lippen zu berühren, sind nur ein paar Zentimeter zu überwinden. Aber wegen der anderen am Tisch beträgt diese Entfernung im Augenblick Lichtjahre.
Ich beende meine Geschichte mit der Bemerkung: „So gehört meine Liebe seit über zwanzig Jahre diesem Platz. Übrigens, ich habe jetzt wieder das Zimmer bezogen, in dem ich damals gewohnt habe.“ Günter möchte noch wissen, wie es hier damals ausgesehen hat.
„Alles war einfacher, manches sogar primitiv. Es gab damals kaum Häuser entlang der Hügel, nur wenige Touristen haben sich hierher verlaufen.
Die Terrasse, auf der wir sitzen, bestand aus einem einfachen, rechteckigen Betonquader, darauf ein einfaches Metallgestell, das mit Bambusstroh bedeckt war und als Sonnenschutz diente. Wenn es regnete, musste man sich entweder in den kleinen Gastraum oder unter den Teil des Terrassendachs zurückziehen, der mit einem größeren Stück Wellblech abgedeckt war. Zur Seeseite hielt eine einfache Fensterwand den Wind ab. Holztische und Stühle mit geflochtenen Sitzflächen bildeten das Mobiliar. Auf diesen Stühlen ohne Kissen länger zu sitzen, war nicht gerade bequem, man hatte hinterher ein tiefes Relief des Flechtmusters im Sitzfleisch. Morgens wurde die Terrasse mit Wasser aus einem Gartenschlauch abgespült. Das schaffte eine angenehme Kühle, wenn man sein Frühstück einnahm. Romantisch und urig wurde es am Abend. Zwei Stunden nach Sonnenuntergang gab es kein elektrisches Licht, und es wurden Kerzen auf die Tische gestellt. Georgios und seine Frau Georgina bewirtschafteten die Taverne, Georgios Eltern unterstützten sie, und die drei Kinder wuselten herum und mussten tüchtig mithelfen.“ Ich weise in Richtung Terrassentür.
„Da drüben am Eingang zum kleinen Gastraum saß abends
immer Kosta, der Vater von Georgios. Er überwachte das Geschehen und schlief dabei regelmäßig ein. Wir nannten ihn ‚Eule’, einmal wegen seiner starken Brillengläser zum anderen, weil er beim Schlafen zur Seite sank und er dann, wie ein großer Vogel aussah, der den Kopf ins Gefieder steckt.“
Wolfgang fragt nach den damaligen Übernachtungspreisen. „Etwa die Hälfte einer heutigen Schachtel Zigaretten“, und ich füge abschließend hinzu, „so, ich glaube, das waren ausführliche Antworten auf eure Fragen.“ Man nickt und bedankt sich.
* * *
Klaus steht auf, brummelt etwas. Ich verstehe nicht, was er sagt, es könnte ein Dankeschön sein. Er macht sich auf in Richtung Toilette. Karin folgt ihm. Ich bin erleichtert, dass er für eine Weile verschwunden ist. Die anderen sprechen noch über meine Entdeckerfahrt und darüber, wie sie zu ihren eigenen bevorzugten Urlaubsorten gelangt sind.
Ich betrachte nun Annas Gesicht in Ruhe. Irgendwie kommt es mir sehr vertraut vor, ich durchsuche mein Gedächtnis, kann es jedoch nirgends zuordnen. Dabei ist es wahrlich kein Allerweltsgesicht. Oval geschnitten, ein schmales rundes Kinn, kleine, eng anliegende Ohren. Besonders markant ist die Augenpartie mit den dunklen, kräftig ausgebildeten Augenbrauen. Diese bilden einen über der Nasenwurzel unterbrochenen, fast geraden, kräftigen Strich und stehen zum hellen Teint und dem aschblonden Haar in reizvollem Kontrast. Sie unterstützen darüber hinaus die Ausdruckskraft der Augen und sind wie der Mund Blickfang des Gesichtes. Die Augen groß, grünlich mit braunen Einsprengseln, stehen vielleicht eine Idee zu weit auseinander. An den Schläfen haben sich kleine Strahlenkränze aus Lachfältchen gebildet, die sich hell von der bereits gebräunten Gesichtshaut abheben. Annas Nase ist schmal und nicht ganz gerade, die Nasenspitze weist ein wenig nach oben. Das vermittelt, je nach Einstellung des Betrachters, einen hochnäsigen oder kecken Ausdruck. Ihren Mund habe ich sogar zu Zeiten meiner Ablehnung als schön empfunden. Er ist eher klein, für einen Kirschenmund aber schon zu groß. Die weich geschwungene Linie der Lippen und der fein ausgeformte stark hervorgehobene Bogen der Oberlippe geben dem Mund ein herzförmiges Aussehen. Auch ohne Make-up besitzen die Lippen ein kräftiges Rot. Das Haar, schulterlang, ist nicht gefärbt und heute Abend zu einer Hochfrisur aufgesteckt, die Annas schlanken Hals vorteilhaft betont. Feiner blonder Flaum am Haarsansatz ruft in mir den Wunsch hervor, sie dort mit meinem Mund zu berühren. Eine Haarsträhne hat sich gelöst und bedeckt einen Teil ihres Gesichts. Der Blick, der durch diesen Vorhang dringt, ist warm und verführerisch. Ich betrachte verstohlen die Ansätze ihrer Brüste, die das weit ausgeschnittene schwarze Oberteil freigibt. Das alles erregt mich. Mein anfängliches Angstszenario ist nun Realität geworden. Manche Befürchtungen haben jetzt Gehalt und Gestalt angenommen. Der Ablauf ist eingeleitet, die nächsten Schritte vorgezeichnet. Jetzt sind mir die möglichen Konsequenzen gleichgültig, mit denen ich mir eben noch Angst gemacht habe. Mir ist klar, dass hier mehr geschieht, als nur eine knisternde, kurzlebige Urlaubsaffäre, und ich weiß, dass Anna es weiß. Die Würfel sind gefallen.
Noch sträube ich mich, mit eigenen Zärtlichkeiten auf die ihren zu antworten. Ich möchte dieses spannungsgeladene Spiel so lange wie möglich fortsetzen, um Annas Werbung weiterhin zu genießen. Außerdem wird dadurch auch die Illusion am Leben erhalten, ich besäße noch einen Rückweg. Schließlich benötige ich Zeit, mich von lieb gewonnener Freiheit und Ungebundenheit zu verabschieden. Ihre Liebeserklärungen unter und über dem Tisch sind nachdrücklicher geworden. Anna bemüht sich kaum, sie vor den anderen zu verbergen, und mir fällt es immer schwerer, diese Zärtlichkeiten unbeachtet und unbeantwortet zu lassen. Anna ist darüber wohl verwundert, denn sie fragt leise:
„Ist dir das unangenehm, was ich hier mache?“
„Nein, überhaupt nicht, es bringt mich nur durcheinander.“ „Das soll es auch!“, lacht sie und prostet mir zu.
