Читать книгу Eringus - Hungersnot im Kinzigtal - Rainer Seuring - Страница 4
Durch Eis und Schnee
ОглавлениеDie magische Eiszeit des Alben Freddori ist mehr schlecht als recht überstanden. Groß waren die Verluste unter den Menschen. Die Zwerge haben nur drei Männer zu beklagen. Bei den Halblingen ist erstaunlicher Weise nicht ein einziger Todesfall vorgekommen. Über eine Erklärung dazu mag sich jeder selbst so seine Gedanken machen.
Nun ist es Winter. Ein ganz natürlicher Winter. Aber was für einer.
Es ist so kalt, dass man Vögel vom Ast pflücken könnte, wären denn noch welche da. Es herrscht im wahrsten Sinne des Wortes das Schweigen im Walde. Die Chynzych ist seit langem dick mit Eis bedeckt. Alle und alles frieren. Und was das Essen anbelangt: Reden wir nicht drüber.
Es sind alle in der großen Halle vor dem Königspalast versammelt. Nicht nur die, die ausziehen werden, für das Tal neue Nahrung und Vieh und Saatgut zu holen. Nein, natürlich sind alle im Berg Anwesenden vor dem Königspalast zusammen gekommen. Selbst von den gräflichen Herren und aus dem Kloster Wolfgang haben sich viele eingefunden. Der Säulengang zum Palast ist als solcher nicht mehr zu erkennen.
Die Zuordnung der 300 Menschen und 250 Zwerge zu den jeweiligen Gruppen ist abgeschlossen. Jeder weiß, wer sein Gruppenführer ist und wer der Händler sein wird. Ihm wird es obliegen, die bestmöglichen Geschäfte zu machen. Alle sind nach Kräften gerüstet, sowohl mit Gewandung als auch mit Waffen. Leider sind viele Menschen nicht im Besitz solch wichtiger Gegenstände wie Schneeschuhe oder ordentliches Schuhwerk. Auch in Bezug auf die Kleidung bleibt viel zu wünschen übrig. Was fehlt spenden Vermögendere oder die Zwerge. Vor allem die wärmenden Gambeson sind sehr begehrt. Zwar sind diese Kleidungsstücke für die größeren Menschen etwas kurz, doch solange das Hinterteil überdeckt ist, sind keine Wünsche mehr offen, zumal sie noch zusätzlich gefüttert sind. Man trägt sie als Mantel über allen anderen Gewändern. Und davon trägt man viele.
Der von Anschild geführten Truppe haben sich noch zusätzliche Leute aus Buodingen angeschlossen. Der Graf will unbedingt seine Pferdezucht wieder aufnehmen. Vordem war das Haus Buodingen berühmt für seine Pferde. Ständig standen mindestens zwanzig Tiere im Stall oder auf der Weide. Gleich ob als Reit- oder Zugtier, die Ausbildung war die Beste und der Gesundheitszustand erst recht. Natürlich waren diese Tiere auch deutlich höher im Preis. Dafür konnte man schon mal eine ordentliche Stange hinlegen, wobei: In Kupfer durften es auch drei Stangen sein.
Der buodingische Hofmeier mit weiteren neun Leuten bilden daher eine zusätzliche Gruppe neben den anderen Menschen um den Zwergengroßkönig.
Doch nicht nur aus Buodingen hat sich eine zusätzliche Begleitung eingefunden. Auch von anderen Adelshöfen und Großbauern haben sich weitere Menschen hinzugesellt. Vom Einen kam ein kleiner Wagen, der vom einzigen Pferd des Nachbarn gezogen wird. So kamen auch die anderen Gruppenführer zu zusätzlichen Gruppen. Jeweils ein Pferde- oder Ochsenkarren nebst 15 Menschen, die speziell für ihre Herrschaft außerhalb des getroffenen Abkommens handeln sollen. Auch Jagdfalken stehen auf der Wunschliste. Letztlich erhöhte sich somit die Zahl der Menschen auf 370.
Niemand hat dagegen gesprochen, dass die Anführer der Gruppen allesamt Zwerge sind. Es war einleuchtend, dass diejenigen, die das Kommando über die Kampftruppen haben auch die Führung über die Übrigen übernehmen. Zudem tragen diese Zwerge auch den Vorrat an Kupfer, Silber und Gold, mit dem der Handel beglichen werden soll. So viel Edelmetall hat ein ordentliches Gewicht und kein Mensch, geschweige denn ein Halbling, vermag diese Last auf Dauer mit sich zu führen.
224 Halblinge haben sich dazu gesellt, auch wenn sie den Zug wahrscheinlich nicht die ganze Zeit begleiten werden. Sobald sie die vermutliche Grenze der Wolke erreicht haben, wollen sie ausschwärmen und nach den, ihrer Meinung nach, unverzichtbaren Insekten und Käfern suchen. Da sie nicht auf Handel angewiesen sind, sondern von Mutter Natur nehmen können, was gesund und fortpflanzungsfähig ist, brauchen sie keine Konkurrenz zu fürchten. Sie werden die Ersten sein, die heimkehren.
Am Vortag hat sich Anschild noch einmal mit seinem Schwiegervater, König Sigurd, und Eringus, dem Drachen, besprochen. Was müsste man erwarten? Womit sollte man sich dagegen rüsten? Welche Wege soll man nehmen und vieles mehr wird erörtert. Das alles hat sich der junge Großkönig gut eingeprägt und gibt davon nun in seiner Rede bekannt.
„Ich grüße euch, ihr Menschen, Halblinge und Zwerge!“, ruft er laut und verschafft sich so Gehör. Er steht auf dem inzwischen ständig vorhandenen Podest. In der letzten Zeit haben sich die Ansprachen vermehrt und ein wiederholtes Auf- und wieder Abbauen wurde zu lästig.
Aufmerksamkeit heischend steht er da oben, für alle gut sichtbar. Er ist zwar, wie alle Zwerge, nur knapp über drei Fuß groß, aber seine Gestalt ist beeindruckend. Breite Schultern und Oberarme, wie manch einer keine Oberschenkel hat. Dazwischen ein Nacken, der jedem Stier zur Ehre gereicht hätte. Die muskulöse Brust wird durch die schmale Taille deutlich betont. Die hellblonden Haare wallen wie eine Mähne um sein Gesicht. Der Bart ist scharf am Kieferknochen abgesetzt und zieht sich nur fingerbreit vor zum Kinn. In Vereinigung mit dem Oberlippenbart ergibt sich dann ein Kinnbart, der sich bis auf die Brust hinab wellt.
„Ich danke für eure Aufmerksamkeit.“, fährt er fort, als es ganz ruhig geworden ist. Einem verträumten Schwätzer half ein Rippenstoß, den Mund zu halten. „Wir werden in Bälde auf eine lange und weite Reise gehen. Wir werden Wege beschreiten, die niemand zuvor von uns gegangen ist. Selbst die Wenigen von uns, die den Wettergau noch zu kennen glauben, werden ihn nicht wieder erkennen. Wir betreten also für uns vollkommenes Neuland. Es ist daher angeraten, sich auf den großen Straßen zu halten. Doch nicht nur deswegen. Wir brauchen nur vor das Tor zu gehen, um zu sehen warum. Wir werden mit ungeahnten Schneemassen zu kämpfen haben. Und auch wenn unseren Wagen die Kufen untergeschnallt sind, werden die Zugochsen mit ihrem großen Gewicht im Schnee versinken. Wir werden also wohl weite Strecken für einen tragenden Untergrund sorgen müssen. Deswegen gilt folgende, gruppenunabhängige Reihenfolge im Zug. Zu Vorderst gehen die Zwerge in Reihen, die breit genug sind, dass für die Wagen ein Weg gebahnt wird. Danach folgen die Menschen in ebensolchen breiten Reihen. Jeder wird Schneeschuhe an den Füßen haben, um eine möglichst breite Fläche nieder zu treten. Die Reihen werden versetzt laufen, dass auch wirklich der ganze Schnee niedergepresst wird. Ich hoffe es reicht aus, auf diese Weise den Untergrund so fest zu stampfen, dass die Ochsen nicht mehr einsinken werden. Zudem wird die erste Reihe mit Stöcken ausgerüstet, die sie vor jedem zweiten oder dritten Schritt in den Boden rammen, wenn wir über offenes Gelände laufen müssen. Im Wald erkennt man den Weg. Wo kein Baum steht, muss der Weg verlaufen. Aber auf einer zugeschneiten Wiese sieht keiner, ob nicht kurz vor ihm ein Graben oder ein kleiner zugefrorener Bach überdeckt ist. Auf den Wagen befinden sich neben den Käfigen für das Kleinvieh auch alle nur erdenklichen Sachen, von denen wir glauben, dass sie benötigt werden könnten. Die führenden Reihen werden nach angemessener Zeit wechseln, sodass die Schwerstarbeit auf alle verteilt wird. Erst danach kommen die großen Ochsenwagen und am Ende die Halblinge. Die abgelöste Führungsreihe der Zwerge übernimmt dann nach den Halben den Abschluss und die Rückendeckung.“
Anschild macht eine kurze Pause, bevor er fortfährt. „Wir müssen damit rechnen, dass wir sehr weit laufen müssen. Eringus befürchtet sogar, dass wir bis ans Meer laufen müssen.“
„Was ist ein Meer?“, ruft es aus dem Hintergrund. Dafür gibt es wieder einmal einen Rempler mit dem Ellenbogen.
Anschild hat das gesehen. „Lasst den Mann, das habe ich auch fragen müssen. Wir alle haben schließlich noch nie eine so weite Reise unternommen und von einem Meer hat man vielleicht schon einmal in einer Geschichte gehört, wenn überhaupt. Stell dir vor, du stehst an einem Seeufer. Aber außer hinter dir, siehst du sonst kein Land. Dann stehst du vor einem Meer. Das ist eine so große Wasserfläche, dass man ihr Ende nicht sehen kann. Unser weitgereister Eringus kennt das, denn er war schon dort und hat sogar die Länder dahinter gesehen.“
„Dahinter soll es doch garnichts mehr geben, hab ich gehört.“, ruft wieder eine Stimme aus dem Hintergrund, durch die Offenheit und Ehrlichkeit des Großkönigs bestärkt.
„Es ist nicht gesagt, dass nicht zwischen hier und dem Ende der Welt auch noch Inseln zu finden sind.“, erklärt Anschild.
Eringus grinst innerlich und sagt nichts dazu. Er weiß es besser. Doch das hier und jetzt erklären zu wollen, hieße ein neues Weltbild schaffen. Das führt zu weit und niemand wird den Berg verlassen.
„Meinen ursprünglichen Plan, in kleinen Gruppen ungesehen die Heimreise zu bewältigen, habe ich aufgegeben. Nehme ich Buodingen als Maßstab, so mag es durchaus vorkommen, dass wir auf vielleicht noch größere Anwesen stoßen und dann stehen im besten Fall fünfzehn Zwerge und zwanzig Menschen urplötzlich einer Macht von an die zweihundert Gegnern gegenüber. Ich will, dass alle wohlbehalten und unversehrt nach Hause zu Weib und Kind kommen. Wir werden daher den gesamten Tross so lange als möglich zusammen behalten und am Ende mit maximal fünf großen Gruppen die Rückkehr beginnen. Die Obersten dieser Gruppen sind die Zwillinge Genefe und Jeras Eisengießer, Hrosvit Silberfaden, Dankwart, Gernhelm und ich.“
Die Genannten haben sich am Fuße des Podests versammelt und Anschild weist bei der Namensnennung auf den jeweiligen Zwerg oder die Zwergin.
