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DER REGENBOGEN

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Nichts ist, denke ich, als ich, kaum erwacht, durchs Fenster die bleiweiße, rötlich umgrenzte Sonne sehe, genau wiederholbar. Wir sind im selben Hotel, unser Zimmer befindet sich wie vor einem Jahr im 7. Geschoss des hohen, zylindrischen Bauwerks, ist, sofern ich mich richtig entsinne, eingerichtet wie das andre, weist die gleichen, leicht konisch verlaufenden, zartgelb getünchten, Seitenwände auf, hat nur eine um sechs Ziffern höhere Nummer und liegt, wenn man aussteigt, nicht rechts, sondern links vom Lift.

Meine Einsicht fußt bloß bedingt auf dieser scheinbar belanglosen Äußerlichkeit, obgleich ihr für das, was ich eigentlich meine, ebenfalls eine gewisse Wirkung zufällt. Während ich das letzte Mal durchs Fenster verfolgen konnte, wie die Sonne, ehe sie glutrot hinter den Ofner Bergen versank, kupfrigen Glanz auf die Gipfel hauchte, vermag ich jetzt zu beobachten, dass sie sich in dem Maße, wie der milchige Morgennebel weicht, sichtlich verfärbt, bis sie silbrig über den Dächern von Pest gleißt.

Wieder genügt ein jäher Reiz, um mir einst Erlebtes oder Erfahrenes nach und nach ins Gedächtnis zu rufen: Das Wasser aus der Dusche, unter der Carola steht, rauscht wie starker Regen. Die Fläche zwischen Parlament und Fischerbastei, über die mein Blick gleitet, verschwimmt mehr und mehr hinter den großen, dicht fallenden Tropfen, bis die Umrisse formlos werden wie an jenem Tag, als ich, nicht weit entfernt von Görlitz, mit Großmutter auf einem langgestreckten, vom Bauern mit zwei Knechten abgeernteten Feld im steinigen Boden zurückgebliebene Kartoffeln stoppelte. Während sie mit einer kurzstieligen, spitzen Hacke zwischen Leuten, die, ihre Köpfe tief gesenkt, verbissen vor, hinter und neben uns buddelten, emsig die festgetretene Erde lockerte, griff ich, sobald sich eine Knolle zeigte, blitzschnell nach ihr, ehe sie mir jemand, der gleichfalls auf einen Fund lauerte, wegschnappen konnte.

Mit allen Sinnen bemüht, den kleinen Abschnitt, den wir, sobald der Bauer, seinen Wagen randvoll beladen, weggefahren war, zwischen den mehr als hundert drängelnden und schubsenden Menschen auf dem leicht welligen Acker erobert hatten, hartnäckig zu verteidigen und möglichst schnell meinen kleinen Rucksack aus derbem Tuch zu füllen, merkte ich lange nicht, dass es immer dämmriger wurde. Erst als sich Großmutter aufrichtete, ächzend ihren Rücken streckte, den Kopf weit nach hinten neigte und zum Himmel blickte, wo sich dunkelgraue Wolken wie große, schmutzige Segel blähten, wurde es mir bewusst.

„Wir müssen weg“, sagte sie. „Gleich gibt’s ein Unwetter!“

Ich schnürte rasch meinen Rucksack zu, hängte ihn um und folgte Großmutter, während sie sich eine Weile zwischen hastenden, ärmlich gekleideten Leuten bewegte, die einer mehrere hundert Meter entfernten Baumgruppe zustrebten, ehe sie plötzlich nach rechts auf einen Feldweg abbog. Ich begriff, dass sie zu der schmalen, zwei Tage vorher entdeckten, Brücke wollte, die sich über einen quirligen Bach spannte. Als wir sie im fahlen Zwielicht schon sehen konnten, zuckte der erste Blitz, und kaum hatten wir uns, das letzte Stück, so schnell wir konnten, über die begraste Böschung gelaufen, atemlos unter ihr neben einen runden, rissigen Holzpfeiler gesetzt, hörte ich, wie über uns der Regen auf die dicht aneinander gefügten Bohlen prasselte.