Von den anderen am Tisch bekomme ich einige Sätze mit, ohne wirklich zuzuhören. Man hat sich jetzt wieder der Tourenplanung zugewandt und studiert weiter konzentriert die Landkarte. Was Anna und mich betrifft, tut man so, als gäbe es uns nicht. Es ist wie im Aufzug eines Hochhauses, wo die mitfahrenden Personen in drangvoller Enge unverwandt auf ihre Schuhspitzen oder auf die Knopfleiste starren und krampfhaft versuchen, so zu tun, als sei niemand außer ihnen anwesend.
* * *
Gerade will ich Anna zuraunen, dass ich mich wegen Klaus unwohl fühle, da ertönt plötzlich dessen Stimme:
„Sag Anna, wollen wir uns noch eine Karaffe Wein teilen?“ Dann winkt er mit einem Prospekt und sagt, „komm’ setzt dich zu mir, und schau dir das an, da könnten wir doch mal hinfahren.“
Seine Stimme dröhnt in meinen Ohren so laut, wie die Jets im Vorbeiflug. Auch sie zerstört. Hier ist es die intime Atmosphäre zwischen mir und Anna. Die Tatsache, dass ich Klaus’ Rückkehr von der Toilette nicht bewusst wahrgenommen habe, macht mir klar, wie weit ich mich mit Anna von allen anderen entfernt habe.
Bisher hatte Klaus unsere Gespräche schweigend hingenommen. Mit seiner Frage und Aufforderung an Anna bringt er sich wieder als Annas Partner ins Spiel und zeigt, dass er eine Fortsetzung unseres vertrauten Gesprächs nicht weiter zulassen will. Damit führt er den wirkungsvollsten Angriff auf unsere Festung.
Hinter den Attacken der anderen stand nur das Bedürfnis, uns einzubeziehen. Deshalb waren sie leicht abzuwehren. Der Eingriff von Klaus will nicht einbeziehen, sondern will trennen. War ich den anderen gegenüber vielleicht unhöflich, so bin ich Klaus gegenüber gewiss unmoralisch. Es bleiben das Bewusstsein, ertappt worden zu sein und ein paar Schuldgefühle. Anna dagegen wirkt eher verärgert, so als habe nicht sie, sondern er etwas falsch gemacht.
„Nein danke, ich habe noch, ich sehe mir das vielleicht später an.“, sagt sie unwirsch, ohne sich ihm zuzuwenden. Haltung und Tonfall aber sagen „Lass uns in Ruhe! Misch dich nicht ein!“ Klaus’ Reaktion darauf ist ein süffisantes Lächeln.
Nun kehrt auch Karin zurück und setzt sich brav neben Wolfgang. Der wendet sich ihr mit falschem Lächeln zu, tätschelt ihre Hand und tut so, als wäre sie ein Jahr lang fort gewesen. Will er uns demonstrieren, wie eine liebevolle und stabile Beziehung aussieht? Das wäre dann ein misslungener Versuch. Wahrscheinlich haben die Anderen Klaus’ Eingriff als Hilferuf verstanden, denn nun setzt eine muntere Geschäftigkeit ein, uns auseinander zu bringen.
So fragt Gabi, ob Anna sie auf die Toilette begleiten würde. Was doch so eine Toilette für bedeutsame Nebenfunktionen besitzt! Asyl und Zuflucht, Ort der Begegnung, Aussprache und Besinnung, Ausweichplatz und Raum zur Wiederherstellung der äußeren und inneren Verfassung!
Anna reagiert auf die Bitte zunächst etwas unwillig, erklärt sich dann aber doch bereit, mit ihr zu gehen.
Ich mache mich ebenfalls auf den Weg dorthin, folge den beiden Frauen in der Hoffnung, bei Klaus den Eindruck zu erwecken, dass ich mit Anna verschwinden will. Das ist es, was ich mir sehnsüchtig wünsche, mich aber nicht zu tun getraue. Wenigstens hoffe ich, trotz schlechten Gewissens, dass er darüber beunruhigt ist. Unsere Festung aber ist nun geschleift.
Als ich zurückkomme, bemerke ich bei Klaus Erleichterung, oder bilde ich mir das nur ein? Von Anna und Gabi ist nichts zu sehen.
Noch bevor ich mich setzen kann, empfängt mich Günter aufgekratzt mit der Frage, ob ich etwas über die Navigation von Schiffen weiß, die ja wohl nach ähnlichen Prinzipien funktioniert wie bei Flugzeugen. Ich murmele verwirrt und ausweichend, dass ich mich dort nicht so genau auskenne. Er ist redlich bemüht, mich in das Gespräch einzubeziehen und berichtet mit gewinnendem Lächeln, dass man das Medium gewechselt hat, man ist von der Luft- zur Seefahrt gelangt und diskutiert über Seefähren und deren Zuverlässigkeit.
Wolfgang und Karin sind mit einer solchen Fähre auf die Insel gekommen und haben sich besorgt über den anscheinend schlechten Zustand des Schiffes geäußert. Wie spannend! Auf solch ein Thema habe ich den ganzen Abend gehofft.
„Siehst du, das ist die Strafe!“, feixt meine Stimme. Diesmal sehe ich das genauso. Zu Günter und den anderen sage ich vorsichtig, dass ich wahrscheinlich nicht viel zum Thema beitragen kann und erst mal zuhören möchte. Das tue ich eine Weile ohne Interesse, habe Mühe, mein Gähnen zu unterdrücken und nicht zu oft in Richtung Toilette zu blicken, von wo ich Anna zurück erwarte. Wolfgang beklagt nun nochmals, warum eine solch klapprige Fähre, mit der sie angereist sind, nicht außer Dienst gestellt wird. Klaus wendet ein, dass sie dann ausgemustert werden muss, wenn die technische Sicherheit nicht mehr gewährleistet ist, das aber könne man am äußeren Zustand des Schiffes nicht notwendigerweise erkennen. Wenn eine ständige und sorgfältige Wartung von qualifiziertem Personal vorgenommen wird, kann das Schiff eine sehr lange Lebens- und Leistungsdauer erreichen. Es müssen eben alle Verschleiß- und Gefährdungsfaktoren erkannt und behoben werden, wichtig sei vor allem, betont er mehrfach, dass die notwendigen Vorschriften unbedingt eingehalten werden müssen. Seine Behauptungen trägt er so nachdrücklich und bestimmt vor, dass jeder Widerspruch aussichtslos erscheint.
Ist es mein Kampf gegen die Müdigkeit, oder spüre ich so etwas wie Provokation, die mich aus meinem dämmerigen Zustand herausholt? Jedenfalls bringe ich mich nun ins Gespräch ein, indem ich zunächst zustimme und bestätige, dass auch Flugzeuge noch im Dienst sind, obwohl sie viele Jahre auf dem Buckel hätten. Verantwortlich dafür sind streng kontrollierte Wartungsrhythmen und ein System der Vorbeugung, wonach technische Aggregate, obwohl sie noch nicht schadhaft sind, nach festgelegten Nutzungszeiten ausgetauscht werden müssen. Vermutlich wird es ähnliche Vorschriften in der Schifffahrt geben.