„Auf diese Weise haben wir in jeder großen Gruppe fünfzig Zwerge und sechzig Menschen. Ich denke, damit sollte auch eine größere Übermacht besiegt werden können. Die nachgemeldeten Gruppen nicht mitgezählt.
Doch wir sind nicht auf Kampf aus. Wir wollen keine Ländereien erobern, wir wollen unseren Lieben daheim Nahrung bringen. Darum werden wir auf dem Rückweg so gut als möglich die Siedlungen vermeiden und davor die Straßen verlassen und erst danach wieder auf sie zurückkehren.
Auf uns warten entbehrungsreiche Wochen. Gerade zu Beginn unserer Wanderung werden wir nur wenig Gelegenheit haben, zu rasten. Bei dieser Kälte kann man sich nicht im Freien zur Ruhe betten. Es wäre der letzte Schlaf. Jeder bekommt ein kleines Päckchen mit Nahrungsmitteln. Teilt es mit Bedacht ein. Solange wir noch im ehemaligen Bereich der magischen Wolke sind, ist an Jagd nicht zu denken. Wild wird es nicht geben. Alles Andere, vielleicht essbare, ist vom Schnee überdeckt und tief gefroren. Ihr werdet an die Grenzen eurer Leistungsfähigkeit gelangen und darüber hinaus gehen müssen.
Sobald wir die vermutliche Grenze der Wolke erreicht haben, werden wir unser weiteres Vorgehen besprechen. Darüber jetzt nachzudenken, wäre voreilig. Wir wissen nicht, was uns erwartet und wo wir uns befinden werden. Am Ende kann man dort nicht einmal unsere Sprache sprechen. Dann werden wir höchstwahrscheinlich den Zug überhaupt nicht auflösen. Allein aus Sicherheitsgründen. Wir werden sehen.
Wohlan, Menschen, Halblinge und Zwerge, die ihr berufen seid, diesen Weg zu gehen, lasst uns nun draußen vor dem Haupttor sammeln. Ihr habt alles, was ihr für euch und die Reise braucht, bei euch.“
An dieser Stelle hält der Großkönig für alle deutlich inne. Jede begonnene Bewegung verharrt. Anscheinend lauscht Anschild ins Leere. Niemand kann die kleine Traumfee erkennen, die ihm etwas zu sagen hat.
„Wie ich eben erinnert werde, werden Jade, Amethyst und Bernstein uns begleiten. Sie sind der Meinung, sie könnten uns gute Botendienste leisten, wenn wir uns teilen. Dem kann ich nur zustimmen und meinen allerherzlichsten Dank aussprechen. Als dann: Auf zur Sammlung vor dem Tor.“
Mit einem Wink eröffnet Anschild Kleyberch den Auszug. Urplötzlich ist die Halle mit Gemurmel erfüllt. Es summt und brummt wie in einem Bienenstock. Bereitwillig geben die Zuschauer den Weg frei. In ungewöhnlich geordneter Weise streben die Teilnehmer dem Aufgang zu. Man lässt den Zwergen den Vortritt, die in völliger Disziplin voran marschieren. Sie folgen den Gruppenführern, die den Marsch eröffnen. Danach kommen die Menschen, deutlich ungeordneter, aber bemüht, es den Zwergen nach zu machen. Die Halblinge folgen als Letzte in totaler Unordnung und noch vergnüglich plappernd. Anschild lächelt, als dieser Haufen an ihm vorüber zieht. Bevor die übrigen Anwesenden, die sich dieses Spektakel nicht entgehen lassen wollen, hinterdrein gehen, verlässt er sein Podium und achtet darauf, dass nicht schon jetzt einer verloren geht.
Auf dem Weg nach oben überprüft jeder noch einmal, was er mit sich führt. Das Nahrungspaket für reichlich zehn Tage, bestehend aus einigen Streifen getrockneten Fleisches und einigen harten Keksen mit Käse oder altbackenes Honig-Früchtebrot, steckt in einem Sack, den alle Zwerge auf dem Rücken tragen. Bei den Menschen gibt es auch die Variante eines schlauchförmigen Sackes, der um den Leib getragen oder, mit nur einer Schnur gehalten, quer über dem Rücken hängt. Darin ist alles, was man zu benötigen meint. Jeder hat da so seine eigene Vorstellung. Allerdings sind die Säcke der Zwerge deutlich voller. Man könnte den Eindruck gewinnen, bei manchen Größen sei ein ganzer Hausstand drin. Der Trinkschlauch ist bei jedem Menschen eingepackt, allerdings leer. Bei dem Dauerfrost, der nicht einmal am Tag aufhören will, gefriert das Wasser und der Schlauch platzt am Ende. Doch für den Rückweg wird man ihn schon brauchen können. Die Zwerge allerdings tragen jeder zusätzlich zwei große und wohl gefüllte Schläuche. Diese sind aber derart verschlossen, dass ein Öffnen sofort auffällt. Es ist bei Strafe verboten, sie aufzumachen. Sie beinhalten leckeren Met mit Kräutern. Damit keiner davon nascht, tragen nur die Zwerge diese Schläuche. Nicht, dass man den Menschen misstrauen würde, doch der Großkönig will seine Befehlsgewalt nicht allzu sehr auf die Menschen ausdehnen. Zudem hält er sein Volk für disziplinierter.
Weil aber auch Met bei dieser Kälte gefriert, wurde er tags zuvor im Freien in die Schläuche gefüllt, kurz bevor er zu erstarren begann. So haben die Zwerge verhindert, dass die Behältnisse platzen. Zum Auftauen werden die Trinkschläuche später einfach über den Kesseln mit dem langsam wärmer werdenden Wasser aufgehängt und der Met tröpfelt langsam heraus.
Die Waffen sind in ihren Halterungen. Während bei den Zwergen die Axt bevorzugt wird, tragen die Menschen, soweit überhaupt im Besitz, eher ein Kurzschwert. Die meisten aber haben ihren Jagdbogen dabei. Ein Messer hat jeder, sogar die Halblinge. Wer hat, trägt seinen Schild über dem Rucksack auf dem Rücken.
Je näher man dem großen jetzt offenen Tor kommt, desto mehr spüren die Teilnehmer die Kälte. Die Mäntel werden so dicht als möglich geschlossen. Sowieso sind manche derart dick eingepackt, dass nicht mehr sehr viel Bewegungsfreiheit besteht. Mit Mühe kommt man zu den Schuhen oder Stiefeln hinab, sie zu schließen. Zu Oberst tragen Menschen und Zwerge Überwürfe aus Leder, der bei Regen und Schnee schützen soll. Sie sind beidseitig mit Schnüren geschlossen, das soll auch den Wind abhalten.
Am Haupttor oben machen alle ihre Schneeschuhe bereit. Sie haben eine Größe, sind aber durch Lederbänder auf jeden Fuß einstellbar. Die Zwerge machen es vor. Kaum aus dem Tor heraus, werden die Schuhe untergeschnallt und in Reihen zu sechst nehmen sie den Marsch auf. Die Hauptgruppenführer überwachen diesen Vorgang und haben natürlich bei den Menschen mehr Anweisung zu geben als zuvor bei den Zwergen. Aber binnen Kurzem haben alle es begriffen. Jetzt verschwinden auch die Hände in den Fäustlingen.
Die Halblinge mit ihren großen Füßen brauchen keine Schneeschuhe. Sie laufen sowieso bevorzugt ohne Schuhe. Man muss allerdings gestehen, dass diese enorme Kälte auch ihnen etwas zusetzt. Die zierlichen, nur wenig über drei Fuß kleinen, Wesen sehen Menschen zwar sehr ähnlich, sind aber eine eigenständige Rasse. Sie erinnern stark an Kinder und sie sind auch gerne genauso verspielt, aber man darf sie niemals unterschätzen. Mit ihrem geringen Körpergewicht sinken sie eigentlich nur in Pulverschnee tief ein. Dadurch sind sie nicht dafür geeignet, den Schnee zu pressen.
Unten am Fuß der Festung warten bereits die zehn Wagen mit jeweils zwei Ochsen davor. Die Tiere sind mit dicken Decken zum Schutz vor der Kälte abgedeckt. Diese werden später beim Marsch entfernt, wenn die Ochsen sich durch die Bewegung erwärmen. Da die Zwerge des Öfteren auch im Winter mit ihren Kutschen aus dem Berg müssen, sind diese sämtlich bereits mit zusätzlichen Kufen bestückt. Sie reichen nicht ganz bis auf den Boden, doch wenn das Rad den Untergrund im tiefen Schnee verliert, tragen diese breiten Kufen den Wagen auch mit Ladung immer noch.
Es sind sehr große zweiachsige Fuhrwerke, die in den letzten Tagen in Eile auf die bevorstehende Beladung umgebaut wurden. An fünf Wagen wurden die Seitenwände dreimal so hoch gezogen als üblich. Sie sind für das Getreide und das Saatgut gedacht, das sackweise gekauft werden soll. Zur Sicherheit sind bereits einige leere Säcke darauf, falls nicht alles verpackt erhältlich ist. Es sind aber auch gefüllte Säcke geladen. Sie beinhalten Getreide, trockene Früchte und Gemüse. Daraus wird morgens ein Brei gekocht, damit alle mit warm gefülltem Bauch den Tagesmarsch bewältigen können. Den Met gibt es dann abends heiß, um der nächtlichen Kälte trotzen zu können. Leider wird er eins zu vier mit Wasser verdünnt. Niemand darf trunken werden. Mehr gaben die mageren restlichen Vorräte nicht her. Auch die Daheimgebliebenen müssen schließlich weiter versorgt werden. Anschild rechnet damit, dass sie mit den Nahrungsmitteln etwa zehn Tage auskommen werden.
Drei Wagen haben eine nur doppelte Erhöhung der Wände erfahren. Auf ihnen sollen die Ferkel und Schweine gefahren werden. Diese Tiere zu treiben würde den Zug nur unnötig aufhalten.
Die beiden letzten Wagen schließlich haben keine Seitenwände mehr. Dafür wurden große Käfige darauf errichtet, die das Federvieh beherbergen werden. Die Behältnisse haben drei Böden, sodass möglichst viele Tiere darauf Platz finden. Mit darüber gespannten Seilen werden die Käfige auf den Wagen gehalten. Trotz der Eile des Umbaus sind diese Aufbauten sehr stabil und es steht nicht zu erwarten, dass die Konstruktion zusammenbricht. Zumindest hat sie schon einmal die Last darauf herum krabbelnder Zwerge getragen.
Auf den Wagen, die keine Käfigaufbauten haben, und sogar außen an allen Seitenwänden, findet sich alles, was man für die erwarteten Ereignisse zu benötigen glaubt. Breite dicke Bretter, mit denen die Fuhrwerke schmale, aber tiefe Geländeeinschnitte überbrücken können, sind mit massiven Haltebügeln an den hohen Seitenwänden eingehakt. Sie ragen weit über die Ladefläche nach hinten hinaus. Große Lederplanen, um vor allem das Saatgut vor Regen zu schützen, befinden sich in breiten Kästen hinten, unterhalb der Ladefläche. Viele lange Seile und Ketten vervollständigen die Ausstattung ebenso, wie diverses Handwerkszeug, um Reparaturen vornehmen zu können. Selbst einen Achs- oder Radbruch wird man beheben können. Als wichtigste Ladung allerdings ist das Futter für die Ochsen zu erachten. Damit sollte der Tross gut 20 Tage hinkommen. Letztlich klappern auf einem Fuhrwerk dann noch 55 breite und tiefe Schalen und ebenso viele Kessel. In ihnen wird man während einer Rast die ebenfalls mitgeführte Kula verbrennen, damit sich jeder ein wenig erwärmen und den Brei und Met zubereiten kann. Was damit allerdings zu Beginn der Rückreise geschehen soll, ist noch völlig unklar. Es wird auf jeden Fall im Weg sein.
