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1.

Die Irrfahrten des Omar Hawk: Die erste Etappe

Canopus / Alpha Carinae: Die Embolische Welle

Das Schicksal ist unheilvoll.

Keiner, der geboren wurde, entrinnt ihm.

Homer, etwa 800 v. Chr.

Am Himmel stand Canopus und brannte in greller, gelber Glut. Omar Hawk legte den Kopf in den Nacken und starrte nach oben.

Links von ihm reckte sich der Säulenberg von Primus Calvani in die Höhe, über und über bedeckt mit Schling- und Kletterpflanzen aller Art. Nur Nor Tun, die auf und an dem Turmberg errichtete Siedlung, war frei von dem wilden Gewucher. Die Strukturen der künstlichen Bauten folgten den geologischen Formationen, als seien sie ein natürlicher Teil der Umgebung. Sie hingen an den Felswänden wie Schwalbennester aus Glas, Stahl und Kunststoffen oder wuchsen oben auf dem Plateau wie polygone Stalagmiten empor. Nor Tun war die Hauptstadt von Imart.

Das weißgelbe Sonnenlicht arbeitete gegen die Harmonie an und ließ die Konturen der Gebäude aufglühen, als würde ein Schneidbrenner sie erhitzen. Fast glaubte man, herabtropfendes Metall zu sehen. Canopus war ein eigenartiger Stern: ein Gelber Riese vom Spektraltyp F0 II mit dem mehr als siebzigfachen Durchmesser der irdischen Sonne und der 14.000-fachen Leuchtkraft.

»Alpha Carinae«, murmelte Hawk. »Was für ein harmloser Name für ein solches Monstrum.«

Etwas lag in der Luft, und es irritierte ihn. Seine Intuition war eindeutig: Gefahr.

Hawk schnupperte. Seine olfaktorischen Rezeptoren registrierten derzeit wohl rund fünftausend unterschiedliche Aromen. Ein normaler Mensch von der Erde konnte etwa zehntausend Gerüche unterscheiden – er hingegen die gut zehnfache Menge.

Er roch Dellavis, ein schwacher Duft nach Muskatblüte. Der aufkommende Flue trug den Geruch der explodierenden, stahlblauen Samenkapseln bis hierher. Bald würde die Duftintensität kaum noch zu ertragen sein.

Plötzlich gleißte überall tiefrotes Licht auf, und der tiefe Ton der Fluewarnung lag über allem, drang in seine Ohren und war in den Magennerven zu spüren.

Die Imarter, die sich auf demselben Stag wie Hawk aufhielten, begannen zu rennen. Die Stagen dienten als Verbindungswege zwischen den Felssäulen und Gebäuden von Nor Tun, sie erinnerten an steife Hängebrücken, waren aber sehr viel stabiler – des Flues wegen.

Der Flue war ein heftiger, warmer und feuchter Steigungswind, der allerdings nicht viel mit ähnlichen Phänomenen auf anderen Welten gemein hatte. Imarts Flue war eine Sturmflut aus Luft, eine Naturgewalt, die alles hinwegriss, was ihr im Weg stand. Die Stagen jedoch vermochten dem Flue zu widerstehen, die Siedler wollten ihrer Welt dadurch beweisen, dass sie zu Recht auf Imart waren. Gleiter oder andere Fluggeräte indes hatten bei den sturmartig auffrischenden Kaminwinden oft gewaltige Schwierigkeiten. Die Stagen und die Siedlungen auf den Turmbergen waren Imarts Visitenkarte.

Rings um Hawk liefen Imarter auf die Endpunkte des Stags zu. Sie waren nicht panisch, aber viel fehlte nicht, es kam zu ersten Rempeleien. Ein Flüchtender prallte gegen ihn, und der Mann verzog schmerzlich das Gesicht. Hawks Kompaktkonstitution hatte für andere zuweilen unangenehme Folgen, er selbst schwankte nicht mal.

Er unterschied sich äußerlich kaum von einem irdischen Menschen, einem Plophoser oder Olymper. Vor allem seine olivbraune Haut bewies aber jedem, dass er nicht von Imart stammte.