Im vergangenen Sommer, fiel mir ein, wenige Tage, bevor der Gendarm zu uns gekommen ist, haben wir keinen Unterschlupf gefunden. Wir waren auf abgeschiedenen Wegen noch einmal zu viert in die nahe Kreisstadt Baja gefahren. Unsre Väter hatten Edit und mich auf den Querstangen ihrer Fahrräder mitgenommen. Manchmal mussten sie kräftig in die Pedale treten, um mit dem zusätzlichen Gewicht über besonders sandige Stellen zu gelangen. Wir badeten in der Sugovica, einem Donauarm, der langsam strömte und wie Quecksilber glitzerte. Nachher hockten wir uns auf die Uferböschung, die schilfgrün begrast war wie hier, ließen uns von der Sonne trocknen und blickten manchmal zum blassblauen Himmel, über den nur wenige weiße Wölkchen trieben, so dass ich hoffte, der Tag würde heiter bleiben. Aber schon zwei Stunden später trübte es sich plötzlich ein, und sobald auch noch heftiger Wind zu wehen begann, brachen wir überhastet auf.

Wir hatten erst die halbe Strecke zurückgelegt, als es donnerte, und Blitze flackerten. Rasch verfinsterte sich der Himmel, und dann begann es zu regnen wie jetzt. Die großen, schweren Tropfen peitschten uns ins Gesicht, und ringsum gab es keine Behausung, die uns Schutz geboten hätte.

Als wir von den Rädern stiegen, fielen Blitz und Donner fast zusammen. Schweflige Streifen rasten übers grauschwarze Firmament, zerrissen das Halbdunkel, tauchten die Landschaft für Sekunden in blendende Helle.

„Hinlegen!“, rief mein Vater, ließ das Fahrrad fallen und warf sich ins Unkraut, das kniehoch wucherte.

Ich zog Edit zu einer Mulde, wo wir zu Boden glitten und uns fest anschmiegten, was, wie ich heute weiß, nicht den besten Schutz bot. Obwohl ich meine Augen schloss, nahm ich jeden Lichtreflex wahr. Der Regen wurde stärker und stärker, durchnässte uns bis auf die Haut.

Eine Weile lagen wir reglos. Dann rückten wir aufeinander zu, Stück um Stück, bis sich unsre Schultern berührten wie später, am letzten gemeinsamen Morgen, als wir, von einer noch matten Sonne gewärmt, vor unsrem lindgrünen Haus hockten, die Rücken an den höckerigen Sockel lehnten und sorglos das in der nahen Cukrászda gekaufte Eis aßen, bis wir bemerkten, wie straßenabwärts Gendarmen in die Häuser gingen.

Während Großmutter ihren Arm um meine Schultern legte, als fürchtete sie, ich begänne zu frieren, begriff ich, dass nicht mehr Edit neben mir saß.

„Bloß gut“, hörte ich sie sagen, „dass wir’s bis unter die Brücke geschafft haben.“ Ich spürte, wie sie beim nächsten Blitz erschrak und merklich aufatmete, als der Donner nicht gleich folgte. „Vor langer, langer Zeit“, fuhr sie leise fort, wie wenn sie nur mit sich spräche, „hatte ich ähnliches Glück. Es war, als ich Eva, mein Geschwisterkind“ – sie gebrauchte, ich erinnere mich genau, noch die alte Bezeichnung für Cousine - „in Budapest besuchte. Ich hab dir“, fragte sie, ein wenig lauter werdend, „doch davon erzählt?“

„Hast du“, bestätigte ich und meinte, an jenem sonnigen Septembertag erstmals gemeinsam die Landeskrone erklettert, wieder mit ihr unweit des Aussichtsturms auf der versteckten Bank zu sitzen, von der wir die aus dunkelroten Klinkern errichtete Kirche, das Rathaus, den Bahnhof, wo wir mit unsren Bündeln aus dem Aufnahmelager angekommen waren, und die Waggonbaufabrik, in der Vater seit Wochen arbeitete, erkennen konnten.

„Das Gewitter“, redete sie weiter, „überraschte uns, als wir zu Fuß von Pest nach Ofen wollten. Weil Eva sich auskannte, fanden wir ebenfalls, ohne nass zu werden, einen Unterschlupf. Er glich unsrem, war nur viel breiter und höher; denn wir standen inmitten einer Gruppe von Leuten unter der gewaltigen Kettenbrücke.“ Geschützt habe die allerdings nur vor dem heftigen Regen. Der Wind, fast ein Sturm, sei wütend über alles und jeden hinweggefegt, immer wieder durchzuckt von Blitzen, die, wie sie gemeint habe, im aufgewühlten, mit weißem Gischt überflockten, Strom verglüht seien.