Ich behaupte dann, dass die Güte der Wartung eines technischen Systems nicht allein für die Nutzungsdauer maßgeblich ist, sondern genauso der ökonomische Ertrag, den es erbringt. So sollte eine Fähre außer Dienst gestellt werden, wenn die Reparatur- und Wartungskosten den wirtschaftlichen Ertrag auffressen und wenn neue Technik verfügbar ist, die höhere Sicherheit und Effektivität ermöglichen. Klaus lehnt sich zurück und wirkt nachdenklich. Ich spüre sein Widerstreben, und mir drängt sich der Eindruck auf, dass wir über etwas ganz anderes sprechen.
In einem Gedankenspiel ersetze ich den Begriff „Seefähre“ durch „Partnerbeziehung“, und plötzlich gewinnt das Thema eine neue Bedeutung, wird interessant und brisant. Das Problem, das Anna und ich mit unserem Techtelmechtel aufgeworfen haben, führt zu der Frage nach der Stabilität und Lebensdauer vorhandener Beziehungen. Möglicherweise diskutieren wir dieses Thema in dieser verschlüsselten Form.
* * *
Ehe jemand auf meinen Beitrag antworten kann, stehen Giannis und Ehefrau Eleni an unserem Tisch. Ich habe ihr Kommen nicht bemerkt, freue mich, sie zu sehen, und bin erleichtert, dass damit der eigenartige Dialog mit Klaus unterbrochen wird. Zum Thema „Seefähren“ scheint alles Notwendige gesagt zu sein; Klaus und ich verstehen unsere unterschiedlichen Standpunkte wahrscheinlich sehr genau.
Ich stehe auf und umarme beide zur Begrüßung. Giannis hat in einem Körbchen frisch gepflückte Feigen mitgebracht. Er klopft zur Begrüßung auf den Tisch und stellt das Körbchen wortlos darauf. Eleni nickt der Gruppe zu und wünscht einen guten Abend. So bleibt uns glücklicherweise ein weiteres Händeschüttelzeremoniell erspart.
Ich kenne die beiden schon lange. Sie besitzen oben an der Straße ein schönes Haus mit ein paar Gästezimmern. Ich habe dort schon mehrmals gewohnt, wurde wie ein Familienmitglied behandelt und habe mich auch so gefühlt.
Giannis ist ein gut aussehender, kräftiger, untersetzter Mittvierziger, Kopfform, Gesicht, Haartracht und Bart ähneln ein wenig der Büste des Philosophen Platon. Er besitzt ein sehr sympathisches, freundliches und ausgeglichenes Wesen, ist klug, hilfsbereit und verlässlich.
Bei den Einheimischen genießt er hohes Ansehen. Über ihn habe ich noch nie spitze Bemerkungen gehört, mit denen man hier sonst überhaupt nicht sparsam umgeht. Früher betrieb er eine Autowerkstatt. Daher rührt sein Spitzname ‚Motor-Giannis’. Er hat damals ein Auto entwickelt, das man manchmal noch auf den Straßen der Insel antrifft. Es ist ein stockhässliches, kastenförmiges, landwirtschaftliches Nutzfahrzeug von robuster Bauart. Die Werkstatt hat er seit Langem aufgegeben und arbeitet jetzt als Kraftfahrer. Leider ist sein Englisch sehr mäßig, sodass unsere Unterhaltungen ähnlich verlaufen, wie die mit Christos, dem Frosch. Eleni ist Lehrerin. Etwas jünger als Giannis, eine stille, nachdenkliche, warmherzig wirkende Frau mit klugen Augen. Sie lehrt Englisch. Deshalb kann ich mich mit ihr über Themen wie Politik und Wirtschaft unterhalten. Leider kommen wir nur selten dazu, denn wenn wir uns treffen, spielen wir Tavli, auch Backgammon genannt, mit großer Leidenschaft.
Unser Spiel ist nicht frei von nationalen Eitelkeiten. Da ich bei den bisherigen Partien etwas besser abgeschnitten habe, versucht sie die Schmach zu tilgen, im landeseigenen Spiel geschlagen worden zu sein. Sicherlich hat sie deshalb schon das Brettspiel in der Hand, um Revanche zu fordern. Und eins ist klar, unser Spiel hat Vorrang.
Ich entschuldige mich bei meiner Tischgruppe, erkläre kurz die besondere nationale Bedeutung dieses Wettstreites und ziehe mich mit Eleni an einen freien Tisch zurück. Giannis setzt sich zu den Leuten aus dem Dorf.
Mir ist klar, dass mein Verhalten nicht besonders höflich ist, aber ich rechtfertige es vor mir damit, dass ich meinen Beitrag zur Unterhaltung und Geselligkeit bereits geliefert habe. Außerdem ist die Gruppe durch die Abwesenheit von Anna und Gabi ohnehin zersplittert.
* * *
Während Eleni und ich auf die Getränke warten und die Steine in die Ausgangsposition stellen, gehen meine Gedanken zurück zum Gespräch mit Anna.
Das Zusammensein mit ihr habe ich in vielen Gefühlsschattierungen durchlebt. Es war beängstigend, irritierend, erregend, erotisierend, befreiend und berauschend. Schließlich hat das Bekenntnis ihrer Zuneigung meine Stimmung in lichte Höhen katapultiert. Ich kann jetzt vor mir bekennen, dass ich mich in sie verliebt habe.
Dies alles wurde durch meine Anregung zum gemeinsamen Essen möglich, über die ich mich selbst gewundert und später sogar geärgert habe. Eine schlüssige Erklärung für diese seltsame Initiative hatte und habe ich nicht. Normalerweise vermeide ich solche Veranstaltungen, weil ich mich unter bekannten Griechen wohler fühle, als unter fremden Deutschen. Auch kann ich nicht behaupten, dass mir diese Leute besonders sympathisch sind. Nun, nach dem Verlauf des Abends zu urteilen, scheine ich das Treffen unbewusst wegen Anna arrangiert zu haben. Wenn das so ist, dann stellt sich die Frage, warum dieser umständliche Fackelzug notwendig war? Warum musste ich sie zuerst massiv abwerten, in ihr eine unsympathische, bornierte Ziege sehen, um sie - quasi getarnt in der Gruppe der anderen - zu diesem Abend einzuladen, nur um mühselig festzustellen, dass sie diese Ziege gar nicht ist. Das ist doch verrückt! Warum waren mir der Kontakt zu ihr und ihre Neuentdeckung so wichtig?
Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen, und mir wird klar, dass mich diese Frau von Anfang an interessiert hat. Jetzt erst wird mir widerstrebend bewusst, wie ich in den Tagen zuvor am Strand nach ihr ausgeschaut, meinen Lagerplatz in ihrer Nähe aufgeschlagen, oft zu ihr hinüber gesehen, ihre Figur taxiert und mit nicht ganz stubenreinen Phantasien verknüpft habe. Ich wurde sogar unruhig, wenn ich sie am Tage oder am Abend nicht sah.
Das führt zu der Frage, wieso ich mein Interesse an ihr nicht wahrnehmen durfte? Warum habe ich Annas Attraktivität geleugnet und ihre Freundlichkeit und Zugewandtheit als Stewardessenrolle gegenüber jedermann gedeutet? Positive Regungen ihr gegenüber habe ich offensichtlich sofort weggewischt, so wie das Bild von ihr, das vor meinem geistigen Auge am Strand auftauchte. Noch vor wenigen Stunden hätte ich Stein und Bein geschworen, dass ich kein Interesse an ihr hätte.
