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2.

Deneb: Die Wüstung

Sofgart reckte sich. Er genoss die Wärme dieses Planeten. Die Sonne des Arkonsystems war erheblich kleiner und nicht ganz so heiß wie der Stern, der gegenwärtig über ihm am Himmel kochte. Er legte den Kopf in den Nacken. Die Hitze brannte auf seinen Wangen. Er öffnete die Augen selbstverständlich nicht. Deneb – was für ein Gigant! Mit seinem rund zweihundertfachen Durchmesser der terranischen Heimatsonne tauchte der heiße Überriese alles in grelles, blauweißes Licht. Er glaubte beinahe, es durch die geschlossenen Lider sehen zu können.

Sofgart hatte sich auf dem Weg in die sogenannte Lokale Blase ein wenig mit dem astrometrischen Material über diese Raumregion beschäftigt. Perry Rhodan und seine Leute waren großzügig gewesen, was das anging. Sofgart hatte die Aufzeichnungen studiert, allerdings nicht übermäßig genau.

Nun war er vor Ort und wusste nicht mal richtig, warum. Jedenfalls, wer in einem solchen System siedelte, besaß Mut, Selbstvertrauen ... oder war dumm. Sofgart war lange mit Krom geflogen, einem Planeteningenieur, der Kolonien errichtete. Ob Krom ein solches Projekt in einer derartigen Umgebung befürwortet hätte? Sofgart hatte Zweifel, seit er den Fuß auf den Boden dieser Welt gesetzt hatte. Denn seiner Erfahrung nach waren Menschen eigentlich nicht dumm.

Die Menschen. Er hatte sie jüngst in Thantur-Lok getroffen und sie unterstützt. Bereits zu diesem Zeitpunkt war die Erde, Larsaf III, sein eigentliches Ziel gewesen. Darüber hatte er allerdings kein Wort verloren. Es war eine Familienangelegenheit, so merkwürdig das für eine Waise auch klang.

Sofgart schob die Schutzbrille an ihren Platz zurück.

Hinter ihm stand die LORK und warf kaum einen Schatten. Vor ihm lag etwas, das vor Kurzem noch eine Stadt gewesen war. Sehr viel hatten die terranischen Unterlagen darüber nicht verraten. Mit einiger Verwunderung hatte Sofgart aber zur Kenntnis genommen, dass es auf der Erde offenbar nach wie vor unterschiedliche Staatenzusammenschlüsse gab, die eigene Ziele verfolgten – auch im interstellaren Raum.

»Kaum zu glauben, dass sie sich im freien Universum derart gut halten konnten«, raunte er. »Was das wohl bedeutet: Chinesischer Block? Ist das eine geografische Festlegung?«

Er ging langsam auf die Siedlungsruine zu. Egal was die verschiedenen Bauten einmal gewesen sein mochten, nun war alles eine Wüstung. Er hatte schon diverse Areale ähnlicher Art gesehen, und immer blieb ein bitteres Gefühl zurück. Etwas war gestorben, einschließlich all der Träume und Pläne, die jeder einzelne Siedler einmal gehabt hatte. Was blieb, war Vergänglichkeit in all ihrer Tristesse.

Staub fegte über die planierte Fläche und stob in irren Wirbeln nach oben, sobald die Bö auf Felsen oder die ersten Erhebungen traf. In einiger Entfernung registrierte Sofgart Staubteufel. Sie waren zu klein, um gefährlich zu werden, aber andere Dinge konnten ihn in Schwierigkeiten bringen; Dinge, die er nicht auf den ersten Blick sah.

Er hatte seine Reise unterbrochen, um der LORK die nötige Refraktionspause zu gönnen. Sein tatsächliches Zwischenziel indes war das Beta-Albireo-System. Im dortigen Gespinst der Mehandor wollte er sich auf die letzte Etappe vorbereiten: den Einflug in die Lokale Blase der Solaren Union, eine grob fünfhundert Lichtjahre durchmessende, weitgehend von interstellarem Staub freie Raumzone. Deneb lag noch mehr als anderthalbtausend Lichtjahre von der Erde entfernt – das Beta-Albireo-System hingegen lediglich einige Hundert. Dort rechnete er mit Problemen. Die Nachfolgerin der Matriarchin Belinkhar, ihr ehemaliger Schatten Pasuar, galt als extrem schwierig. Das traf zwar auf viele Mehandor zu, aber die Aussicht auf endlose Auseinandersetzungen mit Pasuar gefiel ihm nicht.