„Als es nur noch nieselte, flaute auch der Wind ab. Von der Brücke, die wir über eine steile Treppe erreichten, entdeckte ich einen so gewaltigen Regenbogen, wie ich ihn weder vorher noch nachher gesehen habe. Er streckte sich, so weit der Blick reichte, über die Stadt, schimmerte, schien mir, in zahllosen, aufs Feinste abgestuften, Farben, verbreitete ein unbeschreib­liches Licht und ließ die Gebäude, von denen sich der graue Dunst löste, märchenhaft leuchten.“ Besonders das Parlament mit seinen zahlreichen Bögen, Statuen und unterschiedlichen, weithin sichtbaren, Türmen habe sie dadurch noch viel schöner gedünkt, als es schon in Wirklichkeit sei.

„So ist es mir bis heute im Gedächtnis geblieben“, sagte sie wesentlich später, als sie wahrscheinlich meinte, ich wäre alt genug, um ihre folgende Äußerung zu verstehen, „und ich glaubte lange“, fuhr sie fort, „dass in einem so wunderbaren Gebäude nur kluge, weitsichtige und gerechte Menschen tätig sein müssten, die das Beste für alle Bürger wollten. Doch seit wir, ohne schuldig zu sein, wie lästige Störenfriede mit ein paar armseligen Bündeln von Haus und Hof verjagt worden sind, weiß ich, dass ich einem törichten Irrtum erlegen bin, weil wohl keiner der Verantwortlichen bereit gewesen ist, sich einzugestehen, was unsre Vorfahren und wir mit Fleiß, Umsicht und Findigkeit für das Land geleistet haben.“

Während Carola, das Badetuch um ihren noch nassen Körper geschlungen, hinter mich tritt, verflüchtigt sich alles, was ich zu sehen geglaubt habe, so rasch, wie es aufgetaucht ist. Nur das Parlament sowie die Fischerbastei, im prallen Sonnenlicht scharf umrissen, nehme ich wahr, und dazwischen die Kettenbrücke, über die wir ganz sicher mal gehen werden, obwohl es, da im Krieg alle Übergänge zerstört wurden, nicht mehr dieselbe ist, von der Großmutter den riesigen Regenbogen erblickt hat. Der war mir, als sie ihn während des Gewitters, neben dem rissigen Brückenpfeiler nahe an mich gerückt, eindrucksvoll schilderte, so wundersam erschienen wie manche Geschichten, die sie mir einst in Vaskút erzählt hatte.

Als wir nach dem Frühstück, das wie vor einem Jahr reichlich, aber immer noch einfallslos ist, durch den nahen Park in Richtung Moszkva tér schlendern, tröpfelt erneut Nässe aus den Baumkronen, und von den Zweigen, die im leichten Wind zittern, trudeln welke, vergilbte Blätter herab. Aber sobald wir den großen, runden Platz erreichen, sehen wir, dass die Bänke, auf denen, mit Folie oder Zeitungen zugedeckt, Stadtstreicher gelegen hatten, leer sind, und wir werden auch in den nächsten Tagen keinen der meist bärtigen, verwahrlosten Männer, die alles, was sie besitzen, in Plastikbeuteln mit sich führen, entdecken. Haben sie sich zurückgezogen wie die Taxifahrer, die sich früher nach der Ankunft von Fernzügen auf den Bahnsteigen zwischen die Reisenden drängelten und beredt ihre Dienste anboten? Oder wie die dunkeläugigen, schwarzhaarigen, ärmlich gekleideten Mütter, die in muffigen Unterführungen auf schmutzigen, kalten Treppenstufen saßen, ihre müden, ergebenen Kleinkinder im Arm hielten und aufdringlich bettelten? Gibt es inzwischen Verbote, die verhindern sollen, dass sich Besucher wie wir belästigt fühlen? Solche Vorschriften würden, denke ich, nur ein scheinbar freundlicheres Bild vermitteln; denn für die Betroffenen dürfte es, ihrer vorher genutzten Möglichkeiten beraubt, noch wesentlich schwieriger sein, sich durchzuschlagen.