Also, noch einmal! Wozu dieser aufwändige Umweg? Wer oder was in mir hat das gewusst und gesteuert, und vor allem warum? Um genügend Abstand zu ihr zu halten? Weil sie verheiratet ist? Meine Stimme höhnt sogleich:
„Du doch nicht! Dass eine Frau verheiratet ist, hat dich doch noch nie abgehalten.“
„Aber was war es sonst? Na, los, raus mit der Sprache, hast du das alles durchschaut und arrangiert!?“
„Niemand außer dir! Es ist dein Kasperle-Theater, dein Stück und deine Regie, du bist der Spieler, ich bin nur die Handpuppe.“ Eine solche Erklärung habe ich erwartet und resigniere:
„Typisch, du weißt nie etwas, aber alles weißt du besser.“
Meine Sehnsucht nach einer harmonischen Beziehung, aber auch das Risiko, sich auf einen anderen Menschen einzulassen, sind mir durchaus bewusst. Diese Risikoangst trat in den apokalyptischen Vorstellungen zu Beginn des Gesprächs mit Anna deutlich zutage.
Ich lebe seit meiner Scheidung allein und möchte den Zustand nicht leichtfertig preisgeben. Der Nutzen meines Singledaseins liegt im Kern in einem hohen Maß an Freiheit und Ungebundenheit und in einem gewissen Schutz vor Verletzung, Konflikt, Eifersucht, Betrug und Verlust. Für diese Unabhängigkeit muss ich mit Einsamkeit, einem Mangel an Liebe, Zärtlichkeit, Geborgenheit und tieferen Gefühlen beim Sex bezahlen.
Nun können Familie, Freunde, Katze und kurzlebige Partnerschaften etwas helfen, diesen Preis niedrig zu halten, und solange ich meinen gegenwärtigen Zustand als angenehm empfinde, sind Kosten und Nutzen gut ausbalanciert.
Anna ist es offensichtlich gelungen, dieses Gleichgewicht zu verschieben. Mir kommen aber Zweifel. Schließlich haben andere Frauen vor ihr das auch bewirkt; es ist ja nicht das erste Mal, dass ich aus einem Singledasein heraus eine Partnerschaft eingehe. Natürlich waren damit immer gewisse Beängstigungen und Unsicherheiten verbunden, nie aber derartige Blindheiten und Verkennungen gepaart mit einem solchen Aufwand, diese aufrecht zu erhalten.
Ich glaube nicht, dass die Angst vor neuen Beziehungen und der Verlust der Unabhängigkeit mein sonderbares Verhalten allein erklären können. Etwas anderes muss noch eine Rolle spielen. Vielleicht hat es unmittelbar mit der Person Anna zu tun? Aber wodurch ist Anna für mich so bedrohlich, dass ich, oder etwas in mir glaubt, mich vor ihr schützen zu müssen? Ich begreife es nicht!
Mein vorläufiges Resümee lautet: Diese Frau hat mich von Beginn an so fasziniert, dass mir angst und bange wurde.
Einen Teil dieser Angst habe ich überwunden, bin nun in der Lage, meine Gefühle ihr gegenüber zu akzeptieren. Es ist ein ungeheuer befreiendes Erlebnis, wenn gestaute und verleugnete Gefühle ihre ganze Kraft entfalten und den Damm aus Ängsten, Hemmungen und Widerständen überfluten und einreißen! Ich erlebe das alles außergewöhnlich intensiv, fühle mich kraftvoll, bin berauscht und glücklich.
Allerdings steht die Baukolonne zur Reparatur des Dammes schon bereit. Das Baumaterial dazu liefern die Bedenken und Fragen wie: „Was wird daraus entstehen? Wie wird es weitergehen? Was geschieht, wenn ...?“
Die Kolonne hat mit der Arbeit noch nicht begonnen, denn ich lebe zurzeit im ‚Hier und Jetzt’. Mich werden diese Fragen noch früh genug einholen.
Qui vivra verra! Wer leben wird, wird sehen. Nachher ist eine neue Stunde, morgen ein neuer Tag.
* * *
Eleni rüttelt mich sanft aus meinen Gedanken und bittet mich, zu würfeln und zu setzen. Unser erstes Spiel ist noch im Gange, als Anna und Gabi zurückkommen. Sie waren lange fort, müssen im Hotel gewesen sein, denn beide haben sich umgezogen und sind jetzt sportlich gekleidet.
Anna schaut sich um, sucht einen Moment nach mir und stutzt, als sie mich mit Eleni an einem anderen Tisch entdeckt. Sehe ich da eine Beunruhigung in ihrem Blick? Sie kommt zu uns herüber, ihr Parfüm erreicht mich einen Moment vor ihr. Nun stört es mich überhaupt nicht mehr - im Gegenteil.
Ich mache die Frauen miteinander bekannt, erkläre Anna die besondere Bedeutung des deutsch-griechischen Tavli-Wett-streits, wie zuvor den anderen. Dabei betrachte ich sie mit Bewunderung und sage, dass mir ihr neues Outfit sehr gefällt. Sie schaut mir in die Augen, ich versinke in ihrem Blick und erkenne darin ein warmes, liebevolles Verlangen. Hitzewallungen durchströmen mich. Ich frage leise, ob es nachher noch eine Gelegenheit geben wird, etwas gemeinsam zu unternehmen?
Sie schenkt mir ein kryptisches Lächeln, streichelt flüchtig meinen Arm, geht auf meine Frage nicht ein, sondern wünscht mir Glück beim Spiel und kehrt an den Tisch der Gruppe zurück.
Eleni hat uns genau beobachtet. Den Inhalt unseres kurzen Gesprächs wird sie nicht vollständig mitbekommen haben. Sie fragt, ob Anna meine neue Freundin sei? Ich spüre, wie ich erröte, und komme mir wie ein Teenager vor. Mein „Nein“ kommt viel zu schnell und zu nachdrücklich. Ich erkläre umständlich, wie es zu unserer Begegnung gekommen ist. Und um ihren Verdacht zu zerstreuen, füge ich hinzu, dass sie ja mit ihrem Mann und ihrem Sohn gekommen ist. Das war vermutlich zu viel des Guten.
Elenis Lächeln verrät, dass ich mich damit noch verdächtiger gemacht habe, sie mich durchschaut hat und mir mein vorgeblich geringes Interesse für Anna nicht abkauft. So antwortet sie mit einer übertriebenen Entschuldigung wegen ihres Irrtums. Sie habe geglaubt, dass wir uns viel länger kennen. Wir würden sehr gut zusammenpassen und uns sicher gut verstehen. Dann würfelt sie und überlegt, wie sie ihre Steine setzen soll. Ich frage mich, welche Signale meine Nicht-Freundin und ich in diese Welt senden.