Warum er sich sogar für eine Landung auf Deneb III entschieden hatte, war ihm selbst schleierhaft. Es war ein eher uninteressanter Planet, wie er sie zahlreich kannte. Etwas in ihm sagte jedoch, dass es richtig war, diesen Halt einzulegen. War es Intuition? Sofgart war Ingenieur, Wissenschaftler und Pilot. Er neigte nicht dazu, Dinge aus einer Laune heraus anzugehen. Dass er genau das diesmal trotzdem getan hatte, beschäftigte ihn, machte ihn unruhig. Selbstzweifel waren für eine Waise nichts Ungewöhnliches, aber dass ihn das Gefühl nach so vielen Jahren erneut heimsuchte, überraschte ihn. Wie auch immer – er hatte so entschieden; Rechenschaft war er niemandem schuldig. Die LORK bekam eine Pause, die ohnehin sinnvoll war. Zufrieden gab er sich mit dieser Erklärung indes nicht. Etwas trieb ihn. Etwas zwang ihn geradezu, weiterzufliegen – und nun hatte ihn derselbe Zwang auf einmal landen lassen.

Was ist bloß mit mir los?, fragte er sich nicht zum ersten Mal. In was für eine Sache war er hineingeraten? Denn davon, dass er irgendeine Art von Kontrolle ausübte, konnte nicht die Rede sein. Etwas zog ihn auf diese Welt, der toten Siedlung entgegen.

»Man könnte anfangen, an die verdammten Sternenteufel zu glauben.« Er riss sich zusammen. »Ekkis, wie läuft die Refraktion?«, fragte er. Das kleine kybernetische Hilfssystem, das mit seinem Pendant Eggis ein Duo bildete, meldete sich sofort. Sofgart empfand es als angenehmer, mit diesem Paar statt ständig direkt mit der Schiffspositronik zu reden. Obwohl er freiwillig ein Leben als Einzelgänger führte, schätzte er einen personalisierten Gesprächspartner. Nach Kroms Verschwinden hatte er die beiden Roboter Akkool und Aggool deshalb an seine neuen Bedürfnisse angepasst. Aus Akkool und Aggool, den technischen Handlangern, waren Ekkis und Eggis geworden. Als Begleiter mit deutlich verbesserter kommunikativer Kompetenz füllten sie die Lücke, die Krom hinterlassen hatte.

Krom war ein Ersatzvater für ihn gewesen. Er hatte Sofgart als Waise von desinteressierten Ersatzeltern adoptiert. Ein Planeteningenieur von imperiumsweitem Ruf hatte sich seiner angenommen, das war für den jungen Sofgart die größtmögliche Überraschung gewesen. Vor vielen Jahren war Krom dann verschwunden. Auf Naat, der »Schwimmenden Welt«. Lange Zeit später hatte Perry Rhodan Krom als uralten Mann getroffen, weit entfernt in der Southside der Galaxis, auf einer Welt namens Gorrawaan. Dort war Krom gestorben.

Rhodan hatte Sofgart alles hierüber erzählt, was er wusste. Das war leider weit weniger, als Sofgart gehofft hatte. Das Rätsel von Kroms Verschwindens blieb; und was der Planeteningenieur all die Jahre getan hatte, erfuhr Sofgart ebenso wenig. Hatte Krom sich ständig im Omnitischen Compariat aufgehalten oder hatte es ihn erst nach langer Irrfahrt dorthin verschlagen? Die Fragen türmten sich auf, ohne dass Sofgart eine Ahnung hatte, wer sie ihm beantworten konnte.

Er war wieder allein gewesen ... sah man von Ekkis und Eggis ab. Wie in den lange vergangenen Tagen seiner Kindheit.

»Und diese Welt ist ebenso einsam«, sagte er laut. »Was also tue ich hier – auf einer Kolonie der Menschen?«

Nur zufällig waren er und die Menschen in Thantur-Lok aufeinandergetroffen. Der Konflikt mit dem Dunkelleben und die Hilfe für eines ihrer Raumschiffe hatte sie dorthin geführt. Der Kampf gegen die unheimliche Erscheinung war erfolgreich gewesen, alles in allem. In Thantur-Lok war das Dunkelleben verschwunden. Dasselbe galt für alle stellaren Bereiche, die Sofgart auf seiner Reise durchflogen hatte. Wie es aussah, war das Denebsystem ebenfalls frei von dieser Pest.

