Читать книгу Der verbannte Stratege - Rainer Nickel - Страница 6

EINFÜHRUNG

Оглавление

Thukydides war der Chronist des fast dreißigjährigen Peloponnesischen Krieges, der 404 v. Chr. mit dem Sieg Spartas über Athen sein Ende fand. Sein berühmtes Geschichtswerk ist erhalten, bricht aber mehrere Jahre vor dem Ende des Krieges abrupt ab. Jahrzehnte später wird es von Xenophon mit seiner „Griechischen Geschichte“, den Hellenika, fortgesetzt.

Die wichtigste Quelle der vorliegenden Darstellung ist neben der Monographie des Thukydides über den Peloponnesischen Krieg und Xenophons Hellenika vor allem das Kriegstagebuch, das Xenophon unter dem Titel Anabasis herausgab.

Die handelnden Personen sind historisch. Nur einige Nebenfiguren sind in Anlehnung an diese erfunden, dürften aber durchaus authentisch sein. Auch die Reden und Gespräche, die Xenophon in seinen fiktiven Erinnerungen wiedergibt, stützen sich auf historische Tatsachen und suchen den Anschluss an die Überlieferung. Schon die antiken Historiker bedienten sich dieses Darstellungsmittels, um ihre historiographischen Positionen und Reflexionen zu veranschaulichen und das Handeln der Akteure zu erklären. Die Verknüpfung und Verzahnung plausibler Konstruktionen und fiktiver Erinnerungsbilder mit historischen Tatsachen hat also eine bis in die Antike zurückreichende Tradition. Dieses Konzept kann auch heute noch Menschen einen Zugang zur Geschichte vermitteln, die ihr eher fremd, wenn nicht gar ablehnend gegenüberstehen.1

Es wird aber nicht im Sinne einer virtuellen Geschichtsschreibung darüber spekuliert, was geschehen wäre, wenn die Akteure anders gehandelt hätten, als sie tatsächlich gehandelt haben. Im Mittelpunkt steht vielmehr eine auf Indizien gestützte Rekonstruktion von Situationen, in denen sich das faktische Geschehen abgespielt haben könnte. Aus den überlieferten Nachrichten wird eine zusammenhängende Erzählung herausgesponnen. Lücken oder Leerstellen in den Quellen werden mit Hilfe einer kontrollierten Fantasie gefüllt und gesicherte Informationen mit der fiktiven Erzählung vernetzt. So werden Motive des geschichtlichen Handelns nachvollziehbar, auch wo sie nicht nachweislich überliefert sind.2

Die Darstellung bewegt sich abwechselnd auf den Ebenen des Historischen [in schwarzer Farbe] und des Fiktiven [in blauer Farbe]: Die Dreißig Tyrannen, die unter dem Schutz des Siegers im Jahr 404 v. Chr. die Macht in Athen übernahmen, hatten Thukydides die Rückkehr aus seinem thrakischen Exil erlaubt. Es kommt zu einer Begegnung zwischen Xenophon und Thukydides. Xenophons Vater lädt den Geschichtsschreiber auf sein Landgut ein. Aber kurze Zeit später verschwindet Thukydides spurlos. Xenophon macht sich auf die Suche nach ihm – nicht nur weil er sich mit ihm angefreundet hatte, sondern weil er sich auch dazu verpflichtet fühlt, ihn vor dem Terrorregime der Dreißig Tyrannen zu schützen, soweit es ihm möglich ist.3 Außerdem hatte ihm Thukydides wichtige historische Dokumente anvertraut, die er vor der Vernichtung bewahren will. Aber Thukydides bleibt unauffindbar.

Da trifft es sich gut, dass Xenophon von seinem Freund Proxenos 401 v. Chr. zu einer Reise nach Persien eingeladen wird. Diese „Reise“ ist aber in Wirklichkeit der Anfang eines militärischen Abenteuers, für das Kyros, der jüngere Bruder des persischen Großkönigs Artaxerxes, zahlreiche griechische Söldner angeworben hatte – unter ihnen eben auch Proxenos. Ahnungslos nimmt Xenophon die Einladung an. Denn er hofft, auf diesem Weg Kontakte zu dem berühmt-berüchtigten persischen Geheimdienst knüpfen und seine Suche nach Thukydides intensivieren zu können.