Es dauert nicht lange, bis sich an unserem Tisch einige Tavli kundige Zuschauer versammelt haben. Eigentlich dürfen sie nicht helfen, dennoch wird heftig über unsere Spielzüge diskutiert und gestritten. Ich bin nicht ganz bei der Sache, weil mich die Leute ziemlich nervös machen. Außerdem will ich wissen, was Anna gerade tut und schaue immer wieder zu ihr hinüber. Sie sitzt mit dem Rücken zu mir und unterhält sich mit Karin, der freundlichen ‚Entscheidungsschwachen’.
Trotz meiner Unkonzentriertheit gewinne ich zwei Spiele. Dieser Erfolg ist weniger meiner ausgefeilten Spielstrategie, als meinem ungewöhnlichen Glück beim Würfeln zuzuschreiben. Über solche Glückswürfe regt sich Eleni lautstark auf, wird fuchsteufelswild und ist dann überhaupt nicht mehr sanft und warmherzig. Der Spielstand beträgt nun eins zu drei zu meinen Gunsten. Um für heute Abend die Siegerin oder den Sieger ermitteln zu können, vereinbaren wir drei weitere Partien.
* * *
Wir sind vertieft in unser Spiel, als sich schwungvoll krachend die Terrassentür öffnet und Vater Georgios barfuss, in klatsch-nassen, kurzen Hosen und aufgeweichtem T-Shirt eintritt. In jeder Hand hält er einen großen, lebendigen Hummer und strahlt über das ganze Gesicht. Im Nu ist der Kreis unserer Zuschauer zu ihm abgewandert. Anna und die anderen der Tischgruppe haben sich ebenfalls um Georgios und seine Hummer geschart.
Ich überlege, ob ich mich dazustellen soll. Meine Stimme hält mir sofort vor:
„Was Anna anbetrifft, kannst du dort sowieso nichts ausrichten, du stößt Eleni nur vor den Kopf, weil du das Spiel verschleppst, bei dem sie gerade im Vorteil ist. Sie erkennt sofort, dass der Grund für die Unterbrechung nicht die Hummer, sondern die Frau ist, denn sie weiß ja, dass du die Hummergeschichte schon erlebt hast. Bleib’ also gefälligst sitzen, schau zu, aber spiele weiter!“
Ich erkenne an, dass sie recht hat, und bleibe am Tisch. Elenis lange Bedenkzeiten geben mir ausreichend Gelegenheit, das Geschehen zu beobachten.
Ängstlich und staunend werden die Tiere von den Umstehenden in Augenschein genommen. Es sind zwei wunderschöne Exemplare. Beide etwa gleich groß mit einer Länge von knapp einem halben Meter, bewehrt mit gewaltigen Scheren. Ich schätze das Gewicht der Tiere auf jeweils drei bis vier Kilogramm. Ihre Farbe ist schwer zu bestimmen, Panzer und Scheren weisen ein tiefes Blau mit einigen dunklen Violetttönen auf. Die Flanken sind gelblich-braun, und darin sind einige eingesprenkelte rötliche Flecken. Georgios hält einen Hummer senkrecht nach oben und zwirbelte die beiden langen Fühler am Kopf des Tieres. Daraufhin schlägt der Hummer mit großer Kraft den Schwanz nach innen gegen den Panzer seines Unterleibes. Das erzeugt ein lautes Schnappgeräusch, beinahe einen Knall.
Einige Zuschauer erschrecken und wollen das Ereignis gleich noch einmal sehen. Spyros übernimmt nun die Vorführung des Schwanz-Knall-Reflexes. Fotos werden geschossen. Den zweiten Hummer hält er mit seinem Schuh fest auf den Boden gedrückt. Währenddessen ist Georgios in der Gerätekammer neben der Küche verschwunden und kehrt jetzt mit zwei kinderkopfgroßen Steinen von dort zurück. Es ist ein graues, unregelmäßig geformtes und löchriges Vulkangestein, wie man es hier überall an der Küste findet. An jedem Stein ist eine Schnur von etwa anderthalb Meter Länge durch eine Öffnung im Stein geführt und befestigt. Abrieb und Zerfaserung an einigen Stellen weisen auf häufigen Gebrauch dieser Konstruktion hin. Georgios schlingt nun dem ersten Tier die Schnur um den Leib und verknotet sie. Spyros assistiert ihm. Vielleicht ist es die Kraft des noch nicht gefesselten Hummers, Spyros Unaufmerksamkeit oder ein Teil der Show, jedenfalls gelingt es dem ‚Heruntergedrückten’, sich zu befreien. Die Umstehenden weichen erschreckt und lachend zur Seite. Der Hummer krabbelt auf die Mitte des Gastraumes zu. Vielleicht verspricht ihm das Gewirr aus Menschen- und Möbelbeinen gute Deckung. Georgios und Spyros lassen sich durch die Flucht des Tieres nicht bei der Arbeit stören, sie amüsieren sich über die Reaktionen der Leute.
Das entkommene Tier bewegt sich durch ein Spalier von Zuschauern. Niemand getraut sich, es anzufassen. Plötzlich ein Richtungswechsel, der Hummer nimmt Kurs auf unsere Tischgruppe.
Meine Leute hatten sich nach einer ersten Begutachtung der lebenden Beute wieder zurück begeben und verfolgen von ihrem Platz aus die Flucht des Hummers. Nun aber, da dieses blau-violette Meeres-Monstrum, ausgestattet mit kräftigen Scheren, langen Fühlern und zehn krabbelnden Beinen, langsam und unaufhaltsam wie ein Panzer auf ihren Tisch zusteuert, ist es vorbei mit der Gelassenheit. Was könnte geschehen, wenn das Tier in die ‚Unter-Tisch-Welt’ eindringt, in diesen Hades, abgeschirmt und verdunkelt durch Tischtücher, besiedelt von vielen ungeschützten Füßen und entblößten Beinen? Die der Damen könnten ihm wie Alleen vorkommen, die zum Heraufkrabbeln geradezu einladen.
Solche oder ähnliche Gedanken mögen die Beobachter bewegen, denn je mehr sich das Tier dem Tisch nähert, desto schneller wird aus der Belustigung der Männer Besorgnis und aus der belustigten Besorgnis der Frauen Entsetzen. Die Reaktionen fallen sehr unterschiedlich aus. Karin beobachtet gebannt das Tier, hält ängstlich ihre Hände vor den Mund und schickt sich an, auf ihren Stuhl zu klettern. Gabi umklammert fest ihr Weinglas, hat sich angeekelt auf ihrem Stuhl klein geschrumpft und wirkt wie erstarrt. Anna schaut in kurzen Abständen nach dem Hummer, redet gelassen mit Günter, der langatmig über Gliederfüßler doziert, ohne
die krabbelnde Wirklichkeit zu beachten. Klaus sitzt ruhig über den Tisch gebeugt und verfolgt mit stoischer Ruhe das Tier auf seinem Weg.
Wolfgang schließlich wirkt sehr angespannt, hat sich kerzengerade aufgerichtet und scheint wie zum Sprung bereit. Er lässt den Hummer keinen Moment aus den Augen – ein Torero vor dem Kampf?