In der Lokalen Blase hatten die Menschen ein kleines Sternenreich aufgebaut. Im Zentrum lag die Sonne, um die die Erde kreiste. Larsaf – einst ein Teil des arkonidischen Imperiums. Vor etwa zehntausend Jahren hatte das Imperium dort eine Kolonie errichtet, die während der Methankriege allerdings wieder zerstört worden war.

In dieser alten Kolonie würde er seine Suche fortführen.

Viel Aufwand um einen unbedeutenden Stern, irgendwo in einem Außenarm der Öden Insel, dachte Sofgart. Ob damals jemand um die wahre Bedeutung dieses Systems wusste?

Ihm war klar, dass Deneb am äußersten Rand des terranischen Einflussbereichs lag. Vielleicht fand er auf dieser ehemaligen Siedlungswelt trotzdem Hinweise, um sich zu orientieren. Bisher hatte sich sein Leben im Großen Imperium abgespielt. Diese Raumregion war fremdes Land.

Die Umgebung erwies sich als öde, und er war nicht unbedingt gut zu Fuß. Aber wollte man von einer fremden Welt einen persönlichen Eindruck bekommen, musste man sich ihr hautnah aussetzen. Das ging nicht im isolierten Innern eines Gleiters. Eins hatte er sehr schnell bemerkt. Diese Welt hatte ihren eigenen Reiz. Er spürte ihn.

Menschen sind ... merkwürdig, dachte er. Sie sind offenbar verwandt mit uns, aber nahe Verwandtschaft ist ja häufig unangenehm. Wir werden sehen.

Niemand außer ihm kannte die wahren Beweggründe seiner Reise. Er hatte sie den Menschen gegenüber nie erwähnt. Vorsichtig zog er ein kleines Behältnis aus transparentem Panzerplast aus der Tasche. Er trug es ständig bei sich. Es war ergonomisch geformt und mit einem DNS-Schlüssel gesichert. Er hob es vor die Augen. Im Innern hing etwas, das aussah wie ein Tropfen aus kristallinem Bor. Fasziniert sah Sofgart zu, wie es kaum merklich vibrierte. Dabei änderte es trotz der enormen Härte ab und an ein wenig die Form. Den Vorgang selbst hatte er nie beobachten können. Es geschah immer dann, wenn niemand hinsah. Gerade so, als lege das merkwürdige Ding Wert auf Privatsphäre.

Es war seit Langem in seinem Besitz. Gefunden hatte er es in einem uralten Archiv auf Arkon I, das er zusammen mit Krom nach Informationen durchforstet hatte. Wahrscheinlich waren sie seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden die ersten Besucher gewesen.

Die Erlebnisse in diesem Archiv hatten Sofgart verändert, in vielerlei Hinsicht. Dass sich im Laufe der Zeit die Hinweise auf Larsaf häufen würden, hatte er damals nicht ahnen können. Nun aber war er auf dem Weg dorthin.

»Hast du mich etwa hierhergeführt?«, fragte er leise.

Die Menschen waren als Informationsquelle unergiebig gewesen, sehr zu Sofgarts Enttäuschung. Er hatte Andeutungen über den Tropfen bruchstückhaft in seine Unterhaltungen eingestreut, aber niemand hatte auf die Hinweise reagiert. Wussten die Menschen nichts darüber? Aber es existierte eine Verbindung. Menschen und Arkoniden waren nicht nur verwandt, auch in ihrer Geschichte schien es unerklärliche Überschneidungen zu geben.

So überraschend ist das nicht, dachte er. Ich bin auf der Kristallwelt ebenfalls nur durch puren Zufall darüber gestolpert ... oder besser: darauf aufmerksam gemacht worden.

Also hatte er geschwiegen. Die Zeit zum Reden würde noch kommen. Er blieb kurz stehen und atmete tief durch. Die heiße, trockene Luft enthielt viel Staub und hatte einen fremdartig metallischen Nachgeschmack.