* * * * *
Während sich die Beteiligten zum Zug aufstellen und sich die Reihen zusammen finden, bilden die Daheimbleibenden ein Spalier. Nicht ohne hier und da ihre Lieben zu umarmen und zu küssen oder zumindest wohlwollend dem Einen und Anderen auf die Schulter zu klopfen. Man wird sich monatelang nicht sehen.
Zusammen mit den anderen Hauptgruppenführern übernimmt der Großkönig die erste Strecke, den Weg fest zu treten. Hier, im bekannten Umfeld, ist aber noch nicht so viel Schnee. Viel wurde bereits in den vergangenen Tagen platt getreten, wenn die Zwerge außerhalb des Berges etwas zu erledigen hatten. Als die Führenden schon längst den Fuß des Berges erreicht haben, nimmt erst der Letzte die Wanderung auf. Das letzte Leb wohl und viel Glück verhallt.
Wider Erwarten geht Anschild nicht links herum nach Buodingen, sondern rechts weiter zur Straße hinab. „Sagtet ihr nicht, wir zögen durch den Wettergau?“, will Hrosvit Silberfaden wissen. Eine stabile Zwergin, mit unübersehbaren weiblichen Attributen und einer enorm dunklen, fast männlichen Stimme. Ihr Haar ist schwarz mit einem leicht rötlichen Schimmer. Der bei Zwerginnen übliche zarte Flaum statt des Bartes fehlt gänzlich. Dafür sind ihre Augenbrauen ziemlich buschig, aber sehr gepflegt. Sie treffen sich fast an der Nasenwurzel. Sie geht auf des Großkönigs rechter Seite zwischen ihm und Dankwart. Auf der linken Seite gehen die Zwillingsschwestern Genefe und Jeras. Gernhelm vervollständigt die Reihe links außen.
„Wohl wahr, so sagte ich. Doch habe ich es mir auf dem Weg zum Haupttor nochmals durch den Kopf gehen lassen. Die Mannen des Grafen zu Buodingen sagten zwar, dass die Zugänge zur Stadt wieder frei seien, doch weiß man deswegen nichts über den weiterführenden Straßenzustand. Ich bin der festen Überzeugung, je weiter wir in den Wettergau vordringen, desto schwerer wird der Weg sein. Das Gelände ist weniger bewaldet und wird darum deutlich mehr Schnee abbekommen haben, als der Weg im Osten.
Glowburg hat nicht mehr die Bedeutung von einst. Wenig Handelsverkehr, das Meiste geht daran vorbei. Also wird jetzt dort erst recht nicht viel los sein. Es steht darum nicht zu erwarten, dass die Straßen dort in besserem Zustand sind.
Wir werden die meist benutzten Wege nehmen, die wir kennen oder erkennen. Nur dort, so behaupte ich, werden wir einigermaßen voran kommen. Also geht es nun auf der großen Straße links herum in Richtung Uulthaha.“
„Bedenkt, Großmächtiger, auch auf dieser Strecke finden sich weite Wege ohne den Schutz des Waldes. Auch dort wird der Schnee sehr tief sein. Und es geht nicht unerheblich auf und ab.“, bringt Genefe vor. Man will kaum glauben, dass sie und Jeras Zwillinge sind. Überhaupt nichts an ihnen ist übereinstimmend; außer dem Familiennamen. Jeras ist ein ordentliches Stück kleiner, dafür aber auch deutlich breiter, als die schlanke Genefe. Die Haare der Großen sind buschig und wellig von hellbrauner Färbung. Jeras hat dunkelbraunes Haar, das strack herabhängt und darum in einem Zopf zusammengefasst ist. Und sie hat dunkelgrüne Augen, wohingegen bei ihrer älteren Schwester diese hellblau sind. Ihre Mutter hat auf Lästereien ob der Verschiedenheit immer auf die Unterschiede zwischen Mutter und Vater hingewiesen. Genefe ist mehr der Vater.
„Das ist natürlich richtig. Wir werden noch sehr viel mehr und andere Schwierigkeiten bekommen außer auf und ab. Ich denke, der Weg direkt durch den Vogelsberch ist wesentlich anspruchsvoller. Es ist ein deutliches Gefühl, das mir sagt, ich solle diesen Weg hier nehmen. Das Für und Wider ist auf jeden Fall immer gleich. Jeder Weg ist schwer und birgt seine Gefahren.“
„Dann ist also der gefasste Plan dahin.“, stellt Jeras mit einem fragenden Unterton fest.
„Wer an einem einmal gefassten Plan wider besseres Wissen festhält, ist dumm.“, mischt sich Gernhelm bestimmt ein. Seine grauen Augen blitzen angriffslustig. Die vorderen Strähnen der fast schwarzen Haare sind um den Schädel nach hinten unter die Gugel gezogen, wo sie im schulterlangen Zopf verschwinden. Seinen Bart verbirgt er, wie die Meisten, hinter einem Tuch zum Schutz vor der Kälte.
„Von welchem Wissen redet ihr, Prinz Gernhelm?“, stichelt Genefe.
„Er redet von meinem Wissen, denn ich weiß, dass ich, soweit ich bewusst zurück denken kann, stets wohl geführt wurde, denn sonst würde ich heute überhaupt nicht mehr leben. Und so wie Gott Gabbro mich führt, so führe ich euch. Mit Verstand und nach Gefühl.“, ergänzt Anschild.
Dankwart grinst nur dazu. Er ist mit dem Zählen der Schritte beschäftigt und ruft nun: „Wechsel!“. Auf diesen Befehl hin geht die vorderste Reihe ans Ende des Trosses. Während die Männer und Frauen der Menschen nur innerhalb ihres Blocks wechseln, bedeutet der Ruf für den Großkönig und die anderen Zwerge und Zwerginnen, dass sie als bisher Führende, der nachfolgenden Reihe die Wegfindung überlassen und auf das Ende des Zuges warten, um nun ihrerseits die Nachhut zu bilden. Die Halblinge sind davon völlig unberührt. Sie sind im Moment einfach nur Begleiter und beschäftigen sich mehr damit, was sie alles an Getier zu finden hoffen. Seit dem bekannt war, dass dieser Zug stattfinden würde, haben sie fleißig eine Bestandsaufnahme durchgeführt. Den Abgleich der Ergebnisse hat man sich für jetzt aufgehoben.
„Eure Geschichte kennt inzwischen wohl jeder, Großmächtiger, und ich erkenne an, dass ihr ein gottesfürchtiger Zwerg seid. Also mag uns Gabbro durch euch führen.“, nimmt Genefe das Gespräch von zuvor wieder auf, nachdem auch der letzte Halbling sein Wägelchen mit einer Ziege als Zugtier vorbei geführt hat.
„Seid gewiss, Genefe Eisengießer, das wird er tun. Seinen Zwergen ist unser Gott so treu, wie sie ihm. Also habt nur Vertrauen. Und was den Plan angeht, so ist der nur in Bezug auf diesen kleinen Wegeabschnitt geändert. Wir werden schon noch wieder darauf zurück kommen.“, beendet Anschild das Gespräch. Schweigend stapft man nun vorläufig Fuß um Fuß voran und Dankwart zählt die Schritte.
* * * * *
Ein jeder, der schon mal im Winter eine Wanderung unternommen hat, kennt das. Man kann seine Kleidung noch so trefflich gewählt haben, die Kälte kriecht doch dazwischen. Zuerst werden die Hände kalt, die nur durch Handschuhe geschützt sind. Selbst wenn man sie in den Taschen von Mantel oder Jacke verbirgt. Die Fäustlinge von damals konnten ebenso wenig trotzen und Taschen im Umhang gab es nicht.
Dann werden die Füße kalt. Selbst zwei Paar Wickelstrümpfe und lederne Schuhe, die man in Holzschuhen zum Schutz trägt, sorgen nicht sonderlich für anhaltende Wärme. Die Lederstiefel haben kein Futter und das Stapfen mit den Schneeschuhen fördert zwar die Durchblutung, aber das Kältegefühl überwiegt. Schlecht sind die Aussichten, in absehbarer Zeit Wärme zu erlangen. Bald schon wird der Körper immer weniger zu verbrennen bekommen, dann nimmt auch die Wärme im Wanderer immer mehr ab. Ungemütlich ist bei Weitem zu gering, um diesen Zustand zu beschreiben.
Schon der Anstieg auf die Höhe östlich von Sluohderin zeigt, dass eine weitere Änderung im Plan erforderlich ist. Die Ochsen schaffen es nicht, ohne Hilfe hinauf zu kommen. Der Großkönig lässt nun die Zugtiere von Menschen führen und jeweils sechs Zwerge, drei an jeder Seite schieben mit den ziehenden Ochsen zusammen das Gefährt hinauf. Geht es hinab, so müssen diese Zwerge auch dafür sorgen, dass der Wagen gebremst wird. Die normale Bremse greift im Schnee leider nicht.
Die Siedlung selbst ist verlassen. Einige Menschen haben wehmütig in ihre Richtung geblickt. Ihre ehemalige Heimstatt ist sehr stark eingeschneit und hoch aufgetürmte Schneewehen behindern die Sicht.
Es dämmert schon und man hat nur so wenig des Weges zurückgelegt. Trotzdem muss hier eine kurze Rast eingelegt werden, um die Zugtiere zu füttern. An Schlafen verschwendet niemand einen Gedanken. Es ist viel zu kalt. Der heiße, wenn auch stark verdünnte, Met hilft ein wenig, innere Wärme zu erlangen. Wem es gelingt, der döst irgendwo angelehnt im Stehen oder in Hocke ein wenig vor sich hin. Die Zwerge nehmen nur selten die Tücher von den Mündern und Bärten. Augenblicklich bilden sich durch den Atem Eisklumpen in den Barthaaren. Auch Menschen und Halblinge haben sich weitestgehend vermummt. Zu sehr beißt die Kälte, die in der Nacht auch noch weiter zu nimmt. Der klare Himmel erlaubt dem Mond, ihren Weg durch die kahlen und nur mit wenig Schnee bedeckten Äste ausreichend zu erleuchten und alsbald setzt sich der Tross wieder in Bewegung. Der Glanz des Schnees sorgt nicht minder für ausreichende Helligkeit. Die wenigen Laternen mit Brilium befinden sich vorn in den Händen von Zwergen. Nicht zuletzt deswegen, weil sie in Menschenhänden weniger hell leuchten.
Auch das nächste Dörfchen kann man im Dunkeln, weit ab des Weges, nur erahnen. Die wenigen Häuser verbergen sich ebenfalls unter dem ungeheuer tiefen Schnee. Der Wind hat wohl ordentlich über die Höhe gepfiffen. Schweigend marschiert die Truppe vorwärts, öfters hinauf, manchmal hinab. Manchmal macht ein Ochse seinem Unmut über die Arbeit Luft; manchmal meckert eine Ziege. Den Vogelsberch hat man hinter sich gelassen und strebt nun den Ausläufern Rainobuchonias entgegen.
* * * * *
Am Abend des dritten Tages hat man Uulthaha erreicht. Je näher man der großen Siedlung kam, desto mehr wiesen Spuren im tiefen Schnee auf häufigere Wanderer zwischen den Weilern und Dörfchen hin. Hier war man anscheinend auch schon kurz nach der Auflösung der Wolke aktiv geworden und hat die allgemeine Lage geprüft. Vermutlich führt hier ein großer Herr seine Bauern und sorgt für klare Verhältnisse. Wo sich der Herrensitz aber befindet, war nicht feststellbar. Auch liegt den Zwergen nichts daran, sich mit diesem Menschen zu treffen. Ihr Ziel ist das Kloster von Uulthaha. Hier soll eine größere Rast eingelegt werden.