Die zentrale holografische Lichtsäule der Fluewarnung stand wie ein roter, eingefrorener Blitz über Nor Tun. Der begleitende Warnton wurde lauter und vibrierte nun: Warnstufe zwei!

Ein Schwarm Flatterratten jagte in der Nähe vorbei und bildete ineinander übergehende Formationen. Ihre Flugmanöver waren elegant wie ein ferronischer Krailstanz. Die türkis- bis kobaltblauen Flatterratten boten zwar einen schönen Anblick, aber man ging ihnen besser aus dem Weg. Die fliegenden Nagetiere mit den fledermausähnlichen Schwingen waren bissig und nicht gerade umgänglich. Sie ließen sich von den nach oben strömenden Luftmassen mitreißen.

Der Stag leerte sich allmählich. Es war nicht gut, aufzufallen. Hawk war im Auftrag von NATHAN auf Imart. Die Hyperinpotronik auf dem irdischen Mond arbeitete an einem Plan, von dem kaum jemand etwas wusste. Das galt sogar für Nike Quintos Abteilung III, mit der Omar Hawk kooperierte. Seine eigentliche Mission indes war geheim. Also lief er nun los wie alle anderen, allerdings zügelte er seine Kräfte.

Vor ihm stolperte einer der Flüchtenden. Er war schlanker als der durchschnittliche Einheimische. Das glänzende, pechschwarze Haar zeigte im grellen Licht von Canopus jene irisierenden, leicht violetten Reflexionen, die für Imarter typisch waren. Seine grüne Haut war sehr blass, das fiel Hawk sofort auf. Wie bei den Siganesen färbten in die Epidermis integrierte Chloroplasten die Haut der Siedler grün. Imart war eine harte Welt, und dank dieser Befähigung zur Photosynthese waren die Kolonisten in der Lage, die Sonnenenergie direkt zu nutzen.

Der Mann schwitzte, seine Tonnenbrust bewegte sich heftig, als litte er unter Atemnot. Für einen Imarter war der Sprint über den Stag aber eigentlich lediglich ein Spaziergang. Sie waren extrem ausdauernd.

Der Mann taumelte trotzdem, als sei er betrunken.

Erschöpft?, wunderte sich Hawk. Das kann ja wohl kaum sein ...

Dann klappte der Mann zusammen und begann zu husten.

Das ist ernst!, begriff Hawk. Das ist nicht der Flue!

Er eilte zu ihm. Zwei andere Imarter, ein Mann und eine Frau, waren bereits vor Ort. Als Hawk den keuchenden Mann erreichte, sah er, dass der Imarter das Bewusstsein verloren hatte, blutiger Schaum klebte in seinen Mundwinkeln. Das gehörte nicht unbedingt zu den typischen Symptomen eines embolischen Anfalls, zumindest nicht in den frühen Stadien, aber offenbar war dies eine schlimmere Variante.

Die Embolische Welle, dachte Hawk entsetzt. Sie ist tatsächlich da!

»Transgeninduzierte Lungenembolie« lautete der Fachbegriff: eine genetisch ausgelöste Heimsuchung, die das hochkomplexe Atmungssystem der Imarter zusammenbrechen ließ. Um in der dünnen, sehr speziellen Atmosphäre Imarts überleben zu können, waren die Siedler mittels Genmanipulation nicht nur mit einer Tonnenbrust ausgestattet worden, auch die Struktur ihrer Lungen und Bronchien war einzigartig. Die drei bisherigen Embolischen Wellen, die Imart heimgesucht hatten, waren bereits entsetzlich gewesen, die Zahl der Toten furchtbar. Wenn die transgeninduzierte Lungenembolie sich nun allerdings auch noch veränderte, würde das die Experten des Variable Genome Projects vor neue Probleme stellen. Derartige Krankheitsbilder zu erforschen oder gar zu heilen, dauerte lange. Schnelle Lösungen gab es nicht.