Er näherte sich dem, was von der Siedlung übrig war. Die Baracken, Depothallen und halbkugeligen Fertigbauten unterschieden sich kaum von Produkten, die Arkon in den ersten Phasen einer Besiedlung einsetzte. Im Großen Imperium war alles etwas fortschrittlicher, komfortabler, aber das Provisorische ähnelte sich immer.

Viele der Konstruktionen waren wohl ursprünglich weiß gestrichen worden, aber Wind und Sand hatten die Oberflächen freigeschmirgelt. Das Klima war aggressiv. Staubfahnen wehten von den Dächern.

Sofgart fragte sich, ob er Leichen finden würde, Gräber oder andere organische Überreste.

Er steuerte auf einige kleine Unterstände zu, kaum mehr als ein paar Metallpfosten, -streben und Wellblech. Über dem Metall waberte die erhitzte Luft. Sofgart stolperte. Vor ihm zog sich eine Furche durch den Boden, beinahe zugeweht vom Sand. Etwas weiter weg erkannte er Abzweigungen.

Wasserkanäle, dachte er. Mit geschultem Blick registrierte er, dass dies ursprünglich ein sehr effizientes Bewässerungssystem gewesen war. Die Neigung war klug gewählt, die Vernetzung auf maximalen Nutzen ausgelegt. Die Anlage war primitiv, aber ein Beispiel für eine gut durchdachte Ingenieursarbeit. Die Kolonisten hatten in dieser fordernden Umgebung alles optimal gestalten müssen, sonst hätte dieses Siedlungsprojekt niemals eine Chance gehabt.

»Hat ihnen nichts genützt«, murmelte Sofgart. Kolonien waren immer ein Risiko. Sogar auf Welten, die vermeintlich perfekt zu den Kolonisten passten, gab es jede Menge Haken. Vor allem die Dinge, die man nicht sofort sah oder messen konnte, machten vielen Besiedelungsvorhaben schnell einen Strich durch die Rechnung.

Sofgart erinnerte sich an Kroms Motto: Keine Welt wartet auf uns. Wer sich nicht arrangiert, wird aussortiert.

Diese Kolonisten waren aussortiert worden. Die Welt selbst war keineswegs tot – nur die Siedler.

In einiger Entfernung schwebte etwas in der Luft. Es war farbig, aber er erkannte es in Denebs Lichtflut nur undeutlich. Es alarmierte ihn. Möglicherweise hatte es mit dem Tod der Siedler zu tun. Erst nach dem Gedanken bemerkte er, dass er mit Überlebenden nicht rechnete. Was auch immer geschehen war – es hatte sich zu einer Todesfalle entwickelt. Er aktivierte die Sensoren seiner Schutzmontur, vor allem die Biokontrolle, und schaltete sie auf Höchstleistung.

Sofgart dachte an das, was er in dem recht übersichtlichen Dossier gelesen hatte. Die Träger dieses Projekts hatten genetische Reinheit präferiert. Ein logischer Widerspruch natürlich. Reinheit war kein taugliches Kriterium, um die Welt zu verstehen. Natur und Evolution machten Reinheit sogar unmöglich. Nur ein ausreichend großer Genpool war in der Lage den Druck auszugleichen, den ein fremder Planet ausübte – auf das Genom.

Je größer die Bandbreite, desto größer die Erfolgschancen, wusste Sofgart aus unzähligen Besprechungen, zu denen er Krom begleitet hatte. Arkoniden waren für elitäre Hirngespinste ebenfalls anfällig, eine zwangsläufige Folge ihrer feudalen Gesellschaftsordnung. Mehr als ein Khasurn hatte gehofft, mit dem eigenen, selbstverständlich weit überlegenen Erbgut, einen eigenen Kulturkreis zu schaffen.

Sie waren alle gescheitert, mehr oder weniger schmählich.

Sofgart grinste. Er kannte die Überheblichkeit der arkonidischen Oberschicht nur zu gut. Man hatte ihn stets spüren lassen, dass er eine Waise war, zudem nicht von Adel. Lange hatte er darunter gelitten, bis ihm Krom bewies, dass Abstammung vielleicht einen besseren Start ermöglichte, aber mehr auch nicht. Krom war der Beste seines Fachs gewesen, und Sofgart hatte die Chancen genutzt, die Krom ihm geboten hatte. Er war wie Krom selbst ein Essoya. Die Privilegien des Adels blieben ihnen beiden verschlossen. Aber längst störte ihn das nicht mehr.