Als der Hummer die imaginäre Grenzlinie zur Unterwelt des Tisches überschreiten will, kommt Spyros gelaufen, packt den Flüchtling am Rücken und hebt ihn auf. Ehe er sich mit dem Tier auf den Rückweg macht, hält er den Hummer ganz kurz vor Karins Gesicht. Diese stößt einen hohen, spitzen Schrei aus. Dann tritt allgemeine Erleichterung ein.
Minuten später ist der Ausbrecher am zweiten Stein festgebunden. Der Sinn dieser Fesselungsaktion besteht darin, den Hummer im Meer frisch zu halten. Dabei soll der Stein seine Flucht verhindern.
Georgios verlässt mit seiner Beute die Terrasse, um diese an einer bestimmten Stelle in Ufernähe auszusetzen.
Nach einer Weile taucht er wieder auf, nun in trockenen Sachen, frisch geduscht und gekämmt. Seine Mahlzeiten nimmt er normalerweise im kleinen Gastraum ein, wo er beim Essen fernsehen kann. Heute ist der Tisch direkt am Eingang der Terrasse gedeckt. Hier sitzen bereits seine Frau und Sohn Kosta und haben mit dem Abendessen begonnen.
Er berichtet den Leuten aus dem Dorf laut über die Tische hinweg, wie ihm der Fang gelungen ist und wie er ihn beim Aussteigen aus dem Boot in der Brandung beinahe verloren hätte.
In der Küche ist nicht mehr viel zu tun. Die Gäste haben ihr Abendessen bereits beendet. Es werden nur noch Kleinigkeiten bestellt. Spyros und der Koch sitzen jetzt auch auf der Terrasse.
* * *
Außer dem Fischfang besitzt Georgios noch eine weitere Leidenschaft - das Singen. Wenn er einen guten Fang gemacht, gut gegessen hat, sich einige Frauen und ein paar Mitsänger unter den Gästen befinden, stimmt er gern mit seiner schönen Tenorstimme ein Lied an. Alle diese Voraussetzungen sind heute Abend erfüllt.
So ertönt nach der Mahlzeit sein erstes Lied, zunächst leise und verhalten, dann lauter und kraftvoller. Den Refrain singen die meisten Leute schon mit, so auch der Vater der Krähenfamilie. Der sitzt jetzt etwas verloren mit seiner Frau allein am Tisch. Sie redet nicht mehr. Ich glaube, sie kämpft gegen ihre Müdigkeit an und würde gern ins Bett gehen. Heute sind gut miteinander harmonierende Stimmen versammelt. Das Zusammenspiel klappt hervorragend, als hätte man vorher geprobt. Es werden romantische Lieder sehnsuchtvoll und mit Hingabe vorgetragen. Einige Sänger wechseln die Plätze und gehen zu den anderen Tischen. So setzt sich der Vater der Krähenfamilie zu Georgios. Er besitzt einen sehr angenehmen Bariton und bildet mit Georgios ein nahezu professionelles Gesangsduo.
Es entstehen auch Solo-Singspiele, leidenschaftlich vorgetragen. Man bewegt sich mit typisch griechischen Tanzschritten und ausgestreckten Armen, greift zum Herzen, ballt die Fäuste und kniet schmachtend vor einer der anwesenden Damen nieder. Was Eleganz und Körperbeherrschung betrifft, können nicht alle Darbietungen, als gelungen bezeichnet werden. Ein hoher Alkoholpegel verhindert manchmal, dass sich die schauspielerischen und tänzerischen Fähigkeiten der Interpreten voll entfalten können.
So wankt ein ebenso hingebungsvoller, wie betrunkener Sänger auf Eleni zu und will ihre Liebe erflehen. Ergriffen und voller Leidenschaft, führt er eine Körperdrehung mit weit geöffneten Armen aus und fegt schwungvoll das Spielbrett und die Getränke von unserem Tisch. Erschreckt gerät er ins Straucheln und hat Mühe, das Gleichgewicht zu behalten.
Welch’ eindrucksvolle Liebeswerbung! Der kleine Spyros beseitigt sofort die Spuren des Malheurs, der große Spyros bringt unaufgefordert Ersatz für unsere Getränke. Eleni und mir gelingt es nicht mehr, die genaue Stellung der Steine vor der Spielunterbrechung wieder herzustellen, und wir beenden das Match mit dem Ergebnis vier zu drei für Deutschland. In den nächsten Tagen wird eine Fort-
setzung folgen. Eleni gratuliert mir bitter, schwört harte Revanche, nimmt ihr Weinglas und setzt sich zu ihrem Mann. Ich bleibe noch einen Augenblick am Spieltisch, will mein Bier austrinken, noch ein wenig zuhören und mich umschauen.
Die Chefin des Schmuckladens, nicht mehr ganz nüchtern, singt laut und kräftig. Sie überdehnt den Kopf nach hinten über die Rückenlehne ihres Stuhles hinaus, sodass ihr Gesicht zur Decke gerichtet ist. Mit senkrecht nach oben gestreckten Armen dirigiert sie ein imaginäres Orchester. Dabei schaukelt sie so heftig mit ihrem Plastiksessel, dass mir beim bloßen Hinsehen übel wird.
Die Darbietungen begeistern meine Leute und besonders das französische Paar. Hier wird kein touristisches Folkloreprogramm abgespult; was hier stattfindet, ist spontan und authentisch. Der Junge mit der Akne verlässt soeben die Terrasse, schwingt sich auf sein Moped und knattert den Hang hinauf. Georgios ist mittlerweile zur Höchstform aufgelaufen. Er wandert von Tisch zu Tisch und bezaubert besonders die Damen mit Charme und Stimme. Diese schmelzen dahin, wie heißes Wachs.
Zurzeit hat er Anna für ein Ständchen auserkoren. Sie geht auf seinen gesanglichen Flirt ein, lässt sich umwerben und amüsiert sich. Alle Augen sind auf die beiden gerichtet. Klaus betrachtet die Szene ganz entspannt. Er lacht gelöst und ist offensichtlich guter Stimmung. Mir scheint, er ermutigt Georgios sogar bei dessen musikalischer Werbung um Anna.
Als würde er meine Blicke spüren, wendet er sich plötzlich zu mir, schaut mich mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck an, hebt betont langsam sein Weinglas.
Ich proste zurück, bemüht, so unbeteiligt wie möglich zu erscheinen. Was empfange ich da für eine Botschaft? Seine Geste hängt zusammen mit dem Flirt zwischen Anna und Georgios und scheint mir sagen zu wollen: „Was Georgios hier veranstaltet, ist in Ordnung, du aber bist zu weit gegangen.“ Mir ist klar, dass ich in meiner Gefühlssituation nicht besonders urteilssicher bin. Vielleicht habe ich wegen meines schlechten Gewissens in eine konventionelle Geste einen tieferen, bedeutungsvollen Sinn hineingedeutet.
Dennoch stelle ich mir die Frage, was diese Botschaft bedeuten könnte? Eine Einladung, zurück an den Tisch zu kommen, war das ganz sicher nicht. War es eine Drohung?