Die ohnehin aufgeregten Imarter, die vorbeiliefen, reagierten sofort. Nun machte sich echte Panik breit.

Ausgerechnet während einer Warnung der Stufe zwei, dachte Hawk. Einen ungünstigeren Zeitpunkt hätte es nicht geben können.

Hawk stand unvermittelt vor einem Problem. Seine Mission war geheim, Aufsehen musste er vermeiden. Aber dieser Mann würde sterben, wenn er nichts unternahm. Viel Zeit blieb ihm nicht. Der Kollaps des Atmungssystems hatte bereits eingesetzt, und wenn der Imarter keine medizinische Versorgung erhielt, hatte er keine Überlebenschance. Hawk konnte nicht untätig bleiben, obwohl seine Anweisungen eigentlich genau das von ihm verlangten.

»Ich bringe ihn ins Krankenhaus«, beschloss er.

»Das schaffen Sie niemals!«, sagte die junge Frau neben ihm. »Wir helfen tragen. Glauben Sie, dass wir rechtzeitig ...?«

Hawk nickte ihr zu. »Keine Sorge. Bringen Sie sich in Sicherheit. Ich wette, die Warnstufe drei steht direkt bevor. Machen Sie sich um ihn keine Sorgen.«

Hawk packte den Mann und legte ihn sich mit einer lässigen Bewegung über die Schulter. Die beiden jungen Imarter rissen die Augen auf.

Hawk lächelte höflich. »Es ist wirklich kein Problem. Entschuldigen Sie mich. Gehen Sie nach Hause. Sie wissen, dass es nicht ansteckend ist.«

In seiner Heimat musste er mit 4,8 Gravos fertigwerden. Daher war diese Aktion geradezu ein Kinderspiel. Wie um ein Startsignal zu geben, schwappte eine penetrante Dellavisduftwelle über ihn hinweg. Der Flue war da!

Im Zentrum von Nor Tun gab es eine moderne Klinik. Imart verfügte jedoch nicht über eine eigene Zweigstelle des MIMERC, des Mimas Medical Research Centers, wie etwa Epsal. Das war ein Manko, das Hawk nicht verstand. Imart war anfällig für die Embolischen Wellen, das war nichts Neues. Ein eigenes medizinisches Forschungszentrum wäre die einzig sinnvolle Lösung gewesen, aber wahrscheinlich scheuten die Bürokraten die Kosten. Epsal war nur rund 17 Lichtjahre vom Solsystem entfernt – Imart 309. Zudem verfügte die Canopuskolonie nicht über einen Sonnentransmitter, die Versorgung war also aufwendig und teuer. Beides Dinge, die unter Bürokraten selten Begeisterung auslösten.

»Belastungsmodus!«, flüsterte er. Die Steuerpositronik seines Mikrogravitators reagierte sofort und regelte die Kompensationsleistung herab.

Dann rannte er los. Auf seiner Schulter lag der Mann und röchelte, sein Körper zuckte unter Krämpfen. Viel Zeit blieb ihm nicht, also legte Omar Hawk jede Zurückhaltung ab. Er beschleunigte und erreichte das Ende des langen Stags schon nach etwa einer Minute. Bis zum Hospital war es noch ein weiter Weg, obendrein musste er nun mit deutlich mehr Hindernissen rechnen.

»Routenprojektion!«, sagte er laut. »Keinerlei Einschränkungen!«

Die Mikropositronik seiner Montur projizierte vor ihm einen grellgelben Punkt, der für Omar Hawks Maximalgeschwindigkeit berechnet war und ihm vorausschwebte. Das leuchtende Gelb war die auf Imart gebräuchliche Warnfarbe bei medizinischen Notfällen, und jeder, der es sah, würde sofort ausweichen.