Es ist schon fast dunkel, als der Zug vor dem Heim der Mönche anlangt. Doch auf das Klopfen an der Pforte öffnet niemand. Auch auf das Rufen Anschilds rührt sich nichts.
„Es ist niemand mehr da, Herr.“, sagt ein Mann, der um die Ecke kommt. „Die Brüder sind schon vor gut einem Jahr in ihr Stammhaus gerufen worden. Es heißt, dort habe man von der verheerenden Wolke bereits früher Kenntnis gehabt und habe deshalb die Mönche in Sicherheit gerufen. Uns hat man nichts gesagt und wir haben nur dank Ramwold die schreckliche Zeit überlebt. Dafür stehen wir ihm nun auf Lebzeiten als eigen im Dienst.“
Der Mann ist schrecklich dürr. Trotz seiner dicken Bekleidung ist das erkennbar. Das Gesicht spricht Bände, ausgemergelt und mit tief liegenden Augen. Die Nase wirkt wie der Schnabel eines Greifvogels.
„Seid gegrüßt.“, antwortet der Großkönig. „Wir hatten gehofft, hier ein wenig rasten zu können. Unsere Zugtiere wollten wir im Hof unterbringen, damit sie dort in Sicherheit sind. Wisst ihr, wer uns Einlass verschaffen kann?“
„Das kann niemand, denn die Mönche haben den Schlüssel mitgenommen. Aber ich denke es ist nun auch ihre Schuld, wenn sich jemand mit Gewalt Zutritt verschafft.“ Tiefe Wut und Enttäuschung ist aus der Antwort zu hören.
„Ihr seid nicht wohl zu sprechen auf die Brüder, stimmt’s?“
„Wen wundert’s. All die Jahre haben wir treulich den Mönchen geholfen und gedient. Stets war alles zu ihrer Zufriedenheit. Doch dann haben sie uns einfach verlassen und unsrem Schicksal überlassen. Sie kämen bald wieder, haben sie gesagt. Ist das Lohn und Dank für treue Dienste?“
Darauf geht Anschild nicht ein. Solch ein schäbiges Verhalten ist unehrenhaft. Darüber braucht man kein Wort zu verlieren.
„Wo wohnt ihr und wie seid ihr uns gewahr worden?“, will er wissen.
„Unsere paar Hütten liegen gleich hinter der Ecke. Wir durften nicht vor dem Kloster siedeln, um den Zugang frei zu halten. Und, mit Verlaub, Herr, ein Zug von solcher Größe ist nicht in der Lage, unbemerkt irgendwo vorbei zu kommen. Die Ochsen und Ziegen tönen, das Stapfen solch vieler Füße und die gerufenen Befehle verraten euch auf Meilen hinweg. In der Stille ist jedes Geräusch weithin vernehmbar, auch wenn der Schnee es zu dämpfen sucht.“
Wider besseres Wissen hat der Zwerg diesen Umstand nicht bedacht. Ein gewichtiges Problem für die weitere Reise und vor allem für den Rückweg offenbart sich ihm. Darüber muss er ausgiebig nachdenken.
„Wahrscheinlich wird auch bald unser Herr, Ramwold, vom Ugesberg herab kommen. Sicherlich hat er von dort oben euch auch schon längst bemerkt und er wird wissen wollen, was hier von Statten geht.“, ergänzt der Mann und trifft ein zweites Mal einen groben Fehler in der Reiseplanung. Von wohl postierten Anwesen auf der Höhe sind sie wohl so auffällig, wie ein schwarzer Wurm auf weißem Tuch.
„Dann braucht er sich nicht zu beeilen.“, meint Anschild in leichtem Ton. „Wir werden noch etwas hier verweilen. Habt Dank für euren Rat.“ Dann dreht er sich um und ruft: „Brecht das Tor auf. Führt die Wagen hinein und spannt die Zugtiere ab. Das Lager wird direkt hier vor dem Tor aufgeschlagen.“
Reges Treiben entsteht. Der Mann aus dem Dorf sieht sich allein stehen gelassen. Niemand achtet ihn mehr. Keiner bietet ihm eine erhoffte Mahlzeit an. Missmutig wendet er sich ab und geht nach Hause.
Nach drei Schlägen hat der Riegel an der Tür nachgegeben. Das große Tor wird dann von drinnen geöffnet. Schon bald sind die Tiere versorgt, die Feuerschalen aufgestellt und in Betrieb genommen. Zuvor hat man den Schnee soweit bei Seite geschafft, dass die heißen Schalen nicht darin versinken und das Schmelzwasser die Feuer löscht. Die Gebäude des Klosters werden nicht betreten. Der Großkönig achtet die Sitten andersgläubiger. Er weiß um die Unantastbarkeit mancher Räume die nur den Brüdern erlaubt sind. Geflissentlich ignoriert er, dass Türen in die Häuser weit offenstehen. Bestimmt sind die Bewohner der Siedlung über die Mauer und haben sich an dem was die Mönche zurückließen, schadlos gehalten. Und, auch wenn das Anwesen recht stattlich ist, reicht der Platz sowieso nicht, um alle unter zu bringen. Gleiches Recht für alle; alle bleiben draußen. Auch er.
Verwunderlich ist die Tatsache, dass die Brüder schon so früh ihr Kloster verließen. Hatte man die Mönche in Wolfgang vergessen? Oder hat der gierige Abt den Rückruf missachtet, um seine Geschäfte machen zu können?
Er gesellt sich zu den anderen Gruppenführern und wird prompt mit den neu aufgeworfenen Problemen konfrontiert.
„Habt ihr bedacht, dass wir so auffällig sind?“, will Genefe Eisengießer wissen.
„Ich gestehe: Ich habe es im Innersten gewusst, aber gerne beiseite gedrängt. Auch ich habe erkannt, dass dieser Umstand neue Fragen aufwirft. Mit all dem Vieh, das wir besorgen wollen, können wir auch gleich Herolde vor uns her senden, die unsere Ankunft verkünden. Wir werden auffallen wie bunte Hunde. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir in kleinen Gruppen oder als großer Haufen durch die Lande ziehen. Die kleinen Gruppen sind dann noch eher eine Einladung, uns zu überfallen. Aber seid getrost, Genefe, ich werde darüber noch ausgiebig nachdenken. Jetzt heißt es erst einmal, so schnell als möglich voran zu kommen. Ob man uns sieht oder nicht, das bleibt sich gleich. Noch rechne ich nicht mit Feindseligkeiten.“
Ein Ruf verhindert weitere Fragen. „Großmächtiger, ein Reiter naht.“
Anschild weiß, dass er sich diesen Fragen stellen muss, aber jetzt gilt seine Aufmerksamkeit dem Ankömmling.
Der Reiter erscheint nicht allein. Vielmehr wird er von zehn Mann zu Fuß begleitet. Bei Anschilds Eintreffen sitzt der Mann immer noch auf seinem Pferd. Ein Fortkommen wird ihm von einer größeren Gruppe Zwerge verwehrt.
„Wo ist denn der Großkönig der Zwerge? Wo ist Sigurd?“, forscht er herrisch und blickt suchend über die Köpfe hinweg. Als er den jungen Zwerg auf sich zukommen sieht stellt er fest: „Ihr seid nicht Sigurd. Aber ihr erscheint auf den Ruf nach dem Großmächtigen. Was geht hier vor?“
„Wenn es euch beliebt abzusteigen und euch vorzustellen, so werde ich euch gerne erklären, was hier geschieht.“
Anschild bleibt völlig ruhig, auch wenn ihm das Gehabe des Menschen nicht gefällt. Der Reiter versteht, dass er hier keinen Untergebenen vor sich hat und lenkt ein. „Verzeiht, sonst werde ich immer zu König Sigurd geleitet.“ Bei diesen Worten steigt er vom Pferd und gibt es einem seiner Leute. Er ist recht breitschultrig, doch mehr ist von seiner Gestalt nicht zu erkennen. Bis ins Gesicht ist er dick vermummt. „Auch wenn der Großmächtige kein Großkönig ist, so spiele ich doch gerne mit, um ihm ein Vergnügen zu machen und meinen Respekt ihm gegenüber auszudrücken. Eigentlich gebührt der Titel ja nur demjenigen, der Herr über alle Zwergenvölker ist. Da es aber nur noch ein Volk gibt, darf man ruhig darüber hinweg sehen, dass er sich den Titel angeeignet hat.“, fährt er irgendwie abfällig fort.
Er steht vor dem Großkönig und reicht ihm die Hand.
„Ich bin Ramwold, freier Bauer auf dem Ugesberg und Herr über die Siedlungen im großen Umkreis.“
Anschild drückt die Hand etwas deutlicher, um seine Vormachtstellung zu demonstrieren. Der Mann verzieht keine Miene.
„Ich bin Großkönig Anschild, Herr über die beiden verbliebenen Zwergenvölker. Kommt, lasst uns zum wärmenden Feuer gehen. Dort können wir uns in Ruhe unterhalten.“
Er führt den Menschen an die Feuerstelle, wo die anderen Gruppenführer ihn mit dem Gast erwarten. Ramwold sieht Gernhelm und eilt, jeden Anstand vergessend, voraus.
„Prinz Gernhelm, schön euch zu sehen. Wo ist euer Vater? Ich muss ihm noch unser aller Dank sagen. Nur wegen seiner Warnung wegen des fürchterlichen Winters haben wir die schreckliche Zeit überlebt. Geht es ihm gut? Hat er abgedankt?“
Gernhelms Gesicht zeigt deutliches Missfallen. Der Großkönig antwortet an seiner Stelle. „König Sigurd geht es gut. Er hat nicht abgedankt. Er ist weiterhin der König in Steinenaue. Euren Dank werde ich ihm gerne übermitteln.“
Durch diese Ansprache ist Ramwold gezwungen, sich wieder Anschild zuzuwenden.
„Schön, das zu hören. Doch wie kam es dazu, dass ihr nun Großkönig seid? Und woher kommt ein zweites Zwergenvolk?“
„Unserem Gott Gabbro hat es gefallen, einige der Zwerge in Kleyberch vor dem Zugriff der Alben im großen Krieg zu schützen. Er verschloss die Kammern in denen wir damals waren und ließ uns sehr lange schlafen. Als wir erwachten, wussten wir nicht, wie lange dieser Schlaf gedauert hat, doch an den Zuständen rund um die Festung erkannten wir, dass der Krieg schon sehr lange vorüber sein musste. Die Natur hatte nahezu alles wieder für sich zurück erobert. Unter der Führung von Dankwart Hammerfest lebten wir in den alten Kammern, wo sich alles vorfand, was wir zu einem Neuanfang benötigten. Durch göttliche Fügung konnten wir dann Kontakt mit den Zwergen der Steinenaue aufnehmen und leben seither dort gemeinsam. Kleyberch ist mittlerweile gänzlich unzugänglich. Auch die letzten Räume sind nicht mehr nutzbar.“
Seit man am Feuer steht, hat Ramwold zumindest sein Gesicht enthüllt. Darin ist nun großes Erstaunen zu lesen. Seine Augen funkeln im flackernden Schein der Flammen. Er ist wohlgenährt, wie ein leichtes Doppelkinn zeigt.