„Wenn du nicht die Finger von ihr lässt, dann passiert was. Du wirst es bereuen.“
Womit kann er mir drohen? Wenn ich die Baseballschläger-Methode und andere Gewalt- und Einschüchterungsakte ausschließe, hat er keine Chance. Ich habe große Schwierigkeiten, diesen ruhigen, freundlichen und nachdenklichen Mann mir als jemanden vorzustellen, der andere offensiv terrorisiert. Ich glaube nicht, dass er die dazu notwendige kriminelle Energie besitzt.
War es ein Ratschlag?
„Deine Bemühungen sind sinnlos. Sie liebt nur mich, lass dich nicht täuschen, sie will hin und wieder ihre Wirkung auf andere Männer erfahren. Sie wird aber nicht die Grenzen eines harmlosen Flirts überschreiten. Mach’ dir deshalb keine Illusionen, spar’ dir den Aufwand!“
Wenn es das war, was er vermitteln wollte, dann hätte er in unser Gespräch am Tisch nicht eingreifen brauchen. Alle meine Bemühungen um sie wären dann sowieso zum Scheitern verurteilt gewesen. Er hätte sogar aufstehen, zu Bett gehen und uns allein lassen können.
War es eine freundschaftliche Warnung?
„Schau’ sie dir mal genauer an, was sie jetzt und vorher so alles angestellt hat! Sie kann eine wirkliche Zumutung sein. So ist sie eben, sie spielt halt gern, was sie sagt und tut solltest du nicht so ernst nehmen.“
Im Zusammenhang mit ihrem Lachanfall hat er sie bereits als etwas sonderbar charakterisiert und ihr Verhalten damit entschuldigt. Welchen Grund sollte er haben, mich vor seiner
Frau zu schützen zu wollen? War es vielleicht eine Bitte? „Bitte, nimm sie mir nicht weg! Ich habe nur sie! Ich weiß nicht, wie ich ohne sie leben soll.’ Seine momentane Zufriedenheit und Gelöstheit passen gar nicht zu einem Bittsteller.
War es eine Bestätigung?
„In Ordnung, ich akzeptiere, dass es keinen Sinn mehr macht, an der Fähre weiter zu reparieren und sie mit viel Aufwand und wenig Erfolg über Wasser zu halten. Ich finde mich damit ab, sie außer Dienst zu stellen.“
Ein solcher Inhalt wäre mir natürlich am liebsten, deswegen richtet sich dagegen mein größtes Misstrauen. Mein Gefühl sagt mir, dass nichts in seiner Haltung und seinem Ausdruck auf Rückzug, Aufgabe oder Verzicht deutet.
Eine Herausforderung?
„Wenn du es auf meine Frau abgesehen hast, dann wollen wir doch mal sehen, wer von uns in dieser Auseinandersetzung den längeren Atem besitzt.“
Dies scheint der wahrscheinlichste Inhalt seiner Botschaft zu sein. Die darin enthaltene Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit berühren mich unangenehm, geben mir zu denken.
Mir fällt nun Annas Reaktion ein, als uns Klaus aus unserer trauten Gemeinsamkeit gerissen hat. Ich fühlte mich ertappt und bekam Schuldgefühle - eigentlich habe ich sie noch immer. Anna dagegen schien verärgert und aufgebracht zu sein, so als hätte er eine Regel gebrochen und nicht sie. Welche Regel sollte das sein? Es ist doch sehr ungewöhnlich, dass eine Frau unter den Augen des Ehemannes mit einem anderen Mann flirtet und sich darüber beschwert, dass der Ehemann das zu unterbinden versucht. Das würde nur Sinn machen, wenn sich die Partner dazu verpflichtet hätten, einen harmlosen Flirt des anderen zu tolerieren.
Im Gegensatz zu Georgios hätte ich die Grenze des Harmlosen überschritten. Dann bleibt zu fragen, warum Anna eine solche Vereinbarung missachtet und sich derart offensiv gegen seinen Eingriff verwahrt, obwohl sie ihr Interesse an mir ungewöhnlich offen zeigt und mir das Gefühl gibt, dass sie an weit mehr interessiert ist, als an einer spontanen und oberflächlichen erotisierenden Spielerei. Möglich ist aber auch, dass beide ihre Beziehung bereits beendet haben, nach außen aber noch den Anschein eines normalen Ehepaars er-wecken wollen. Dann wiederum wären Klaus’ Eingriffe von vorhin und die Botschaft von eben unnötig. Hier passt einiges nicht zusammen. Ich muss mir unbedingt Klarheit über diese merkwürdigen Verhältnisse verschaffen. Mein Blick geht zurück zur Gruppe. Georgios ist weiter gezogen. Anna ist noch ganz aufgedreht. Ich bin ein bisschen traurig, dass ich den Spaß mit ihr nicht teilen kann. Unsere Blicke begegnen sich. Sofort winkt sie mich heran. Ich nehme mein Glas und gehe zu ihr. Wache Blicke von Klaus begleiten mich dabei. Ich setze mich neben sie und verfolge schweigend das Geschehen.
Ein Gespräch mit Anna kommt nicht zustande. Ich will es in dieser Situation auch nicht.
* * *
Der junge Mann kehrt zurück. Auf seinen Rücken hat er eine Bouzouki geschnallt. Man hat ihn gedrängt, das Instrument aus dem Dorf zu holen.
Er ist ein rotblonder, schlaksiger, eigentlich hübscher Bursche. Leider ist sein Gesicht in einem beklagenswerten Zustand. Eine Kraterlandschaft von unzähligen großen und kleinen rot blühenden Aknepusteln.
Die Leute haben sich in einem Halbkreis um ihn herumgruppiert. Die meisten sitzen, einige stehen. Man winkt die letzten Abtrünnigen heran. Dazu gehören Anna, Klaus, Günter, Gabi und ich.
Gabi wirkt unzufrieden und eingeschnappt - ein Mannequin, das von niemandem beachtet wird. Karin und Wolfgang haben sich bereits zuvor in den Kreis begeben. Annas Sohn und Maria sind aus dem kleinen Gastraum dazu gestoßen, wo sie bisher Karten gespielt haben.
Während Klaus zwei Stühle heranschafft, stellt sich Anna hinter mich und streichelte mir zärtlich über den Rücken. Wenn ihre Hand oben oder unten angelangt ist, spüre ich, wie sich die Fingernägel sanft in die Haut drücken. Das löst Wonneschauer bei mir aus, und ich verspüre den Drang, mich umzudrehen, sie kurzerhand in den Arm zu nehmen und zu küssen. Aber ich bin wie versteinert, kann nicht reagieren, trau’ mich nicht, zumal Klaus mit den Stühlen naht. Es gelingt mir gerade noch, durch eine Drehbewegung eine flüchtige, linkische und höchst unerotische Berührung ihres Unterarmes zustande zu bringen. Ich weiß nicht, ob sie das als meine Antwort auf ihre Zärtlichkeiten oder als zufälligen, tollpatschigen Anrempler einordnet.
Der Bouzouki-Spieler hat jetzt das musikalische Geschehen in die Hand genommen, stimmt die Lieder an, zu denen gesungen wird. Er beherrscht sein Instrument hervorragend, man spürt, dass er in seinem Spiel ganz aufgeht.