Ich wundere mich, dass ich, als wir den tags meist stark belebten Moszkva tér erreichen, noch immer darüber nachsinne. Ist es, weil wir in Görlitz anfangs ebenfalls arm waren, es in dem einen zugewiesenen Zimmer, wo wir auf unsren Bündeln schliefen, keinen Schrank, keinen Tisch, keinen Stuhl, keinen Spiegel, keinen Teppich gab?

Im Durchgang zur Metro sind wir gezwungen, uns in eine Schlange einzureihen. Weit genug vorgerückt, erkennen wir, dass jeder seinen Fahrschein zeigen oder bezahlen muss. In den nächsten Tagen wird es, wenn wir zur Bahn wollen, immer aufs Neue die gleichen Kontrollen geben. Obwohl die Uniformierten höflich sind, meine ich mehrfach, unter ihnen den Gendarmen zu entdecken, der uns an dem Tag, als ich mit Edit das letzte Mal Eis aus der Cukrászda aß, den Befehl gab, innerhalb einer Stunde unsre Sachen zu packen. Und einmal fällt mir ein, was Sándor in seinem Refugium auf dem Karmel erzählt und noch ausführlicher in seiner Niederschrift geschildert hat.

Er musste, ohne etwas mitnehmen zu dürfen, drei Jahre vor uns fort. Mit Ildikó nach dem Unterricht aus dem Gymnasium von Baja nach Vaskút zurückgekehrt, spürte er, kaum in die Postgasse eingebogen, wo sich viele Bewohner in kleinen Gruppen vor ihren Gehöften aufhielten, dass sich etwas Ungewöhnliches ereignete. Noch nie, schien ihm, hatten die Leute so unverhohlen auf seinen gelben Stern gestarrt. Einige Frauen liefen in geringem Abstand hinter ihnen her, als wollten sie von dem, was sie erwarteten, nichts verpassen. Keinen Steinwurf mehr von ihrem Eckhaus entfernt, erkannte Sándor, dass seine Eltern, flankiert von zwei ungarischen Gendarmen, durchs breite Tor traten. Die Menge, die sich angesammelt hatte und wenig später den kaum verwaisten Laden plündern würde, wich nur so weit auseinander, dass ein schmaler Gang für die kleine Gruppe entstand. Durch den sah Sándor seine Eltern und die beiden Polizisten auf sich zukommen. Der Vater wirkte kleiner als sonst, da er den fast haarlosen Kopf gesenkt hielt, und die Mutter umklammerte seinen rechten Arm, wie wenn sie ihn oder sich stützen wollte. Augenblicke dachte Sándor daran, dass er sich umdrehen und weglaufen könnte. Aber gleich darauf begriff er, dass er nicht weit käme, weil die Leute vor ihrem Geschäft, die, so schien ihm, feindselig herüberblickten, wohl nur darauf lauerten, ihn wie eine Meute blutrünstiger Hunde zu hetzen. Und den Gendarmen, deren finstere Gesichter er jetzt deutlich wahrnahm, traute er zu, bedenkenlos auf ihn zu schießen.

Davon überzeugt, dass sich eine günstigere Möglichkeit bieten würde, doch noch zu entkommen, berührte er Ildikó flüchtig an der Schulter und ließ sich scheinbar willig wegführen. Es war ein Abschied für sehr lange Zeit. Erst zwölf Jahre später sahen sie sich in Haifa wieder.

Sehr oft, denke ich, als wir in der Metro sitzen, habe ich, wie einst, aus dem Kindergarten heimwärts unterwegs, jenen langen, von SS-Soldaten scharf bewachten Zug gesehen, der aus dem Süden heranrückte und nordwärts getrieben wurde. Ich bemerkte Junge und Alte, Frauen und Männer, Mütter, die ihre Säuglinge im Arm hielten, und Väter, die kleine Kinder auf den Schultern trugen. Manche taumelten und vermochten sich kaum noch auf den Beinen zu halten, verließen aber aus Furcht, beschimpft, getreten oder geschlagen zu werden, nicht ihre Reihen. Und dann entdeckte ich Sándor, der, mit seinen Eltern zur Kolonne gebracht, neben ihnen schritt. Er sah, schien mir, als Einziger furchtlos zu mir. Wollte er zeigen, dass er entschlossen war, sich der Gefahr zu stellen, wie er es später mit seiner waghalsigen Flucht bewies?