„Zugegeben, man kann darüber streiten, ob es sich bei der Besatzung eines Vorpostens, wie es Kleyberch einst war, um ein eigenständiges Volk handelt. Doch wenn man sich als die einzigen Überlenden wähnt, so kann man durchaus auf die Idee kommen, sich als Volk zu bezeichnen. Doch wollt ihr mir tatsächlich weiß machen, ihr hättet weit über 800 Jahre im Berg geschlafen? Nichts von den weiteren Ereignissen mitbekommen? Und dann, unbeschadet von allem, einfach wieder aufgewacht? Ihr wollt mir einen Bären aufbinden, Großkönig. Könnt ihr das vielleicht mit irgendwas belegen?“
„Und doch ist es so und den Beweis kann ich leicht erbringen. Seht her. Dies ist die Doppelaxt, mit der damals die Alben besiegt wurden.“ Stolz präsentiert Anschild Zank und Streit. „Ich selbst habe erst bei meiner Vermählung im vorigen Jahr erfahren, der letzte Sohn des Großkönigs Manegold Schmiedehammer zu sein. Ein Gesandter Gabbros brachte mir diese Waffe als Zeichen meiner Herkunft und berief mich vor allen Anwesenden Zwergen, Menschen und Halblingen zum neuen Großkönig der Zwerge.“
Erschreckt tritt Ramwold einen Schritt zurück. Graue Augen blicken stechend Anschild von oben bis unten an. Gleich darauf wird der Blick wieder milder. „So seid ihr also Maitiu, der vermisste und für tot geglaubte letzte Sohn. Ihr tragt den Titel des Großkönigs zu Recht. Meine Ehrerbietung.“
Der Mann beugt die Knie und verneigt sich vor dem jungen Zwerg. Dann erhebt er sich wieder und betrachtet die Axt. „Das also ist die legendäre Waffe Zank und Streit, mit der Utz von Alda die Alben damals vernichtete. Eine beeindruckende Axt.“
Bei den letzten Worten haben die umstehenden Zwerge fragende und erstaunte Blicke getauscht. Anschild spricht aus, was sie bewegt: „Ihr seid über die Maßen bewandert in der Geschichte dieser Zeit und über uns Zwerge. Wie kommt das?“
Stolz streckt sich Ramwold noch ein klein wenig mehr. „In meinen Adern fließt das Blut Ethelwards, König von Glowburg. Die Geschichte von damals wird noch immer in unserer Familie vom Vater auf den Sohn weiter gegeben. Niemals soll vergessen werden, was dereinst geschah. Einige von uns flohen in östliche Richtung nach hier und ließen sich oben auf dem Tannenfels nieder. Andere Flüchtende und Wanderer brachten später dann weiteres Wissen über die folgenden Ereignisse auch zu uns. So erfuhren wir auch von der großen Schlacht und von Utz, dem Retter aus menschlichem Geschlecht.“
Gernhelms Gesicht verfinstert sich immer mehr. Keinen Augenblick lässt er Ramwold unbeobachtet. Keine seiner Regungen entgeht ihm.
„Jetzt wüsste ich aber gerne, Großmächtiger, was euch mit so vielen Leuten verschiedenster Völker hierher führt. Was wisst ihr über die schwarze Wolke und was ist geschehen? Hat sich der böse Geist in eurer Heimat niedergelassen? Wir sahen sein Gesicht aus der Wolke heraus und hörten sein gemeines Lachen, wenn er tötete. Nach einigen Erzählungen hat man zuvor einen schwarz Vermummten gesehen. War das sein Werk? Seid ihr von ihm vertrieben worden oder gar auf der Flucht und von ihm verfolgt?“
Gernhelm platzt gleich. Der Unterton gefällt ihm nicht. Zwerge flüchten? Niemals. Diese Freude wirst du niemals haben, denkt er sich.
Auch Anschild wirkt etwas pikiert, wie man hören kann.
„Zwerge flüchten nie.“, sagt er. „Wir ziehen uns bestenfalls einmal planmäßig zurück, um den Gegner in eine Falle zu locken.
Ja, es war sein Werk. Man berichtete euch von einem Alben. Er nennt sich Freddori. Doch mit Hilfe dieser Axt ist es erneut gelungen, ihn zu besiegen. Möge er auf ewig in der Verdammnis bleiben. Auch wenn nach unserer Legende diese Wesen niemals dauerhaft zu vernichten sind, so ist es uns doch gelungen, ihn für hoffentlich sehr lange unschädlich zu machen. Nun sind wir auf dem Weg, Nahrung und Saatgut zu besorgen. Wie wohl auch bei euch sind unsere Vorräte aufgebraucht. Es langt nur noch für das Nötigste und nur noch für kurze Zeit.“
„Wohl wahr, wohl wahr. Auch in meinen Dörfern hungert man schon seit Wochen. Doch wo wollt ihr euer Glück versuchen? Die Wolke kam aus dem Südosten, also nehme ich an, dass man dort am ehesten Hilfe finden mag. Ich weiß zwar nicht, wie groß die Wolke war und wann man in Gegenden kommt, wo schon vor uns der schwarze Schatten zu Ende war, aber sicherlich sind dort die Aussichten am Besten. Wenn der tiefe Frost vorüber ist, will ich dort meine Leute hinschicken, um zu sehen, was man handeln kann.“
„Unser Weiser hat uns berichtet, dass die Wolke nicht gewandert ist, wie es solche Gebilde üblicherweise tun. Nein, sie ist gewachsen und darum war der Schrecken des Alben im Südosten am längsten. Dort wird man bestimmt nichts mehr finden, außer Not, Elend und Tod. Der Weise Eringus hat sich ganz außerordentlich mit dieser Wolke beschäftigt. Er sagt, dass sie an einem Tag um den zehnten Teil eines Tagesmarsches gewachsen sei. Demzufolge hoffen wir, in etwa zwanzig Tagen dort angekommen zu sein, wo die Wolke niemals hinkam. Noch etwas weiter wird man nur noch von dem schwarzen Schrecken gehört haben und dort wollen wir unser Glück versuchen. Wir müssen diesen zusätzlichen Weg auf uns nehmen, denn die Menschen auf unserem Weg gen Norden werden schon die näheren Nachbarn um Hilfe gebeten haben, sodass dort nicht mehr viel zu holen sein wird.“
Nachdenklich kratzt sich Ramwold am bartlosen Kinn.
„Von dem weisen Eringus habe ich noch nie gehört. Ist das ein Zwerg, so hat er aber einen sehr ungewöhnlichen Namen.“
Anschild schalt sich innerlich einen Narren, den Namen des Drachen erwähnt zu haben. Er weiß, dass Eringus es nicht mag, wenn er in irgendwelche Angelegenheiten, die nicht die Seinen sind, hineingezogen wird. Ihn hier und jetzt zu erwähnen bedeutet, den Menschen auf den Drachen aufmerksam zu machen. Vielleicht begehrt er nun, Eringus kennenlernen zu wollen. Außerhalb des Chynzychtals aber will Eringus nur als Drache gekannt werden und nicht als friedfertiger und freundlicher Berater. Also wiegelt der Zwerg ab: „Eringus ist kein Zwerg. Er ist sehr alt und sehr weise und lebt in tiefer Einsamkeit, wo er seine Ruhe hat und ihn niemand findet. Er hasst es, wenn man ihn stört und dann kann er sehr ungemütlich werden. Viele von uns meiden es, in seine Nähe zu kommen. Ja man kann sagen, er ist mehr als gefürchtet.“
„Aber mit euch hat er ja wohl geredet, sonst könntet ihr mir nicht berichten. Könnt ihr mir ein Gespräch mit ihm vermitteln? Ich habe sehr viele Fragen, die ich einem Weisen gerne stellen möchte.“
„Ich will euch keine Hoffnung machen. Er ist sehr eigen und nur sehr selten spricht er mit Fremden. Selbst wir sehen ihn nur ab und an und niemals ist man gewiss, ihn hier und jetzt zu finden, wo man ihn sucht. Er erscheint, wann er Lust dazu hat und nur dann ist er bereit überhaupt zu sprechen. Es ist leichter, sich einfach auf die große Straße zu stellen und auf ihn zu warten, als nach ihm zu suchen. Wenn er will, findet er einen und wenn er dann noch in Stimmung ist, spricht er auch. Meist aber wendet er sich wohl ab und verkriecht sich. Er hasst Belästigung und jede unbefugte Ansprache ist eine Belästigung für ihn. Der Wald ist groß, dicht und weit. Man sagt, ein Eichhörnchen kann viele Wochen von West nach Ost durch die Bäume hüpfen, ohne auch nur ein einziges Mal eine Pfote auf den Boden setzen zu müssen. Wo will man da suchen?“
Ramwold scheint sich damit zufrieden zu geben. „Von Weisen sagt man oft, dass sie sehr eigen sind. Hm. Auf jeden Fall scheint er verlässlich zu sein, sonst würdet ihr euch nicht auf den Weg gemacht haben.
Eure Ausführungen erscheinen mir logisch. Am liebsten wäre mir, ihr könntet hier eine Zeit lang lagern. Ich brauche ein paar Tage, dann könnte ich euch meine Leute beigeben, wenn ihr erlaubt.“
„Einen Tag der Ruhe können unsere Leute bestimmt gebrauchen. Länger aber kann ich nicht warten. Allerdings bin ich mir sicher, dass ihr uns alsbald eingeholt haben werdet. Wir sind nicht so schnell wie erhofft, denn der tiefe Schnee hält uns sehr auf. Eure Mannen brauchen also nur unserem deutlich sichtbaren Weg folgen. Gerne werden wir sie in unseren Schutz nehmen.“
Bei dem Wort Schutz zuckt es kurz in Ramwolds Gesicht.
„So soll es sein, Großmächtiger. Meine Leute werden euch folgen. Jetzt muss ich aber zurück. Auch wenn euer Feuer wärmt, ziehe ich doch die Behaglichkeit meines Hauses vor und außerdem will ich auf der Stelle mit den Vorbereitungen beginnen. Seid von allen Göttern auf eurem Weg behütet, Großkönig Maitiu. Wir sehen uns wieder.“
Mit einer Verbeugung nach diesen vielsagenden Worten verlässt Ramwold das Lager und ist mit seinen Leuten schon bald in der Nacht verschwunden.
Jetzt hält es Gernhelm nicht mehr zurück. Es bricht aus ihm heraus, „Ein widerlicher Kerl. Ich kann ihn nicht ertragen.“, poltert er los. Erstaunt schauen alle Umstehenden zu ihm.
„Was missfällt dir an ihm?“, will Anschild wissen.
„Er ist ein Mensch und weiß doch so viel über etwas, das vor über 800 Jahren geschehen ist. Allein sein Benehmen schickt sich nicht und damit meine ich nicht, wie er seine Leute behandelt. Er ist so herablassend uns Zwergen gegenüber und mit jedem Wort und Ton bringt er das auch ziemlich deutlich zum Ausdruck. Ich habe das Gefühl, er macht uns dafür verantwortlich, dass damals Glowburg nicht von uns verteidigt wurde. Nach dem Bündnis seinerzeit hätten wir das sicherlich auch gemacht, doch, wie wir aus Waltruda Harthiebs Aufzeichnungen wissen, wurde von dem Menschenkönig damals gar nicht um Hilfe ersucht. Absolut selbst überschätztes Handeln. Und von dem Angriff wussten wir nichts. Er aber ist da wahrscheinlich ganz anderer Meinung. So klang es zumindest für mich. So klang er schon das erste Mal, als er in der Festung auftauchte. Selbstüberschätzt und voreingenommen. Wer weiß, welche Überlieferungen von damals bei den Menschen weiter gegeben wurden, welchem Irrglauben und falschen Erzählungen sie Glauben schenken? Habt ihr nicht auch gehört, wie er sagte: Wir sehen uns wieder? Der will uns Schwierigkeiten machen.“
Offensichtlich ist man in der Runde darob geteilter Meinung. Einige schütteln verneinend den Kopf, andere wiegen ihn nachdenklich hin und her.