Hawk hastete über die Freifläche, welche die Einmündung des Stags links und rechts flankierte. Es war eine beliebte Aussichtsplattform, dort standen viele Imarter, die den Stag gerade verlassen hatten. Hawk sprang mit einem weiten Satz über eine Sicherungsmauer auf die angrenzende Fahrbahn. Großfahrzeuge gab es auf Imart so gut wie nicht. Die Siedlungsplätze lagen alle in den oberen Bereichen von Säulenbergen, der Platz dort war begrenzt. In der Regel schwebten nur kleine Individualgleiter und tropfenförmige »Säulenrutscher« über die Verkehrswege der Städte. Omar Hawk hätte eine Kollision mit einer dieser zierlichen Maschinen ohne weiteren Schaden überstanden; das galt für deren Fahrer eher nicht, also musste er vorsichtig sein.

Die Leute auf dem Fußgängerstreifen machten ihm Platz. Im Vorbeilaufen sah Hawk panische Gesichter. Die Siedler wussten, was bei einer Embolischen Welle auf sie zukam. Ihre Vorbehalte gegen die Solare Union würden weiter zunehmen.

Hawks Atem ging gleichmäßig. Er sprintete, aber von einer ernstlichen Belastung war das weit entfernt. Dass er nicht noch schneller rannte, lag an der Umgebung. Mehrfache Richtungswechsel und dass er ständig Hindernissen ausweichen musste, machten ihn langsamer, als ihm lieb war.

Der Mann auf seiner Schulter verkrampfte sich. Dann hustete er erneut und spuckte Speichel.

Eindeutig rot!, dachte Hawk. Das wird wirklich eng. Verdammt.

Dann endlich erspähte er die Front des Klinikgebäudes.

»Notfall melden!«, befahl er. »Emboliepatient. Blutiger Auswurf, Krämpfe, Bewusstseinstrübung.« Er horchte kurz. »Puls unregelmäßig. Sofortige Intensivversorgung erforderlich! Ankunft in etwa einer Minute. Senden!«

Die Positronik reagierte sofort. Sogar aus dieser Entfernung sah Hawk, wie sich die Schleuse der Notaufnahme öffnete und ein intensives Gelblicht den Anwesenden signalisierte, den Platz zu räumen.

Hawk packte den Bewusstlosen fester und flankte über eine hohe Hecke aus Wucherschlee. Er erreichte die Notaufnahme etwa vierzig Sekunden später. Zwei Ärzte und ein Medoroboter nahmen ihm den Kranken ab und verschwanden schnell im Innern des Hospitals.

Ein Medohelfer blieb zurück. Er sah Hawk verblüfft an. »Ich habe nie zuvor jemanden derart schnell laufen sehen!«, sagte er.

Hawk atmete einmal tief durch, dann war sein Puls wieder völlig normal. »Das war nötig«, sagte er. »Ich hoffe, er ist der Einzige?«

Der Imarter verzog das Gesicht. Für Hawk war das Antwort genug.

»Leider nein.« Der Mediker zuckte mit den Schultern. »Erst vor einer Viertelstunde wurde wieder ein Patient eingeliefert. Auf Kalmo Secundus und Terminus Rork haben wir über vierzig Fälle, und die Zahl steigt, fürchte ich. Die Zahlen von Primus Kattla kenne ich nicht – in unserer Klinik hatten wir während des Vormittags bereits sieben Einweisungen. Das sieht sehr, sehr übel aus. Aber bitte behalten Sie das für sich.«

»Geheimhaltung?«, fragte Omar Hawk.

Der Mediker schüttelte den Kopf. »Dann hätte ich kaum etwas gesagt, oder? Aber eine solche Anweisung könnte bald kommen, wenn das so weitergeht. Die Panik damals während der zweiten Welle hat keiner vergessen. Noch einmal danke. Ich hoffe, der Mann wird es schaffen. Und wenn, hat er das nur Ihrer Schnelligkeit zu verdanken.« Mit diesen Worten verschwand er ebenfalls im Gebäudeinnern.