Diese Minuten – oder waren es vielleicht bloß Sekunden? – prägten sich mir so fest ein, dass sie mir nicht nur, solange wir in unsrem lindgrünen Haus wohnen durften, immer wieder in den Sinn kamen, sondern auch viel später noch, in Görlitz, wenn ich an der ungenutzten Synagoge oder am alten jüdischen Friedhof vorbeiging. Doch manchmal verschwamm das Bild und wich einem andren, durch das ich, glaube ich heute, mit Sándor gleichzeitig an daheim erinnert werden sollte: Ich meinte, ihn wie einst, als die Akazien weiß und lila blühten, tief über den Lenker gebeugt, auf seinem funkelnden Fahrrad zwischen den wenige Armspannen voneinander entfernten Baumreihen, die sich scheinbar schnurgerade vor den Häuserfronten erstreckten, über unsre ungepflasterte Straße fahren zu sehen, und Herkules, sein großer, zotteliger Hund, lief, ohne dass er Sándor einzuholen vermochte, hechelnd hinter ihm her.

Noch unsicher, wohin wir uns zuerst wenden wollen, steigen wir am Hotel „Astoria“ aus. Nachdem wir ein Stück gegangen sind, entdecken wir auf der linken Seite die zwei hoch aufragenden Zwiebeltürme der Großen Synagoge. Hinter ihr, am Tor des ehemaligen Gettos, stoßen wir auf eine Skulptur von Imre Varga. Sie ist Mahnmal für die jüdischen Toten des Zweiten Weltkriegs in Ungarn, zu denen ich vermutlich die meisten aus der Kolonne, die durch unser Dorf getrieben wurde, zählen muss. Es sollen, habe ich gelesen, über eine halbe Million Menschen umgekommen sein.

Während wir die stilisierte Trauerweide betrachten, deren lange, dünne, aus Chromstahl gefertigten Zweige mit den abwärts gewandten sieben Menora-Ästen verflochten sind und auf 30 000 Blättern die Namen von Ermordeten tragen, ist mir, als wäre ich mit Ines, weit über Haifa, sieben Kilometer vom Zentrum entfernt, wieder auf dem Campus der Universität vor einer ähnlichen Gedenkstätte. Baum der Schmerzen genannt, ist sie eine eigenwillige Stahlkonstruktion wie die, vor der ich jetzt mit Carola stehe.

Ein Stück neben dem Karmel National Park, zwischen Akazien und andren Bäumen versteckt, war sie nicht leicht zu finden gewesen. Sie soll sieben Meter hoch sein und aus 1400 dünnen, glitzernden Blättern bestehen, die an weit verzweigten Ästen hängen und bei Luftbewegungen eine Art sphärische Musik erzeugen, die, wenn man fähig ist, es zu hören, leisem, wehmütigem Seufzen gleicht, das im Wind verweht.

Wie oft, denke ich, mag Sándor, solange er an der Universität gelehrt hat, hingegangen sein, um sich an seine verschollenen Eltern zu erinnern?

Ich fühle mich ihm, ähnlich wie auf dem Campus am Rande von Haifa, plötzlich wieder nahe, als wären wir noch im Dorf, wo wir beide nicht bleiben durften. Mir wird bewusst, dass ich mich den Bildern, Gedanken und Empfindungen, die einst Erlebtes heraufbeschwören, bis heute nicht entziehen kann. Dabei dachte ich mal, dass Erinnerungen erlöschen, wenn man sie nicht wachhält. Sie verkümmern, glaubte ich, wie eine Sprache, die man erlernt hat und nicht mehr benutzt. Stück für Stück rutscht weg, Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat, und was zurückbleibt, zerreiben die Jahre.

Nie vorher, begreife ich, habe ich klarer als jetzt erkannt, wie trügerisch meine Hoffnung gewesen ist.

Während wir zwei Tage später über den weiträumigen, gepflegten Farkasréti-Friedhof gehen, um die Gräber von Kodály, Bartók und andern aufzusuchen, meine ich, noch einmal vor dem Lebensbaum mit den abwärts gewandten Menora-Ästen zu stehen. Carola hat Augenblicke gezögert, mich zu begleiten, weil ihr Verhältnis zu den stillen, einsamen Ruhestätten zwiespältig ist.