„Was soll ein Mensch uns für Schwierigkeiten machen können?“, stellt der Großkönig zuversichtlich fest. „Wir sind 250 Zwerge und 370 Menschen. So eine Macht muss ein freier Bauer erst einmal auf die Beine stellen.“
„Wie er einst meinem Vater sagte, sei er Herr über zwanzig Höfe, Weiler und Dörfer. Da leben schon ein paar Leute. Und wer weiß, wie viel er sich in den Zeiten bis heute noch hinzu genommen hat. Und er hat einen nicht unermesslichen Vorteil: Er kennt sich hier aus. Er weiß, wo man einen erfolgversprechenden Hinterhalt legen kann. Das Vieh, das wir dabei haben werden, wird unsere Kräfte zu einem beträchtlichen Teil binden. Da mag sich schon eine Gelegenheit finden.“
„Ich glaube, da liegst du falsch, mein Freund.“, beschwichtigt Anschild. „Doch harren wir der Dinge, die da kommen mögen. Er will ja seine Leute hinter uns her schicken. Lass die erst einmal kommen und dann schauen wir uns an, wie sie sich benehmen.“
„Da kannst du sicher sein, dass ich die nicht einen Wimpernschlag aus den Augen lasse.“
* * * * *
„Das war also der berühmte Maitiu, Vater?“ Der junge Mann, der neben dem Pferd läuft, schaut zu dem Reiter hinauf.
„Ja, das war er, wie er behauptete. Ob es stimmt, weiß ich nicht. Wenn er es ist, so ist endlich die Zeit gekommen, dass wir uns für den Treuebruch von damals rächen können. Auf ewig Waffenhilfe haben die Zwerge geschworen und schändlich gebrochen. Keiner erschien, unseren Vorvätern gegen die Riesen und Alben beizustehen. Binnen eines Tages war eine einst mächtige Stadt, eines der größten Handelszentren der bekannten Welt, dem Erdboden gleich gemacht. Dafür muss er, als Letzter seines Geschlechtes, bezahlen. Welche Ehre für mich, dies für unsere Vorfahren tun zu dürfen. Sie werden mir in den Hallen der Toten huldigen. Sigurd ist nur ein Großmaul, das von den Träumen der Vergangenheit zehrt.“
„Ich fand ihn gar nicht so unrecht, Vater. Und eigentlich kann er doch nichts dafür. Als der Überfall geschah, war er doch schon im Posten Kleyberch eingeschlossen und schlief und zudem noch ein Säugling. Was kann er dafür?“, beharrt der junge Mann vorsichtig. Er kennt den Jähzorn seines Vaters.
„Er ist von dieser Sippe und darum muss er für die Schuld seines Vaters gerade stehen.“
„Verzeiht meine Dummheit, Vater. Es ist schon so lange her. Weit über achthundert Jahre. Es gibt nicht mehr viele, die überhaupt noch von damals wissen. Was bringt es noch, Vergeltung zu üben?“
Daraufhin schweigt Ramwold eine lange Zeit, bis er schließlich einräumt: „Du magst vielleicht Recht haben, mein Junge. Sicherlich kann er nichts dafür. Er hat sich seine Eltern genauso wenig ausgesucht, wie du dir deinen Vater. Ich werde es mir wohlwollend überlegen. Als Zeichen meiner Einsicht bekommst du die Erlaubnis, unsere Leute anzuführen, die ich den Zwergen hinterher schicken werde. Du darfst dich als Händler und Führer bewähren.“ Wer aufmerksam und erfahren ist, wird diesen Worten wenig Vertrauen schenken. Der Sohn aber ist jung.
* * * * *
Einen Tag und eine Nacht hat der Tross im und am Kloster in Uulthaha gerastet. Nun geht es ausgeruht und mit neuen Kräften weiter. Über Nacht hat sich die Wetterlage geändert. Der strenge Frost ist zu Ende. Statt seiner hat nun leichter Schneefall eingesetzt. Für die Teilnehmer des Zuges wirkt das so, als habe jemand den Frühling ausgerufen, dabei kommt es selbst am Tag noch nicht zu einer Schneeschmelze. Aber die Kälte ist nicht mehr so beißend und so mancher zusätzliche Umhang oder Mantel wird im Rucksack verstaut, bis man ihn bei einer Rast wieder benötigen mag. Man hat sich halt an die große Kälte gewöhnt.
Der frische Neuschnee bedeutet keine größere Belastung. Zu fein rieselt es vom Himmel herab. Mit dem Verlassen des Machtbereiches von Ramwold wird auch das Bahnen des Weges wieder schwieriger. Trotzdem schafft man es bis zum Mittag des Folgetages in Zangersbah anzukommen. Von irgendwelchen Bewohnern der wenigen Hütten ist nichts zu entdecken. Alles liegt verlassen. Den Namen des Ortes erfährt man auch erst zwei Tage später abends in Elbuuinesrod. Die Bewohner hier behaupten unbeirrbar, ihr Dorf sei von den friedliebenden Elben gegründet worden. Hier haben sich die Bauern des weiteren Umkreises zusammen gefunden und den dortigen großen Weiler bis auf den letzten Platz ausgenutzt. In engste Räume haben sich ganze Familien gequetscht.
„Zuhause wäre es wahrlich bequemer gewesen, aber an ein Überleben dieser Katastrophe wäre nicht zu denken gewesen.“, erklärt einer der Bauern Anschild. „Sagt, Herr, was ist geschehen? Woher kam diese schwarze Wolke mit der hässlichen furchterregenden Fratze darin?“
Geduldig erklärt der Großkönig die Ereignisse und stellt dabei die Leistung der Zwerge weit über Gebühr in den Vordergrund. Keiner nimmt ihm das übel. Allzu sehr übertreibt er ja auch nicht, als er seine Erzählung mit den Worten beschließt: „Und mit dieser Axt wurde der Alb vernichtet.“
Leichenblass blickt ihn der Bauer an. Dann verbeugt er sich tief und die ihn Umstehenden tun es ihm gleich.
„Ihr seid wahrhaftig ein großer Krieger, Herr. Wie können wir euch dafür danken? Was dürfen wir für eure Heldentat und seine gnädige Auswirkung auf uns tun? Wir stehen tief in eurer Schuld.“
„Es gibt nichts, das ihr tun könnt. Ihr könnt euch glücklich schätzen, euch zusammen getan zu haben. Nur so wart ihr in der Lage, diese Eiszeit zu überstehen. Wie sieht es mit noch eventuellen Vorräten aus? Wie lange könnt ihr so noch weiter machen?“
Den armen Bauern rutscht das Herz in die Hose. Jetzt nur nicht nach Verpflegung fragen, wo doch keiner weiß, wie lange der echte Winter noch andauern wird.
„Wir haben nicht mehr viel, Herr.“, lügt er. „Und wir wissen noch nicht, wie wir unser weiteres Leben werden fristen können.“
„Das dachte ich mir. Habt ihr noch Vieh jedweder Art?“ Jetzt versteht Anschild, wie die Fragen dem Bauern vorkommen müssen. Er lächelt und erklärt: „Ihr braucht keine Angst zu haben. Wir fordern von euch nichts. Wir haben genug für uns dabei. Den wahren Tribut werden wir von jenen verlangen, die nicht unter Freddoris Eiszeit leiden mussten.
Mir geht es darum zu erfahren, woher ihr eventuell neues Vieh bekommen könnt. Habt ihr da schon einen Plan?“
„Ah, so ist das. Verzeiht meine Notlüge, Herr. Ich fürchtete, ihr würdet uns den letzten Rest, den wir haben, noch weg nehmen. Tatsächlich haben wir noch ein paar Tiere bewahren können und hoffen, daraus wieder mehr machen zu können. Wir sind nicht begütert und haben nichts, mit dem wir Handel treiben könnten. Also werden wir noch lange verzichten müssen und nur das Allernötigste zum Leben haben. Aber wir sind guten Mutes, auch diese Drangsal überstehen zu können. Die letzten Monate haben wir uns recht gut zusammen gefunden und wollen das auch nach Kräften beibehalten.
Und mit diesem Heer wollt ihr also für euer Reich neues Vieh und sowas besorgen? Verzeiht meine Neugier, Herr. Diese kleinen Menschen sind aber keine Krieger, stimmt’s? Und ihr selbst seid keine Menschen, wie ich aus eurer Größe schließe. Solch einen Verbund sah ich noch nie. Und erst recht nicht in solch großer Ansammlung.“
„Das Erste ist richtig, auch wenn dies kein Heer ist. Dazu müsste es noch mindestens zehn Mal so groß sein.
Ja, wir wollen uns besorgen, was wir brauchen. Soviel länger mussten wir unter Freddori leiden. Doch es ist nicht allein mein Reich. Ich bin nur der Großkönig der Zwerge. Damit habt ihr also auch recht: Ein Mensch bin ich nicht. Und es ist auch richtig, dass die kleinen Menschen keine Krieger sind. Es sind Halblinge und damit also auch keine Menschen. Sie können sehr gut mit Pflanzen und Kleingetier umgehen. Diese zu finden und in die Heimat zu bringen ist ihre Aufgabe. Die Menschen werden das Vieh führen und wir Zwerge sorgen für den Schutz. Wir alle leben gemeinsam in einem Tal weit von hier. So ist es nicht wunder, dass ihr von uns noch nichts gehört habt.“
„Oh doch!“, überrascht der Bauer. „Von Zwergen hörte ich schon, doch sollen die nicht weiter gen Sonnenuntergang gelebt haben?“
„Das waren unsere Vorfahren, die einstmals den Wettergau mit den Menschen zusammen bewohnten. Schlimme Zeiten haben uns dann mehr in den Süden verschlagen.
Doch genug davon. Für heute Nacht wollen wir hier lagern, wenn es recht ist. So könnt ihr, wenn ihr mögt, den Einen oder Anderen etwas näher kennen lernen und mehr über uns erfahren. Ich, für meinen Teil, muss mich nun um meine Leute kümmern. Habt Dank fürs Erste. Wir sehen uns morgen sicher wieder.“
Anschild wendet sich dem Zug zu und verkündet: „Nachtlager. Spannt die Zugtiere aus und versorgt sie gut. Mit dem ersten Tageslicht ziehen wir weiter.“
Die Feuer in den Schalen sind sehr verlockend und die Bauersleute gesellen sich gerne dazu, auch wenn es nichts zu essen gibt. Vor allem mit den Halblingen wird gerne gesprochen. Ihre Ratschläge bezüglich Ackerbau sind sehr wertvoll.
* * * * *
Kaum dass es dämmert, sind die Ersten schon wieder auf den Beinen. Auch bei nur leichtem Frost ist es nicht sonderlich angenehm, im Freien zu nächtigen. Zusammengekauert und mit dem was man noch wärmendes hat, haben viele im Stehen oder Hocken ein wenig geschlummert. Auf dem Boden zu liegen, steht noch lange nicht als Möglichkeit zur Auswahl. Außerdem hat es in der Nacht gestürmt und stark geschneit.
Auch wenn Zwerge es im Allgemeinen gerne gemütlich haben, darf man ihre Zähigkeit niemals unterschätzen. Sie sind offensichtlich noch fast so frisch wie zu Beginn des Marsches. Bei den Menschen und den Halblingen aber zeigen sich schon leichte Schwächen. Teilweise sehr mühsam erhebt man sich wieder. Steif sind die Knochen und schmerzend die Muskeln. Darum sind nicht wenige froh, dass sich der Abmarsch nun doch noch ein wenig verzögert. Die Abordnung Ramwolds hat endlich zum Zug aufgeschlossen.
Angeführt von Walram, dem Sohn Ramwolds, kommen fünfzig Mann angeschnauft. Je Zwei ziehen einen der fünfzehn mittelgroßen Handwagen.