Er sah erneut etwas in der Luft, eine Art Unschärfe, die er zunächst nicht erklären konnte. Vorsicht war also tatsächlich geboten, er verfügte kaum über Daten, die die Biosphäre beschrieben. Dieses Phänomen war ebenfalls farbenfroh.

Wieder flatterte etwas im Wind. Die Böen waren warm und nicht übermäßig stark, aber trocken. Sofgart änderte den Vergrößerungsfaktor seiner Schutzbrille.

Etliche fahnenartige Gebilde folgten dem Luftstrom, als habe jemand große Stofffetzen zum Trocknen aufgehängt. Allerdings wirkten sie sehr viel filigraner, luftiger als irgendein Gewebe. Sofgart hatte ähnliche Strukturen bei etlichen arachnoiden Lebensformen gesehen oder bei Seide spinnenden Raupen.

Sofgart hatte keine Zweifel: Das war eindeutig ein biologisches Phänomen. Fremdes Leben war unkalkulierbar. Er sah genauer hin und erhöhte nochmals die Vergrößerung. Auch am Boden erkannte er nun Flächen, die aussahen wie Flechten oder eben extrem dichte Spinnweben. Sie schimmerten in vielen giftigen Farben.

Besorgt aktivierte er den Verschlusszustand seiner Montur. Bisher hatte die Biokontrolle keine Gefahr angemessen, sonst hätte die Mikropositronik den Schutzanzug selbsttätig versiegelt. Offenbar wurden die Organismen nicht über die Luft transportiert – zumindest nicht über größere Strecken.

Sofgart näherte sich dem Phänomen nun vorsichtiger. Er entdeckte mehrere größere Teppiche, die aus Mikroben bestehen mochten, vielleicht aber auch Pilze oder Flechten waren. Aus der Distanz konnte er das nicht beurteilen. Dann blieb er abrupt stehen.

Bisher hatte er keine menschlichen Überreste gefunden. Das hatte sich soeben geändert. Er erkannte an der Form des Gewebeteppichs, dass irgendwas eine Leiche beinahe komplett aufgelöst hatte. Ein paar Rippenbögen, Teile der Wirbelsäule und des Beckens zeichneten sich deutlich ab, der Schädel war nur ein formloser Klumpen.

»Es handelt sich weder um Pilze noch um Flechten«, meldete die Anzugpositronik, die sofort nach dem Auslösen des Verschlusszustands ihre analytischen Sensoren auf volle Leistung geschaltet hatte. »Es sind Prokaryoten.«

»Autochthon?«, fragte Sofgart. »Oder wurden sie von den Siedlern eingeschleppt?«

»Beides wahrscheinlich«, antwortete die Positronik. »Der Konflikt zwischen den Fremdprokaryoten und der einheimischen Mikrofauna ist in vollem Gange. Die xenophytischen Bakterien und Archaeen kämpfen um Anpassung. Die einheimischen Formen wollen ihre biologischen Nischen halten. Die Konfrontation mit fremden Mikroben ist für die lokale Mikrobiologie ein klassischer evolutionärer Stressor: Die Weiterentwicklung wird intensiviert. Das ist wild tobende Evolution.«

Sofgart beugte sich leicht nach vorn. Die watteähnlichen Geflechte setzten sich aus Myriaden einzelliger Lebewesen zusammen, die sich gegen die eingeschleppten Keime zur Wehr setzten. Solche Kämpfe gab es während der meisten Siedlungsprojekte, und nicht alle gingen gut aus. Wahrscheinlich versuchten die Mikrobioten, die während des Zersetzungsprozesses der toten Körper aktiv waren, sich durchzusetzen. Die Schwierigkeiten bei den Anpassungsprozessen der Kolonisten an eine neue Welt beschränkten sich nicht auf die Makrobiologie, wie Knochendichte, Muskulatur oder Atmungssystem. Die Feinheiten waren häufig sehr viel wichtiger. Siedler an eine fremde Mikrofauna zu adaptieren, ohne dass dies mit den innerkörperlich aktiven Bakterienstämmen kollidierte, war extrem kompliziert. Bei geschätzten 30 Billionen Körperzellen eines typischen Humanoiden ging man von einer durchschnittlichen Bakterienanzahl von 39 Billionen aus, die das Individuum besiedelten. Viele davon waren für die Funktion des Körpers lebenswichtig.