Omar Hawk ging in Gedanken versunken aus der Klinik ins Freie. Er hatte eine ziemlich gute Vorstellung davon, was auf das medizinische Personal derzeit zukam. Was ihn irritierte, war etwas Grundsätzliches. Er kam von Oxtorne. Das Genom der dortigen Siedler war sehr viel massiver verändert worden als bei allen anderen terranischen Kolonisten – sogar wenn man sie mit Menschen von Ertrus oder Epsal verglich. Dennoch war das Ergebnis bei den Oxtornern weitaus stabiler ausgefallen als bei den Imartern. Ein Phänomen wie die Embolischen Wellen gab es auf seiner Heimatwelt nicht.

Nicht mal in Ansätzen, dabei war der oxtornische Organismus viel komplizierter als bei den Umweltangepassten der anderen Kolonien. Während sich Epsaler oder Ertruser bei einer Änderung der Druckverhältnisse – zum Beispiel beim Besuch einer anderen Welt – einer mühseligen Anpassungsprozedur unterziehen mussten, war das bei Menschen von Oxtorne kein Thema. Ihre Kompaktkonstitution wurde mit solchen Abweichungen mühelos fertig, Caisson-Schlauben waren unnötig.

Verglichen damit war die genetische Anpassung des terranischen Atmungsapparats an imartische Besonderheiten eine Kleinigkeit gewesen. Woher die sogenannten transgeninduzierten Lungenembolien also rührten, war nicht abschließend geklärt. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Codierungsfehler, der sich regelmäßig bemerkbar machte, wenn die Zellteilung bestimmte Abschnitte des Genoms auslas.

Man könnte meinen, dass NATHAN und die Posbis die besseren Gen-Ingenieure als die Menschen selbst sind, dachte Hawk. Die Posbis forschen seit Langem an Menschen. Die Geschichte, wie Perry Rhodan damals auf die Überlebenden der BRONCO traf, ist eine moderne Legende geworden. Und NATHAN verfügt nicht nur über das Wissen der Posbis ... Er kennt auch die Genome der Maahks, Bestien und Sitarakh. Vielleicht hat es einfach damit zu tun, dass sowohl NATHAN als auch die Posbis eine größere Distanz und von außen den klareren Blick auf uns haben. Selbsteinschätzung oder Selbstdiagnose sind immer heikel. Aber NATHAN offiziell ins Variable Genome Project einzubinden ... Das hätte die irdische Politik niemals zugelassen. Dass die Hyperinpotronik mit ihren Geheimaktivitäten trotzdem einen schweren Konflikt mit der Erde riskiert, ist ein unverkennbares Zeichen für die Dringlichkeit ihrer Mission.

Er registrierte, dass die Menschenmassen in seiner Umgebung unruhig waren. Die Nachricht über die Emboliefälle machte offenbar schnell die Runde.

Vermutlich hatten die zwei Imarter auf dem Stag die Medien informiert. Hawk sah ein Stück entfernt einen Journalisten mit zwei Flugkameras warten. Rasch wich Hawk in eine Seitenstraße aus.

Niemand wusste von Oxtorne; das musste so bleiben. Durch seinen Rettungssprint war er aufgefallen. Sein Inkognito war in Gefahr. Dasselbe galt für seinen eigentlichen Auftrag auf Imart. Offiziell arbeitete Hawk momentan für die Abteilung III des Geheimdiensts der Terranischen Union, aber das war lediglich Tarnung. Nike Quinto wusste vieles, NATHAN informierte ihn jedoch keineswegs über alles. Allerdings war es nicht klug, den Chef der Abteilung III zu unterschätzen. Ohne Zweifel verfügte er über Quellen auch auf dem Mond. Ob er über Oxtorne Bescheid wusste? Nike Quinto war fast alles zuzutrauen.

Hawk aktivierte eine Komverbindung zur DEMOKRIT. »Status?«, fragte er laut.

Hypatia, die Bordpositronik seines kleinen Kurierschiffs, meldete sich sofort. »Wir sind startbereit«, antwortete sie.

Hawk hatte die DEMOKRIT am Raumhafen einer gründlichen Wartung unterziehen und alle Vorräte ergänzen lassen, während er auf Imart seiner Aufgabe nachging.