„Wir haben von der Ferne euer Lagerfeuer erkannt und sind die ganze Nacht hindurch gelaufen. Entschuldigt, wenn wir so spät sind. Es war nicht leicht, alles auf die Reihe zu bekommen.“
Walram ist direkt auf Anschild zugegangen, der gerade letzte Worte mit dem Bauern wechselt. Von ihm erfährt er, wohin er sich nun am besten wenden könne. Diese respektlose und ungehörige Störung missfällt den Beiden sehr. Das ist dem Tonfall deutlich zu entnehmen, als der Bauer sagt: „Hat euch euer Vater kein Benehmen beigebracht? Ihr stört grußlos in einem Gespräch und solltet lieber in gehörigem Abstand warten, bis man euch auffordert, herzu zu treten. Wer seid ihr und was wollt ihr?“
Erschrocken über die derbe Reaktion weicht dem jungen Mann die Farbe aus dem Gesicht und er wird sichtlich nervös.
„Ich bitte meine Unhöflichkeit zu entschuldigen. Ich grüße euch. Ich bin Walram, Ramwolds Sohn. Es ist mit dem Großkönig abgesprochen, dass wir uns seinem Tross anschließen dürfen. Ich wähnte mich willkommen.“
„Ihr seid auch willkommen, Walram.“, erklärt Anschild geduldig. „Trotzdem solltet ihr die üblichen Gepflogenheiten beachten. Es könnte dies auch ein Gespräch gewesen sein, das nicht für eure Ohren bestimmt wäre. Ich bin sicher, ihr werdet es besser machen, wenn sich eure Aufregung gelegt hat und ihr Herr eurer Sinne seid. Wartet nun bitte.“
Derart gemaßregelt tritt der junge Mann deutlich zurück.
Zu dem Bauern gewandt nimmt der Zwerg wieder das Gespräch auf. „Ihr sagtet, wir sollten uns am besten weiter auf dieser Straße halten und gen Norden gehen.“
„Richtig, Herr. Auf diesem Weg solltet ihr in etwa acht bis zehn Tagen die nächste große Stadt erreichen. Dort wird es dann aber auch wieder gebirgiger und der Weg schwerer.“
„Soweit im Voraus kann und will ich noch nicht planen. Zu viele Unwägbarkeiten liegen bis dahin noch vor uns. Doch Berg und Höhe sind für Zwerge die wahre Heimat. Habt Dank für euren Rat.
Und nun wieder zu euch, Walram. Ihr seht schon recht erschöpft aus. Sicher werdet ihr nun eine Rast einlegen wollen und bestimmt werdet ihr, wie ihr glaubt, gleich uns, hier eine kurze Zeit lagern dürfen. Ihr versteht, wie ich hoffe, dass wir darauf keine Rücksicht nehmen können. Wir werden nun weiter ziehen. Doch werdet ihr uns dann schon bald wieder eingeholt haben. Uns kann man nicht übersehen.
Lebt wohl in Frieden.“ Der letzte Gruß gilt dem Bauern, vor dem sich Anschild leicht verneigt, bevor er sich seinen Leuten zuwendet.
„Aufstellung nehmen!“, ruft er und während die Zugtiere wieder angespannt werden, hat sich der Zug formiert. Auch heute übernimmt Anschild mit den anderen Gruppenführer die erste Reihe. Die Halblinge nehmen es gemütlicher. Sie werden ja wieder am Ende laufen und haben darum noch ein wenig Zeit.
Auf das Kommando Abmarsch setzt sich der Zug wieder in Bewegung.
Walram und der Bauer, mit einigen seiner Leute, haben dem Schauspiel eines wohlgeordneten Trosses beigewohnt.
„Ihr seid also Ramwolds Sohn?“, forscht der Bauer. Seine Empörung hat sich gelegt. Dafür schwingt auffällige Beherrschtheit in den fünf Worten mit.
„Ja, Herr. Wie ist euer Name?“, fragt der junge Mann.
Der Bauer missachtet die Gegenfrage. „Ramwold, der auf dem Ugesberg lebt?“
„Ja, Herr? Woher wisst ihr? Kennt ihr meinen Vater?“
„Ich bin Aelfric und ich hörte von ihm. In meinem Hause lebte bis vor Kurzem ein Mann, er hieß Clawß, der mir von eurem Vater berichtete. Er sprach nichts Gutes von Ramwold vom Ugesberg. Er erzählte bei seiner Ankunft vor gut zehn Jahren, dass er von eurem Vater um Haus und Hof betrogen wurde und fliehen musste. Euer Vater soll ihn absichtlich des Mordes bezichtigt haben und zwei Kumpane mit eidlichen Lügen bestätigten den Vorwurf. Ich nahm ihn auf und er lebte bei mir. Er starb voriges Jahr als unbescholtener Mann. Kanntet ihr den Mann?“
Walram ist völlig überrascht von dieser Geschichte. Nur mühsam kann er seine Gedanken sammeln und in seinen Erinnerungen suchen. Ihm fällt ein, dass er seinen Vater und dessen beiden Freunde als Kind einmal solch einen Namen erwähnen hörte. Mehr weiß er nicht.
„Das kann ich nicht glauben, Herr. Nicht mein Vater. Seine Freunde sind etwas grob und, wie soll ich sagen, derb in ihren Späßen, aber dass sie damit einem Mann derart Unrecht tun, kann und mag ich nicht glauben.“
„Und doch ist es so gewesen. Ich bin mir sicher und glaube Clawß. Doch sei es, wie es sei. Ihr seid nicht für die Taten eures Vaters verantwortlich. Ihr könnt nichts dafür und sollt darum auch nicht unter den Taten leiden. Ihr dürft hier rasten. Ihr seid willkommen. Einen Ramwold vom Ugesberg aber würde ich davon jagen, stünde er an eurer statt hier vor mir.“
Die Rast fällt deutlich länger aus, als notwendig. Doch Walram braucht viel Zeit, um den Schock, den die Worte auslösten, zu verarbeiten. In seinem Kopf wirbeln die Gedanken haltlos durcheinander.
* * * * *
Zur Mittagszeit ist der Tross schon weit von Elbuuinesrod entfernt. Trotz größter Aufmerksamkeit gelingt es den vordersten Zwergen nicht immer, den rechten Weg zu finden. So auch jetzt.
Der Waldrand in weiter Ferne erlaubt noch keine Einsicht, wo die Straße weiter verläuft. Die vorausliegende Fläche scheint völlig eben zu sein. Zumindest vermittelt die unberührte Schneedecke diesen Eindruck. Trotzdem stoßen die Zwerge mit ihren langen Stangen, zur Sicherheit den Boden erforschend, immer wieder hinab. Der Stab des Zwerges auf der linken Seite sinkt sehr tief ein.
„Graben!“, ruft er zur Warnung und der Tross bleibt augenblicklich stehen. Nun ist es seine Aufgabe, diesen Graben zu erkunden. Nur einen Schritt weiter sinkt er trotz der Schneeschuhe tief ein. Fast bis zum Unterleib reicht der Schnee. Mühsam kämpft er sich, die Umgebung prüfend weiter.
Die Gruppenführer treten herzu, um zu beobachten. „Der Graben ist zu breit und zu tief der Rand. Da kommen wir mit den Wagen nicht rüber und die langen, dicken Holzbohlen können wir auch nicht als Brückenersatz nutzen.“, vermeldet der Zwerg und lässt sich wieder hinauf helfen.
„Das mag wohl ein breiter Bach oder Fluss sein, der sich hier tief eingegraben hat.“, meint Dankwart. „Vielleicht auch ein kleiner See.“, ergänzt Hrosvit Silberfaden.
„Sucht nach rechts, wo der Weg weiter gehen mag. Wenn wir Pech haben, stehen wir auch auf einer Landzunge am See und müssen umkehren.“, ordnet Anschild an.
Auf der Stelle beginnen die vordersten Zwerge damit, das Umfeld zu erforschen. Nein, eine Landzunge ist es nicht, wie sich nach einiger Zeit ergibt, aber eine recht starke Krümmung im Bachverlauf. Diese zwingt den Zug ein gutes Stück zur rechten Seite hin, einen Umweg zu nehmen. Schon nach wenigen Schritten senkt sich der Boden. Offensichtlich hat man die Furt gefunden.
In stoischem Gleichmut stapfen die Zwerge und Menschen der führenden Reihe hinterher. Eventuell den vorherigen Weg schräg abzukürzen erwägt niemand. Stupides schweigsames Marschieren lässt viele ihr Gehirn ausschalten. Warum auch den Pfad verlassen um sich durch Tiefschnee zu kämpfen. Das aber wird bereits dem ersten Wagen zum Verhängnis. Hart müssen die Ochsen herumgezogen werden, damit sie in einer Spitzkehre dem vorgegebenen Weg folgen können. Der Zwerg auf der linken Mitte des Gefährtes geht vor, um dort beim Schieben zu helfen. Der auf der rechten Seite geht nach hinten. Dadurch schwenkt das Ende des Karrens derart mächtig aus, dass der links hinten schiebende Zwerg, es ist Billung Steinschleuder, über den Pfad hinaus in den Graben gedrängt wird.
„Passt doch auf!“, ruft er noch. Seine Füße finden keinen Halt mehr und er rutscht bäuchlings, Nase und Mund im Schnee, die Böschung hinab. Die Räder und Kufen des Wagens drücken noch jede Menge Schnee hinterdrein. In seiner Not greifen seine Hände nach allem und tatsächlich findet er etwas festes, an dem er sich anklammern kann.
Zwar blicken nun die anderen Begleitzwerge auf und auch die Ochsenführer schauen noch zurück, doch die Ochsen selbst stapfen weiter und reißen weiter im Geschirr an der Deichsel. Jetzt schwebt deswegen auch die rechte hintere Kufe in der Luft.
Der Wagen, es ist jener mit den Feuerschalen und Kesseln, hat inzwischen so viel Überstand, dass sein Gewicht ihn für alle überraschend, immer weiter in den Graben zieht. Leicht schräg zur Böschung gleitet er im Tiefschnee hinab. Ängstlich schreien die Ochsen ihren Unmut in die kalte Luft, dass es dampft, als sie rückwärts gezerrt werden. Die anderen begleitenden Zwerge lassen den Wagen los, um nicht selbst mit gerissen zu werden.
Billung, in seinem Schneebett, spürt, dass das haltgebende Irgendwas über ihm durch den rutschenden Wagen nachgibt und er beendet seine Rutschpartie gut zehn Fuß tiefer. Nur kurz hebt er den Kopf, um Luft zu bekommen. Dabei erkennt er, woran er sich geklammert hat. Dann kommt ein dicker Schneehaufen über ihn und mit aller Kraft stemmt er das, was er in Händen hat über sich. Er schließt gerade noch rechtzeitig seine Augen und versucht, seinen ehemaligen Halt nun fest als Schutzschild über sich zu halten, damit der Schnee ihn nicht begräbt. Dann spürt er einen sehr harten Stoß in seinen starken Armen, als der Wagen über ihn hinweg rutscht. Die Kufe hinten links des Karrens ist auf einen dicken Gesteinsbrocken gerutscht, so hat der Wagen das Übergewicht bekommen und ist nach vernehmlichem Knacken, begleitet von infernalischem Geschepper der Schalen und Kessel, auf der Seite liegend unten im Graben angekommen. Das dicke Brett der Rückwand ist geborsten. Alle Schalen haben sich in wildem Haufen verteilt. Wild brüllen die Zugtiere, die mitgerissen wurden und nun in ihrem Geschirr gefangen sind. Große Aufregung ergreift alle.