„Grabmale ziehen mich an und schrecken mich ab“, hat sie mal gesagt. „Meist aber überwiegt die Neugier, versuche ich, aus den spärlichen Angaben, die der kalte Stein speichert, zu ergründen, wie die Toten, die unter ihm liegen, als Lebende gewesen sein mögen. Dabei erinnere ich mich oft an die Leute, die mir nahestanden, bis sie für immer gegangen sind.“

Auch Großmutter Gertrud, denke ich, ist schon lange gegangen. Wir mussten sie fern von ihrem Mann, meinem Großvater Anton, den ich, da er zu früh gestorben ist, nicht kennenlernen konnte, in Görlitz beerdigen.

Mir fällt ein, wie wir uns an jenem Tag, als bereits Hunderte deutsche Dorfbewohner, von mehreren Gendarmen bewacht, am Bahnhof auf ihren Bündeln lagerten und den Güterzug erwarteten, der uns nach Sachsen bringen würde, noch einmal heimlich entfernt, aus der Sommerküche Großmutters vergessene Brille geholt und den Rückweg über den Friedhof genommen hatten.

Vor Großvaters Grab blieben wir stehen, und derweil wir den hellen, fast weißen Stein mit der schlichten Aufschrift betrachteten, begriff Großmutter, erfuhr ich später, dass sie sich zum letzten Mal hier aufhielt. Es würde ihr nicht vergönnt sein, die Ruhestätte weiter zu pflegen. Wie immer, wenn sie sich am Grab aufhielt, glaubte sie, Großvater mit seinen graugrünen, lebhaften Augen, der kurzen, geraden Nase und dem gezwirbelten Schnurrbart vor sich zu sehen.

War es die ungute Vorahnung, die sie nach einem Ausweg suchen ließ? Was wäre, überlegte sie, wenn sie nicht zum Bahnhof zurückkehrte, sondern sich im nahen Wald oder in unsrer Weingartenhütte versteckte? Wer könnte sie dann noch zwingen, den Landstrich, mit dem sie sich zutiefst verbunden fühlte, zu verlassen? Aber wenn sie bliebe, würde sie für immer von uns getrennt sein. Schien eins nicht so schlimm wie das andre?

Sie kniete mit zuckenden Schultern, die Hände zum Gebet gefaltet, und es sah aus, als fehlte ihr die Kraft, sich zu erheben. Schließlich raffte sie sich doch auf und ging rasch mit mir davon, als fürchtete sie, es sich noch anders zu überlegen.

In den nächsten Tagen, die uns merklich kühler erscheinen als bei unsrem letzten Aufenthalt, obwohl wir da eine Woche später hier gewesen sind, suchen wir neben Orten, die wir vorher nicht gekannt haben, wiederholt vermeintlich vertraute Stellen auf, wo wir jedoch kaum etwas genauso antreffen, wie wir es vor einem Jahr wahrgenommen haben.

Als wir, nur ein Stück vom Heldenplatz entfernt, auf der Terrasse des versteckt gelegenen Restaurants sitzen und Mittag essen, kommt, solange wir dort sind, der graugetigerte, immer hungrige Kater, der mich an unsre einst zurückgelassene Macska Schneewittchen erinnert hat, nicht mehr; unter der uralten Platane hinter der Burg Vajdahunyad bleibt es, wenn kein Liebespaar zum Anonymus geht, gleichzeitig oder nacheinander seinen schon stark abgegriffenen Stift, den er zwischen den Fingern hält, wie einen Talisman berührt und sich dabei halblaut unterhält, ungewöhnlich still, weil der Harfenspieler fehlt; und auf dem mit Splitt bestreuten Platz im Stadtwäldchen, wo neben dem eingezäunten Spielfeld mehrere Bänke im Halbkreis stehen, die meist überwiegend besetzt sind, warten wir, derweil wir dem geschäftigen Treiben von Hunden, Sperlingen und Tauben zusehen, vergeblich auf den alten, hageren Mann mit bärtigem Gesicht, zottigem Haar, schäbiger Kleidung und abgelaufenen Schuhen, um zu beobachten, wie er zuerst Bier aus einer Dose trinkt, dann auf unnachahmliche Art die geschnorrte Zigarette hinter seiner Ohrmuschel hervorlangt und viele Male um Feuer bitten muss, bis jemand bereit ist, ein Streichholz für ihn anzureiben wie ich vor einem Jahr.