Sofgarts Schutzschirm flammte auf. Unzählige winzige Funken blitzten. Jeder davon war ein Keim, der ihn wahrscheinlich töten könnte. Farbige Flocken lösten sich aus dem flatternden Bakterienteppich und schwebten auf Sofgart zu. Er wich einen Schritt zurück.

»Warnung!«, verkündete die Positronik. »Ich messe potente Konzentrationen organischer Säuren und etlicher extrem toxischer Substanzen an.«

Die ersten größeren Flocken erreichten ihn, erneut leuchtete es in Sofgarts Schutzschirm auf. Grelle Funken stoben, als die Bakterienkonglomerate mit der Energieblase in Kontakt kamen und vernichtet wurden.

Sofgart schwitzte. Aus Erfahrung wusste er, dass gerade diese hochaktiven Bakterien evolutionär sehr schnell aufrüsteten. Auf Fulkmonn hatte ein solcher Keim Fluor-Antimonsäure produziert, eine Supersäure. Die Giftstoffe, die Mikrofauna bei solchen Abwehrkämpfen entwickelte, waren häufig im wahrsten Sinne des Wortes mörderisch. Die Gefahr, dass sie sich sogar durch eine der überaus stabilen Schutzmonturen fraßen, war recht groß.

Es sieht beinahe aus, als attackierten sie mich, schoss es ihm durch den Kopf.

Weitere Flocken lösten sich. Sie sahen wunderschön aus, glänzten im grellen Licht von Deneb in Scharlachrot, Schwefelgelb und Kobaltblau. Sie schwebten auf Sofgart zu, als wollten sie ihn in ihren ätherischen Tanz einbeziehen.

»Ich empfehle den sofortigen Rückzug!«, drängte die Positronik seiner Montur. »Soll ich das Keimnest ausbrennen?«

»Nein«, lehnte Sofgart entschieden ab, während er sich weiter zurückzog. »Wir überlassen die Natur sich selbst. Es ist nicht unsere Aufgabe, regulierend einzugreifen. Diese Welt hat gewonnen ... Und ich denke, dies ist lediglich das Schlusskapitel. Das ist ohnehin nicht der Ort, an den es mich zieht.« Zumindest dessen war er sich sicher.

Ein halbes Dutzend sonderbar geformter Bakterienballungen explodierte und schleuderte ihren Inhalt in Sofgarts Richtung.

»Nichts wie weg!«, murmelte er und brachte mehrere Meter Distanz zwischen sich und den Auswurf.

Dieser schien in der Luft überzukochen. Ein schwärzlicher Schaum entstand und erstarrte. Als die Schaumblasen zu Boden fielen, zerbrachen sie.

»Das Paradebeispiel einer biologisch hyperaktiven Gefahrenzone!«, entfuhr es ihm.

Für biologische Schutzsysteme, die mit solchen evolutionären Ausbrüchen konfrontiert wurden, war das stets eine ganz besondere Herausforderung. Man kannte die Spezifikationen der neuen Keime nicht, an eine erfolgreiche Infektionsbehandlung war häufig nicht zu denken. Der Aufenthalt ohne Abwehrschirm in solchen Arealen war extrem riskant. Leider fraßen entsprechende Energieblasen die Speicherzellen sehr schnell leer.

»Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es in einer solchen Umgebung Überlebende gibt?«, fragte er.

Die Antwort von Ekkis war ernüchternd. »Null. Die Aggressivität der Keime, die wir gerade beobachtet haben, ist verheerend. Wir werden niemanden retten können. Allerdings habe ich einige Ortungsergebnisse, die interessant sind. Ich übermittle dir die Koordinaten.«

Sofgart startete das kleine Pulsatortriebwerk seiner Schutzmontur und flog los. Die Vogelperspektive auf die Wüstung machte das ganze Ausmaß des Verfalls sichtbar. Die Siedlung war größer, als er gedacht hatte. Die Menschen hatten offenbar nicht damit gerechnet, dass das Siedlungsprojekt scheitern könnte, sonst hätten sie kaum solche Anstrengungen unternommen. Der Aufwand war zwar nicht übermäßig groß, aber die Erde war nun mal nicht Arkon. Im Großen Imperium hatte man jahrtausendelange Erfahrung. Für die Menschen der Erde indes lag der Beginn der interstellaren Kolonialisierung gerade mal fünfzig Jahre zurück, und die Mittel, die ihnen zur Verfügung standen, waren sehr beschränkt.