»Besorg dir alles, was du an Informationen über die aktuelle politische Lage auf Imart bekommen kannst«, wies Hawk seinen Schiffsrechner an. »Wenn ich richtigliege, könnte diese Embolische Welle ein Erdbeben auslösen.«

Hypatia klang besorgt. »Es ist zu früh. Die Modelle sagen politische Verwerfungen frühestens in zwei bis fünf Jahren voraus.«

»Die Welle könnte wie ein Brandbeschleuniger wirken«, sagte Hawk. Sie fühlen sich im Stich gelassen, dachte er. Und das nicht mal zu Unrecht. Aber Menschen neigen dazu, die eigenen Probleme automatisch höher zu bewerten als die anderer. In den Kolonien brodelt es überall und immer mehr. Die Gefahr hingegen, für die Iratio Hondro steht, haben sie noch nicht mal im Ansatz durchschaut – wie sollte das auch möglich sein?

»Du solltest dich um ein spezielles Messergebnis kümmern, sobald du an Bord bist«, empfahl ihm Hypatia.

Hawk war wie elektrisiert. »Die Sonden haben etwas entdeckt? Ist es der Brunnen? Ich beeile mich.« Er beendete die Funkverbindung.

Omar Hawk sah sich ein letztes Mal um. Yael hätte es auf Imart gefallen. Seit seine Frau bei den Yall-Geysiren auf Oxtorne gestorben war, hatte er sich allein im Leben eingerichtet. Er haderte nicht mit ihrem Tod. Oxtorne gab, Oxtorne nahm. Unabhängig davon, auf wen die Extremwelt mit dem Finger zeigte – gegen das Schicksal gab es kein sinnvolles Aufbegehren.

Er stieg in eine der kleinen Vakuumbahnen, die zum Raumhafen von Nor Tun führten. In der Passagierkabine war die Unruhe der Imarter beinahe greifbar. Das Gerücht, eine neue Embolische Welle habe begonnen, war in aller Munde.

Als Omar Hawk sein Ziel erreichte, sah er bereits die leuchtende Startfreigabe: ein tiefblauer Lichtring, der sein Raumboot DEMOKRIT umgab.

Hawk ging an Bord der 25 Meter durchmessenden Kugel und ließ sich von der Leitstelle einen Flug zu den Koordinaten genehmigen, die Hypatia ihm präsentierte. Der Ort lag gute 250 Kilometer westlich von Nor Tun, in einer etwas wilderen Bergregion, Die Felssäulen dort waren spitz und boten so gut wie keine Möglichkeit zur Besiedlung.

Eine gute Viertelstunde später schwebte die DEMOKRIT über einer zugewucherten Talsenke, umgeben von Bergflanken. »Das hätte man früher mancherorts einen Tobel genannt«, sagte Hypatia. »Man sieht ihn kaum.«

»Schieb das Gestrüpp mit ein paar Prallfeldern zur Seite«, sagte Hawk. »Das sieht unheimlich aus. Was ist das für ein ... ist das Nebel?«

Hypatia sparte sich die Antwort. Omar Hawk beobachtete, wie die Ranken zur Seite gedrückt wurden. Dann erstarrten sie, als seien sie festgefroren. Sie gaben den Blick auf ein Stück Nichts frei.

Der Zeitbrunnen!

»Da ist er also«, murmelte Hawk. Nachdenklich kratzte er sich die buschigen Brauen. »Wir hatten vermutet, dass Imart einen Zeitbrunnen hat. Jetzt wissen wir's. Wie groß ist die Aktivität?«

»Minimal«, sagte Hypatia. »Das ist der Grund dafür, dass wir ihn so lange nicht finden konnten. Dass die Sonden überhaupt an dieser Stelle gesucht haben, ist eher Zufall. Die Region ist kaum zugänglich. Bereits in fünfzig Metern Höhe ist das Ding nicht mehr anmessbar.«

»Aber Imart ist keine Foveawelt«, grübelte Hawk. »Zumindest soweit wir wissen. Canopus war nie ein Teil der Alten Straßen ... Es gab hier niemals einen Sonnentransmitter.«

Über dem schwarzen Rund des Zeitbrunnens waberte eine Art Nebel, als verdunsteten Teile der Nicht-Substanz.