Ich ahne, dass Carola, die sich auf der Bank zurücklehnt, und, um nicht geblendet zu werden, ihre Augen schließt, ebenfalls spürt, was sie und mich gleichermaßen beschäftigt. Doch erst als wir eines Nachmittags vor dem „Gerbeaud“ unter einem Sonnenschirm sitzen, Cappuccino trinken, Dobostorta essen und gelegentlich zu den beiden Stehgeigern blicken, die, um möglichst viele Münzen in ihren Hut geworfen zu bekommen, ein Stück entfernt auf dem Vörösmarty tér unermüdlich spielen, sprechen wir darüber.

„Schuld daran“, sagt sie, „sind nicht allein die Gegebenheiten oder Umstände, wenn sich so selten genau das einstellt, was wir erwarten.“

„Sondern?“, frage ich.

„Es liegt, glaube ich, mehr an uns selbst.“

„Das heißt?“

„Wir sind nicht mehr die, die wir beim letzten Mal waren. Jede Stunde, in der wir wach sind, verändern wir uns durch das, was uns widerfährt. Sicher, es geschieht immer nur ein klitzekleines bisschen, so dass wir’s von Tag zu Tag nicht bemerken. Aber wenn wir nach einem Jahr dorthin zurückkehren, wo wir gewesen sind, zeigt sich, dass wir aus dem Blickwinkel von heute in unsrem Gedächtnis ein überholtes, unvollständiges Bild gespeichert haben, weil wir nun anders sehen, werten und empfinden. Oder wie erklärst du’s dir?“

„Ähnlich.“

Hinzu kommt, denke ich, dass wir von manchem nichts gewusst haben: nicht von Elisabeth Sass Brunner und ihren eindrucksvollen, in Japan, Indien und anderswo gemalten, sehr farbigen Bildern, die mich in der Ausstellung auf der Andrássy ut stark berührt und zum Vergleich mit andren Kunstwerken angeregt haben, nicht von Rahel Sanzara, die dort, wo wir jetzt wohnen, geboren wurde und in Budapest ihre ersten Erfolge als Tänzerin feierte, bevor sie Schauspielerin in Prag und schließlich eine viel gelesene Schriftstellerin in Berlin wurde, nichts vom alten Café „Pilvax“ in einer Seitenstraße zur Váci utca, wo sich Petöfi im März 1848 mit Gleichgesinnten traf, nichts davon, dass die seinerzeit auf dem Friedhof Rákoskeresztúr verscharrten Opfer des Volksaufstands erst 1989 in Ehren bestattet wurden.