Das Land unter ihm war überall trocken, nahezu ausgedörrt. Vegetation gab es kaum und beschränkte sich zumeist auf tundrische Formen. Sofgart kannte die Ergebnisse der Kartografierung, die vor jeder Landung auf einer Fremdwelt automatisch ablief. Näher an den Polkappen war es kühler in diesen Zonen und dort hatten sich Wälder und dicht wachsendes Gesträuch ausgebreitet. Allerdings waren die Wetterverhältnisse dort kaum eine Einladung, zu siedeln. Die zirkumpolaren Winde tobten häufig in Zyklonstärke.

Er fühlte genau, dass er auf dem richtigen Weg war. Was auch immer ihn anzog, er kam ihm näher.

Ein roter Leuchtpunkt erschien in der positronisch optimierten Umgebungsdarstellung in Sofgarts Helm: eine annähernd runde Form, die infolge etlicher Bodenverwehungen nur schlecht zu erkennen war. Eine Falschfarbendarstellung half.

Sofgart landete. Der Sand in diesem Areal war deutlich feiner als bei der Ruinenstadt, und die Farbe lag zwischen einem kräftigen Umbra und hellem Gelb. Es erinnerte ihn an die Tarnzeichnung eines Raubtiers. Er grub und wischte Unmengen an Sand und Staub beiseite, bis er die ersten Steine sah: regelmäßig geformte Quader von annähernd identischer Größe, die ein Ringsegment bildeten.

»Durchmesser der Kreisstruktur?«, fragte er.

»Ziemlich exakt zwanzig Meter«, lautete die Antwort.

Sofgart sog scharf die Luft ein. Er zog den Tropfen in seiner Kapsel aus der Tasche. Das Artefakt vibrierte so stark, dass es verwaschen aussah.

»Wieso hast du mich hierhergeführt, du komisches, kleines Ding?«, rätselte Sofgart leise. »Ein Zeitbrunnen. Kein Zweifel. Erloschen und verschüttet, aber es ist einer. Was hast du mit einem Zeitbrunnen zu tun?«

Dass es solche Gebilde gab, hatte er zum ersten Mal auf Naat erfahren – nachdem Krom verschwunden war. Ein Naat namens Kephlomm hatte ihm davon berichtet. Mittlerweile wusste Sofgart etwas mehr über diese Relikte, aber unverändert viel zu wenig, um zu verstehen, was genau Zeitbrunnen waren und wozu man sie erschaffen hatte. Zumindest die immer gleichartige Einfassung war eindeutig. Es war kein natürliches Phänomen – jemand hatte diese Umrandungen gebaut.

Das Verhalten des Tropfens hatte sich verändert, das war Sofgart sofort aufgefallen. Aber was konnte das uralte Artefakt mit einem Zeitbrunnen zu tun haben, der erloschen war?

»Na, dann schauen wir mal.« Sofgart betrat den Kreis.

Der Boden war nicht weich, bestand weder aus Sand noch aus Staub. Er ähnelte eher einem abgelagerten und komprimierten Sediment. Das mochte ein Hinweis darauf sein, wie lange der Brunnen bereits erloschen war. In diesem Fall war nicht mehr die Rede von Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Bis sich ein Sediment dieser Stärke und Festigkeit bilden konnte, vergingen eher Jahrmillionen.

Sofgart spürte Hitze an der Hüfte. Als er die Kapsel erneut hervorzog, vibrierte der Tropfen darin mit unglaublicher Geschwindigkeit und strahlte starke Wärme ab.

»Was ist denn ...«, setzte er verblüfft an, als sich zu seinen Füßen etwas bewegte. Eine Kuhle bildete sich. Das Ganze ähnelte einem Ablauftrichter. Das Sediment wurde wieder zu Staub, und Sand und verschwand nach unten. Etwas Kleines, Schwarzes wurde sichtbar. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis Sofgart es greifen konnte.

Er konnte kaum glauben, was er sah. Es war ein zweiter Tropfen, nicht von dem zu unterscheiden, den er besaß. Auch der neue Tropfen vibrierte hektisch. Er lag in Sofgarts Handschuh, als stünde er unter Strom. Erst als Sofgart ihn in die Nähe seines eigenen Exemplars brachte, beruhigten sich beide Objekte.