Hawk richtete sich auf. Das Außenbeobachtungsholo erlosch.

»Ich gehe nach draußen«, beschloss er. »Hol inzwischen die Sonden rein, dokumentiere alles und sichere es mit meinem persönlichen Code. Ich will mir den Brunnen selbst ansehen. Nach allem, was ich weiß, ist dieser eigenartige Dunst nicht normal. Vielleicht reagiert er auf die Gegenwart eines lebenden Wesens. Denk an Rhodans Berichte über seine Erlebnisse ... und die seiner Frau. Irgendwas geht da vor!«

»Du willst tatsächlich da raus? Ich kann das nicht empfehlen«, warnte Hypatia. »Der Nebel könnte schädlich sein.«

Hawk erreichte die Schleuse. »Du weißt, was ich bin«, sagte er.

Kaum schoben die Schotten sich zur Seite, sprang er ins Freie und landete mitten im Dickicht. Beißwinden, Bohrefeu und die blutroten Spreizklimmer fand man überall auf Imart. Auf Bodenniveau kamen Hunderte anderer Arten hinzu. Alle lieferten sich ein mörderisches Rennen um den besten Platz an der Sonne. Hawk machte sich keine Sorgen. Einige der aggressiveren Arten konnten für normale Menschen unangenehm werden – für ihn selbst bestand keine Gefahr. Wie eine Maschine arbeitete er sich durch die Pflanzenmasse. Er registrierte, dass sich einige Arten schnell von ihm zurückzogen. Sie hatten ihn als Gefahr erkannt und setzten Botenstoffe frei, die auf ihre Auxine, die Streckungshormone, und ihre Gegenspieler wirkten, die Blastokoline. Die Pflanzen von Imart wichen ihm aus.

Dann erreichte er den von den Prallfeldern aufgestauten Rankenwust und drückte ihn auseinander. Vor ihm lag der Zeitbrunnen. Die Steine der Einfassung zeigten keinerlei Bewuchs, keine Flechten oder Moose – das war auf Imart sehr ungewöhnlich.

Die Oberfläche lag glatt und unbewegt vor ihm. Nicht mal der Widerschein von Canopus war darauf zu sehen. Dafür schien die Schwärze auf absurde Weise zu verdampfen. Ein anthrazitfarbener Dunst schwebte nach oben. Er wirkte auf Hawk beinahe substanzlos. Sein Organismus reagierte nicht darauf. Auch nicht, als einige Nebelschwaden ihn kurz einhüllten. Die Hoffnung, der Brunnen würde auf seine Gegenwart reagieren, erfüllte sich nicht.

»Was sagen die Messdaten?«, fragte er die Bordpositronik der DEMOKRIT über Funk.

»Nichts«, antwortete Hypatia. »Wir können Zeitbrunnen lediglich im Aktivmodus anmessen. Das ist bereits schwierig genug. Dieser hier tut fast nichts.«

»Nun, er dampft«, widersprach Hawk beunruhigt. »Davon habe ich nie zuvor gehört oder gelesen. Und ich kenne die Archive recht gut.«

»Ich kann nichts anderes feststellen«, sagte Hypatia. »Still ruht der Brunnen ... Sei froh, dass er nicht etwas Unangenehmes ausspuckt.«

»Bist du sicher, dass er nicht genau das gerade tut?«, hakte Hawk nach. »Aber gut. Wir haben gefunden, was wir gesucht haben. Alles dokumentieren! Ich komme zurück an Bord.«

Zehn Minuten später hob die DEMOKRIT ab, verließ Imart und den Zeitbrunnen. Bevor er in den Hyperraum sprang, warf Hawk einen letzten Blick auf den gewaltigen Stern. Canopus brannte gelb und völlig unbeeindruckt von den Schwierigkeiten der Menschen.

Hoffentlich bleibt das so!, dachte Omar Hawk.

Perry Rhodan Neo 233: Der Oxtorner

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