Während ich verfolge, wie die Geiger, anscheinend enttäuscht von den wenigen Münzen, die sie im Hut finden, ihren Platz verlassen, geht mir durch den Sinn, dass frisch erworbenes Wissen nicht nur das bereits vorhandene erweitert, sondern gleichzeitig noch mehr Möglichkeiten schafft, Geschehnisse, Einsichten und Empfindungen gedanklich miteinander zu verbinden, was manchmal zu unerwarteten Ergebnissen führt: Als wir im Stadtwäldchen, fast an der gleichen Stelle wie voriges Jahr, auf einem schon kahlen Baum mehrere graue Raben entdecken, fällt mir nicht ein, wie ich winters einst durchs teilweise vereiste Küchenfenster im Geäst der drei mächtigen Eichen hinter Lackners Gehöft ihre schwarzgefiederten Artgenossen beobachtete, sondern die, wie ich gelesen und von Sándor gehört habe, inzwischen vogelarme Innenstadt von Mexiko-City, wo ein gesunder, aus dem Tiefland stammender Papagei, den ein Journalist im Käfig auf den Zócalo brachte, um zu beweisen, wie schlecht die Luft geworden sei, bereits nach kurzer Zeit zusammenbrach und qualvoll verendete. Die Männer in schwarzen Uniformen, die einen Tag, bevor sich der Volksaufstand jährt, zugweise mit finsteren Mienen, die ahnen lassen, was sie für den nächsten Abend planen, schneidig von der Andrássy ut auf den Heldenplatz marschieren, erinnern mich nicht an die Auseinandersetzungen vor zwölf Monaten, die wir, kaum ins Hotel gekommen, auf dem Bildschirm sahen, sondern an die noch sehr jungen Männer daheim, die, im letzten Kriegssommer zur SS gepresst, verblendet von großspurigen Reden, forsch aufbrachen und Monate später, falls sie am Leben geblieben waren, von Rotarmisten als Gefangene durchs Dorf in eine ungewisse Zukunft getrieben wurden. In der Großen Markthalle, die wir noch einmal aufsuchen, um etwas für die Heimfahrt zu kaufen, meine ich nicht, auf dem Basar von Taschkent, Duschanbe, Akko oder Haifa zu sein, sondern ganz unvermittelt in unsrer Sommerküche, die an Vaters Stellmacherwerkstatt grenzte. Es geschieht, als wir durch ein großes Fenster beobachten, wie innen ein Mann und eine Frau bereits zu einem Laib geformten Strudelteig, ohne dass er irgendwo einreißt, mit geübten Bewegungen scheinbar mühelos über einen langen, breiten Tisch ziehen, um ihn mit Quark zu füllen. Von einer Minute zur andern ist mir, als säße ich wie einst auf der schmalen Holztreppe, die zum Boden führte, streichelte das samtweiche Fell Schneewittchens und sähe zu, wie Großmutter hantierte, bis ich verstünde, dass es besser wäre, ihr zu helfen.

Während ich, zu ihr geeilt, emsig Mohn mahlte, walkte sie den Teig, bis er nicht mehr an ihren Fingern haften blieb. Sie legte ihn auf einen Teller, deckte ihn mit einem Tuch ab und bereitete aus Apfelstücken, Weichselkirschen, Nüssen, Rosinen, Zucker sowie dem locker gewordenen Mohn die sämigen Füllungen vor.

Spannend wurde es, sobald sie den Teig auf der bemehlten Tischdecke zuerst leicht mit einem Nudelholz ausrollte, und dann, indem sie darunter griff, nach allen Seiten zu ziehen begann, bis er so dünn wurde, dass man fast hindurchsehen konnte. Nachdem die Füllungen gleichmäßig darauf ausgebreitet waren, rollten wir ihn mit Hilfe der Tischdecke, die wir stückweise anhoben, vorsichtig zusammen und verteilten das lange, schlauchförmige Gebilde, mehrfach gewunden, in zwei hochwandige Bleche.

Inzwischen hatte Mutter den Backofen angeheizt, was, wenn es kalt war, auch Vater zugutekam, da die heiße Rückwand, die sich bauchig in seine Werkstatt wölbte, reichlich Wärme abstrahlte.

Das Blitzlicht, das flackert, weil Carola den Mann und die Frau hinter dem großen Fenster beim Arbeiten fotografiert, erinnert mich daran, wo wir uns befinden. Was wir benötigen, ist schnell eingekauft. Als wir ins Freie treten, steht die Sonne schon tief. Mir wird bewusst, dass wir am nächsten Morgen abreisen werden und noch nicht, wie beabsichtigt, über die Kettenbrücke gegangen sind. In der Metro, die wir bis Vörösmarty tér benutzen, reihen sich, während ich durch eine trübe Scheibe ins Dunkel starre, tatsächliche und ausgemalte Bilder zum Film, der rasch vor mir abläuft. Von der Brücke, die viele Menschen überqueren, blicke ich wiederholt zum Parlament, um sicher zu sein, dass ich es einmal so wahrnehme, wie es einst Großmutter gesehen hat. Durch die schon schütter gewordenen Kronen der Bäume, unter denen wir zur Burg emporsteigen, sickert Sonnenschein und scheckt den von welkem Laub bedeckten Boden mit Licht und Schatten. Oben stützen wir uns auf die dicke, brusthohe Umfassungsmauer und schauen hinunter zur Stadt, über der ein schillernder Glanz liegt. Als ich meinen Kopf hebe, entdecke ich den Regenbogen. Er ist so groß und unbeschreiblich farbig, dass ich mich ähnlich betört fühle wie einst am Bahai-Tempel in Haifa.

Unterwegs zu Sándor

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