„Befreit die Ochsen.“, erklingt ein Ruf. „Der ganze Zug Halt.“, ein anderer. Ein dritter endlich fragt: „Wo ist Billung?“ Er bekommt keine Antwort. Darum schreit er laut: „Billung! Wo bist du?“
„Er gibt keine Antwort. Er muss wohl unten unter dem Wagen oder den Schalen liegen. Los, sucht nach ihm! Billung, melde dich.“, vermutet einer hektisch nervös.
Nur ganz leise und gedämpft ist des Zwergen Antwort zu hören. „Hier. Ich bin hier.“
„Und wo ist hier? Ich seh hier nur den Karren im Graben liegen.“
„Ich kann mich nicht rühren. Mir tun alle Knochen weh, ich krieg nur sehr schwer Luft und stecke wohl tief unter den Schneemassen. Es wäre nett, würdet ihr mich endlich von meinem Lebensretter befreien.“
Den Sinn dieser Worte kann im Moment keiner verstehen, doch immerhin beeilt man sich, in dem Schneehaufen gleich neben dem Wagen nach dem Zwerg zu suchen. Doch dort liegt er nicht.
Wie zufällig blickt der Rufer vor sich die Böschung hinab. „Hier ist eine Hand. Beeilt euch. Hier!“ Dabei zeigt er auf die Stelle, wo eine Hand aus dem Schnee hervor ragt. Schnell wird man fündig und legt das Fundstück frei. Als sie das, was an der Hand hängt, aus dem Schnee geborgen haben, fahren alle erschreckt zurück. Billung hält die gefrorene Leiche eines Mannes über sich.
„Sucht weiter!“, erschallt der Befehl und gleich darauf kommt auch der Gesuchte zum Vorschein.
Bevor übereifrige Zwerge zupacken können heißt es: „Lasst ihn liegen. Wo ist der Heiler?“
„Ich bin schon zur Stelle.“
Der Heilkundige rutscht den leichten Hang hinab, bis er auf Billungs Höhe ist. Inzwischen sind auch die Gruppenführer am Ort des Geschehens eingetroffen und lassen sich berichten.
„Kannst du Hände und Füße bewegen?“, fragt der Heiler.
„Ja, aber es tut saumäßig weh.“, klagt Billung.
„Legt ihn vorsichtig auf ein Brett und schafft ihn hinauf. Hier unten kann ich ihn nicht untersuchen.“
„Wie sieht es aus?“, will Anschild wissen.
„Anscheinend hat er sich nichts am Rückgrat getan, Großmächtiger. Genaueres kann ich jetzt noch nicht sagen.“
Vorsichtig wird Billung nun auf ein Brett geschoben, was ihm unterdrücktes Stöhnen entlockt. Oben auf dem Weg verlangt der Heiler dann: „Auspacken!“
Verdutzt blicken sich die umstehenden Zwerge und Menschen an.
„Na los, auspacken. Zieht ihn aus. Durch die dicken Gewänder kann ich ihn doch nicht untersuchen. Die Kälte wird sicherlich das geringste Übel für ihn sein.“
Das Stöhnen Billungs wird vernehmlicher, als ihm die Kleider ausgezogen werden. Jeder Handgriff bereitet große Schmerzen. Vor allem wenn Arm und Bein betroffen sind. Schon das Abnehmen des Rucksacks ist schwierig. Letztlich ist der Zwerg es leid und murrt: „Ich mach das selbst.“ Es dauert bis der Wintermantel, der dünne Mantel, die dicke Tunika und die dünne Tunika oder auch die Hose unter größten Schmerzen abgelegt sind.
Der Heiler beobachtet jede Bewegung aufmerksam und macht dabei ein zufriedenes Gesicht. So fest wie nötig, aber so mitfühlend wie möglich, drückt er alle fraglichen Körperstellen ab.
„Dreh dich vorsichtig auf den Bauch!“
Auch der Rücken wird nun einer genauen Untersuchung unterzogen.
„Großmächtiger, ich muss sagen, der Kerl hat mehr Glück als Verstand gehabt. Ich finde keinen gebrochenen Knochen. Aber Prellungen und Stauchungen in Hülle und Fülle. Sein Rucksack mag wohl Schlimmeres verhindert haben. Der Zwerg kann die nächsten vierzehn Tage nicht laufen. Er muss liegend transportiert werden. Ich werde ihn nun mit reichlich Salbe einreiben und dann wieder leicht anziehen. Ich schlage vor, er wird dann auf den Wagen mit den Ersatzsäcken verbracht. Dort ist er so gut als möglich vor Kälte geschützt und liegt weich, damit die Erschütterungen auf dem Weg ihm nicht über die Maßen Beschwerden bereiten.“
„Wird er uns dann wieder nütze sein oder schicken wir ihn lieber mit einer Begleitung zurück in den letzten Ort, von wo aus er nach seiner Genesung wieder nach Hause wandern kann?“, fragt Gernhelm, zu dessen Gruppe Billung gehört.
„So schlimm ist es nicht, dass er zurück müsste. Er wird dann wieder seinen Aufgaben nachgehen können.“, beschwichtigt der Heiler.
„Gut, dann beendet eure Arbeit und lasst ihn dann auf den Wagen packen. Wie geht es den Ochsen, die der Wagen mit hinab riss? Und was ist mit dem Wagen selbst?“, ist des Prinzen nächste Frage.
Dankwart hat sich bereits darum gekümmert.
„Die Zugtiere sind noch recht verstört, aber zum Glück nicht verletzt. Der tiefe Schnee hat sie vor Schlimmerem bewahrt.“, berichtet er. „Der Wagen allerdings muss repariert werden. Die Stützen der Kufen sind gebrochen, Lob sei Gabbro, das Rad ist heil geblieben. Allerdings liegt der Karren auf der Seite. Wir müssen die Feuerschalen aufsammeln und den Wagen nach vorne zur Furt zerren. Dort werden wir ihn wieder vorsichtig aufrichten können“
Es ist ein wildes, aber bedachtes Gezerre und Geschiebe. Selbst für Zwerge ist dies eine anstrengende Arbeit. Menschen hätten den schweren Wagen wahrscheinlich aufgeben müssen.
Gegen Ende der Böschung drückt man den Karren vorsichtig an den Hang, dass das Rad, wenn man so will, Bodenkontakt hat und zieht ihn dann mittels dicker Seile, die am rechten Rahmen festgebunden sind, dass er, ohne die linken Räder übermäßig zu belasten, sich wieder aufrichtet. Zur Unterstützung werden die langen Bretter links untergelegt und nach oben gedrückt.
Erst einmal angehoben ziehen dann die Zwerge an der Deichsel und rollend und rutschend kommt das Gefährt wieder in normale Lage.
Mit Hilfe von aufgestapelten Feuerschalen wird der Wagen dann so hoch gebockt, dass die Kufe mit den Ersatzhölzern repariert und neu befestigt werden kann. Dazu haben zuvor die stärksten sechs Zwerge den Wagen mit ihren Rücken in die notwendige Höhe gestemmt. Nach getaner Arbeit haben diese Sechs ihn dann auch wieder auf die Kufe gestellt.
Um die Enge im Flusslauf zu umgehen, haben die Übrigen nun endlich eine Abkürzung geplättet, damit die Wagen leichter zur Furt hinab kommen. Die ganze Arbeit hat so lange gedauert, dass es Walram und seinen Leute gelungen ist, den Zug einzuholen. Dieses Mal tritt er erst vor, als ihn Anschild dazu auffordert.
„Ich grüße euch, Walram, Ramwolds Sohn. Wie lautet der Auftrag eures Vaters für euch?“
Während der Begrüßung mustert der Zwerg den jungen Mann. Wahrscheinlich ist er noch nicht einmal 17 Jahre alt. Also sicherlich völlig unerfahren. Unter seiner Mütze spitzen glatte, dunkelbraune Haare hervor. Die löchrigen Fransen, die er wahrscheinlich stolz Bart nennt, wären besser abgeschabt.
„Ich grüße euch untertänigst, Großmächtiger.“ Offensichtlich hat sich der junge Mann unterwegs wieder der guten Sitten erinnert. „Ich soll so viel als möglich von allem für unsere Dörfer besorgen. Er hat mir dafür alles Kupfer und Gold mitgegeben, das er entbehren wollte. Es ist nicht viel und drum muss ich so gut als möglich handeln oder mir etwas anderes einfallen lassen.“
Die Antwort lässt Anschild aufhorchen und auch die anderen anwesenden Gruppenführer merken auf.
„Ich will nicht hoffen, dass dies für euch die Aufforderung zum Stehlen ist.“
„Bei Wodan nein. Ich verstehe dies so, dass ich vielleicht guten Tausch betreiben kann.“, antwortet Walram unschuldig. „Diebstahl kommt für mich nicht in Frage, Großmächtiger.“
„Dann dürft ihr euch unserem Zug anschließen. Wäret ihr Diebespack, würde ich euch davon jagen. Ihr werdet verstehen, dass ich mich nicht um euch kümmern kann. Eure Leute sind nicht ausgerüstet, dass sie uns in irgendeiner Form von Nutzen sein könnten. Ihr werdet also stets ganz am Ende des Zuges laufen. Solltet ihr einer Rast bedürfen, so könnt ihr diese gerne einlegen. Wir werden nicht auf euch warten. Auch für eure Nahrung müsst ihr selbst sorgen. Wir haben nur so viel bei uns, wie wir zuhause entbehren konnten. Ist diese aufgebraucht, müssen auch wir uns selbst versorgen. Gleiches gilt auch für euch. Ist dies eure erste Reise?“
„Ja, Großmächtiger.“
„So habt gut acht, dass ihr keine Fehler macht. Habt die Augen auf und sicher werdet ihr viel lernen können.“
„Selbstverständlich, Großmächtiger. Und sollte es doch einmal der Fall sein, so zögert nicht einen Augenblick, unsere Hilfe einzufordern.“
Nach einer Verbeugung zieht sich Ramwolds Sohn zurück.
Genefe, die neben Anschild steht, kann sich einer Bemerkung nicht enthalten.
„Ist dies nicht auch euer erster Zug, Großmächtiger? Wer lehrt euch?“
Ihr Grinsen lässt den Zwerg erkennen, dass sie scherzt. Somit fällt seine Antwort friedlich aus. „Gott Gabbro hat ein Auge auf mich.“
„Dann muss er wohl hier mal dieses Auge zugekniffen haben. Oder wieso ist der Wagen die Böschung hinab gerutscht.“, stichelt Jeras, Genefes Schwester, in ernstem Ton. „Oder sind die Ochsenführer schuld. Man sollte sie vielleicht austauschen.“
„Habt ihr ein Auge auf eure Leute? Wenn ich mich nicht irre, waren es auch Männer aus eurer Gruppe. Doch will ich unseren Zwergen gerne zu Gute halten, dass dieser eintönige Marsch die Aufmerksamkeit einlullt. Schneebedeckte Wiesen ohne Weg und Steg, schneebedeckte Höhen, schneebedeckte Wälder, all das ist sehr abwechslungsreich. Wir alle machen Fehler, doch bin ich mir sicher: Stünde im nächsten Augenblick ein Feind vor uns, wären alle hell wach und aufmerksam. Eure Stichelleien könnt ihr euch sparen. Wenn ihr einen Fehler bemerkt, so könnt ihr ja zu mir kommen und mich im Voraus darauf aufmerksam machen. Dann wird er auch nicht passieren.“
Nachdem Genefe zu Beginn der Reise eine Rüge eingefangen hat, ist nun auch ihre Zwillingsschwester Jeras zu vorlaut gewesen. Möge sie, gleich ihrer Schwester, eine Lehre daraus ziehen.