Er riss die Augen auf. Ohne dass er die Kapsel geöffnet hatte, diffundierte der neu entdeckte Tropfen hinein. Beide lagen schließlich direkt nebeneinander, als sei es nie anders gewesen.

Ratlos starrte Sofgart erst auf das Behältnis, dann auf den Boden, wo sich die Kuhle soeben schloss. Momente später sah der Boden wieder exakt so aus wie bei Sofgart Ankunft.

Er stampfte mit dem Fuß auf, aber der Grund war hart wie Beton.

Was ist das nur?, fragte er sich. Eine Antwort hatte er nie bekommen, seit er den ersten Tropfen auf Arkon I entdeckt hatte. Keine der Untersuchungen hatte ein Ergebnis gebracht, das mehr als die banalsten Fakten wie Dichte oder Masse beinhaltete. Bereits beim Härtegrad wurden die Messungen irreal. Ob es sich um ein reines Element oder eine Verbindung handelte, wusste er bis zu diesem Tage nicht.

Und jetzt habe ich statt eines Rätsels gleich zwei, dachte er, während er den Steinkreis hinter sich ließ. Was hat so ein Ding ausgerechnet in einem erloschenen Zeitbrunnen zu suchen? Ist es durch ihn hindurchgegangen? Hat es ihn dabei vielleicht sogar zerstört? Ich sollte vorsichtiger damit sein.

Aber ihm war klar, dass er sich nicht an die eigenen guten Vorsätze halten würde. Die Tropfen stellten eine Spur in die Vergangenheit dar – zu seinen Vorfahren, von denen er nichts wusste. Das Archiv hatte ihm den ersten Tropfen nur deshalb gezeigt und überlassen, weil sein Genom sich als eine Art Legitimation erwiesen hatte. Für einen Waisenjungen mit gänzlich unbekannten Eltern, war das Gefühl, auf einmal Teil einer langen Abstammungsgeschichte zu sein, überwältigend gewesen. Das hatte er sogar Krom nie verraten, obwohl der Planeteningenieur ein sehr kluger Kopf gewesen war ... und ein Freund.

Sicher wusste er mehr, als er zeigte, dachte Sofgart. In diesem Augenblick vermisste er Krom so sehr, dass es beinahe schmerzte.

Ein dunkler Fleck wenige Schritte von ihm entfernt erregte seine Aufmerksamkeit. Dort lag etwas im Sand, vielleicht so groß wie eine Faust. Er stutzte.

Eine Geminga-Druse! Er wusste seit einiger Zeit, dass solche Hyperkristalle häufig mit Dunkelleben verunreinigt waren. Diese allerdings war harmlos, wie sich gleich darauf zeigte. Ein Riss hatte die Kristallstruktur gesprengt. Das Innere sah porös aus, als hätten viele Tausend Knarpswürmer ihre Gänge hineingegraben. Die Druse hatte das Dunkelleben freigesetzt. Das musste längere Zeit her sein. Eine Sandkruste hatte sich an einigen Stellen angelagert.

»Das Dunkelleben ist tatsächlich verschwunden«, sagte Sofgart laut. Der Klang der eigenen Stimme beruhigte ihn. Allerdings verriet ihm dies nichts über die Zustände, die in der Lokalen Blase selbst herrschten. Das Denebsystem war kein Teil davon, dafür war die Entfernung von der Erde, die beinahe im Zentrum stand, zu groß.

Er richtete sich auf und versetzte der zerstörten Druse einen Tritt. Dann machte er sich auf den Weg zurück zur LORK.

Als er das Raumschiff beinahe erreicht hatte, registrierte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Er ahnte es eher, als dass er es konkret sah. Es war wie ein weißes, im Wind flatterndes Laken. Er vergrößerte das Bild, und da war ... nichts! Nur Denebs grelles, blauweißes Licht flutete durch die trockene Ebene und ließ die heiße Luft flimmern.

»Es wird Zeit, dass ich wegkomme!«, stellte Sofgart fest. »Ich sehe schon Gespenster.«

Keine zehn Minuten später hob die LORK ab. Sofgart war erleichtert. Er setzte Kurs auf sein nächstes Ziel, das Beta-Albireo-System.

Perry Rhodan Neo 243: Drei Tropfen Unendlichkeit

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