Ich lasse mich vom besonderen Klang des Instruments, den Melodien und dem Gesang verzaubern, und stelle mir vor, mit Anna allein zu sein. Wie in einem Konzert ist nun eine ernste, ruhige Atmosphäre entstanden. Obwohl kaum noch jemand nüchtern ist, singt man konzentrierter und genauer, ohne schwärmerisches Gehabe. Schließlich werden wir aufgefordert, ein deutsches Lied zu singen. Große Verlegenheit! Alle behaupten, nicht singen zu können. Es dauert, bis wir uns auf den Kanon ‚Abendstille’ geeinigt haben. Nach drei Anläufen gelingt es, mithilfe von Michael das Lied schließlich einigermaßen ordentlich zweistimmig vorzutragen. Wir werden mit Beifall, wohl mehr für unseren Mut, als für unsere Sangeskunst, belohnt. Nun ist das französische Paar an der Reihe, etwas zum Besten zu geben. Beide besitzen schöne Stimmen und tragen ein sanftes, romantisches Lied mit erster und zweiter Stimme nahezu professionell vor. Wir sind begeistert.
Ich nehme ihren Gesang zum Anlass, um zu fragen, ob sie beruflich mit Musik zu tun hätten? Sie verneinen und sagen, dass sie beide Bauingenieure bei der französischen Eisenbahn seien. Da habe ich mit meinen Vermutungen ziemlich weit daneben gelegen. Ich muss dringend meine Vorstellungen über französische Musiker, Lehrer und Bauingenieure überprüfen. Nach den Gastvorträgen bringt uns der unermüdliche Bouzouki-Spieler zurück zur griechischen Folklore. Es wird weiter gesungen und getrunken. Sprachbarrieren fallen, alle reden miteinander, verstehen sich, sprechen plötzlich eine oder mehrere Fremdsprachen.
* * *
Niemand achtet darauf, dass die Terrassentür geöffnet wird und ein später Gast eintritt. Ich sitze mit dem Rücken zu Tür und bemerke zuerst den strengen Ziegengeruch, den dieser um sich verbreitet. Es ist Theophilos, der Götterfreund. Heute hat er - was die Götter betrifft - offensichtlich nicht seinen besten Tag. Er ist sturzbetrunken, Hemd und Hose starren vor Schmutz.
Wenn ich ihn sonst sah, war er zwar meist auch betrunken, aber in diesem heruntergekommenen Zustand habe ich ihn bisher noch nicht angetroffen.
Theophilos ist über siebzig Jahre, besitzt eine drahtige Figur. Ihm fehlt ein Auge, er trägt aber keine Augenklappe. Die Augenhöhle ist mit einer Hautfalte geschlossen, ähnlich einem Abnäher. Das lässt sein von tiefen Falten zerklüftetes Gesicht furchterregend erscheinen.
Im Dorf erzählt man zwei Geschichten, wie es zum Verlust seines Auges gekommen sein soll. Die heroische Version besagt, es sei eine Kriegsverletzung, die er im Kampf als Partisan erlitten hat. Der zweiten, weniger heldenhaften, Version nach, soll er das Auge beim Fischen mit Dynamit verloren haben. Die Wahrheit wird er wohl mit ins Grab nehmen.
Zu seinen Eigenarten gehört es, dass er im alkoholisierten Zustand und ganz im Gegensatz zu seinem grimmigen Aussehen, jeden der ihm begegnet, überfallartig begrüßt und abküsst - ein für Betroffene sehr gewöhnungsbedürftiges Vergnügen.
Im Moment ist er gerade dabei, Karin zu umarmen und zu küssen. Deren Begeisterung über diese stürmische, feuchte wie geruchsintensive Begrüßung hält sich sehr in Grenzen. Da er trotz ihres Widerstandes nicht von ihr ablässt, kommt ihr Wolfgang zur Hilfe, um sie zu befreien, wird nun aber selbst abgeküsst. Das löst bei Wolfgang einen Wutanfall aus. Er wehrt sich unverhältnismäßig heftig gegen die unerwünschten Liebkosungen. Ich bin überzeugt davon, wenn Georgios und Spyros nicht eingegriffen hätten, wäre Wolfgang tätlich geworden. Schon die jetzige Reaktion empfinde ich als überzogen und verstehe seine Aggressivität nicht. Aufgewühlt und zitternd vor Erregung, läuft er zur Toilette, um sich zu säubern. Georgios redet derweil ruhig, aber energisch auf Theophilos ein und schiebt ihn mithilfe von Spyros in Richtung Tür. Nur widerstrebend lässt sich dieser wegschleppen, wehrt sich an der Tür beharrlich gegen den Rausschmiss, kichert laut und ruft uns Unverständliches zu.
Meinem Leichtsinn, mich umzudrehen, ist es zuzuschreiben, dass Theophilos neue Kräfte mobilisiert, sich losreißt und auf mich zustürmt, mich umarmt und mir die linke Gesichtshälfte abschleckt. Ich drücke ihn von mir weg.
Georgios und Spyros fangen ihn wieder ein, bringen ihn zurück und bugsieren ihn durch die Tür nach draußen.
Theophilos verschwindet in der Dunkelheit, steht aber bereits im nächsten Moment wieder wankend in der Terrassentür und ruft etwas.
Spyros springt auf und will sich auf den Eindringling stürzen. Bevor er ihn jedoch erreicht, ist dieser blitzschnell verschwunden und bleibt es.
Die Lust am Singen ist vergangen. Die Bouzouki wird verpackt. Ein Ouzo wird von Georgios als Gute-Nacht-Trunk angeboten, und man macht sich auf den Weg ins Nachtquartier. Ich warte, bis Anna und Klaus aufbrechen.
Vor dem Verlassen des Raumes, Klaus befindet sich bereits draußen, dreht Anna sich zu mir um und schaut mich mit einem Anflug von Traurigkeit an. Ich puste ihr einen Handkuss zu. Sie greift mit der Hand in die Luft, tut so, als finge sie ihn auf und führt die geschlossene Hand an ihren Mund. Ihre Mimik sagt, dass sie ihn genießt. Nun öffnet sie ihre Hand, küsst die Handfläche und pustet ihren Kuss zu mir zurück, winkt den anderen zu, geht heraus und schließt die Tür.
Eleni hat diese Szene genau beobachtet und sagt ironisch: „Aha, nun hast du mich wirklich überzeugt, dass sie nicht deine neue Freundin ist“, dann mit leichtem Vorwurf, „mir brauchst du doch nichts vorzumachen!“
Schuldbewusst verabschiede ich mich von Eleni, nehme den letzten Schluck Ouzo und spüle danach das restliche Bier herunter, schleppe mich die Treppe hinauf und erreiche etwas betrunken und nach Ziege riechend mein Zimmer. Ich wasche gründlich mein Gesicht, um die Überbleibsel von Theophilos
Freundschaftsbekundungen zu beseitigen.
Es ist halb vier Uhr morgens. Hinter den Bergen im Osten wird es hell. Ich falle in mein Bett, durchlaufe in Gedanken noch einmal den Abend. Dabei sehe ich Annas Mund, ihre blonden Nackenhaare und ihr Dekolleté. Mit diesen Bildern schlafe ich ein.