Erst nach und nach erfährt Xenophon, dass er in eine gefährliche Verschwörung gegen Artaxerxes geraten ist. Aber er kann und will nicht mehr zurück. Denn Kyros gibt ihm den ehrenvollen Auftrag, ein Kriegstagebuch zu führen.

In der Nähe von Babylon kommt es schließlich zu einer offenen Schlacht mit den Streitkräften des Großkönigs. Kyros fällt. Der Aufstand ist gescheitert. Die aus etwa zehntausend Mann bestehende griechische Söldnerarmee bleibt aber ungeschlagen und verweigert die Unterwerfung unter den persischen Großkönig. Die griechischen Offiziere werden in eine Falle gelockt. Als sie sich in das persische Lager begeben, um über ihren Rückzug zu verhandeln, werden sie heimtückisch ermordet. Xenophon ergreift die Initiative in dem führerlosen Heer, und die Soldaten wählen ihn überraschend zum Nachfolger des Proxenos. Es gelingt ihm schließlich, die Männer unter ständiger Bedrohung durch den Feind und nach Überwindung gewaltiger Strapazen bis an die Küste des Schwarzen Meeres zu führen und in Sicherheit zu bringen.

Es ist zwar nicht überliefert, dass das Motiv für Xenophons Teilnahme am Zug der Zehntausend die Suche nach Thukydides war. Das ist ebenso fiktiv wie sein Versuch, den Geschichtsschreiber vor den Dreißig in Sicherheit zu bringen. Dass er mit seinem Einsatz für Thukydides seine Kollaboration mit dem Terrorregime „wiedergutmachen“ wollte, ist zwar nachvollziehbar, aber nicht durch Quellen belegt. Es ist eine „Konstruktion möglicherweise geschehener Geschichte“.4

Wenn auch Xenophon bei seiner Suche nach Thukydides letztlich erfolglos bleibt, so findet er ihn schließlich doch noch auf eine andere Weise: Das Kriegstagebuch bestätigt die pessimistischen Analysen menschlichen Verhaltens,5 die der Historiker aus den Erfahrungen des Peloponnesischen Krieges gewann: Die Anabasis setzt das historische Deutungsschema des Thukydides in Szene – wenn auch nur auf einer relativ kleinen und überschaubaren Bühne. Sie zeichnet ebenso wie das Werk des Thukydides ein Panorama des Scheiterns: Der Versuch des Kyros, mit Hilfe griechischer Söldner den persischen Thron zu erobern, scheitert, und auch Xenophons Suche nach dem vermissten Thukydides bleibt trotz allem erfolglos.

Dieses Panorama wird durch Porträts wichtiger Zeitgenossen erweitert: So kommen u.a. Sokrates und die Sophisten, der Historiker Herodot, die Politiker Perikles, Kleon, Kritias, Theramenes und Alkibiades und auch der Komödiendichter Aristophanes ins Spiel. Ein idealisiertes historisches Bühnenbild, der berühmte Parthenonfries auf der athenischen Akropolis, wird kurz beschrieben: Xenophon „erinnert sich“, wie er diesen zusammen mit seinem Vater während eines Waffenstillstands mitten im Peloponnesischen Krieg zum ersten Mal bestaunen durfte.

Literarisch überlieferte Themen und Motive, die mit bestimmten Orten verknüpft sind, dienen der Verlebendigung der Erzählung: In Ephesos erinnert sich Xenophon zum Beispiel an die berühmte „Witwe“, und Sardes liefert ihm den Anlass, eine Episode aus dem Leben des Kroisos, des letzten lydischen Königs, zu schildern. In Kelainai erwähnt Xenophon den Mythos von Marsyas, der einen musikalischen Wettkampf mit dem Gott Apollon verlor. Diese Essays sind nicht zuletzt kleine Beispiele für die Verknüpfung historischer Berichterstattung mit literarischer Fiktion. Sie erweitern das Blickfeld.

Der verbannte Stratege

Подняться наверх